Samstag, 16. Juli 2016

Physik

Predigt am 8. Sonntag nach Trinitatis, 17. Juli 2016, über Epheser 5,8-14

Liebe Schwestern und Brüder,

was ist ein gutes Leben?
Eine Frage, die sich uns so nicht stellt, denn wir führen ein relativ gutes Leben - oder?

Wenn einen das Grübeln überfällt, erinnert man sich an die Träume und Phantasien der Jugend, als man Kosmonautin werden wollte oder Kapitän, Urwaldforscher, Künstlerin - eine, die Bilder malt, oder eine Lebenskünstlerin, ein Bohemien, die den ganzen Tag im Kaffeehaus sitzt. 
Man denkt an ferne Länder, die man besuchen, tolle Dinge, die man tun oder erleben wollte. Manchmal beschleicht einen dann die Wehmut, wenn man beim Rückblick auf sein Leben feststellt, wie wenig man von diesen Träumen verwirklichte, wie weit man von seinen ursprünglichen Zielen und Ideen abgekommen ist.

Vielleicht hat man aber auch längst Frieden geschlossen mit dem Leben, wie es geworden ist. Vielleicht, weil man lernte, dass das Leben nicht nur das ist, was man daraus gemacht hat, sondern auch das, was man aus sich selbst gemacht hat.

I
Leben ist nicht nur das, was man tut oder getan hat, nicht nur die Summe der vielen Entscheidungen, die man traf. 
Leben ist auch, wer man ist
Damit bekommt die eingangs gestellte Frage, was ein gutes Leben ist, eine neue Richtung - und sie wird noch einmal dringlicher. Man kann sie so formulieren:
Wir wird man ein guter Mensch?

Der Predigttext aus dem Epheserbrief gibt eine Antwort auf diese Frage. Aber bevor ich den Text vorlese und wir über seine Antwort nachdenken, sollten wir uns eine andere Frage stellen: Warum sollte man überhaupt ein guter Mensch werden wollen?
Bevor Sie die Frage abtun, weil es selbstverständlich scheint, dass man lieber gut als schlecht sein will, bitte ich Sie, zwei Dinge zu bedenken:

1.) Was ist eigentlich „gut“, und was ist „schlecht“ - und woher wissen wir das?
Wir wären uns bestimmt einig, dass es gut ist, ehrlich zu sein, oder hilfsbereit, friedlich zu sein, oder sich an die Gesetze zu halten.
Aber je mehr ich aufzählen würde, desto häufiger würden Sie sich sagen: Moment mal … darüber muss ich erst nachdenken. Und vielleicht würden Sie mir sogar widersprechen, weil das, was ich für gut halte, in Ihren Augen vielleicht nicht rundheraus schlecht, aber auch nicht gut ist.
Wie ist es zum Beispiel damit, etwas zu tun, was Partnerin oder Partner oder die Kinder nicht wollen - ist das gut?
Ist es gut, immer ehrlich seine Meinung zu sagen, auch, wenn man andere damit verletzt oder riskiert, seinen Arbeitsplatz zu verlieren?
Ist es gut, sich für die Kirchgemeinde, den Umweltschutz oder eine Partei; für seinen Beruf oder seine Berufung so sehr zu engagieren, dass man dadurch seine Familie und Freunde vernachlässigt?

2.) Das Zweite, was ich Sie vorab zu bedenken bitte:
Die Lebenserfahrung lehrt uns, dass es gar nicht so leicht ist, ein guter Mensch zu sein. Man hat es dabei nicht leicht; wer es versucht, bekommt oft Ärger und Probleme, während andere, die es nicht aufs Gutsein anlegen, in Saus und Braus leben:
„Ich beneidete die Überheblichen;
es machte mir zu schaffen, als ich sah, wie gut es den Gottlosen geht.
Bis zu ihrem Tod leiden sie keine Qualen,
und wohlgenährt ist ihr Bauch.
Die Mühen des täglichen Lebens kennen sie nicht,
und von menschlichen Sorgen werden sie nicht geplagt.
Ach - so habe ich wohl ganz umsonst mein Herz und meine Hände frei von Schuld gehalten!
Ich werde ja doch den ganzen Tag vom Unglück geplagt, jeder Morgen ist bereits eine Strafe für mich!“
(Psalm 73,3-4.13-14, NGÜ)
Der Psalmbeter beklagt, dass es schlechten Menschen so gut geht, während gute leiden müssen - weil sie über das nachdenken, was sie tun; weil sie Skrupel kennen und haben; weil sie nicht alles tun, was man tun kann, sondern nur das, was in ihren Augen auch richtig ist.

