Montag, 26. Dezember 2011

Das erste Wort - Predigt am 2. Weihnachtstag

Predigt am 2. Weihnachtstag, 26.12.2011, über Johannes 1,1-5.15:

Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort. Dasselbe war im Anfang bei Gott. Alle Dinge sind durch dasselbe gemacht, und ohne dasselbe ist nichts gemacht, was gemacht ist. In ihm war das Leben, und das Leben war das Licht der Menschen. Und das Licht scheint in die Finsternis, und die Finsternis hat's nicht ergriffen.
Und das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns, und wir sahen seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit als des eingeborenen Sohnes vom Vater, voller Gnade und Wahrheit.


Liebe Gemeinde,

ein Kind malt auf einem Blatt Papier.
"Sieh mal, eine Katze" sagt es und zeigt auf sein Bild.
Ich sehe es mir an. Da sind viele bunte Kringel,
und ich bemühe mich, darin eine Katze zu erkennen.
"Ist das vielleicht der Schwanz?"
"Nein!" Das Kind schüttelt den Kopf. "Das ist doch der Kopf!"

Das Kind hat etwas gemalt, und das ist eine Katze,
weil das Kind sagt, dass es eine Katze ist.
Was für mich aussieht wie Gekringel, ist also eine Katze.
Das Kind hat aus den formlosen Kringeln eine Katze erschaffen.
Indem es gesagt hat: "Katze" sind die Kringel nicht mehr formlos.
Sie sind jetzt eine Katze, auch für mich.

Im Anfang war das Wort.
Im Anfang steht ein Wort, das deutet und benennt
und aus Kringeln eine Katze erschafft.
Am Anfang unseres Lebens steht ein Wort,
auch wenn wir am Anfang unseres Lebens
noch keine Worte hervorbringen, sondern nur Geräusche.
"Herrscher des Himmels, erhöre das Lallen",
heißt es deshalb auch im Weihnachtsoratorium.
Das kindliche Lallen, noch ohne Form,
wird von Gott gehört und verstanden.

Am Anfang unseres Lebens steht ein Wort,
und wenn wir es auch noch nicht verstehen,
wissen wir doch, dass dieses Wort uns meint,
weil wir dabei angesehen werden,
liebevoll, oder voller Stolz.
Es ist unser Name.

Im Anfang war das Wort.
Und das erste Wort, das wir hören, ist unser Name.
Der Name, der uns zu einem besonderen,
unverwechselbaren Menschen macht.
Der mir, wenn ich ihn höre, immer wieder sagt,
dass ich ich bin, dass ich gemeint bin.

II
Im Anfang war das Wort.
Welches Wort spricht Gott im Anfang?
Welches war das erste Wort?
Das Wort, das bei Gott war,
und Gott war dieses Wort?

Das Wort im Anfang ist ein Name,
wie am Anfang unseres Lebens ein Name steht.
Der Name Jesus.
Jesus, auf hebräisch: Jehoschua, bedeutet: Gott hilft.
Gottes Wort im Anfang ist ein Name,
der bedeutet: Gott hilft.
Gott ist dieses Wort:
Gott ist ein helfender Gott.
Ein Gott in Beziehung.
Gott ist seiner Schöpfung, ist uns Menschen
freundlich und helfend zugewandt.
Gott ist mit diesem Namen ansprechbar
auf sein Wohlwollen. Seine Hilfe. Seine Barmherzigkeit.

Jehoschua, dieser Name im Anfang
kommt bereits an anderer Stelle in der Bibel vor.
Es ist die hebräische Form des Namens,
den wir als "Josua" kennen.
Josua, der Helfer des Mose,
nach dem ein eigenes Buch der Bibel benannt ist.
Josua, der das Volk Israel,
das 40 Jahre unter Moses' Führung durch die Wüste zog,
über den Jordan ins verheißene Land führt.

Jesus, der Josua des neuen Testaments,
ist auch ein Helfer des Mose.
Am Anfang seines Weges steht ebenfalls der Jordan,
in dem er sich von Johannes taufen lässt.
Er ist auf die Welt gekommen, um das Gesetz,
das Mose dem Volk Israel gab, zu erfüllen:
"Ihr sollt nicht meinen, dass ich gekommen bin,
das Gesetz oder die Propheten aufzulösen"
, sagt er.
"Ich bin nicht gekommen, aufzulösen, sondern zu erfüllen."
(Matthäus 5,17)

III
"Das Wort wurde Fleisch".
Jesus - Gott hilft - wurde im Stall von Bethlehem geboren.
Gott wird mit diesem Namen für uns ansprechbar.
Der Name Jesus wird für uns zum Schlüssel,
mit dem wir die Worte der Bibel lesen und verstehen.
So, wie das Kind zu den Kringeln auf dem Papier sagte:
Das ist eine Katze,
so schließt der Name Jesus uns die Schrift auf.
Wir lernen von ihm,
dass Gott für uns ist, nicht gegen uns.
Dass Gott Leben für uns will, nicht den Tod.
Dass Gott uns glücklich sehen will,
nicht leidend, voller Zweifel, mit schlechtem Gewissen.

Paulus war der erste, der diesen Jesus-Schlüssel benutzt hat.
Er, der das Gesetz des Mose ernst genommen hatte,
todernst sogar, verstand auf einmal,
dass Jesus der Helfer des Mose ist,
indem er uns hilft, das Gesetz zu erfüllen.
Er hilft uns, weil er das ganze Gesetz auf sich genommen
und es dadurch erfüllt hat.
Wir müssen es nicht wortwörtlich befolgen,
um Gottes Kinder zu sein.
Das Gesetz verurteilt uns nicht mehr,
das Gesetz macht uns nicht mehr zu Sündern
und trennt uns dadurch von Gott.
Das Gesetz ist ein Geländer, an dem wir gehen können.
Wir dürfen es befolgen,
weil es uns den Weg zum Leben,
den Weg in die Freiheit der Kinder Gottes zeigt.

Auch Martin Luther hat den Jesus-Schlüssel verwendet.
Er war auf der verzweifelten Suche nach Gottes Liebe.
Aber er hatte gelernt, die Worte "Gottes Gerechtigkeit" so zu verstehen, dass Gott allein gerecht ist.
Kein Mensch kann vor Gott gerecht sein,
jeder Mensch ist eine Sünderin, ein Sünder
- wie sollte ihn Gott da lieben, wie sollte er Gottes Kind sein können?
Da schloss ihm der Jesus-Schlüssel diese Worte auf.
"Gottes Gerechtigkeit", entdeckte er,
bedeutet nicht nur, dass Gott gerecht ist,
sondern auch, dass er uns diese Gerechtigkeit schenkt.
Weil Gott uns hilft, und weil er möchte, dass wir seine Kinder sind,
lässt er uns nicht in Versagen, Irrtum und Schuld,
sondern befreit uns davon und macht uns durch Jesus gerecht.

IV
Im Anfang war das Wort.
Das Wort steht am Anfang, ohne Worte geht es nicht.
Wir brauchen Worte, um unsere Welt, unser Leben
zu deuten und zu verstehen.

Zwar gibt es auch die Musik,
die uns wortlos ergreift,
die uns ins Blut geht, in den Bauch, in die Beine.
Aber ohne Worte verstehen wir nicht,
was die Musik da mit uns tut.
Ohne Worte können wir nicht schwärmen vom Zauber der Musik,
können wir nicht mitteilen, was wir da fühlen, wie sie uns ergreift.

Es gibt die Kunst,
Bilder, die uns unmittelbar ansprechen,
die uns nicht loslassen,
die in eine Form bringen, was wir fühlten, erlebten, dachten.
Aber um zu sagen, was das genau ist,
dazu fehlen uns die Worte, wenn wir nur das Bild haben.
Manchmal schließen uns Worte erst ein Bild auf;
es braucht Worte, um in den Kringeln die Katze zu erkennen.

Es gibt auch Blicke, es gibt Gesten.
Es gibt das wunderbare Gefühl von Haut auf Haut.
Aber um zu verstehen, dass das Liebe ist,
muss es ausgesprochen werden, das Wort,
müssen wir angesprochen werden mit unserem Namen.
Es gibt kein schöneres Wort als den Namen des geliebten Menschen,
und es gibt nichts schöneres,
als unseren Namen aus seinem oder ihrem Mund zu hören.

V
Im Anfang war das Wort.
Ein Name. Jesus. Gott hilft.
Auf diesen Namen sind wir getauft.
Dieser Name wurde über uns ausgerufen.
Unter diesen Namen stellen wir uns in jedem Gottesdienst,
den wir im Namen Gottes beginnen.
Unser ganzes Leben steht unter der Zusage,
dass Gott uns hilft.
Unser ganzes Leben ruft Gott uns bei unserem Namen.
So, wie unsere Mutter, unser Vater uns liebevoll gerufen haben,
so, wie unser Name aus dem Mund der Liebsten, des Liebsten klingt,
so ruft Gott uns:

"Fürchte dich nicht.
Ich habe dich bei deinem Namen gerufen.
Du bist mein."

(Jesaja 43,1)

Wir brauchen uns vor nichts zu fürchten.
Gott hilft.
Gott ist da.
Wir gehören zu ihm.

Amen.

Dazugehören - Predigt am 1. Weihnachtstag

Predigt am 1.Weihnachtstag, 25.12.2011, über 1.Johannes 3,1-6:

Seht, welch eine Liebe hat uns der Vater erwiesen, dass wir Gottes Kinder heißen sollen - und wir sind es auch! Darum kennt uns die Welt nicht; denn sie kennt ihn nicht. Meine Lieben, wir sind schon Gottes Kinder; es ist aber noch nicht erschienen, was wir sein werden. Wir wissen aber, wenn es erscheinen wird, werden wir ihm gleich sein; denn wir werden ihn sehen, wie er ist. Und ein jeder, der solche Hoffnung auf ihn hat, der reinigt sich, wie auch jener rein ist. Wer Sünde tut, der tut auch Unrecht, und die Sünde ist das Unrecht. Und ihr wisst, dass er erschienen ist, damit er die Sünden wegnehme, und in ihm ist keine Sünde. Wer in ihm bleibt, der sündigt nicht; wer sündigt, der hat ihn nicht gesehen und nicht erkannt.


Liebe Gemeinde,

das Schönste an Weihnachten,
wenn auch nicht das Wichtigste, ist die Bescherung.
Gestern abend wurden die Geschenke überreicht,
ausgepackt und bewundert.
Auch heute und morgen war und ist noch einmal Gelegenheit,
bei Eltern oder Schwiegerelten,
bei Kindern oder Enkelkindern
die Freude des Schenkens und beschenkt Werdens zu erleben.

Eine Frage, die dabei immer wieder gestellt wird,
lautet: gefällt es dir?
Es ist keine wirkliche Frage,
denn man erwartet natürlich nicht die Antwort
"Nöö, überhaupt nicht!"
Das weiß jeder so Befragte,
und deshalb heißt es auch pflichtschuldig:
"Oh jaaa, seeehr, vielen Dank!"

Manchmal, wenn man etwas sehr Schönes,
etwas sehr Teures oder sehr Besonderes überreicht,
wird man gefragt: "Ist das für mich?"
Auch das ist eine Frage,
deren Antwort schon im Vornherein feststeht:
Natürlich ist das für dich.
Es steht ja Dein Name drauf.

Warum stellt man solche eigentlich überflüssigen Fragen?
Ganz überflüssig sind sie ja nicht.
Man fragt damit schon etwas ab.
Mit der ersten Frage: "Gefällt es dir?"
möchte man bestätigt bekommen,
dass man dem anderen eine Freude gemacht hat.
Deshalb kann man guten Gewissens auch dann mit Ja antworten,
wenn der Geschmack nicht hundertprozentig getroffen wurde.
Denn gefreut hat man sich ja in jedem Fall.
Erst im Nachhinein zeigt sich,
ob das Geschenk tatsächlich angekommen ist:
Dadurch, dass es benutzt und nicht achtlos in eine Ecke gestellt
oder gar im nächsten Jahr weiter verschenkt wird
- hoffentlich nicht an den, von dem man es bekam!

Mit der zweiten Frage: "Ist das für mich?"
drückt man seine Überraschung aus,
etwas so Besonderes, Wertvolles, Schönes zu erhalten.
Und zugleich seinen Zweifel, ob man das denn verdient.
Die Frage soll diesen Zweifel zerstreuen,
soll ausdrücklich bestätigen, was das Geschenk schon sagte:
Dass man schön ist.
Dass man jemand Besonderes, jemand Wertvolles ist.


II
Man stellt oft solche Fragen, nicht nur an Weihnachten,
zur Bescherung.
Nicht immer spricht man sie aus,
aber unausgesprochen sind sie doch gegenwärtig.
Zum Beispiel die Frage: "Liebst du mich?"
Oder die Frage: "Traust du mir das zu?"

Kleine Kinder wollen wissen, dass Mama oder Papa da sind.
Wenn sie sie nicht sehen, rufen sie nach ihnen.
Das ist die kürzeste aller Fragen: "Mama?" "Papa?"

Eine wichtige Frage, die man sich immer wieder stellt,
die man fast nie ausspricht,
die man aber auch immer wieder wortlos gefragt wird, lautet:
"Gehöre ich dazu?" - "Gehört der, gehört die dazu?"

Wir Menschen sind soziale Wesen.
Wir leben in Familien, in Gruppen, in Gemeinschaften.
Dazuzugehören ist für uns fast genauso wichtig wie
geliebt zu werden.

