Donnerstag, 30. November 2017

Eine neue Geschichte

Predigt am 1. Advent, 3.12.2017, über Apok 5,1-14:

Ich sah: In der rechten Hand dessen, der auf dem Thron saß, war ein Buch, beschrieben von innen und von hinten, das war mit sieben Siegeln versiegelt.

Und ich sah: Ein mächtiger Engel verkündete mit gewaltiger Stimme:
- Wer ist würdig, das Buch zu öffnen und seine Siegel zu brechen?
Aber niemand im Himmel noch auf der Erde noch unter der Erde konnte das Buch öffnen oder gar hineinsehen. Da weinte ich sehr, weil sich niemand würdig fand, das Buch zu öffnen oder gar hineinzusehen.
Aber einer der Ältesten sprach zu mir:
- Weine nicht! Du weißt doch, der „Löwe aus dem Stamm Juda“, die „Wurzel Davids“ hat gesiegt und kann das Buch öffnen und seine sieben Siegel.

Und ich sah: Mitten zwischen dem Thron, den vier Tieren und den Ältesten stand ein Lamm, das sah aus wie geschächtet. Es hatte sieben Hörner und sieben Augen - das sind die sieben Geister Gottes, die er über die ganze Welt sendet. Und es kam und nahm es aus der rechten Hand dessen,  der auf dem Thron sitzt. Als es das Buch genommen hatte, fielen die vier Tiere und die vierundzwanzig Ältesten nieder vor dem Lamm. Jeder hatte eine Laute und goldene Schalen, die mit Räucherwerk gefüllt waren - das sind die Gebete der Heiligen. Und sie sangen ein neues Lied:
- Würdig bist du, das Buch zu nehmen
und seine Siegel zu brechen,
weil du geschächtet bist
und hast Gott mit deinem Blut
aus jedem Volksstamm, jeder Sprache,
jeder Nation und jeder Volksgruppe Menschen freigekauft.
Du hast sie unserem Gott zum Königtum und zu Priestern gemacht,
und sie werden über die Erde herrschen.

Und ich sah: Ich hörte die Stimme vieler Engel rings um den Thron, und die Stimmen der Tiere und der Ältesten, und ihre Zahl war Myriaden über Myriaden und Tausend mal Tausend.
Sie riefen mit gewaltiger Stimme:
- Würdig ist das Lamm, das geschächtet wurde,
an sich zu nehmen die Macht
und Reichtum und Weisheit und Stärke
und Ehre und Preis und Lob.
Und jedes Geschöpf im Himmel und auf der Erde und unter der Erde und auf dem Wasser und alles, was in ihm ist, hörte ich singen:
- Dem, der auf dem Thron sitzt und dem Lamm
sei Lob und Ehre
und Preis und Macht
von Ewigkeit zu Ewigkeit.

Und die vier Tiere sprachen: Amen.
Und die Ältesten fielen nieder und beteten an.
(Eigene Übersetzung)

Liebe Schwestern und Brüder,

was für eine befremdliche, ja gruselige Szenerie:
Tiere, Menschen, Engel, und mittendrin ein Lamm „wie geschächtet“,
also mit einem blutigen Schnitt am Hals.
Über allem thront jemand, der ein eigenartiges Buch in der Hand hält.
Ist das ein sneak-preview des neuen Star-Wars-Films, der diese Tage in die Kinos kommt?

Es ist eine Vision.
Der Seher Johannes „schaut“ diese Szene,
wie immer man sich das vorstellen mag -
sieht er sie vor seinem geistigen Auge?
Träumt er sie?
Befindet er sich in Ekstase?
Hat er Drogen genommen?
Jedenfalls ist er selbst mitten drin - und weint!
Der Seher Johannes weint wie jemand,
der seinen Willen nicht bekommt,
der bitter enttäuscht ist.
Er weint, weil das Buch verschlossen bleibt.

I. Wann hat man jemals so unbedingt und dringend wie der Seher Johannes ein Buch lesen wollen?
Ich erinnere mich, dass ich es kaum erwarten konnte,
bis der neueste Harry Potter erschien.
Und ich stelle mir vor, dass es manchen Eltern schwer fallen könnte,
das Tagebuch ihrer Tochter oder ihres Sohnes nicht zu lesen.
Manche wird vielleicht auch die Versuchung kennen,
mal in das Notizbuch oder den Kalender der Partnerin, des Partners zu schauen.