Wer also meine Frage, warum man überhaupt gut sein sollte, eben im Geiste mit einer lässigen Handbewegung beiseite gewischt hat, sollte sich fragen, ob er oder sie tatsächlich bereit ist, um des Gutseins willen Unannehmlichkeiten und Nachteile in Kauf zu nehmen.

II
Nach diesen Vorüberlegungen kommen wir nun endlich zum Predigttext und zur Antwort auf die Frage, wie man ein guter Mensch wird:
„Ihr wart einst Finsternis,
jetzt aber seid ihr Licht im Herrn;
lebt wie Kinder des Lichts
- denn die Frucht des Lichts ist lauter Rechtschaffenheit und Gerechtigkeit und Wahrheit - und erwägt, was dem Herrn gefällt
und habt keinen Anteil an den fruchtlosen Werken der Finsternis,
vielmehr bringt sie an den Tag.
Denn ihre heimlichen Taten auch nur zu erwähnen ist eine Schande.
Alles aber, was an den Tag kommt,
wird vom Licht sichtbar gemacht,
denn alles Sichtbare ist Licht.
Darum heißt es:
‘Wach auf, Schläfer
und steh auf von den Toten
und Christus wird dir leuchten’.“  
Der Predigttext spricht von „Einst“ und „Jetzt“: „Ihr wart einst Finsternis, jetzt aber seid ihr Licht im Herrn“. Offenbar  ist der Übergang von der Finsternis ins Licht kein schleichender, unmerklicher, sondern ein Unterschied wie Tag und Nacht; ein Schritt, der alles verändert: Einst Finsternis, jetzt Licht. Dieser Schritt erfolgt im Herrn, also durch die Taufe. Denn durch die Taufe haben wir, wie Paulus sagt, Christus angezogen. Wir sind also in einem ziemlich wörtlichen Sinne „im Herrn“.

Die Taufe bewirkt und markiert den Wechsel zwischen Finsternis und Licht. Das bedeutet aber: Wir sind diesen Schritt von der Finsternis ins Licht nicht selbst gegangen. Wir haben uns zwar für die Taufe entschieden, wenn wir als Jugendliche oder Erwachsene getauft wurden, oder wir haben bei der Konfirmation die Entscheidung unserer Eltern, uns taufen zu lassen, durch unser Ja bestätigt. Aber damit haben wir auch das „Kleingedruckte“ mit abgenickt: Die Zusage, gute Menschen werden und sein zu wollen, die zum Christsein dazugehört.

III
Wir hatten und haben also gar keine Wahl.
Wir können gar nicht mehr entscheiden, ob wir gute Menschen sein wollen oder nicht, Kinder des Lichts oder Kinder der Finsternis, weil wir uns durch die Taufe schon für das Licht entschieden haben. Die meisten von uns kannten und bedachten nicht die Konsequenzen dieser Entscheidung; welche Nachteile, Schwierigkeiten und Unannehmlichkeiten es mit sich bringen kann, ein guter Mensch zu sein. Das ist das „Kleingedruckte“ bei der Taufe. Im Konfirmandenunterricht sollte man sich eigentlich damit beschäftigen, um zu wissen, wozu man bei der Konfirmation „Ja“ sagt, aber man tut es meistens nicht. Darum ist es in frommeren Kreisen üblich, dieses Ja noch einmal bewusst zu wiederholen, indem man an einem bestimmten Punkt seines Lebens sein Leben Jesus übergibt. Nötig ist es nicht, weil es mit der Taufe ja schon geschehen ist, aber, wie gesagt, das Kleingedruckte nimmt man ja immer erst hinterher zur Kenntnis …

Nun haben wir so viel über die Bedingungen und Voraussetzungen für die Entscheidung, ein guter Mensch zu sein, nachgedacht, nur, um festzustellen, dass man sowieso keine Wahl hat, als gut zu sein. Jetzt wollen wir endlich wissen: Wie wird man denn nun ein guter Mensch?
Die Antwort, die der Predigttext gibt, ist verblüffend einfach, ja, geradezu banal: „Alles, was an den Tag kommt, wird vom Licht sichtbar gemacht“.

Das haben wir doch schon im Physikunterricht gelernt: Wir sehen Gegenstände, weil sie das Licht reflektieren. Die meisten Dinge leuchten nicht von selbst, sondern werfen das Licht zurück, das von einer Lichtquelle auf sie fällt; dadurch können wir sie sehen. Dinge, die sich im Dunkeln befinden, kann man deshalb nicht erkennen.
So ist es auch mit dem, was wir tun und was wir sagen: Gut ist unser Handeln und Reden, wenn es im Licht geschieht - also so, dass jede und jeder es sehen, davon wissen, es hören kann - auch die oder der, über den wir gerade reden.
Sobald wir das, was wir tun oder sagen, verbergen müssen oder möchten, es nicht dem Licht aussetzen wollen, ist daran etwas faul.