Auch deshalb ist Weihnachten ein so wichtiges Fest:
Wenigstens an diesem Tag im Jahr kommt die ganze Familie zusammen,
werden, allen Nervereien und Scharmützeln zum Trotz,
die Familienbande gefestigt.
Wie bei Harry Potter, der in den Schulferien immer bei seiner Familie sein muss,
die er nicht mag und die ihn hasst,
durch die aber der Schutz erhalten bleibt,
mit dem seine Mutter ihn versehen hat.
In diesem Zwiespalt erlebt sich mancher an Weihnachten:
Die Familie ist so anstrengend - aber es ist doch auch schön,
wenn alle wieder zusammen sind,
und man braucht ihn, diesen Rückhalt der Familie,
das Dazugehören.

Dazuzugehören ist wichtig, beinahe lebenswichtig.
Jeder fürchtet die Rolle des Außenseiters,
mit dem keiner spielen, mit dem niemand befreundet sein will;
wer sie erlebte, hat darunter gelitten.
Die vielen Vereine und Gruppen,
denen man so angehört, dienen neben ihren Zielen
des Taubenzüchtens oder der Heimatpflege,
des Gesangs oder des Sports
vor allem der Geselligkeit und der Gemeinschaft.

III
Die Kirche ist in diesem Sinne nicht anders als ein Verein.
Auch hier geht es um die Frage: "Gehöre ich dazu?"
Aber hier wird die Frage gleich in einem doppelten Sinn gestellt:
Gehöre ich zur Gemeinde?
Und: Gehöre ich zu Gottes Familie? Bin ich ein Kind Gottes?

Der Predigttext antwortet auf diese zweite Frage
mit einer Klarheit, die nichts zu wünschen übrig lässt:
"Seht, welch eine Liebe hat uns der Vater erwiesen,
dass wir Gottes Kinder heißen sollen - und wir sind es auch!"

Deutlicher kann man es doch wohl nicht ausdrücken.
Wir heißen nicht nur Gottes Kinder, wir sind es.
Wir sind Töchter und Söhne Gottes,
von Gott adoptiert durch die Taufe,
in der Gott uns sagt, was er seinem eigenen Sohn
bei dessen Taufe sagte:
Du bist mein lieber Sohn, du bist meine liebe Tochter,
an dir habe ich Wohlgefallen.

Durch die Taufe werden wir Gottes Kinder.
Und bleiben es, lebenslang.
Das Siegel der Taufe, obwohl nur mit Wasser aufgedrückt,
kann niemals abgewischt werden, von niemandem.
Man kann die Taufe nicht verlieren,
auch nicht durch einen Kirchenaustritt,
und sie kann einem auch nicht aberkannt werden.
Wir sind und bleiben Gottes Kinder, Punkt.
Das kann uns niemand nehmen.

Aber gehören wir deswegen schon dazu?
Gehören wir, das war die erste Frage, zur Gemeinde?
Beobachten wir, wie sich Gottesdienstbesucher verhalten:
Wenn man als Fremder in eine Kirche kommt,
setzt man sich nicht in die erste Reihe.
Wer weiß, wessen Platz das ist.
Als Fremder stellt man sich besser hinten an.
Man möchte ja nicht die Peinlichkeit erleben,
vor aller Augen seines Platzes verwiesen zu werden.

Also setzt man sich nach hinten.
Da kann man dann auch schön beobachten,
wie die Gemeinde nach und nach eintrudelt.
Wie sich manche begrüßen, und wie manche übersehen werden,
wie kurz oder wie lang man miteinander spricht,
wie die einen umarmt werden - und die anderen nicht.
Man kann beobachten, wer den Pastor, die Pastorin kennt,
und auf wen sie zugeht
So bekommt man schnell ein Gespür für das Netzwerk der Gemeinde,
für die wichtigen, die maßgeblichen Leute, und für die Außenseiter.

IV
Wir sind Gottes Kinder, adoptiert durch die Taufe.
Darum gehören wir fraglos und selbstverständlich zur Gemeinde.
Und doch fragt man sich, auch - oder gerade -
in der Kirche immer wieder, ob man tatsächlich dazu gehört.
Woher kommt diese Unsicherheit, dieser Zweifel?

Möglicherweise sät ihn der Predigttext selbst,
wenn er sagt:
"Meine Lieben, wir sind schon Gottes Kinder;
es ist aber noch nicht erschienen, was wir sein werden."

Wir sind Gottes Kinder - aber irgendwie sind wir es auch nicht,
weil ja noch gar nicht heraus ist, was wir sein werden?
Ist das gemeint?

Wie ist, oder wie wird man denn "jemand"?
Darauf wird es wohl unterschiedliche Antworten geben.
- Man ist jemand, wenn man es zu etwas gebracht hat:
Ein Beruf mit gutem Einkommen. Ein Haus. Eine Familie.
- Bei der Bank ist man jemand,
wenn man ein festes Einkommen hat.
Und je besser das Einkommen, je höher die Einlagen,
desto angesehener ist man dort.
- Im Verein ist man jemand, wenn man schon sehr lange dabei ist,
wenn man sich besonders einsetzt
oder wenn man ein Amt innehat.
- In der Gesellschaft ist man jemand,
wenn man in der Zeitung steht, am besten mit Foto.
Und wenn man dann sogar im Fernsehen zu sehen ist,
dann hat man es geschafft.
- Mit einem Titel ist man jemand,
der "Herr Doktor" oder die "Frau Professorin".
- Man ist jemand, wenn man in besondere Clubs aufgenommen wird,
oder wenn man mit Leuten befreundet ist,
die schon "jemand" sind.

"Meine Lieben, wir sind schon Gottes Kinder;
es ist aber noch nicht erschienen, was wir sein werden."

Bei Gott sind wir jemand, ohne jemand zu sein.
Wir wurden als Kinder, als Babys, getauft,
als wir noch unbeschriebene Blätter waren, "Nobodys".
Wir sind jemand, weil wir Gottes Kinder sind.
Und, ehrlich gesagt,
etwas besseres können wir doch gar nicht sein!

Und gleichzeitig ist noch offen, was wir sein werden.
Wir werden nicht darauf festgelegt,
wie wir zu sein haben,
wie wir uns kleiden müssen,
was wir zu denken, zu meinen, zu glauben haben.

Allerdings - eine Regel gibt es:
"Wer in ihm bleibt, der sündigt nicht."
Wer zu Gott gehört, der bemüht sich darum,
nichts zu tun, was ihn von Gott trennt.
Man ist ja auch nicht Mitglied in einer Partei,
und wählt dann eine andere.

Und man trennt sich ja nicht willentlich von dem,
der einen annimmt so, wie man ist,
in dessen Augen man "jemand" ist -
ja, mehr als das: ein über alle Maßen geliebter Mensch.

V
Gehöre ich dazu?
Die Bibel sagt: Ja!
Ja, du bist ein Kind Gottes.
Diese Kirche ist auch dein Zuhause.

Aber wir untereinander ---
wir grenzen uns ab, wir grenzen aus.
Unsere Blicke und Gesten sagen oder fragen:
"Na, gehörst DU dazu?" - "Gehört DIE etwa zu uns???"

"Darum kennt uns die Welt nicht,
denn sie kennt ihn nicht."

Wo Menschen ausgegrenzt werden,
wo man nach Zugehörigkeit fragt,
wo man jemanden nicht kennen will,
da hat man Gott nicht verstanden.
Da hat man nicht begriffen, dass die Botschaft Jesu
von der grenzenlosen Liebe Gottes
nicht nur mir gilt, sondern ebenso meinen Mitmenschen -
ja, ihnen ganz besonders.
Da hat man nicht erkannt, dass jeder Mensch ein Kind Gottes ist.

Zugleich kommt in diesem Satz
"darum kennt uns die Welt nicht" zum Ausdruck,
dass Christinnen und Christen nicht ganz von dieser Welt sind.
Sie sind immer ein wenig Außenseiter.
Sie gehören nicht wirklich dazu.

Wenn wir, wie Jesus es uns zusagt (Matthäus 5,13),
Salz der Erde sind,
dann würzen wir ja nicht, weil wir so sind wie alle anderen.
Christinnen und Christen würzen die Welt,
weil und indem sie anders sind.
Weil sie glauben.

Mit ihrem Glauben daran, dass wir alle Gottes Kinder sind,
stehen sie denen im Weg,
die Menschen übervorteilen und ausnutzen,
die ihre Interessen rücksichtslos durchsetzen.

Mit diesem Glauben sind sie sich nicht zu schaden,
sich gemein zu machen mit denen,
die in der Gesellschaft nichts gelten,
mit denen, die angeblich "überflüssig" sind.

Mit diesem Glauben lassen sie sich nicht blenden von Titeln,
Ämtern, Popularität,
lassen sie sich nicht einschüchtern von "großen Tieren",
von Rechthabern und Demagogen.

Mit diesem Glauben ist es ihnen gleichgültig,
ob sie in den Augen anderer "jemand" sind.
Hauptsache, Gottes Augen leuchten,
Gottes Antzlitz strahlt, wenn er uns anblickt.
Und das tut es.

Amen.

Sonntag, 25. Dezember 2011

Feier der Christnacht

Am Heiligen Abend um 23.00 Uhr haben wir eine schöne Form der Christnacht gefeiert. Eine Besonderheit war, dass wir die Generationenfolge aus Matthäus 1 verlesen haben. Für jeden Vorfahren Jesu wurde ein Teelicht entzündet - und für die Mütter, auf die es in dieser Genealogie eigentlich ankommt, eine große rote Adventskerze. Maria wurde durch eine Altarkerze repräsentiert, und bei der Nennung des Namens Jesus wurde die Osterkerze entzündet.
So war der Kerzentisch aufgebaut (er ist von links unten nach rechts oben zu "lesen"):



So sah der Tisch mit den brennenden Kerzen aus.

Eine zweite Besonderheit war, dass wir versucht haben, den "Quempas" ohne vorherige Probe in der Gemeinde zu singen. Die Gottesdienstbesucher hatten am Eingang Liedblätter erhalten und wurden vor dem Gottesdienst in die vier Gruppen des Quempas eingeteilt. Die Orgel unterstützte den Gesang. Es "trauten" sich nur wenige, aber mit jeder Strophe wurde es besser.

Eine dritte Besonderheit war, dass wir das Licht erst mit dem Fürbittengebet verteilten. Dazu eignet sich sehr gut ein Fürbittengebet aus dem Evangelischen Gottesdienstbuch; unten eine von mir leicht überarbeitete Fassung.

Hier der Ablauf der Christnacht:

Gottesdienstbesucher bekommen Kerzen am Eingang
Benötigte Mitwirkende:
4 Personen, die in ihrer "Ecke" Quempas anstimmen
5 Leser/innen für das Fürbittengebet, die Licht austeilen
1-2 Kerzenanzünder/innen


Musik zum Eingang
Begrüßung
EG 46 (1-3) Stille Nacht
Psalm 2 im Wechsel
Psalmkollekte
AT-Lesung Jesaja 7,10-14
EG 541,1-5 Wir singen dir, Immanuel M=EG 24 Vom Himmel hoch
Evangelium, 1. Teil Matthäus 1,1-17

Beim Verlesen des Stammbaums Jesu werden von zwei Helfern 3x14 Teelichter, die auf einem Tisch bereitstehen, entzündet - für jeden Namen eines. Für die 5 Frauen des Stammbaumes (Tamar, Rahab, Rut, Bathseba und Maria) werden große rote Lichter entzündet. Die letzte Kerze (Jesus) ist die Osterkerze.
Reihenfolge:
4 - 1rot - 6 - 1rot - 1 - 1rot - 3
1 - 1rot - 13
13 - 1rot - 1Osterkerze


EG 27,1-3+6 Lobt Gott, ihr Christen alle gleich
Evangelium, 2. Teil Matthäus 1,18-25
Glaubensbekenntnis von Nicäa-Konstantinopel
EG 44 (1-3) O du fröhliche
Predigt
EG 29 (1-4) Quempas in 4 Gemeindegruppen
I = links vorne
II = rechts hinten
III = rechts vorne
IV = links hinten

Abkündigungen
Fürbitten mit 7 Sprechern (EGb S. 567ff)
Jede/r Sprecher/in geht, nachdem er/sie seine/ihre Bitte vorgetragen hat, in die Gemeinde und gibt an eine Reihe sein/ihr Licht weiter; währenddessen wird die nächste Bitte vorgetragen. Der Ablauf für jede/n Sprecher/in:

Kerze an der Osterkerze entzünden
Bitte vortragen
Licht in die Gemeinde bringen
Platz nehmen


Vaterunser
EG 571 (1-4) Tragt in die Welt nun ein Licht
Segen
Musik zum Ausgang

Fürbittengebet mit dem Entzünden von Kerzen

1. Christus ist geboren.
Lasst uns ein Licht anzünden und bitten:
für die Kinder überall in der Welt,
dass ihre kleinen und großen Hoffnungen
nicht enttäuscht werden,
dass sie in eine Welt hineinwachsen,
die gut und freundlich zu ihnen ist.
Lasst uns rufen: Erhöre uns, Gott.

2. Christus ist geboren.
Lasst uns ein Licht anzünden und bitten:
für Ehepaare, Familien und andere Lebensgemeinschaften,
dass sie offen sind und bleiben für andere,
dass sie Streit bewältigen und Unterschiede aushalten
mit Vergebung und Liebe
und an Enttäuschungen nicht zerbrechen, sondern wachsen.
Lasst uns rufen: Erhöre uns, Gott.

3. Christus ist geboren.
Lasst uns ein Licht anzünden und bitten:
für die Einsamen und Kranken,
dass sie Menschen finden, die sich ihnen zuwenden,
die ihnen nichts vormachen,
sondern das Leid mit ihnen aushalten.
Lasst uns rufen: Erhöre uns, Gott.