Ein geschlossenes Buch kann Neugier wecken.
Um so mehr, je mehr man sich von dessen Inhalt verspricht.
Ein geschlossenes Buch - ist das überhaupt ein Buch?
Es ist nur eine Hülle, ein Kokon,
aus dem die Geschichte erst schlüpfen muss.
Aber wie kommt sie heraus?
Sie wird herausgelesen.
Die Leserin erweckt die Geschichte und ihre Figuren zum Leben.
Das geschieht in ihrem Kopf, oder, wenn sie laut liest,
in den Köpfen ihrer Zuhörerinnen
- wie eben beim Lesen des Predigttextes.
Die Geschichte ist zwar nur in den Köpfen,
aber weil sie im Kopf jeder und jedes einzelnen von uns ist,
steht sie damit auch im Raum,
weil sie etwas mit uns macht
- uns verwirrt, oder verzaubert, oder verwandelt.

II. a) Das Buch, das der Seher Johannes sieht, ist sehr besonders:
Sein Inhalt quillt über, ergießt sich sogar auf die Rückseite des Buches.
Und es ist besonders sicher verschlossen, mit sieben Siegeln.
Was für eine gefährliche, explosive Geschichte muss es enthalten,
wenn sie so gut gesichert ist!
Es findet sich ja auch niemand, der dieses Buch lesen kann
- was den Seher zum Weinen bringt.
Niemand bringt die Voraussetzung mit, dieses Buch zu öffnen und zu lesen.
Was kann das nur für ein Text sein, den niemand auf der ganzen Welt lesen kann?

Das Buch erzählt vom Ende der Welt, vom Endgericht,
von dem wir im Glaubensbekenntnis sprechen:
„von dort wird er kommen,
zu richten die Lebenden und die Toten“.
Ein Ende mit Schrecken für alle, die Unrecht taten.
Das Endgericht bringt denen Gerechtigkeit,
die Unrecht erleiden mussten.
Es erfüllt die flehentlichen Bitten derer,
die verfolgt wurden, die leiden mussten,
die um einen kranken Menschen bangten.
Es macht aus Ersten Letzte und aus Letzten Erste.

b) Warum wird dieses wunderbare Buch so streng unter Verschluss gehalten?
Es ist doch genau das, was wir uns so sehr wünschen:
Gerechtigkeit auf der Welt,
und die Erfüllung unserer sehnlichsten Wünsche
nach Frieden,
nach Gesundheit,
nach einer sauberen und heilen Umwelt;
nach einem Gott, den man nicht mehr suchen muss,
sondern von dem man weiß, wo er zu finden ist.

Wir Menschen haben immer wieder versucht,
die Siegel dieses Buches mit Gewalt zu brechen.
Der Kommunismus wollte Gerechtigkeit für alle durchsetzen - und ist dabei an sich selbst gescheitert.
Der Faschismus wollte seine Art der Gerechtigkeit für die eigenen Leute erzwingen.
Er wurde besiegt, bleibt aber nach wie vor eine Versuchung für viele, die meinen, sie hätten mehr und Besseres verdient als andere.
Der Terrorismus tritt in die Fußtapfen des Faschismus, wenn er mit Gewalt Gerechtigkeit für die eigenen Leute erstreiten will.

Jeder Versuch, Gerechtigkeit mit Gewalt herbeizuführen,
hat Unrecht, Not und Elend über die Menschen gebracht.
Und selbst unsere ehrenwerten Versuche,
den Menschen in den Krisengebieten mit Soldaten beizustehen
und den Terrorismus mit Gewalt zu bekämpfen,
erzeugen wieder nur neue Opfer, neues Unrecht.

c) Das ist der Grund, warum niemand auf der Welt in der Lage ist, das Buch zu öffnen und zu lesen.
Warum aber das Lamm?
Was kann das Lamm, das niemand sonst kann?