Das soll nicht heißen, dass wir kein Privatleben und keine Geheimnisse haben dürften. Unser Privatleben geht niemanden etwas an. Oft muss man sich auch vor bösen Menschen schützen, die eine Schwachstelle ausnutzen, eine Information weitertragen oder gegen einen verwenden würden.

Das Private endet aber dort, wo ein anderer Mensch ins Spiel kommt und mit betroffen ist. Geheimnisse, die dazu dienen, andere Menschen zu benachteiligen, schlecht zu machen oder etwas über ihren Kopf hinweg zu entscheiden, müssen aufgedeckt werden.

Eigentlich ist es leicht, den Unterschied zwischen dem einen und dem anderen festzustellen: Unser Gewissen zeigt ihn uns. Wenn wir ein ruhiges Gewissen haben, dann war es richtig, etwas im Dunkeln zu lassen. Wenn nicht, dann haben wir nicht gut gehandelt.

IV
„Alles, was an den Tag kommt, wird vom Licht sichtbar gemacht“.
Die Lichtquelle unseres Lebens ist nicht die Sonne, auch, wenn wir uns manchmal nach ihren Strahlen sehnen und am Strand zu „Sonnenanbetern“ werden. 
Die Lichtquelle unseres Lebens ist auch kein Fernseh- oder Computerbildschirm, kein leuchtendes Smartphone und keine Lampe.
Die Lichtquelle unseres Lebens, sofern wir Christen sind, ist Christus, der von sich sagt: „Ich bin das Licht der Welt“.

Wenn wir auf unser Christsein anwenden, was wir in Physik über die Reflektion gelernt haben, dann funktioniert Christsein so: Wir werfen das Licht zurück, das Christus auf uns strahlt. Und wie eine Blüte am Weg oder ein Schneckenhaus nichts dafür tut, das Licht der Sonne zurückzuwerfen, so dass wir sie als Schneckenhaus und Blüte sehen können, so werfen auch wir einander Christus zu, ohne etwas dafür zu tun - einfach, weil wir Christen sind und als Christen da sind.
Man muss als Christin oder Christ also gar nichts leisten, um das Licht, das Christus ist, zu reflektieren - da sein genügt völlig. Also funktioniert es nicht zuhause im Besenschrank oder auf dem Sofa. Man muss schon herauskommen, unter Leute gehen, zum Beispiel hierher, in den Gottesdienst …

Auf der Straße, im Kaufladen, auf der Arbeit, in der Schule reflektieren wir Christinnen und Christen den anderen Menschen, die mit uns zu tun haben, denen wir begegnen, Christus - meist, ohne dass sie es merken oder wissen.
Aber so, wie man sich über das Muster eines Schneckenhauses, die leuchtende Farbe einer Blüte am Wegrand freut, so verbreiten wir mit dem Licht auch die Freude Christi - einfach dadurch, dass es uns gibt, dass wir da sind.

Und hier, im Gottesdienst, reflektieren wir Christus füreinander. Auch das ist wichtig. Wir wissen zwar, dass wir Gottes geliebte Kinder sind. Aber manchmal reicht es nicht, das mit dem Verstand zu wissen; da möchte man es auch erleben, es fühlen. Darum vor allem feiern wir Gottesdienst: um zu erleben und zu spüren, dass Christus unter uns ist, dass Gott uns sieht und uns lieb hat.
Wir erleben und spüren es in der fraglosen Gemeinschaft, die man im Gottesdienst erleben kann.
Durch die Freundlichkeit, mit der wir uns hier begegnen können.
Durch die Offenheit, die hier herrschen kann.
Diese Gemeinschaft, diese Freundlichkeit und Offenheit ergeben sich allerdings nicht von selbst. Dafür können und müssen wir etwas tun.

V
Wir sind nicht nur Reflektoren des Lichtes Christi. Wir können und dürfen auch selbst leuchten. Als Christinnen und Christen verbreiten wir nicht nur das Licht Christi in der Welt, wir sind selbst Lichter in dieser Welt. 
Wir vertreiben die Dunkelheit durch unsere Rechtschaffenheit, unsere Gerechtigkeit, unsere Wahrheit. 
Wir vertreiben sie durch unser Bemühen, gute Menschen zu sein, deren Handeln und Reden im Licht bestehen kann. 
So fangen wir selbst an zu leuchten. 
Dann wird es heller in der Welt, die wahrlich viel Dunkelheit und Schrecken kennt. 
Dann verdrängen wir die Dunkelheit an unserem Ort. 

Von einem solchen Leben könnte man mit recht sagen, dass es ein gutes Leben ist.

Amen.