4. Christus ist geboren.
Lasst uns ein Licht anzünden und bitten:
für alle, die eine Veränderung zum Guten erhoffen
und bewirken wollen,
dass sie den Mut nicht verlieren,
sondern gestärkt werden
und immer wieder von neuem beginnen,
damit der Frieden auf Erden wirksam werde
und Menschen Gottes Wohlgefallen erleben können.
Lasst uns rufen: Erhöre uns, Gott.

Pastor: Dein Kommen, Gott, bringt der Welt Licht und Hoffnung.
Schenke uns von deinem Licht, damit es uns erleuchtet
und wir für andere zum Licht werden.
Ehre sei dir, Gott, in der Höhe
und Frieden auf Erden
allen Menschen, die du liebst.
Gemeinsam beten wir:

Vater unser im Himmel

Freitag, 23. Dezember 2011

Predigt in der Christnacht, 24.12.2011

Predigt in der Christnacht, 24.12.2011, über Jesaja 7,14:

Siehe, eine Jungfrau ist schwanger und wird einen Sohn gebären, den wird sie nennen Immanuel - Gott ist mit uns.


Liebe Gemeinde der Christnacht,

durch Dunkelheit hat Sie der Weg in die Kirche geführt.
Sie haben die wohlige Wärme des Weihnachtszimmers,
den Schein der Christbaumkerzen verlassen
und sind in die Nacht hinaus gegangen.

Eine laue Sommernacht kann sehr romantisch sein.
In einer nass-kalten Winternacht wie dieser
zeigt die Nacht sich von ihrer düsteren, unheimlichen Seite.
Man verlässt ungern das schützende Haus
und beeilt sich, wieder ins Licht zu kommen.

Die unheimliche Dunkelheit ist zum Symbol geworden
für alles, was bedrohlich, gefährlich ist.
Wenn sie in einem Krimi auftaucht ahnen wir:
gleich wird etwas Schlimmes passieren.
Ist vom Schatten die Rede, in dem sich etwas regt
oder der auf einen Menschen fällt, ist der Möder nicht weit.

Dunkelheit kann sich auf einzelne Menschen legen,
wenn sie die Hoffnung verlieren,
aber auch auf ganze Gesellschaften und Völker.
Vom Volk, das im Finstern wandelt, spricht der Prophet Jesaja.
Und auch wir leben in finsteren Zeiten.

Das Klima ist nicht gut.
Damit meine ich nicht nur das Wetter,
das sich so gar nicht weihnachtlich verhalten will.
Es ist das Weltklima, das uns Sorgen macht,
die globale Erwärmung,
und die Unfähigkeit der Staaten,
sich über den Schutz des Klimas einig zu werden.

Auch das soziale Klima bietet Anlass zur Sorge,
weil die Schere zwischen Reichen und Armen
immer weiter auseinandergeht.

Man muss sich Sorgen um das Wirtschaftsklima machen,
um den Euro, ja vielleicht sogar um unser ganzes Wirtschaftssystem,
weil es fraglich ist, ob der Aufschwung anhält
- und was dann kommt.
Vielleicht können wir uns diese Art des Wirtschaftens nicht mehr lange leisten. Wir können unsere Staatsschulden nicht mehr bezahlen - und unsere Umweltschulden erst recht nicht.

Muss ich da noch erwähnen,
dass auch das Klima in der Kirche nicht gut ist?
Auch hier gehen wir harten Zeiten entgegen:
Weil der Kirche das Geld ausgeht,
werden Gemeinden zusammengelegt,
Kirchgebäude geschlossen und aufgegeben werden müssen.

Mit einem Wort:
Die Großwetterlage ist katastrophal.
Wir gehen finsteren Zeiten entgegen.

II
Heute feiern wir Weihnachten und zünden Lichter an.
Lichter, die die Finsternis vertreiben sollen.
Aber so leicht lässt sich die Dunkelheit nicht vertreiben.
Wir haben sie hierher mitgebracht,
wir haben sie eigentlich immer dabei.
In Form beruflicher oder privater Sorgen,
als Angst um den Arbeitsplatz,
Angst vor den Folgen einer Krankheit.
Und auch als Angst vor der Zukunft,
als Sorge, wie es weitergeht
mit unserer Gemeinde, mit unserem Land,
mit unserer Welt.

Wir wandeln im Dunkeln
wie weiland das Volk Israel, von dem der Prophet Jesaja spricht.
Das ist schon eine ganze Weile her. Menschenalter.
Dunkelheit und finstere Zeiten hat es wohl schon immer gegeben.
Seit Menschengedenken machen Menschen sich Sorgen,
kleine und große,
Sorgen über private Dinge
und Sorgen über die politische, die wirtschaftliche Großwetterlage.
Seit Menschengedenken kämpfen Menschen gegen überwältigende Probleme, die sich wie eine Dunkelheit auf sie legen.
Und seit Menschengedenken warten sie darauf,
dass einer die Probleme löst
und sie von ihren Sorgen befreit.

Konzepte sind gefragt. Strategien.
Fallschirme und Rettungsfonds.
Krisengipfel und Konferenzen,
auf denen versucht wird,
eine Lösung zu finden.

III
Gottes Lösung sieht ganz anders aus.
"Siehe, eine Jungfrau ist schwanger und wird einen Sohn gebären, den wird sie nennen Immanuel - Gott ist mit uns."
Gott bietet keine fertige Problemlösung an,
keine Handlungsanweisung, die man nur noch befolgen müsste,
damit alles gut wird.
Gott wirkt an den Politikern, den Managern, den Machern vorbei
auf eigene, geheimnisvolle Weise.
"Eine Jungfrau ist schwanger"
- das neue, das Gott kommen lässt,
geschieht ohne menschliches Zutun,
abseits politischer Netzwerke,
ohne die Kniffe und Regeln des Managements.
Es geschieht einfach von sich aus,
wie ein Kind im Bauch einer Mutter eben wächst.

Es geschieht einfach ...
Kann es sein, dass sich Probleme auf so simple Weise lösen,
indem man es einfach geschehen lässt?
Man darf dieses Geschehenlassen nicht verwechseln
mit dem Aussitzen mancher Politiker und Funktionäre.
Auch ist damit nicht gemeint, die Hände in den Schoß zu legen.

Seit dem 17. September hat sich eine neue Bewegung gegründet,
Sie haben sicher schon davon gehört:
"Occupy Wallstreet" ist das Motto dieser Bewegung,
besetzt die Wallstreet.
Die Occupy-Bewegung will nicht zulassen,
dass die Wallstreet von Bankern und Börsianern dominiert wird.
Sie will das Gebaren der Banken ins Licht der Öffentlichkeit zerren.
Sie will nicht, dass einzelne Banken und Rating-Agenturen
Menschen und ganze Staaten in den Ruin stoßen können.

Die Occupy-Bewegung hat sich ausgebreitet.
Sie ist eine Macht geworden.
Und schon fangen die ersten an zu fragen, was denn die Ziele sind.
Die Occupyer sollen Forderungen aufstellen,
ein Programm, einen Plan.
Aber das tun sie nicht. Sie protestieren.
Sie sagen, was ihnen nicht gefällt.

Occupy-Bewegungen hat es schon früher gegeben,
auch wenn sie sich nicht so nannten.
Da gab es z.B. die, die das Gelände über dem Salzstock von Gorleben besetzten und eine "Republik freies Wendland" ausriefen.
Oder die, die leerstehende Häuser besetzten,
um damit günstigen Wohnraum zu erhalten.

Früher hat man diesen Leuten vorgehalten:
Dann geht doch nach drüben!
Aber "drüben" gibt es nicht mehr.
Man hat ihnen vorgehalten,
sie seien nur "dagegen",
sie wüssten selbst nicht, wie es besser geht.
Aber man darf trotzdem protestieren,
auch wenn man nicht weiß, wie es anders oder besser geht.
Vielleicht ist es genau richtig,
nicht schon wieder zu wissen,
wie's gemacht wird,
nicht schon einen fertigen Plan zu haben.
Sondern erst einmal abzustellen, was falsch ist,
und zu beobachten, was sich statt dessen entwickelt.

IV
Neun Monate wächst ein Kind im Bauch der Mutter.
Neun Monate, die eine Mutter abwarten und aushalten muss,
die sie nicht verkürzen kann.
Ganz schön anstrengend, diese Warterei!
Aber nicht zu ändern.
Warum nehmen wir uns nicht die Zeit abzuwarten,
bis die Zeit für Veränderungen reif ist?
Warum nehmen wir uns nicht die Zeit, abzuwarten,
ob etwas geschieht, und was geschieht?

Vielleicht, weil wir kein Vertrauen haben?
Vertrauen darauf, dass etwas wachsen wird,
auch wenn wir erst einmal nichts tun.
Vertrauen darauf, dass wir ihn schon nicht verpassen werden,
den Augenblick, in dem wir gefragt sind.
Eine Schwangere kann den Augenblick der Geburt nicht verpassen.
Er kündigt sich unmissverständlich an,
und dann ist ihr Einsatz gefragt
- und in begrenztem Maße auch der des Vaters.

V
Das Neue, das durch Gott auf die Welt kommt,
ist ein Kind, das einen ganz besonderen Namen trägt:
Immanuel.
Wir kennen es unter einem anderen Namen:
Jesus.
Immanuel, das ist Gottes Plan gegen unsere Sorgen,
Gottes Programm zur Rettung seiner und unserer Welt:
Gott ist mit uns.

Gott ist mit uns
- nicht so, wie es die Soldaten früherer Zeiten
auf der Koppel ihres Gürtels stehen hatten,
zur Selbstvergewisserung,
auf der richtigen, der guten Seite zu stehen.

Gott ist mit uns in einem ganz anderen,
einem viel umfassenderen Sinn.
Gott ist mit uns in einer Weise, wie es Paulus formuliert hat:
"In ihm weben, leben und sind wir." (Apostelgeschichte 17,28)
Wir sind so eins mit Gott,
wie ein Fisch es mit dem Wasser ist,
in dem er schwimmt,
oder ein Kind im Mutterleib mit seiner Mutter.

So mit Gott verbunden, sitzen wir an der Quelle,
am Ursprung allen Seins.
Wenn wir Gott vertrauen, können wir ihm alles zutrauen.
Wir können gar nicht maßlos genug sein
in unserem Durst nach Freiheit, nach Glück,
nach Nähe, nach Liebe,
nach Erkenntnis, nach Frieden
- solange wir all das bei Gott suchen
und nicht in unserem Leben, bei unseren Mitmenschen.
Bei Gott finden wir die Erfüllung aller unserer Sehnsüchte,
wenn wir Vertrauen wagen
- den Absprung aus unserer begrenzten Wirklichkeit
hinein in Gottes unendliche, unergründliche Fülle.

VI
Gottes Sohn kommt zur Welt,
um uns zum Vertrauen,
zu diesem Sprung in Gottes Fülle, zu überreden.
Es ist ein Sprung mit Netz, Fallschirm und doppeltem Boden,
denn Gott ist mit uns.
Wir springen nicht ins Nichts.
Wir springen nur heraus aus allem,
was uns fesseln und zwingen will
hinein in die Freiheit der Kinder Gottes.
In eine Freiheit, in der wir alles von Gott erwarten
und skeptisch sein können gegenüber den Rezepten
der Wissenschaftler, Wirtschaftsweisen,
Politiker und Manager.

Wir leben ins finsteren Zeiten,
und wir tragen die Dunkelheit auch in uns.
Doch das Licht von Weihnachten scheint in die Dunkelheit.
Der Sohn Gottes erleuchtet uns als Stern den Weg,
auf dem wir gehen können.
Sein Licht vertreibt die Dunkelheit,
vertreibt Angst und Sorgen
und schenkt uns das Vertrauen:
Wir werden mit Gottes Hilfe den Weg schon finden.
Amen.

Predigt am Heiligen Abend, 24.12.2011

Predigt am Heiligen Abend, 24.12.2011, über Jesaja 9,5-6:

Uns ist ein Kind geboren, ein Sohn ist uns gegeben, und die Herrschaft ruht auf seiner Schulter; und er heißt Wunder-Rat, Gott-Held, Ewig-Vater, Friede-Fürst; auf dass seine Herrschaft groß werde und des Friedens kein Ende auf dem Thron Davids und in seinem Königreich, dass er's stärke und stütze durch Recht und Gerechtigkeit von nun an bis in Ewigkeit. Solches wird tun der Eifer des Herrn Zebaoth.


Liebe Gemeinde,

ein Kind ist geboren!
Das ist eine gute Nachricht!
Eine Nachricht, die Freude auslöst in der Familie
und in der engeren Verwandtschaft.
Eine Nachricht, die einen sofort gut gelaunt sein lässt,
wenn man sie erfährt.
Und für einen Moment ist man ganz bewegt,
denkt an die Mutter und hofft, dass sie alles gut überstanden hat.
Vor allem wünscht man dem Kind alles erdenkliche Gute.

Dann kommen die Fragen:
ist es ein Junge oder ein Mädchen?
Wie groß ist es, und wie schwer?
Wie soll es heißen?

"Uns ist ein Kind geboren, ein Sohn ist uns gegeben;
und er heißt Wunder-Rat, Gott-Held, Ewig-Vater, Friede-Fürst."
Ein Junge also.
Ein ganz besonderes Kind, offensichtlich -
es hat so ungewöhnliche Namen:
"Wunder-Rat, Gott-Held, Ewig-Vater, Friede-Fürst."
- So nennt man doch kein Kind.

"Wunder-Rat, Gott-Held, Ewig-Vater, Friede-Fürst"
sind ja auch nicht seine richtigen Namen.
Es sind sprechende Namen.
Sie reden davon, wofür dieses Kind steht,
sozusagen das Programm,
das diesem Kind bereits in die Wiege gelegt wird.

