Samstag, 21. November 2015

Sehnsucht

Predigt am Ewigkeitssonntag, 22.11.2015, über Matthäus 25,1-13


Liebe Gemeinde,

was wohl dahinter liegen mag?
Das Kind, das durch das Haus gestromert ist,
hat eine Tür gefunden, die es noch nicht kannte.
Nun steht es davor und würde zu gern wissen,
was dahinter ist. Soll es sie öffnen? Darf es sie öffnen?
Was wird es da erwarten?

Viele von uns haben wohl schon einmal so vor Türen gestanden 
- vor Keller- und Bodentüren, vor Schränken oder Truhen -, 
neugierig, was sich wohl dahinter befindet,
und zugleich ein bisschen ängstlich.
Vor solch einer geheimnisvollen Tür spielt auch der Predigttext für den heutigen Sonntag bei Matthäus im 25. Kapitel:

Jesus erzählte dies Gleichnis:
Dann wird das Himmelreich gleichen zehn Jungfrauen,
die ihre Lampen nahmen und gingen hinaus,
dem Bräutigam entgegen.
Aber fünf von ihnen waren töricht, und fünf waren klug.
Die törichten nahmen ihre Lampen, aber sie nahmen kein Öl mit.
Die klugen aber nahmen Öl mit in ihren Gefäßen,
samt ihren Lampen.
Als nun der Bräutigam lange ausblieb,
wurden sie alle schläfrig und schliefen ein.
Um Mitternacht aber erhob sich lautes Rufen:
Siehe, der Bräutigam kommt! Geht hinaus, ihm entgegen!
Da standen diese Jungfrauen alle auf
und machten ihre Lampen fertig.
Die törichten aber sprachen zu den klugen:
Gebt uns von eurem Öl, denn unsre Lampen verlöschen.
Da antworteten die klugen und sprachen:
Nein, sonst würde es für uns und euch nicht genug sein;
geht aber zum Kaufmann und kauft für euch selbst.
Und als sie hingingen zu kaufen, kam der Bräutigam;
und die bereit waren, gingen mit ihm hinein zur Hochzeit,
und die Tür wurde verschlossen.
Später kamen auch die andern Jungfrauen und sprachen:
Herr, Herr, tu uns auf!
Er antwortete aber und sprach:
Wahrlich, ich sage euch: Ich kenne euch nicht.
Darum wachet! Denn ihr wisst weder Tag noch Stunde.

I
Hinter der Tür, da feiern und tanzen sie.
Wie schön muss es auf dieser Hochzeit sein!
Was wohl die Brautjungfern hinter der Tür, auf der anderen Seite, erwartet? 
Wie wunderbar darf man sich das Fest vorstellen,
für das man sich eine Nacht um die Ohren schlägt?
Für das man Ewigkeiten lang auf den Gastgeber,
den Bräutigam, wartet - bis er endlich kommt
und die Tür aufschließt.
Hinter der Tür, da feiern und tanzen sie.
Aber nicht alle dürfen mitfeiern.

Wir sind mit 10 Brautjungfern aus der Stadt hinausgegangen. 
Hinaus aufs freie Feld,
wo es keine Lampen mehr gibt
und wo man sich selbst leuchten muss.
Die Öllampen der Brautjungfern werfen Licht auf den Weg,
auf dem der kommen wird, den wir erwarten, der Bräutigam. 
Gleich, jeden Augenblick, oder irgendwann später,
man weiß es nicht.
Die Zeit wird lang, die Brautjungfern werden müde.
Sie haben sich hingesetzt, schon fallen den ersten die Augen zu.
Sie lehnen sich aneinander, jetzt schlafen sie.
Nur ihre Lampen leuchten weiter,
werfen ihr Licht auf den Weg und verzehren das Öl, das in ihnen ist.
Auf einmal ist etwas zu hören, da ruft jemand: Er kommt!
Alles ist plötzlich auf den Beinen,
rückt die Kränze zurecht, greift nach den Lampen.
Aber nun, als alle fertig sind, stellt sich heraus:
Fünf haben nicht genug Öl. Ihre Lampen gehen bald aus,
wenn sie nicht Öl nachfüllen,
und sie müssen dem Bräutigam doch den Weg leuchten!
Die anderen fünf können nichts hergeben von dem,
was sie mitnahmen, also müssen die ersten fünf in die Stadt zurück, neues Öl kaufen.
Wir folgen ihnen nicht, wir lassen sie in die Stadt rennen.
Wir bleiben bei den anderen, sehen, was passiert.
Wir sehen den Bräutigam kommen.
Die fünf Brautjungfern setzen sich an die Spitze des Zuges
und ziehen mit in das Haus, wo die Hochzeit gefeiert wird.
Hinter ihnen schließt sich die Tür, und wir bleiben außen vor.
Wie die fünf, die gerade atemlos keuchend
mit ihrem Öl aus der Stadt kommen - zu spät.
Sie dürfen nicht mehr hinein.

