Samstag, 9. September 2017

Verpflichtungen


Predigt am 13. Sonntag nach Trinitatis, 10. September 2017, über Markus 3,31-35

Jesus‘ Mutter und seine Geschwister kamen und standen draußen. Und sie schickten nach ihm und bestellten ihn zu sich.
Viele Leute saßen um Jesus herum und sagten: „Hör mal, deine Mutter, deine Brüder und Schwestern sind draußen und wollen was von dir.“
Jesus antwortete: „Wer ist meine Mutter, und wer sind meine Geschwister?“
Und er schaute ringsherum auf die, die im Kreis um ihn saßen, und sprach: „Hier, das ist meine Mutter, und das sind meine Geschwister. Denn wer immer den Willen Gottes tut, ist mein Bruder und meine Schwester und meine Mutter.“
(Eigene Übersetzung)

Liebe Schwestern und Brüder,

eine ziemlich alltägliche Szene:
Sohnemann sitzt mit seinen Kumpels zusammen.
Die Eltern wollen etwas von ihm.
Er reagiert gereizt und ablehnend.
So weit, so gewöhnlich.

Nur, dass Jesus kein gewöhnlicher Sohn ist
und seine Reaktion nicht die eines pubertierenden Jugendlichen, sondern eines Rabbis.
Eines Lehrers, der genau weiß, was er tut
und mit seinem Tun ein Beispiel gibt,
das für uns Vorbild und Orientierung sein soll.

Also schauen wir noch einmal hin, und genauer:
Was ist das für eine Situation?

Jesus sitzt da, umgeben von Menschen,
die um ihn einen Sitzkreis bilden.
Ein Rundgespräch. Sie besprechen etwas.
Jesus in der Mitte leitet wohl das Gespräch.
Vielleicht stellt er Fragen, vielleicht gibt er Antworten,
vielleicht hört er einfach zu, was die anderen sagen.
Gespräche dieser Art finden statt in Klassenräumen und Universitäten.
Es sind Supervisions- oder Seelsorgegespräche,
kollegiale Beratungen oder Balintgruppen.
Es sind Gesprächsrunden von Initiativen wie den Anonymen Alkoholikern.
Es sind Elternabende oder Hauskreise.
All diesen Gesprächsrunden gemeinsam ist,
dass es da sehr konzentriert zugeht
und dass man nicht gestört werden möchte.

Auf der anderen Seite seine Familie,
seine Eltern und Geschwister.
Also nicht nur die Mutter, die will, dass er sein Zimmer aufräumt.
Nicht nur der Vater, der ihn ans Rasenmähen erinnert.
Nicht nur der Bruder, der fragt, wo er den Fahrradschlüssel gelassen hat,
oder die Schwester, die wissen will, ob er sie heute Nacht von der Disco abholt.
Nein, die ganze, komplette Familie steht vor der Tür.
Wo gibt‘s denn sowas?

Und vor allem: Wann passiert es jemals, dass die ganze Familie anrückt?
Da kann es sich eigentlich nur um einen besonderen Geburtstag handeln.
Um ein Familienfest: die Hochzeit, die Taufe.
Oder um die Feier des Schul- oder Studienabschlusses,
der Meisterprüfung oder des Doktortitels.
Seine Familie ist gekommen, um ihn, Jesus, zu besuchen.
Aber er lässt sie einfach warten,
lässt sie draußen vor der Tür stehen.

II
Wer verhält sich unhöflich in dieser Geschichte?
Jesus, der ablehnend auf den Wunsch seiner Familie reagiert, ihn sehen zu wollen?
Oder seine Familie, die ihn stört, während er in einem Gespräch ist?

Unsere Sympathien sind wohl bei der Familie.
Die Familie ist eine besondere Gemeinschaft.
Da muss man nicht Blutsbande beschwören oder Verwandtschaftsgrade,
braucht keine Stammbäume zu zeichnen oder Gesellschaftstheorien zu bemühen.
Die Familie ist allein schon deshalb etwas Besonderes,
weil sie mit dem verbunden ist, was wir unser „Zuhause“ nennen.
Selbst, wenn man selbst längst eine eigene Familie hat,
fährt man, solange man noch Eltern hat, „nach Hause“,
wenn man seine Eltern besucht.
Und die Geschwister sind nun einmal die Geschwister.
Das ist eine ganz andere Beziehung als die zur Freundin oder zum Freund,
aber auch als die zur Liebsten oder zum Liebsten.
Man bleibt sein Leben lang Schwester oder Bruder,
und man kann sein Leben lang darauf zurückkommen,
dass man jemandes Schwester oder Bruder ist.