II
"Uns ist ein Kind geboren, ein Sohn ist uns gegeben."
Was für eine gute Nachricht!
Ein neu geborenes Kind ist ein Wunder:
Es hat schon alles, was einen Menschen ausmacht,
aber alles ist noch winzig klein,
es muss sich erst noch entfalten.
Die Fingerchen mit winzigen Fingernägeln,
so klein, dass sie meinen kleinen Finger gerade so umschließen.
Aber sie können schon richtig zufassen.

Ein Kind - ein Wunder, das sich erst noch entfaltet.
Was könnte nicht alles aus diesem Kind werden?
Die Hoffnungen und Erwartungen an ein Neugeborenes sind grenzenlos.
Weil noch alles aus diesem Kind werden kann.
Weil es noch nicht festgelegt wurde auf eine Herkunft,
noch nicht einsortiert wurde in eine Schublade.

Das das wird gleich passieren.
Sobald das Kind zuhause ist, wird es losgehen.
Dann wird nicht mehr alles möglich sein,
dann wird nicht mehr alles aus ihm werden können.
Dann wird es eine Herkunft bekommen, eine Geschichte
und wird einsortiert werden.

Aber noch ist alles offen.
Noch darf man träumen,
dass dieses Kind einmal anders werden,
es einmal anders machen könnte als wir,
dass es die Welt verändern könnte.

III
Das Kind, das heute geboren wird,
tritt an, die Welt zu verändern.
So muss man seine Namen wohl verstehen:
"Wunder-Rat, Gott-Held, Ewig-Vater, Friede-Fürst".
Vor allem seinen letzten Namen: "Friede-Fürst".
Dieses Kind bringt Frieden.
Haben das in der Weihnachtsgeschichte nicht auch die Engel den Hirten verkündigt, "Frieden auf Erden"?

Frieden. Ein großes Wort.
Frieden war auch einmal eine große Hoffnung.
Aber wenn das Kind uns heute den Frieden bringen will,
sagen wir: danke, haben wir schon.
Wir leben seit über 60 Jahren im Frieden.
Seit dem Fall der Mauer brauchen wir auch keine Angst mehr davor zu haben, dass sich für uns etwas daran ändert.
Im Gegenteil: Die Bundeswehr wird verkleinert.
Wir benötigen keine Armee zur Abschreckung mehr.
Die Soldaten sind bloß noch zur Sicherheit da
und für Einsätze im Ausland.

Wir brauchen keinen Frieden.
Den haben wir schon,
wie die doppelten Weihnachtsgeschenke
- aber die kann man wenigstens umtauschen.
Was sollen wir mit dem Frieden anfangen,
den uns das Christkind bringt?

IV
Das Christkind bringt Frieden,
wir aber warten auf andere, auf bessere Geschenke.
Wir warten darauf, dass die Konjunktur wieder anzieht,
dass der Euro sich erholt, die Wirtschaft weiter wächst
und sich die Hiobsbotschaften vom Klimawandel
als heiße Luft erweisen.

Dabei wissen wir eigentlich schon lange,
dass es so nicht weitergehen kann.
Nichts kann ewig weiter wachsen,
auch die Wirtschaft nicht.
Irgendwann ist jedes Wachstum zuende,
weil die Ressourcen aufgebraucht sind.
Es ist abzusehen, wann das sein wird.
Aber wir wachsen weiter, wir wachsen auf Pump
und nehmen neue Kredite auf, um die alten abzulösen
- dabei können wir schon jetzt unsere Schulden nicht bezahlen.

Wir wachsen, wir müssen wachsen,
wir sind wie gefangen in dieser Wachstumsideologie,
zu der auch das Kaufen gehört, der Konsum,
und das Wegschmeißen,
damit wir schnell wieder neue Sachen kaufen können.

Wir selbst müssen immer weiter wachsen,
ein Leben lang besser werden,
auch unser Körper kann besser werden,
selbst, wenn er alt ist.
Es gibt keine Atempause und auch kein Ziel.
Wir laufen im Rad,
sind gefangen in einem Wachstumsprozess,
der immer weiter, immer weiter geht, ohne Ziel.

Wir sind Gefangene der Wachstumsideologie,
aber es geht uns gut damit,
wir wollen nicht heraus.
Wir möchten, dass alles so bleibt, wie es ist.
Wir möchten unseren Lebensstil nicht ändern,
auch wenn er zu Lasten unserer Umwelt
und zu Lasten der ärmeren Länder geht.
Wir möchten behalten, was wir haben - naja,
wenn wir ehrlich sind: Wir hätten gern noch ein bisschen mehr ...

V
Sollte das wirklich unsere Antwort auf die Weihnachtsbotschaft sein?
Wenn man der Werbung glaubt,
dann scheint es fast so:
"Weihnachten wird unterm Baum entschieden", heißt es da.
Ist das so? Geht es auch an Weihnachten
nur um die Geschenke, um Konsum und Wachstum?

Die Tatsache, dass Sie heute hierher in die Kirche gekommen sind,
zeigt, dass es an Weihnachten noch um etwas anderes geht.
Zum Beispiel um unsere Erwartungen,
dass es in der Welt gerecht zugehen sollte und ehrlich.
Dass die, die abschreiben,
die, die einen lässigen Umgang mit der Wahrheit pflegen
nicht jedes Mal ungestraft davonkommen.
Dass die, die sich von Geschäftsfreunden einladen lassen,
die, die Geld zum Fenster herauswerfen, das ihnen nicht gehört,
dafür bezahlen müssen.

Es geht um unsere Hoffnungen,
dass das Leben mehr ist als arbeiten und kaufen,
mehr zu bieten hat als Fernsehen und Autofahren.

Und schließlich und vor allem geht es um Frieden.
Frieden, der mehr ist als die Abwesenheit von Krieg.
Kriege werden um Märkte geführt, um Bodenschätze
und um Handelswege - so der Versprecher von Horst Köhler,
der ihn das Amt des Bundespräsidenten kostete.
Mit der Art, wie wir wirtschaften,
tragen wir zum Krieg bei - oder zum Frieden.

Es geht um Frieden in der Welt,
und um Frieden für uns.
Denn es ist deutlich zu spüren,
dass der Zwang zu immer mehr Leistung,
zu immer mehr Wachstum,
der schon im Kindergarten eingeübt wird,
Menschen nicht gut tut.
Er macht uns krank.

VI
Das Kind kommt zu uns,
wird unter uns geboren.
Dadurch kommt etwas Neues in die Welt.
Und das bedeutet,
dass wir nicht mehr so weitermachen können wie bisher.
Dass sich etwas ändern muss an unserer Art zu wirtschaften,
an unserer Art, diese Welt zu benutzen.
Es bedeutet,
dass wir uns werden ändern müssen.

Das Kind, das heute Nacht geboren wird, bringt Frieden.
Frieden für uns, und Frieden für die Welt.
Damit der Frieden zu uns kommen kann,
müssen wir anhalten
- innehalten, hat man früher gesagt,
ein schönes Wort. Es bedeutet:
Pause machen. Nachdenken.
Wohin bin ich unterwegs?
Und will ich da wirklich hin?

Ein Kind ist uns geboren,
das uns Frieden bringt.
Frieden für die Welt und Frieden für unsere Herzen.
Es ist ein Frieden, der uns unruhig macht.
Wenn man diesen Frieden gefunden hat,
kann man den Unfrieden nicht mehr übersehen,
den unsere Art zu leben und zu wirtschaften über die Welt bringt.

Zugleich ist es ein Frieden,
der unser Herz ganz ruhig werden lässt.
Weil er uns mit Gott verbindet
und uns wissen lässt:
Wir müssen nicht immer weiter wachsen,
wir sind doch bereits wer.
Denn das größte Geschenk haben wir ja schon bekommen:
Gott hat uns seinen Sohn geschenkt.
Er ist unser Bruder geworden,
wir seine Schwestern und Brüder.
Wir sind eine große Familie,
geborgen und zuhause bei Gott.

Ein Kind wird geboren,
und ein Wunder entfaltet sich:
das Wunder des Friedens,
der unter uns beginnt
und ausstrahlt auf unsere Art zu leben,
auf unseren Umgang mit unseren Mitmenschen,
auf die ganze Welt.
Amen.

Montag, 28. November 2011

Sieben Siegel - Predigt zum 1. Advent

Predigt am 1. Advent, 27.11.2011, über Offenbarung 5,1-14

Liebe Gemeinde,

da steht man morgens voller Vorfreude auf den 1. Advent auf
und freut sich auf den Gang zur Kirche,
mit dem die Adventszeit eingeläutet wird
- und dann trifft man draußen auf dieses fiese,
graue, stürmische Wetter, das zum November passt,
aber so gar nicht zum Advent.
Und dann sitzt man hier in der Kirche
bei Kerzenschein und Adventskranzkerzenglanz
- und hört einen Predigttext,
der so gar nicht zur adventlichen Stimmung passt,
zu unseren Vorstellungen und Erwartungen an einen adventlichen Gottesdienst.

Ein Text wie aus einer anderen Wirklichkeit, wie aus einer anderen Welt.
Fremdartig mutet der Predigttext aus dem Buch der Offenbarung an, und rätselhaft.
Von einem Lamm mit sieben Hörnern und sieben Augen ist die Rede,
"wie geschlachtet" steht es da.
Kann man dem trauen, was der Seher Johannes da sieht und hört?
Hat das irgendetwas mit uns zu tun und unserer Wirklichkeit,
ist das alles nicht nur ein irrer, wirrer Traum?
Man versucht, etwas wiederzuerkennen in diesem Text,
etwas Vertrautes zu finden.
Und dann stößt man plötzlich auf Zeilen, die man kennt.
Zeilen, die den Schlusschor der Oratoriums
"Der Messias" von Georg Friedrich Händel bilden
und die manche oder mancher im Ohr hat:

"Würdig ist das Lamm, das da starb ...
und hat versöhnet uns mit Gott durch sein Blut ...
zu nehmen Stärke und Reichtum und Weisheit und Kraft
und Ehre und Hoheit und Segen.

Alle Gewalt und Ehr und Macht und Lob und Preis gehöret ihm,
der sitzet auf seinem Thron,
und also dem Lamm ...
auf immer und ewig."

Dieser Schlusschor bildet das Ende des 3. Teils und des ganzen Oratoriums.
Es beginnt mit der Verheißung und der Geburt des Messias,
steigt dann im 2. Teil hinab ins Leiden und in den Tod,
um am Ende des 2. Teils im jubelnden "Halleluja" wieder aufzuerstehen.
Der 3. Teil beginnt mit der Arie "Ich weiß, dass mein Erlöser lebt"
und endet mit den Worten, die ich Ihnen gerade vorgelesen habe.

II
Worte.
Worte, die den Mund ganz schön voll nehmen.
Da wird mit aller Macht etwas behauptet,
das unserer Wirklichkeit so gar nicht entspricht.
Am letzten Sonntag haben wir gerade erst noch einmal Abschied genommen
von den Verstorbenen des vergangenen Kirchenjahres,
am Freitag erst hatten wir eine Trauerfeier hier in der Klosterkirche
und am Mittwoch werden wir hier schon wieder Abschied nehmen müssen,
und das wird ein furchtbar schwerer Abschied werden.

Wenn man sich das Leid vor Augen stellt,
das die Angehörigen der Gestorbenen erfahren,
das auch viele von uns schon erfahren haben in ihrem Leben
- wie passen dazu diese triumphalen Zeilen der Offenbarung:
"Alle Gewalt und Ehr und Macht und Lob und Preis gehöret ihm,
der sitzet auf seinem Thron,
und also dem Lamm ...
auf immer und ewig"?
Das geht doch nicht zusammen?
Das ist doch kein Trost?

Ein eigenartiger, fremdartiger, so gar nicht zur Adventszeit passender Text,
dieser Text aus der Offenbarung.
Und vielleicht gerade deshalb passend in unsere Zeit,
die wenig von weihnachtlichem Frieden hat,
in der befremdliche und beunruhigende Dinge vorgehen
- von den Neonazi-Morden, den Castor-Transporten
über den blutig niedergeschlagenen Aufstand in Syrien
und die zahlreichen Unwetterkatastrophen
bis hin zu den persönlichen Schicksalsschlägen mitten unter uns.
Die Fremdheit des Predigttextes scheint irgendwie zu passen
zu den befremdlichen, beängstigenden Dingen,
die in der Welt geschehen.

Und dennoch: Wenn man selbst Zeuge der Macht des Todes wird,
wenn man am eigenen Leib erfährt, wie machtlos man ist
gegenüber dem, was wir "Schicksal" nennen,
aber auch gegenüber den Plänen und dem Willen anderer
- Vorgesetzter, Arbeitgeber, Nachbarn oder anderer Menschen -,
dann klingen die vollmundigen Worte der Offenbarung wie leere Phrasen.
Sie sagen einem nichts.
Sie sind wie mit sieben Siegeln verschlossene, dunkle Worte.

III
Was aber soll man auch sagen angesichts des Leides,
angesichts des Todes?
Wenn Menschen einen schweren Schicksalsschlag erleiden,
dann fehlen einem die Worte, dann ist man sprachlos und bleibt stumm.
Und das ist auch gut so.
Worte können in so einem Moment nicht trösten.
Es gibt da keine Sätze, die man sich für diesen Fall zurechtlegen könnte,
und auch unser Glaube hat dafür keine Worte.
Man kann nur, wie die Freunde Hiobs, dasein und schweigen,
das Leid und den Schmerz teilen.

Und dennoch dürfen wir nicht sprachlos bleiben angesichts des Todes.
Gerade ihm dürfen wir nicht das letzte Wort lassen.
"Christen sind Protestleute gegen den Tod",
hat ein Theologe (Christoph Blumhardt) mal gesagt.
Es ist unsere Aufgabe, dem Tod die Stirn zu bieten,
uns nicht an ihn zu gewöhnen und ihm nicht das letzte Wort zu lassen.