Wozu erzählt Jesus dieses Geschichte?
Wozu lässt er uns, seine Zuhörerinnen und Zuhörer,
diesen Weg mit den zehn Brautjungfern nicht wirklich mit gehen? 
Wir bleiben weder bei denen,
die schnell noch um Öl in die Stadt laufen,
wir dürfen aber auch nicht mit den anderen zum Fest hinein,
als die Tür sich für sie öffnet.
Wir dürfen nicht einmal einen Blick hinein tun.
Höchstens einen Lichtstrahl haben wir erhascht,
ein paar Töne der himmlischen Musik.
Das Geheimnis bleibt gewahrt,
hinter diese Tür können wir nicht schauen.
Das, was wir sehen können, liegt vor dieser Tür.

II
Vor der Tür liegt die Nacht.
Dunkelheit, von der Jesus an anderer Stelle sagt,
dass dort "Heulen und Zähneklappern" ist.
Heulen und Zähneklappern vor Angst, vor Kälte oder vor Einsamkeit.
Solche Dunkelheit kennen wir.
Jede und jeder hat sie erlebt und erlebt sie wieder:
Dunkelheit der Angst. Dunkelheit des Schmerzes.
Und, heute besonders, Dunkelheit,
die einen beim Verlust eines lieben Menschen überfällt.
Darum ist es gut, wenn man schlafen kann wie die zehn Brautjungfern. 
"Wir sind ja Schläfer aus Furcht, uns und unsere Welt wahrnehmen zu müssen" (Ingeborg Bachmann).
Wer schläft, muss die Wahrheit nicht ertragen, die Angst nicht und nicht den Schmerz. 
Der Schlaf kann gnädig sein.
Aber der Schlaf ist auch düster und bedrohlich. 
"Der Schlaf der Vernunft bringt Ungeheuer hervor" (Wolf Biermann).
An den Schlaf liefern wir uns auch aus,
er ist der kleine Bruder des großen Schlafes Tod.
Manchmal wird einem das beim zu-Bett-gehen bewusst.
Kinder haben manchmal Angst, einzuschlafen.
Angst vor den Türen, die sich öffnen, wenn man die Augen schließt.
Angst vor der Reise über die unendliche Tiefsee der Nacht.
"Morgen früh, wenn Gott will, wirst du wieder geweckt",
sang mir die Mutter am Bett. Und ich wusste nicht:
War es Verheißung, dass ich wieder geweckt werden würde,
oder war es eine Drohung: "wenn Gott will"?
Gott wollte. Am nächsten Morgen kitzelte mich die Sonne aus dem Schlaf, 
oder meine Mutter kam und weckte mich.

Was weckt uns heute - außer dem Wecker mit seinem schrillen Gebimmel, 
lästigen Piepsen oder nervigen Radiogedudel?
Was elektrisiert uns heute so wie bei den Brautjungfern der Ruf: 
"Der Bräutigam kommt!"? 
Was gibt uns die Spannung, die Kraft, aufzuspringen oder aufzustehen 
und uns dem neuen Tag zu stellen?

III
Das, was wir sehen können, liegt vor der Tür.
Aber das, was wir sehen sollen, liegt dahinter.
Darin unterscheiden sich die fünf klugen Brautjungfern von den fünf törichten: 
Die Klugen sahen voraus.
Das Symbol dafür ist das Öl,
das sie zusätzlich mitgenommen hatten.
Die Törichten sahen nur das, was vor ihnen lag
- im Gleichnis gesprochen: Sie hatten nicht genug Öl mit.
Das hat nichts mit Fleiß zu tun.
Die klugen und törichten Brautjungfern sind nicht wie Goldmarie und Pechmarie, 
so sehr sie uns daran erinnern mögen.
Sie sind nicht fleißig oder faul - im Gegenteil:
Beide werden vom Schlaf überwältigt.
Der einzige Unterschied zwischen beiden ist die Menge Öl,
die sie dabei hatten, und die im Gleichnis für die Vorausschau steht.
Mit einem anderen Wort: Für die Sehnsucht.