Familie geht vor.
Also könnte man erwarten, dass Jesus,
wenn er seine Gesprächspartner schon nicht wegschickt,
wenigstens eine kurze Pause einlegt, um mit seiner Familie zu sprechen.

Aber Jesus macht keine Pause,
sondern verwendet die Nachfrage seiner Familie,
um daraus eine Frage an seine Gesprächspartner zu formulieren:
„Wer ist meine Mutter, und wer sind meine Geschwister?“

Was soll man darauf antworten?
Sie stehen doch draußen, seine Mutter, Schwestern und Brüder.
Warum fragt Jesus dann, wer seine Mutter und seine Geschwister sind?
Das kann doch nur bedeuten, dass er sagen will:
Die da draußen, die sich als meine Eltern und Geschwister ausgeben, sind es nicht.
So etwas zu sagen ist, gelinde gesagt, eine ziemliche Unverschämtheit.

III
Es kommt manchmal vor, dass Jugendliche sich für ihre Eltern schämen.
Besonders, wenn sie sich als Spaßbremse erweisen:
Unangemeldet ins Zimmer platzen und Bemerkungen machen wie
„Dein Freund, deine Freundin muss doch sicher bald nach Hause?“
Und auch Geschwister können peinlich sein.
Aber das ist kein Grund, sie so rundweg zu verleugnen, wie Jesus es tut.
Er sagt ja nicht: Die kenn‘ ich nicht.
Er sagt: Das ist nicht meine Familie.

Es gibt Stellen in den Evangelien,
an denen Jesus ähnlich schroffe Aussagen macht wie hier.
Zum Beispiel:
„Lass die Toten ihre Toten begraben,
du aber gehe hin und verkündige das Reich Gottes“ (Lukas 9,60).
Auch an dieser Stelle achtet Jesus die Pflicht gegenüber der Familie nicht.
Dem Sohn, der seinen Vater begraben will, sagt er:
„Lass die Toten ihre Toten begraben“.
Und dem, der sich nur kurz von seiner Familie verabschieden will,
bescheinigt er:
„Wer die Hand an den Pflug legt und sieht zurück,
der ist nicht geschickt für das Reich Gottes“ (Lukas 9,62).
Mit anderen Worten:
Wenn du dich erst von deiner Familie verabschieden musst,
brauchst du gar nicht erst mit mir mitzukommen.

Warum ist Jesus hier so schroff, so unbarmherzig?
Er hat Mitleid mit der Ehebrecherin,
mit Zöllnern und Sündern,
aber einem, der ihm nachfolgen will,
erlaubt er nicht einmal, Abschied von seiner Familie zu nehmen?
Was hat Jesus denn bloß gegen die Familie?

IV
Jesus wäre nicht so, wenn nicht einiges auf dem Spiel stünde - vielleicht sogar alles.
Aber was steht auf dem Spiel, um was geht es hier?
Es geht nicht um Höflichkeit, nicht um Respekt vor der Familie.
Es geht um Verpflichtungen.

Nicht nur Adel verpflichtet.
Eine Familie verpflichtet weitaus mehr.
Wer eine Partnerschaft eingeht, ist diesem Partner, dieser Partnerin verpflichtet.
Wer Kinder in die Welt setzt, muss für diese Kinder sorgen -
und zwar, bis sie ihre Ausbildung beendet haben und selbst Geld verdienen können.
Normalerweise macht man sich darüber keine Gedanken.
Es ist selbstverständlich, man findet es sogar gut,
für die Partnerin, den Partner, für die Kinder da sein zu können.
Erst, wenn etwas schief geht, merkt man, dass es eine Pflicht ist.