Aber wie soll das gehen, wenn wir nichts als Worte haben?

IV
Der Seher Johannes weint, weil niemand in der Lage ist,
die sieben Siegel des Buches zu brechen und es zu lesen.
In dieser so befremdlichen Vision beschreibt er etwas ganz Alltägliches.
Vielleicht haben Sie es auch schon erlebt:
Dass Sie in einem Buch eine Zeile gelesen haben,
die sie schön fanden, die Sie ergriffen hat, so sehr,
dass Sie unbedingt jemandem davon erzählen mussten.
Aber der andere versteht nicht, was Sie meinen,
und den Satz, den Sie ihm vorlesen,
findet er nicht weiter bemerkenswert.
Das ist kein böser Wille. Der andere ist auch nicht zu dumm.
Es ist nur so, dass ihm diese Worte versiegelt sind,
und Sie können dieses Siegel nicht aufbrechen für ihn.

Jede Sonntagspredigt unternimmt den Versuch,
dass Menschen von den Worten des Predigttextes ergriffen werden.
Wenn es dabei allein auf meine Fähigkeiten,
mein rhetorisches Geschick, meine Phantasie, meine Art zu sprechen ankäme,
wäre dieser Versuch von vornherein zum Scheitern verurteilt.
Ich kann das Siegel, das auf diesen Worten liegt, nicht brechen.
Ich kann es nicht machen, dass meine Ergriffenheit von diesen Worten
auf Sie überspringt, dass Sie von ihnen ergriffen werden.
Das kann allein das Lamm,
das Sie oben auf dem Hochaltar sehen
- Christus, mit der Siegesfahne in der Hand.

V
Worte.
Es sind nur Worte.
Aber wenn das Siegel, das auf ihnen liegt, gebrochen wird,
können sie unglaublich viel bewegen.
Wer solche Worte hat, dem geben sie Hoffnung in tiefster Verzweiflung.
Wer unüberwindliche Hindernisse vor sich sieht, dem machen sie Mut;
sie trösten in Angst und Leid.

"Alle Gewalt und Ehr und Macht und Lob und Preis gehöret ihm,
der sitzet auf seinem Thron,
und also dem Lamm ...
auf immer und ewig."

Gott sprach am Anfang: "Es werde ..."
Und Gott hat das letzte Wort.
In diesen Wochen des Advent denken wir daran,
dass Gottes Wort zu uns kommt
in seinem Sohn, der uns die sieben Siegel aufschließt.
Dann geschieht wieder das unglaubliche Wunder,
dass wir erkennen und begreifen,
dass alle Gewalt und Ehr und Macht und Lob und Preis
versammelt sind in einem kleinen, hilflosen Kind
in einer Futterkrippe in einem Stall.
Ein kleines Menschlein, das es mit allen aufnehmen wird:
Mit Leid, Geschrei und Schmerz und sogar mit dem Tod,
das leiden wird und sterben, wie wir.
Aber am Ende wird es leben,
wie auch wir leben werden.
Auf dieses Wunder warten wir im Advent:
darauf, dass Gottes Wort uns ergreift
und so auch durch uns zur Welt kommt.

Samstag, 19. November 2011

Predigt zum Ewigkeitssonntag/ Gedenktag der Entschlafenen

Predigt zum Ewigkeitssonntag/ Gedenktag der Entschlafenen, 20.11.2011 über Daniel 12,1b-3:

Es wird eine Zeit so großer Trübsal sein, wie sie nie gewesen ist, seitdem es Menschen gibt, bis zu jener Zeit. Aber zu jener Zeit wird dein Volk errettet werden, alle, die im Buch geschrieben stehen. Und viele, die unter der Erde schlafen liegen, werden aufwachen, die einen zum ewigen Leben, die anderen zu ewiger Schmach und Schande. Und die da lehren, werden leuchten wie des Himmels Glanz, und die viele zur Gerechtigkeit weisen, wie die Sterne immer und ewiglich.


Liebe Gemeinde,

"es wird eine Zeit so großer Trübsal sein, wie sie nie gewesen ist, seitdem es Menschen gibt", weissagt der Prophet Daniel. Wir denken bei solchen Weissagungen an einen fernen Termin in der Zukunft, an das "Jüngste Gericht". Aber wir müssen gar nicht so weit voraus schauen. Die "Zeit so großer Trübsal, wie sie nie gewesen ist, seitdem es Menschen gibt", die haben wir selbst schon erlebt, oder erleben sie gerade jetzt. Denn welche Trübsal könnte größer sein als die Trauer über einen Menschen, der gestorben ist und den man geliebt hat?

I
Wir leben im ehemaligen Zonenrandgebiet. Von der Mauer und vom Zaun, der Deutschland teilte, der Trübsal über viele Menschen brachte und an dessen Errichtung vor 50 Jahren wir uns in diesem Jahr erinnert haben, ist nichts mehr zu sehen. Und trotzdem ist vielerorts noch ein Streifen erhalten, der an die ehemalige "Zonengrenze" erinnert: Der sogenannte "Todesstreifen". "Todesstreifen" hieß er, weil dieser Streifen Land anfangs vermint und es deshalb lebensgefährlich war, ihn zu betreten. Und er blieb lebensgefählich: frei gehalten von Büschen und Bäumen, bot er den Grenzposten freies Schussfeld auf jeden, der es wagte, ihn zu betreten. Und nicht zuletzt liefen durch ihn kreuz und quer die Stolperdrähte, die einen "Republikflüchtling" meldeten und die tödlichen Selbstschussanlagen auslösten.
Wir im "Westen" lebten an diesem "Todesstreifen". Wir lebten in seiner ständigen Gegenwart, wir konnten hineinsehen, wir wussten, wozu er da war und was dem passieren konnte, der es wagte, ihn zu überqueren.

II
Auch als Christinnen und Christen leben wir am Todesstreifen. Einmal im Jahr, um diese Zeit, wagen wir es, an die Grenze des Lebens zu treten und hineinzusehen in den Grenzbereich zwischen Leben und Tod, in den Todesstreifen. Uns der Trauer auszusetzen, die die Erinnerung an die Gestorbenen mit sich bringt, und der Todesangst, die einen beim Blick auf diese Grenze befallen kann.

Warum tun wir das? Warum tun wir uns das an? Warum trauen sich Christinnen und Christen immer wieder an diese Grenze, warum sprechen sie über den Tod, den die Gesellschaft doch lieber verschweigt, den sie an die Ränder verbannt, dort, wo man ihn nicht sieht? Warum beharren sie darauf, ihre Toten würdevoll und mit einer Trauerfeier zu bestatten, während die Gesellschaft immer mehr dazu übergeht, die Toten still und heimlich zu "entsorgen" und ihre Gräber unter einem grünen Rasen unkenntlich zu machen?

Sind wir wie manche islamistische Fundamentalisten, die ihr Leben in der Überzeugung wegwerfen, es warte ein ewiges Leben mit paradiesischen Freuden auf sie? Nehmen wir unser Leben nicht ernst und wichtig, weil wir auf ein besseres Leben im Himmel, auf das "ewige Leben", hoffen? Treibt uns gar eine heimliche Todessehnsucht, wie sie in manchen Liedern des Gesangbuchs ihren Ausdruck findet?
Ich kann nur von mir sprechen, aber ich glaube, Christinnen und Christen haben nicht weniger Respekt vor dem Tod als andere, und genauso viel Freude am Leben. Niemand, der nicht völlig verzweifelt ist, möchte sein Leben aufgeben oder wegwerfen; selbst dann nicht, wenn er davon überzeugt ist, dass ein besseres Leben auf ihn wartet.

Christinnen und Christen unterscheidet von anderen dadurch, dass sie es wagen, in den Todesstreifen hineinzusehen. Sie haben Respekt vor dem Tod, sie unterschätzen ihn nicht. Im Gegenteil: Sie nennen die tödlichen Mächte, die das Leben bedrohen, beim Namen. Sie kämpfen gegen den Tod, sie kämpfen für das Leben hier und jetzt, sie kämpfen dafür, dass diese Welt besser wird, nicht für eine bessere Welt im Jenseits.
All das tun sie, weil sie keine Angst vor dem Tod haben.

III
Habe ich da den Mund nicht zu voll genommen, wenn ich sage: Wir haben keine Angst vor dem Tod? Nun, es ist schon ein Zeichen von Mut, wenn man es wagt, den Tod beim Namen zu nennen und nicht von "du weißt schon, wem" zu sprechen. Es ist ein Zeichen von Mut, wenn man sich traut, in einem Gottesdienst der Gestorbenen zu gedenken. Es ist ein Zeichen von Mut, wenn wir uns immer wieder mit dem Tod auseinandersetzen - auch mit der Möglichkeit des eigenen Todes.
Es ist ein Zeichen von Mut. Und es ist ein Zeichen der Freiheit.

Einen Menschen zu verlieren, den man liebte, ist eine "so große Trübsal, wie sie nie gewesen ist". Es gibt nichts Schlimmeres. Wer einen solchen Verlust erlitten hat, der hat etwas sehr wertvolles im Leben verloren - wertvoller als alles, was man an Geld, Einfluss, Leistungen oder Ehren erreichen kann.

Und der hat, wenn der Schmerz über den Verlust nicht mehr alles andere überstrahlt, etwas wichtiges gelernt: Dass die Liebe der größte Schatz ist, den man im Leben erwerben kann. Die Liebe dieses Menschen, der gestorben ist. Aber auch die Liebe all der Menschen, die leben.
Und auf einmal verändern sich die Werte: Besitz, Reichtum, Karriere, Ansehen werden nebensächlich. Was zählt, worauf es wirklich ankommt, das ist die Liebe, die wir anderen schenken und von ihnen empfangen. Sind Mitmenschlichkeit. Nachbarschaft. Freundschaft.
Und auf einmal merkt man: Was das Leben wirklich lebenswert macht, ist genau das: Das ist die Liebe dieses besonderen Menschen, das sind Freundschaft, Solidarität, Menschlichkeit.

Die Nähe des Todes und die Erfahrung des Todes lassen einen erkennen, was wirklich zählt, was wirklich wichtig ist im Leben. Diese Erkenntnis schenkt, so unglaublich es klingt, Freiheit. Indem wir erkennen, was wirklich wichtig ist, werden wir frei von all dem, was uns fesseln will und uns unfrei macht.

IV
Was wirklich zählt, was wirklich wichtig ist im Leben, bemerkt man leider erst, wenn das Leben schon fast vorüber ist. Wenn man am Grab des Menschen steht, den man über alles liebte. Wenn man seine letzten Freunde zu Grabe getragen hat. Wenn man selbst mit der Tatsache seines Todes konfrontiert wird.
Muss man denn wirklich erst den Tod erleben um zu lernen, wie wertvoll das Leben ist, und was im Leben wirklich zählt? Findet man die Freiheit erst dann, wenn man sie nicht mehr genießen kann? Wird man erst aus der schrecklichen Erfahrung des Todes klug?

Der Prophet Daniel möchte uns schon vorher eines besseren belehren.
Er sieht sie voraus, die "Zeit so großer Trübsal, wie sie nie gewesen ist, seitdem es Menschen gibt". Und er sieht auch voraus, dass "viele, die unter der Erde schlafen liegen, aufwachen werden, die einen zum ewigen Leben, die anderen zu ewiger Schmach und Schande". Daniel sieht den Todesschmerz voraus. Und er sieht die Auferstehung voraus, ein Leben nach dem Tod, ein ewiges Leben.

Wir können wissen, was uns blüht. Aber wir verdrängen dieses Wissen: Der Gedanke an den Tod ist zu schmerzlich. Und der Glaube an die Auferstehung ist zu ungewiss. Dabei machen wir doch sonst gute Erfahrungen mit dem Glauben. Ich meine nicht den christlichen Glauben. Ich meine den Glauben, dass wir geliebt werden - von der Partnerin, vom Partner, von den Eltern, von den Kindern. Diese Liebe lässt sich nicht überprüfen, sie lässt sich nicht beweisen. Sie ist Vertrauenssache. Sie ist Glaubenssache. Wenn wir an die Liebe glauben können, die uns geschenkt wird, sind wir glückliche Menschen. Wenn wir allen Menschen misstrauen, werden wir krank.

V
In eben dieser Weise glauben wir an die Auferstehung: Sie ist ein Vertrauen in das Leben. In dieses Leben, das wir jetzt und hier leben. Der Glaube an die Auferstehung ist das Vertrauen, dass das Leben nicht vergebens ist. Das wir es nicht wegwerfen müssen, weil wir im Moment nur Leid und Schmerz erfahren. Der Glaube an die Auferstehung ist das Vertrauen, dass das Leben des anderen Menschen nicht vergeblich war: Des Menschen, der gestorben ist. Und das unsere Liebe zu ihm nicht vergeblich war.

Es gibt keine Beweise für diesen Glauben, wie es keine Beweise für die Liebe gibt. Aber es gibt ein starkes Hoffnungszeichen: Jesus, der am dritten Tage auferstanden ist von den Toten. Gott hat den Tod besiegt, lautet dieses Hoffnungszeichen. Der Tod ist noch immer eine Macht, mit der wir rechnen müssen, der wir nichts entgegenzusetzen haben. Aber er hat keine Macht mehr über uns. Er kann uns keine Angst mehr einjagen. Er kann uns nicht vernichten. Wir sind frei, frei von der Angst vor dem Tod und frei von allem, was uns fesseln will. Und wir werden bleiben, dem Tod zum Trotz, und mit uns die Menschen, die wir lieben, und wir werden leuchten wie des Himmels Glanz, und wie die Sterne immer und ewiglich.