Die Sehnsucht ist das Öl,
das die Lampen der Brautjungfern am Brennen hält.
Wenn der Bräutigam halbe Ewigkeiten braucht, bis er kommt,
wie hält man da die Vorfreude wach?
Die Sehnsucht ist auch das Öl, das unserem Motor die Kraft gibt, 
jeden Morgen wieder neu anzuspringen und zu laufen
- auch und gerade in und gegen Dunkelheit und Angst und Schmerzen.
Denn die Sehnsucht kehrt die Blickrichtung um:
Sie blickt von der Tür her zurück auf den dunklen Weg.
Wir stehen schon im Licht der Hochzeit,
wir hören schon die Musik
und sehen zurück auf die Wegstrecke, die wir gegangen sind.
Sie war anstrengend, steinig, düster,
aber das ist jetzt, wo wir am Ziel sind, nicht mehr wichtig.
Das, was uns am Ziel erwartet,
verdrängt die Beschwernis des Weges 
- diese Erfahrung macht jeder, der schon einmal einen Berg bestiegen hat.

Was uns Christinnen und Christen in die Wiege gelegt ist,
ist diese Sehnsucht nach Leben und Gerechtigkeit,
von dem wir immer schon einen Zipfel in der Hand halten.
Mit einem Begriff: Sehnsucht nach dem Reich Gottes.
Das Reich Gottes - das ist die Hochzeit, von der Jesus erzählt,
zu der die Brautjungfern sich aufmachen
und auf der sie erwartet werden.
Leben und Gerechtigkeit
- diese Sehnsucht ist es,
die wir nicht aus dem Blick verlieren dürfen.
Die Sehnsucht nach einem neuen Himmel und einer neuen Erde,
wo Gott alle Tränen abwischt.
Wo Leid, Geschrei und Schmerz nicht mehr sind
und wo den Tod niemand kennt.
Die Sehnsucht blickt vom Reich Gottes,
auf dessen Schwelle wir schon stehen,
zurück auf unser Leben, unsere Welt.
In der Vorschau, in der Sehnsucht,
die zugleich eine Rückschau ist,
schrumpfen Angst, Sorgen und Leid.
Sie schrumpfen auf eine Größe,
in der wir sie ertragen können.
Und auch der Tod, der uns liebe Menschen nahm,
schrumpft auf das, was er ist:
Das Ende unseres biologischen Lebens, nicht weniger
- aber auch nicht mehr.

IV
Die Sehnsucht nicht aufgeben.
Dazu will uns Jesus mit seinem Gleichnis aufrufen.
Wir sollen uns die klugen Brautjungfern zum Vorbild nehmen,
die am Ende durch die offene Tür zum Fest gehen.
Die Sehnsucht nicht aufgeben.
Mit dieser Aufgabe hat Gott uns nicht allein gelassen.
Quer über unseren Lebensweg hat er Dinge gestreut,
Zipfel des Reiches Gottes,
die uns daran erinnern sollen wie der Knoten in einem Taschentuch.

Gras, das sich sanft im Wind kräuselt,
kann solch ein Taschentuch sein
und auch die wunderbaren Farben und tanzenden Sonnenflecken auf dem Herbstlaub.
Ein Brief von einem lieben Menschen
und auch eine wundervolle Melodie, die uns berührt und ergreift. 
Ein Blick und ein Lachen eines Kindes kann es sein
und eine Hand, die die unsere drückt und hält,
ein Gesicht, das unseren Blick erwidert und davon aufleuchtet.

All das sind Taschentücher,
die Gott über unseren Lebensweg gestreut hat.
Und wenn man genau hinsieht,
erkennt man das Monogramm des Eigentümers in der Ecke.
Es sind vier griechische Buchstaben:
Alpha und Omega, der Anfang und das Ende,
und Chi und Rho, die Anfangsbuchstaben des Namens,
der über alle Namen ist: Christus.
Und diese vier Buchstaben ergeben ein griechisches Wort:
ἌΡΧΩ (archo), ich herrsche.
Ich herrsche, sagt Christus,
nicht die Gewalt und nicht der Tod,
sondern ich herrsche im Himmel und auf Erden.
Denn "ich lebe", sagt Jesus, "und ihr sollt auch leben."

Amen.