Und man merkt es, wenn Eltern oder Geschwister sich auf die familiären Pflichten berufen.
Wenn man einem Bruder Geld leihen soll, weil er sich verschuldet hat,
der Schwester einen Gefallen tun soll, weil sie keinen Babysitter fand.
Wenn die Eltern fragen, warum man sie so lange nicht mehr besucht hat.

Man hat Pflichten als Tochter oder Sohn, als Gattin oder Gatte, als Vater oder Mutter.
Jesus aber setzt andere Prioritäten.
Du bist nicht deiner Familie verpflichtet, sagte er,
sondern dem Willen Gottes.
Gottes Wille kommt vor der Familie,
und er steht über der Familie.

Das hat zu allen Zeiten vielen Menschen den Vorwand gegeben,
die Familie um Gottes Willen zu verlassen,
um ins Kloster zu gehen oder Missionar zu werden.
Diese „selbstlose Tat“ hat sogar noch den Beigeschmack besonderer Frömmigkeit.
Sie ist aber nicht fromm - ganz im Gegenteil:
Sie ist verantwortungslos.

Jesus kritisiert denn auch die Pharisäer - also die, die besonders fromm sind -,
weil sie das Geld, das sie ihren Eltern geben müssten - heute wäre das die Rente
- dem Tempel spenden.
Eigentlich doch eine fromme Tat.
Aber sie führt dazu, dass die Eltern hungern.
Hier geht Familie also vor - oder?

V
Gottes Wille steht über der Familie.
Aber Gottes Wille ist es auch, Vater und Mutter zu ehren (2.Mose 20,12).
Damit ist nicht nur der Respekt gegenüber den Eltern gemeint.
Vielmehr bedeutet Gottes Wille, die Eltern zu versorgen, wenn sie es nötig haben.
Wenn Jesus sagt:
„Wer immer den Willen Gottes tut,
ist mein Bruder und meine Schwester und meine Mutter“,
dann verleugnet er nicht seine Familie.
Jesus macht nur deutlich,
dass die Verpflichtung gegenüber einem Menschen nicht aus der Beziehung zu ihm erwächst,
sondern aus der Befolgung des Willens Gottes.

Daraus kann man noch heute viel lernen.
Denn familiäre Verpflichtungen gibt es nicht nur in der Familie.
Ohne Vitamin B, ohne gute Beziehungen, kommt man nicht voran.
Bei den Besetzungen von Stellen geht es, je höher man steigt,
desto weniger um Qualifikationen und Leistung,
sondern viel mehr darum, jemanden zu kennen,
der einem noch einen Gefallen schuldig ist.
Es wird nicht danach gefragt, wer für diese Stelle am besten geeignet ist,
sondern wer für mich am besten ist: Mit wem ich am besten kann,
wen ich mag, wer mir nützlich sein kann oder wem ich etwas schuldig bin.

Viel zu oft geht es nicht um die Sache, sondern um Personen.
Viel zu oft geht es um Beziehungen und nicht um das Ziel.
Aber Kirche ist nicht dafür da,
dass wir es kuschlig und nett haben.
Gemeinde sind nicht die, die wir mögen
- und die anderen, die können gerne draußen bleiben.

Kirche soll für Gottes Gerechtigkeit eintreten.
Gemeinde sind die, die Jesus nachfolgen und deshalb zusammengehören,
weil sie einen Rabbi, einen Lehrer haben, der sie beruft.

VI
Wem sind wir verpflichtet?
Unserer Familie, unseren Klienten, unseren Kumpels - oder Gott?
Erst, wenn wir unsere wahre Pflicht erkennen,
werden wir auch die wahre Freiheit der Kinder Gottes erfahren.

Als Gemeinde sind wir versammelt um Jesus.
Er ist nicht da. Da ist eine Leerstelle, auf die der Altar verweist.
Und trotzdem ist er mitten unter uns.
Wir sitzen um ihn herum, hören ihm zu
oder erzählen ihm von uns.
Und er schaut ringsherum auf uns, die wir im Kreis um ihn sitzen,
und sagt: „Hier, das ist meine Mutter, und das sind meine Geschwister.
Denn wer immer den Willen Gottes tut,
ist mein Bruder und meine Schwester und meine Mutter.“
Amen.