Darum haben Christinnen und Christen keine Angst vor dem Tod. Darum wagen wir es immer wieder auf Neue, in den Todesstreifen zu blicken, die Zäune einzureißen und die Minenfelder unschädlich zu machen und den Menschen im Schatten des Todes beizustehen. Weil unser Gott ein Gott der Lebenden ist, der den Tod besiegt hat.

Darin liegt unsere Freiheit. Wenn wir sie richtig gebrauchen - nicht, um uns noch mehr zu nehmen, als wir ohnehin schon haben, nicht, um noch mehr zu erreichen, noch mehr Macht zu haben, noch mehr Geltung, sondern um auf andere Menschen zuzugehen -, dann erfahren wir das größte Glück, das das Leben bieten kann. Dann brauchen wir uns eines Tages nicht zu schämen für unser Leben, weil all die Menschen, denen wir Mitmenschen waren, für uns sprechen werden. Dann werden wir leuchten wie des Himmels Glanz und wie die Sterne, und die, die wir liebten, werden mit uns leuchten immer und ewiglich.

Amen.

Mittwoch, 16. November 2011

Predigt zum Buss- und Bettag

Predigt am Buss- und Bettag, 16.11.2011, über Matthäus 12,33-37:

Jesus sprach zu den Pharisäern: Nehmt an, ein Baum ist gut, so wird auch seine Frucht gut sein; oder nehmt an, ein Baum ist faul, so wird auch seine Frucht faul sein. Denn an der Frucht erkennt man den Baum. Ihr Schlangenbrut, wie könnt ihr Gutes reden, die ihr böse seid? Wes das Herz voll ist, des geht der Mund über. Ein guter Mensch bringt Gutes hervor aus dem guten Schatz seines Herzens; und ein böser Mensch bringt Böses hervor aus seinem bösen Schatz. Ich sage euch aber, dass die Menschen Rechenschaft geben müssen am Tage des Gerichts von jedem nichtsnutzigen Wort, das sie geredet haben. Aus deinen Worten wirst du gerechtfertigt werden, und aus deinen Worten wirst du verdammt werden.


Liebe Gemeinde,

"wie könnt ihr Gutes reden, die ihr böse seid?"
Über diese Frage möchte ich mit Ihnen heute nachdenken.
Mich hat sie nicht mehr losgelassen beim Lesen des Predigttextes.
Nicht beim ersten Mal, und auch nicht beim zweiten.
Erst, nachdem ich den Text wieder und wieder gelesen hatte,
wurde mir klar, woran ich hängen geblieben war.
Man hört leicht hinweg über diese Frage,
denn sie wird mit einem Schimpfwort eingeleitet:
"Ihr Schlangenbrut".
"Ihr Schlangenbrut" - das lässt man sich nicht gern sagen.
Wir haben es nicht verdient, so abgekanzelt zu werden.
Indem man innerlich gegen dieses Beschimpfung aufbegehrt,
bekommt man den Rest des Satzes nicht mehr mit.
"Wie könnt ihr Gutes reden, die ihr böse seid?"

Es ist eine ganz eigene Logik, die Jesus da entwickelt.
Das fängt schon mit den Bäumen an:
Ein fauler Baum bringt faule Früchte,
ein guter Baum bringt gute Früchte.
Das ist so. Wenn eine Pflanze faul ist,
also von einer Krankheit befallen,
braucht sie alle Kraft, um diese Fäulnis abzuwehren.
Sie hat dann keine Kraft mehr übrig für die Früchte.
Bei der wird nichts zu ernten sein,
und wenn, dann nur minderwertige, faule Früchte.
An der Frucht erkennt man den Baum,
die Güte der Frucht lässt Rückschlüsse auf die Gesundheit des Baumes zu.

Jesus wendet dieses Beispiel von den Bäumen und ihren Früchten auf den Menschen an.
Die Frucht des Menschen kommt aus seinem Herzen.
Ein gutes Herz bringt gute Früchte,
ein böses Herz bringt böse Früchte.
Wir müssen uns hier für einen Moment von unserem Wissen über die menschliche Anatomie verabschieden: Gemeint ist nicht das Herz als Organ,
das schlecht durchblutet sein oder unter Herzrhythmusstörungen leiden kann.
Gemeint ist das Herz im übertragenen Sinne als Sitz dessen,
was den Menschen ausmacht, sein "Ich".
Wir verbinden ja auch das überwältigende Gefühl der Liebe mit dem Herz,
obwohl es sehr wahrscheinlich dort nicht sitzt,
aber das ist uns egal: Wir malen ein Herz, wenn wir verliebt sind,
und uns ist das Herz gebrochen, wenn unsere Liebe nicht mehr erwidert wird.

Also, das Herz des Menschen bringt Früchte hervor,
gute und schlechte.
Früchte, die es nicht nur zu einer bestimmten Jahreszeit gibt,
sondern die das ganze Jahr über reifen,
jeden Augenblick sogar. Es sind die Worte, die wir sprechen.
Gute Worte können nur aus einem guten Herzen kommen,
böse kommen aus einem bösen.
Jesus geht sogar noch weiter, wenn er sagt:
"wie könnt ihr Gutes reden, die ihr böse seid?"
Das soll doch wohl bedeuten,
dass ein böser Mensch gar nichts Gutes sagen kann.

Ist das so?
Gemeinhin wird doch behauptet,
dass gerade die größten Halunken besonders gut mit Worten umzugehen wissen.
Sie gehen einem um den Bart, sie schmeicheln sich ein,
sie reden so lange auf einen ein, bis man nachgibt
und ihnen die völlig überflüssige Versicherung abkauft,
den überteuerten Staubsauger oder den nach Kork schmeckenden Wein.
Und haben wir es nicht auch erlebt,
dass Menschen, die wir für unsere Freunde hielten,
uns gut zugeredet haben, während sie hinter unserem Rücken über uns herzogen?
Machen wir das nicht auch ab und zu:
einem Menschen freundlich, sogar herzlich begegnen
und dann, wenn er nicht dabei ist, über ihn lästern?
Sagen, was er für ein guter Kerl ist, wenn er zuhört,
über ihn schimpfen, wenn er abwesend ist?
Aber das sind offenbar nicht die guten Worte, die Jesus meint.
Was sind denn dann gute Worte, und wo kommen sie her?

"Wes das Herz voll ist, des geht der Mund über."
Dieser Satz hat es zur Redensart gebracht.
Eine ziemlich altertümliche Redewendung;
in modernem Deutsch müsste es heißen:
Wessen Herz voll ist, dessen Mund läuft über.
Aber das würde so keiner sagen.

Schon wieder eine so eigenartige Vorstellung vom Herzen,
als wäre es ein Gefäß, das überlaufen könnte,
und dann kommt's zum Mund heraus ...
Wir müssen wieder unser Wissen über die menschliche Anatomie vergessen:
Es gibt keine direkte Verbindung zwischen Herz und Mund;
Blutbahn und Speiseröhre sind zum Glück fein säuberlich getrennt.
Auch hier müssen wir uns wieder das Herz im übertragenen Sinn vorstellen,
und zwar diesmal als Lagerraum - Jesus nennt es: Schatzkammer.
Im Herzen wird etwas eingelagert, Gutes und Böses.
Und wenn zuviel eingelagert wird,
wenn das Herz voll ist,
dann kommt es aus dem Mund wieder heraus.

Was kann das sein, das da im Herzen eingelagert wird?
Doch wohl nur etwas, das uns zu Herzen gegangen ist:
Erlebnisse und Gefühle.
Wenn wir z.B. vom Schicksal eines anderen Menschen so ergriffen werden,
dass es uns zu Herzen geht.
Es scheint nicht viel zu geben, was uns so zu Herzen geht.
Vielleicht ist das ja gut so - wer weiß,
ob unsere Herzen das aushalten würden?
Zu einer anderen Zeit unseres Lebens war das jedenfalls noch anders.
Kleine Kinder, wenn sie Beeindruckendes erlebt haben,
erzählen davon mit Worten wie ein Wasserfall.
Ein besonderes, aufregendes Erlebnis,
ein Besuch auf dem Rummel oder im Zoo,
das Miterleben von etwas Außergewöhnlichem
kann zu wahren Wortkaskaden führen.
Da stimmt der Satz: Wes das Herz voll ist, des geht der Mund über.
Die kleinen Kinderherzen,
die noch nicht so abgebrüht sind wie unsere,
und noch nicht so abgehärtet,
die können noch nicht so viel fassen,
die quellen über bereits bei einem Erlebnis,
und dann quillt es heraus aus ihnen in Worten ohne Ende.

Was lagern wir in unseren Herzen,
und wovon quellen sie über?
Wann war es zum letzten Mal,
dass unser Herz so übergequollen ist,
dass wir unseren Mund nicht mehr halten konnten?
Wovon schwärmen wir?
Was begeistert uns?
Martin Luther sagt: "Wo dein Schatz ist,
da ist recht eigentlich dein Herz."
Haben wir Schätze oder Schätzchen,
die uns begeistern,
oder geht es uns wie dem Kohlenmunk-Peter in der Erzählung vom "Kalten Herz",
das unser Herz versteinert ist, sich nicht mehr rühren lässt,
dass wir zu keiner Begeisterung mehr fähig sind,
die uns mitteilungsbedürftig macht?

In der Geschichte, an deren Ende der Predigttext steht,
treibt Jesus einen Dämon aus einem Menschen aus.
Ein Dämon, das bezeichnet etwas, das einen Menschen besetzt.
Er besetzt das Herz, so dass nichts anderes mehr herein kann.
Deshalb war der Besessene, den Jesus heilte, auch taub und stumm:
Es kam nichts mehr herein ins Herz
und deshalb auch nichts mehr heraus aus seinem Mund.
Das Herz dieses armen Menschen
war ein Stein geworden.
Mit der Austreibung des Dämon war es wieder aufnahmebereit.
Offen für alles, was einem Menschen zu Herzen gehen kann.

Gott möchte unser Herz für sich gewinnen.
Er möchte es besetzen.
Darum wird Gott Mensch.
Gott inkarniert sich. Das Wort wird Fleisch.
Darauf gehen wir zu.
Das feiern wir bald wieder, an Weihnachten.
Das Wort wird aber nicht nur einmal Fleisch.
Gott inkarniert sich in uns.
Das Wort Gottes will immer wieder Fleisch werden in uns.
Es wird Fleisch, indem es unser Herz ergreift und besetzt
und für das, was dieses Wort Gottes sagt, entfacht.
Für Gottes Gerechtigkeit. Für Gottes Frieden. Für Gottes Liebe.

Das Wort Gottes ist unser Schatz.
Und wenn es unser Herz anfüllt,
dann drängt es heraus aus uns,
nicht nur in anderen, neuen Worten aus dem Mund.
Es drängt heraus aus unseren Augen in freundlichen Blicken,
im Ansehen und Hinsehen, im Wahrnehmen und in teilnehmender Freude.
Es drängt heraus aus Armen und Händen
im Helfen und Heilen, im Tragen und Trösten.
Aus jedem Menschen drängt es heraus,
dieses Wort Gottes, um Gestalt zu gewinnen
in der Art und Weise, wie wir unser Miteinander gestalten.

Von Gottes Wort ergriffen,
von Gottes Wort besessen,
können wir nicht böse sein.
Wir können Gutes reden.
Wir können Gutes tun.

Wenn Gott sich so in unser Leben einmischt,
dann mischt er sich durch uns auch in die Welt ein, die uns umgibt:
in die Politik, in die Wirtschaft,
in unsere Art, mit Armen, Alten oder Kranken umzugehen.

Gott mischt sich durch uns in die Welt ein.
Gott will mit uns und unseren Fähigkeiten etwas produzieren.
Gott fängt an, mit uns zusammen etwas herzustellen,
etwas Neues, das wir Frieden, Freiheit, Gerechtigkeit nennen,
oder, wie Jesus es genannt hat: Reich Gottes.

Wir selbst wirken daran mit, jede und jeder von uns,
in den Gott sich eingemischt hat,
in den Gott sich einmischt,
wenn wir nachher Abendmahl feiern
und Gott in uns aufnehmen.
Jede und jeder von uns kann daran mitwirken,
dass das Reich Gottes unter uns Raum gewinnt.
Ohne unsere Kooperation kommt Gott da nicht weiter.
Weil er sich aber eingemischt hat in unser Leben,
darum können auch wir uns einmischen
und daran mitarbeiten, dass Gottes Reich kommt.
Jeden Tag neu.

Amen.

Montag, 7. November 2011

Hubertuspredigt, 6.11.2011

Predigt zur Hubertusmesse am 6. November 2011 um 17.00 Uhr in der Klosterkirche Riddagshausen über Jesaja 55, 8-13:

Meine Gedanken sind nicht eure Gedanken, und meine Wege sind nicht eure Wege, spricht der Herr, sondern soviel der Himmel höher ist als die Erde, so sind auch meine Wege höher als eure Wege und meine Gedanken als eure Gedanken. Denn gleichwie der Regen und Schnee vom Himmel fällt und nicht wieder dahin zurückkehrt, sondern feuchtet die Erde und macht sie fruchtbar und lässt wachsen, dass sie gibt Samen, zu säen, und Brot, zu essen, so soll das Wort, das aus meinem Munde geht, auch sein: Es wird nicht wieder leer zu mir zurückkommen, sondern wird tun, was mir gefällt, und ihm wird gelingen, wozu ich es sende. Denn ihr sollt in Freuden ausziehen und im Frieden geleitet werden. Berge und Hügel sollen vor euch her frohlocken mit Jauchzen und alle Bäume auf dem Felde in die Hände klatschen. Es sollen Zypressen statt Dornen wachsen und Myrten statt Nesseln. Und dem Herrn soll es zum Ruhm geschehen und zum ewigen Zeichen, das nicht vergehen wird.