Das Lamm, das haben Sie sich sicher schon gedacht, ist Jesus.
Jesus, von dem Johannes der Täufer sagt:
„Siehe, das ist Gottes Lamm, das die Sünde der Welt trägt“ (Johannes 1,29),
Deshalb sieht es aus „wie geschächtet“:
Es ist der Gekreuzigte, der in der Mitte des Thronsaals steht.
Weil er der Gekreuzigte ist, darf er das Buch öffnen und lesen.
Denn Jesus ist nicht am Kreuz gestorben, um Rache zu nehmen für all das Unrecht, das geschehen ist, und die Übeltäter zu bestrafen.
Er starb am Kreuz, um das Unrecht auf sich zu nehmen, auch das der Übeltäter.
Er vergab sogar denen, die ihn ermordeten.
Er hat durch seinen Tod das Schuldenkonto jedes Menschen getilgt
und so jeder und jedem die Chance für einen Neuanfang gegeben.
Die Chance, ein besserer, ein gerechterer Mensch zu sein.

III. Das Lamm wird das Buch öffnen, es wird es lesen,
und das Ende wird seinen schrecklichen Lauf nehmen.
Der Seher Johannes berichtet davon in den folgenden Kapiteln der Offenbarung.
Johannes konnte sich dieses Ende nur als ein Ende mit Schrecken vorstellen.
Er sah die Menschheit heimgesucht von den Geistern, die sie selbst gerufen und entfesselt hatte.

Ich kann mir ein solches Ende, wie Johannes es sieht, nicht vorstellen.
Das Lamm Gottes, das die Sünde der ganzen Welt trug,
schafft auch den schlimmsten Übeltätern eine Erlösung,
die ihnen die Chance zum Neuanfang gibt.
Zu einem Leben, das sie anderen nicht gönnen wollten.
Ansonsten - welche Hoffnung hätten wir?

Der Advent ist der Anfang dieses Endes,
weil wir auf die Geburt dessen zugehen, der das Lamm Gottes sein wird.
Das bedeutet, der Advent ist der Anfang eines Neuanfangs.
Jetzt, heute, kann es anders werden;
jetzt, heute, kann ich eine andere, ein anderer werden.

Der Advent ist die Zeit der Hoffnung und der Träume nach einem neuen Anfang,
nach einem neuen Himmel und einer neuen Erde.
Damit etwas Neues beginnen kann, muss Altes aufhören.
So, wie man durch die Taufe ein neuer Mensch wird und Altes hinter sich lässt;
so wie man jeden Tag neu „in die Taufe zurückkriechen“ kann, wie Martin Luther sagte,
also jeden Tag neu anfangen und Altes hinter sich lassen kann;
so wird jedes Mal, wenn wir die Geschichte vom Einzug in Jerusalem lesen und hören,
unsere Hoffnung lebendig, dass der kommn wird, der uns und diese Welt verändern kann.

IV. Eine Geschichte wird gelesen, steht im Raum, nimmt uns für sich ein …
Wenn wir eine Geschichte lesen oder hören, kann sie uns ergreifen.
Dann werden wir ein Teil von ihr, oder sie ein Teil von uns.
Sie beeinflusst die Art, wie wir die Welt sehen,
beeinflusst unsere Entscheidungen und Handlungen.
Wir werden Teil der Geschichte - wir werden selbst zu einer Geschichte.
Wir werden zu einem Buch, das andere lesen.
Andere lesen an unserem Handeln ab, wes Geistes Kinder wir sind.
Sie lesen in uns von der Liebe und Güte Gottes.
Oder sie lesen von Verbitterung, Enttäuschung, Leid, Schmerz und Hass.

Jede und jeder von uns hat Schweres erleiden und ertragen müssen,
erleidet und trägt es jetzt.
Es ist Teil unseres Lebens, unserer Geschichte.
Aber es ist die Frage, ob es auch Teil der Geschichte sein soll,
die wir von uns erzählen.
Und ob es Teil der Geschichte sein muss,
die wir andere weitergeben und in ihnen lebendig werden lassen.

V. Heute, am 1.Advent, beginnt wieder einmal eine neue Geschichte.
Wir hören sie, sie nimmt in uns Gestalt an, wir gestalten sie mit.
Was erzählen wir weiter?
Welche Geschichte verköpern wir mit unserem Handeln?
Lassen Sie uns so leben und handeln,
dass die Geschichte dieser Welt ein gutes Ende nimmt!
Amen.


Vorüberlegungen zum Predigttext und eine Gliederung der Predigt finden sich auf mitredner.wordpress.com.