Liebe Gemeinde,

"ihr geht mit der Erde um, als hättet ihr eine zweite im Keller".
Dieser Spruch klebte in den 80er Jahren auf vielen Autohecks,
oft zusammen mit der Weissagung der Cree, einem nordamerikanischen Indianerstamm:
"Erst wenn der letzte Baum gerodet, der letzte Fluss vergiftet und der letzte Fisch gefangen ist, werdet ihr feststellen, dass man Geld nicht essen kann."
Sprüche aus den 80er Jahren, wie gesagt, die meist auf R4s oder "Enten" klebten, auf VW-Käfern oder alten VW-Bussen. Umweltschutz war Anfang der 80er Jahre in der öffentlichen Meinung eine Sache der langhaarigen, latzhosentragenden "Alternativen" und "Ökos", aus denen dann bald die "Grünen" wurden.

Aber damals gab es noch andere "Grüne", die sich auch als Natur- und Umweltschützer verstanden, die aber, wenn überhaupt, dann meist andere Aufkleber auf ihrem Auto hatten: "Jäger - Heger", zum Beispiel. Diese anderen "Grünen" orientierten sich dabei an der "Waidgerechtigkeit", die der "Blase", das Handbuch für Jäger, beschreibt als Ausgleich "der jagdlichen Interessen mit den sonstigen öffentlichen Belangen, insbesondere mit den Belangen ... des Naturschutzes ...". (Blase, Richard, Die Jägerprüfung in Frage und Antwort. Ein Handbuch für Jäger, 21. Aufl., Melsungen 1979, S. 269)

Bereits in der Auflage von 1979 steht dort unter der Überschrift "Natur- und Umweltschutz":
"Für jeden Waidmann gilt ... durch Vermeidung der Überhege, gezielte Bejagung bestimmter Wildarten und durch freiwilligen Verzicht auf die Bejagung gefährdeten Wildes den Fortbestand einer großen Vielfalt von Tierarten in einem gesicherten und gesunden Lebensraum (Biotop) zu sichern. Merke: Erst Heger und Umweltpfleger - dann Jäger!" (Blase, S. 363)

Und im nächsten Absatz heißt es nach der Aufzählung von Umweltschäden:
"Die Folgen dieser Umweltverschmutzung in gesundheitsschädlicher Hinsicht sind bekannt und bereits so augenscheinlich, dass endlich Einhalt geboten werden muss. Der Jäger hat deshalb ... die Aufgabe, ... sich als aktiver Helfer im Umweltschutz zu betätigen ... und den Menschen seines Wirkungskreises die große Bedeutung des Natur- und Umweltschutzes bewusst zu machen und bei ihnen die Einsicht zu wecken, dass unsere natürlichen Lebensgrundlagen heute bereits überbeansprucht sind und der Schutz der Umwelt zu einem Weltproblem erster Ordnung geworden ist." (Blase, S. 363f)

Das sind, wie gesagt, Sätze aus dem Jahre 1979. Wenn man das Fazit aus ihnen zieht - so viel anders als die Sprüche auf den Aufklebern ist es nicht, wenn den Mitmenschen eingeschärft werden soll, wie bedroht unsere Umwelt ist.
Heutzutage gibt es daran auch keinen Zweifel mehr. Über alle Parteien hinweg besteht die Einsicht, dass die Welt in großer Gefahr ist. Nur über den Weg, diese Gefahr abzuwenden, herrscht nach wie vor Uneinigkeit.

Man könnte - ja, man muss eigentlich sagen, dass die Jäger - und, nebenbei bemerkt, auch die Land- und Forstwirte, die ja oft auch Jäger sind -, die ersten "Grünen" waren und immer noch "Grüne" sind - nicht nur wegen ihrer grünen Kleidung. Gemeinsam mit den Land- und Forstwirten setzen sich die Jäger für den Landschafts- und Naturschutz ein. Im strengen, schneereichen Winter Ende der 70er Jahre fuhr mein Vater mit dem Traktor Heubunde in die Feldmark, damit das Rehwild, das unter dem Schnee und Eis keine Äsung mehr fand, nicht verhungerte. Gräben werden sauber gehalten, Müll eingesammelt und Wege ausgebessert. Hecken als Deckung für das Wild und Brutplatz für Singvögel werden gepflanzt. Oft genug werden Spaziergänger angesprochen, die fröhlich zur Brutzeit abseits der Wege durch Wald und Wiesen stromern, sie möchten doch bitte auf den Wegen bleiben und ihre Hunde anleinen - selten erntet man dafür Verständnis, sondern meist böse Worte.
Jäger setzen sich für den Natur- und Umweltschutz ein.
Warum aber gibt es dann gerade zwischen den Umwelt- und Naturschützern auf der einen und Landwirten und Jägern auf der anderen Seite so oft Spannungen und Konflikte, warum können die einen den anderen nicht auf Fell gucken, wenn doch beide am selben Strang ziehen?

Ich habe als Pastor eigentlich gar nicht das Recht, diese Frage zu stellen. Denn unter Christenmenschen geht es ja nicht anders zu: Evangelische und Katholische Kirche liegen im Dauerclinch. Wenn wir uns unter den ev. und kath. Kollegen auch gut verstehen, wenn wir hier in der Klosterkirche auch ökumenische Trauungen feiern - im Großen gibt es nach wie vor keine Einigung, und es wird auf absehbare Zeit wohl auch keine geben.
Aber vielleicht hilft das Beispiel der beiden Kirchen zu verstehen, warum der Dialog zwischen Naturschützern und Jägern so oft misslingt:

Evangelische und Katholische Kirche haben ihre Glaubenswahrheiten, die sie nicht aufgeben können und wollen - zwei Sakramente gegen sieben; Priestertum aller Gläubigen gegen Primat des Papstes; Verständnis der kirchlichen Trauung als Segnung der Brautleute, die auch die Segnung gleichgeschlechtlicher Lebensgemeinschaften möglich macht, gegen die Unauflöslichkeit der Ehe, und so weiter.

So haben auch Land-, Forstwirte und Jäger auf der einen, Naturschützer auf der anderen unterschiedliche Auffassungen von Umwelt- und Naturschutz, die sich zum Teil gegenseitig ausschließen. Auf der einen Seite steht die Nutzung von Feld, Wald und Wild, bei der die Landschaft als Kulturlandschaft betrachtet wird. Auf der anderen Seite der Wunsch, Pflanzen und Tiere vor dem Zugriff des Menschen zu schützen und Lebensräume zu schaffen, die durch die land- und forstwirtschaftliche Nutzung verloren gingen.

Neben diesen Differenzen über das Wie gibt es aber noch etwas anderes, das vielleicht noch mehr trennt als die unterschiedlichen Ansichten, und das ist die Tradition.
In Nordirland haben sich evangelische und katholische Christen nicht wegen der Zahl der Sakramente die Köpfe eingeschlagen, sondern wegen der unterschiedlichen Traditionen, für die jede Konfession stand und steht. In allen Konflikten, die sich vordergründig um den Glauben drehen, geht es neben Macht und Geld immer um Traditionen, die man nicht aufgeben will. Sie feuern den Konflikt an und halten ihn am kochen.

Bei den Jägern ist die Tradition ganz offensichtlich, nicht nur durch ihre Kleidung. Das jagdliche Brauchtum gehört wesentlich zur Identität, von der Waidmannssprache über die Jagdsignale bis hin zur Waidgerechtigkeit. Und es gehört zu unserer Kultur, wie die kirchlichen Traditionen und Feiertage. Aber auch die Umweltschutz-, die Friedens- und die Anti-Atomkraftbewegung hat eine Tradition, wenn sie auch viel jünger ist. Sie drückt sich ebenfalls in der Kleidung aus, im Liedgut, in der Lebensart.

Bei so viel Unterschieden, bei so viel Trennendem ist es kein Wunder, dass sich Naturschützer und Jäger oft wie Katze und Hund gegenüberstehen. Und wie bei den beiden christlichen Kirchen ist nicht in Sicht, dass das jemals anders werden könnte.

Meine Gedanken sind nicht eure Gedanken, und meine Wege sind nicht eure Wege, spricht der Herr, sondern soviel der Himmel höher ist als die Erde, so sind auch meine Wege höher als eure Wege und meine Gedanken als eure Gedanken, hieß es in der Lesung, die wir vorhin gehört haben. Wenn wir nur auf Äußerlichkeiten achten, wenn jeder nur am Eigenen festhält, wird es nie zu einer Einigung kommen. Möglicherweise aber können wir uns diesen Luxus nicht mehr lange leisten, weder bei der Kirche mit ihren sinkenden Mitgliederzahlen, noch bei denen, die unsere Umwelt schützen wollen. Wie der Blase schon 1979 feststellt und den Jägern einschärft, "dass unsere natürlichen Lebensgrundlagen heute bereits überbeansprucht sind und der Schutz der Umwelt zu einem Weltproblem erster Ordnung geworden ist", - heute ist es in unserem Land zwar besser, dafür weltweit gesehen dramatischer geworden.

Sind wir in der Lage, in der Kirche und im Naturschutz, von den Streitereien um das Wie auf das gemeinsame Ziel zu schauen, das so unterschiedlich gar nicht ist? Sind wir bereit, über unseren Schatten zu springen und zunächst einmal die unterschiedlichen Sichtweisen und Traditionen des jeweils anderen nicht abzulehnen, sondern als etwas anzuerkennen, das seine Berechtigung hat, seinen Wert - auch wenn wir ihn nicht teilen? Sind wir schließlich bereit und in der Lage, uns auf Gottes Gedanken einzulassen und von unseren kleinmütigen und kleingläubigen Gedanken wegzukommen?

Gottes Gedanken kreisen um das Wohl für alle Menschen und für seine ganze Schöpfung. Wir sind nur eine Spezies auf diesem Planeten, aber wir haben bereits 20% seiner Oberfläche für uns beansprucht. Wir sind 80 Millionen Bundesbürger, aber die Erde beherbergt bereits 7 Milliarden Menschen. Wenn alle 7 Milliarden so lebten wie wir, gäbe es unseren Planeten schon lange nicht mehr.

Zum Jägersein gehört die Waidgerechtigkeit, wie sie in einem Merkvers ihren Ausdruck findet:
"Das ist des Jägers Ehrenschild,
dass er beschützt und hegt sein Wild,
waidmännisch jagt, wie sich's gehört,
den Schöpfer im Geschöpfe ehrt."

Wir müssen heute lernen, dass in diesem Wort "Waidgerechtigkeit" auch die Gerechtigkeit steckt. Wenn wir den Schöpfer im Geschöpfe ehren wollen, dann müssen wir dem Geschöpf Gerechtigkeit widerfahren lassen - dem Wild ebenso wie unseren Mitmenschen. Und wenn es gerecht zugehen soll in der Welt, wird es nicht gehen, ohne dass wir auf vieles verzichten, das wir lieb gewonnen haben und das uns unverzichtbar erscheint.

Wir haben keine zweite Erde im Keller.
Aber wir alle, die wir heute hier versammelt sind, haben einen Traum von der Erde. Und wie auch immer der für jeden einzelnen aussehen mag, es sind Szenen aus der Natur. Es sind Momente, die man auf dem Ansitz erlebt und die oft schöner und intensiver sind als die eigentliche Jagd und ihr Erfolg.

Der Traum, von dem der Prophet Jesaja spricht, ist ein ganz ähnlicher Traum. Dort heißt es: "Ihr sollt in Freuden ausziehen und im Frieden geleitet werden. Berge und Hügel sollen vor euch her frohlocken mit Jauchzen und alle Bäume auf dem Felde in die Hände klatschen. Es sollen Zypressen statt Dornen wachsen und Myrten statt Nesseln."
Die Träume der Bibel haben immer einen Überschuss, etwas, das von der Wirklichkeit nicht eingelöst werden kann. Aber gerade dadurch geben sie uns Antrieb und Kraft, die Wirklichkeit zu verändern. Indem wir unsere Erde erhalten und bewahren. Indem wir die Schönheit und die Gaben, die sie zu bieten hat, gerecht verteilen.
Amen.

Montag, 31. Oktober 2011

Predigt taun Reformationsdaag op Platt

Predigt an Reformationsfest, 31. Oktober 2011 Klock Sembe in de Klosterkerke Riddagshusen över Matthäus 10,26b-33:
Jesus seggt to sien Jüngers: Nist is verstecket, wat nich an’t Lichte kümmt. Un nist is sau heimlich, dat et nich bekannt wart. Wat ick jück segge in’t Dustern, dat schallt ji in’t Lichte vertelln. Un wat ji in’t Ohr seggt wart, dat schüllt ji von’t Daake raupen. Ji bruket nich bang to sien för den, die den Liew dootmaken künn, man de Seele künn se nist dauhn. Ji schullt jück awwer dulle vorseihn för den, de Seel un Liew to schann maken künn in de Höll. Kunnt ein nich twei Sparlinge um ein Groschen köpen? Man kein fällt op de Eerd, ohn dat ji Vadder dat wett odder will. Man jüch Haare op’n Koppe sinn alle geteelt. Darum bruket ji nich bange to sien: ji siet veel mehr wert as de Sparlinge! Jeden nu, de mick kennt för de Lüe, de will ick ock kennen vor mien Vadder in Himmel. Man jeden, de mick nich kennt för de Lüe, de will ick ock nich kennen vor mien Vadder in Himmel.


Leiwe Gemeinde,
geiht ji dat ok mannigmal sau, dat ji wat verget?
Wenn ein öller wart, denn is dat ganz normal, dat sick ein nich op alles besinnen kann. De Saken von fräuer, de fallt ein all wedder in, man, wat gestern ween is, dat is all wedder wech.
Sau geiht dat nich blots de öllere Lüe. Ick kann mick ock all nich mehr op alles besinnen. Sunders op Saken, de ick nich gern dau odder keen Lust dartau hebbe. De möt ick mick opschriewen.
Man, wat wi all licht vergeten, ob wi junge Lüe sind odder öldere, dat is: Dat Lewen is kein Zuckerschlecken.

Ach, denket se, dat is nist niet. Dat kennt wi all. Man, kennt wi dat wirklich? Wi wett, dat ein mannigmol krank ward, dat nich jeden
Daag schön is, un dat ein Dag dat Lewen to end geiht. Man den groten Rest von use Tied mögt wie nist weten von Krankheit un Sorgen und Doot. Wi meent, dat use Lewen ein gute Lewen sien möt, dat dat gar nich anners sien kann. Frieden, un genuch tau äten, Geld op’n Konto, un een Daak over usen Kopp, un gesund sien - dat mot alles so sien. Da hebbet wi en Recht oppe. Dafor hebbet wi gearbeitet un betaalt, dat wi gemütlich in use Stube sitten künnt.

So is dat ock: Wi sünt Stubenhockers worn. Fräuer weer dat’n Schimpwort ween, “Stubenhocker”. Man, hüte, wenn wi vonne Arbeit na Huuse koomt, odder wenn wi use Rente hebbt, denn sitt wi inne Stube. Denn willt wi för üsch sien, un use Ruhe hebben. Dat is dat Schönste. Un wiel alle Lüe so gern inne Stube sittet, gifft dat ok nich mehr veel, de sick um anneres, odder um annere, kümmern wullt: De Parteien find’ kein mehr, de da mitmaken willt, de Vereine ock nich - vun’ Schützenverein to’n Gesangverein. De Friewillige Füerwehr findt’ kein Friewillige mehr, un ock in de Kerke gaht de Minsche nich. De Lüe klaget, dat nist mehr los is in’t Dörpe, dat se de Füerwehr los wart, wenn se nich nauch Friewillige findt’, un dat keen mehr in de Kerke kümmt - man sülms rutgahn, sülms wat dauhn, dat willt se ock nich.

De Reformation, de wi hüte fiert, hett ‘n beten mit Schuld dar an. De Reformation mit ehr’ Entdeckung, dat de Minsch nüst to siehn Heil dauhn kann. Et kümmt alles von Gott - de Minsch mot alleen glöben. Wat hei süs deiht odder nich deiht, dat is nich so wichtig. Hei schall nist Unrechts dauhn; man ok denne mach he Gott bitten, dat hei jüm vergewen deiht. De Reformation hett den Unterschied maakt twischen den Globen as mien eigen, private Angelegenheit, un de Welt, die dormit nist tau dauhn hett. Dorum is dat för mien Globen ok egal, wat ick dauh odder nich dauh.
Man för Jesus is dat nich egal. Jesus will von sien Jüngers, dat se wat dauhn. Hei will, dat se em kennen vor de Lüe, un dat se bekennen schalln, wat em sülms seggt weer. Sei schallt sick in’t Lichte stellen, dat sei seihn wart, un von de Dääkers raupen, dat de Lüe sei hörn künnt. Sei schallt sick nich in de Stube versteeken, sünders na buten gahn, wo jeder seihn kunn, wat ein Christenminsche deiht. So hebbt dat de eersten Christen oke maket. Sei sünn opstaan för eern Globen un sei hett eer Muul nich holen, als dat um eer Lewen ging. Sei hebbt sick för eern Globen dootslaan laten. Sei sünn Bekenner woorn, “Märtyrer”, seggt man dartau, von dat Greek’sche Wort för “bekennen”.

Ok Martin Luther hett sick tau sien Globen bekannt. Hei is opstaan gegen de Fürsten, gegen den Kaiser un ok gegen den Papst. “Hier steih ick, ick kann nich anners, Gott helpe mick. Amen”, hett he seggt.

Bet in use Dage hett dat sonne Minschen gewen. Wi hebbt de dunklen Johr twischen dreiundrittig und fiefenfürzig nich vergeten, wo ein Minsche nich seggen künn, wat he denket, un wo Mitminschen dootslaan weern, blots wiel se den jödschen Globen hett. Da weern ok’n paar Lüe ween, de eer Muul nich holen künnt. Dietrich Bonhoeffer weer so ein ween. De bliew nich in de Stube sitten, de ging rut und wullt wat dauhn un hett sien Globen bekannt. Daför hebbet se em oppehänget.

Möt wi nu all för usen Globen dat sülms dauhn, möt wi uns all dootslan laten? Wi lewet inne annere Tied, da ward keiner mehr so liecht dootslan för sien Globen, för sien Hautfarw odder sien politische Ansichten. Darum künnt wi nu all usen Globen bekennen un möt nich Angst hebben, dat wi dadurch Schaden hebbt. Man wi sün trotzdem bange - bange, dat de Lüe över uns lacht, wenn wi över usen Globen redet. Dat beholt wi lieber för üsch. De Globe, dat is en persönliche, private Angelegenheit, da möt keen annere Minsch wat von weten.

Man de Globe is nich blots wat för dat Gefühl, de is nich blots en innere Angelegenheit. Jesus seggt: “Wat ick jück segge in’t Dustern, dat schallt ji in’t Lichte vertelln. Un wat ji in’t Ohr seggt wart, dat schüllt ji von’t Daake raupen.” De Globe mot sick wiesen, de Lüe
mot wat hörn un seihn von Globen. Nich blos mit vertelln un raupen, ok mit dat, wat wi dauht. “Wat ji ein von düsse mine mindste Brüder un Schwestern dauhn hebbt, dat hebbt ji mi dauhn!” (Matthäus 25,40), seggt Jesus. De Globe is nist, wenn hei nist mit use Lewen to dauhn het. Un dat meent: De Globe sitt nich bloß in use Harten, hei will ok mit use Hännen emaket wern. Wi möt nich all Pastöre weern, wi möt ock nich op’t Daak stiegen un dor runder bölken. Jeder, seggt Martin Luther, schall da wat dauhn, wo ein dat Lewen hinnestellt hett. Jeder schall dat dauhn, wat hei odder sei künnt.

Mannigmal möt wi runder von’ Sofa un ruut ut use warme Stube, weil de annere Minsche üsch bruket, weil hei odder sei use Hülpe bruket. De Welt ward nich besser, wenn wi in use Stube bliwet. Man, sei mot besser warn. So veel is nich gut, so veele Minsche geiht dat schlecht. Un ok wenn üsch dat hüte gut geiht - morgen kann dat all anners warn. In een amerikanischen Speelfilm, “Forrest Gump”, seggt de Hauptdarsteller: “Life is a box of chocolates: You never know, what you’re getting.” Op düütsch: Dat Lewen is en Pralinenschachtel: Ji künnt nich wetten, wat ji krieget.

Ick wett nich, ob dat Lewen blots Pralinen för üsch hett. Mannigmal sin da bestimmt ok’n paar fule twischen. De mot man ok sluuken. Dat Lewen is mannigmal seut wie Schokolade, un mannigmal gifft et ok veel uttauholen. Wenn wi meint, et schall immer seut sien, denn komt wie nich runter von’ Sofa. Denn so schön wie op’n Canepee is et buten nich, un annere Minschen to hülpen is ok nich sau liecht. Et is unbequem, sick intausetten för annere, tau’n Verein tau gahn odder sündags morgens inne Kerke. Man, wenn wi nich geiht, geiht bald kein mehr, un denn gifft’ dat bald alles nich mehr.

Un da is noch wat anners: Wenn wi annere helpt, denn wett wi ok, wat wi dauhn möt, wenn wi sülms watt utholen möt. Un wi lernt, dat man dat överstaan kann. Dat man Hülpe find’t von sien Mitminschen, Hülpe in sien Globen, Hülpe von Gott.

Wenn wi rutgaht ut use Stube un dauht, wat wi künnt, denn dauht wi dat, wat Jesus von üsch will. Denn alles wat wi för use Mitminschen dauht is wie en Predigt von’t Daake: De Minsche künnt doran seihn, wat Globen is, nämlich: Datt Gott üsch leiw hett.

Dat wull ock Martin Luther de Minschen wiesen, und Johannes Bugenhagen, datt Gott üsch leiw hett. Darüm hett sei de Reformation maket. Un sau maket wi hüte noch Reformation, wenn wi in dit Spor bliebet. Amen.

Un Gott sin Frieden, de weit över dat ruutgeiht, wat ein Minsche sick utdenken kann, schall ji Harten un Gedanken bewahren durch dat, dat ji Christus Jesus tauhört.


Bei dieser Predigt hat mir mein Vater, Friedhelm Schmidt, geholfen. Ich danke ihm sehr dafür.

Sonntag, 30. Oktober 2011

Predigt zur Goldenen und Diamantenen Konfirmation

Predigt am 19. Sonntag nach Trinitatis, 30.10.2011 (Goldene und Diamantene Konfirmation) über Epheser 4,22-32:

Legt von euch ab den alten Menschen mit seinem früheren Wandel, der sich durch trügerische Begierden zugrunde richtet. Erneuert euch aber in eurem Geist und Sinn und zieht den neuen Menschen an, der nach Gott geschaffen ist in wahrer Gerechtigkeit und Heiligkeit.
Darum legt die Lüge ab und redet die Wahrheit, ein jeder mit seinem Nächsten, weil wir untereinander Glieder sind. Zürnt ihr, so sündigt nicht; lasst die Sonne nicht über eurem Zorn untergehen, und gebt nicht Raum dem Teufel. Wer gestohlen hat, der stehle nicht mehr, sondern arbeite und schaffe mit eigenen Händen das nötige Gut, damit er dem Bedürftigen abgeben kann. Lasst kein faules Geschwätz aus eurem Mund gehen, sondern redet, was gut ist, was erbaut und was notwendig ist, damit es Segen bringe denen, die es hören. Und betrübt nicht den heiligen Geist Gottes, mit dem ihr versiegelt seid für den Tag der Erlösung. Alle Bitterkeit und Grimm und Zorn und Geschrei und Lästerung seien fern von euch samt aller Bosheit. Seid aber untereinander freundlich und herzlich und vergebt einer dem anderen, wie auch Gott euch vergeben hat in Christus.


Liebe Goldendene und Diamantene Konfirmanden,
liebe Gemeinde,

50 oder 60 Jahre ist es her, dass Sie so in der Kirche saßen, viel nervöser und aufgeregter als heute. Damals stand Pastor Fröse vor Ihnen. Was er Ihnen wohl damals gepredigt hat?
Man kann in solchen Situationen nicht so gut zuhören wegen der Aufregung, in der man sich befindet, wegen all der Gedanken, die einem durch den Kopf gehen und wegen all der Leute, die einen beobachten. Es ist unwahrscheinlich, dass jemand nach 50 oder 60 Jahren noch etwas von seiner Konfirmationspredigt weiß. Aber zwei Dinge haben Sie mitbekommen damals, trotz aller Nervosität, ein handfestes und ein flüchtiges Ding, und beide wurden Ihnen per Hand gegeben: Die Konfirmationsurkunde mit Ihrem Konfirmationsspruch, und der Segen bei der Einsegnung.

Gestern beim Kaffeetrinken kam kurz die Frage auf, wer seinen Konfirmationsspruch noch weiß. Nach so langer Zeit sollte man nicht erwarten, dass jemand seinen Konfirmationsspruch noch kennt - so viele andere Bibelworte sind inzwischen dazu gekommen: Der Trauspruch, Taufsprüche für die Kinder, deren Konfirmations- und Trausprüche, und die Taufsprüche der Enkelkinder. Man hat an vielen Trauerfeiern teilnehmen müssen; auch da stand ein Bibelwort über dem Abschied.

Wozu braucht man eigentlich einen Konfirmationsspruch?
Früher wurde er oft nicht von den Konfirmanden ausgesucht, sondern vom Pastor, der damit den Konfirmanden etwas "für's Leben" mitgeben wollte.
Auch auch ein Konfirmand, der sich einen Bibelspruch aussucht, denkt dabei wohl an ein Motto für das, was vor ihr oder ihm liegt: Woran soll, woran will ich mich halten, wenn ich jetzt aufbreche in das aufregende Abenteuer Leben, von dem ich erst so wenig kenne, und das ich nun mehr und mehr allein bestehen muss?

Sie, die Goldenen und Diamantenen Konfirmanden, blicken heute auf einen großen Teil des Lebens zurück: auf Schule, Ausbildung oder Studium, und Beruf. Auf's Kennenlernen und die Hochzeit, auf Glück und Leid in der Beziehung, auf Kinder und Enkelkinder, auf Abschiede und Neuanfänge, auf den Tod der Eltern, aber auch von Freunden, Verwandten, Bekannten. Sie haben das Leben kennengelernt in seiner ganzen Schönheit und in seinem ganzen Leid. Ihnen braucht heute kein Pastor mehr etwas zu erzählen vom Leben, Sie brauchen keine Ratschläge und keine Ermahnungen mehr. - Und trotzdem kam gestern die Frage auf, ob es wohl heute noch mal einen Konfirmationsspruch gibt.

Um gar nicht erst Hoffnungen aufkommen zu lassen - oder Befürchtungen: Es gibt keinen neuen Konfirmationsspruch. Der alte - und die Bibelworte, die sich auf Ihrem Lebensweg angesammelt haben - reichen für ein ganzes Leben. Aber trotzdem gibt es auch heute ein Bibelwort für Sie: den Predigttext aus dem Epheserbrief, den wir gerade gehört haben.

Ich weiß nicht, ob Sie, liebe Goldene und Diamantene Konfirmanden, oder Sie, liebe Gemeinde, viel mitbekommen haben, als Georg Renz den Predigttext vorgelesen hat. Das liegt nicht an Georg Renz' Fähigkeiten - die sind über jeden Zweifel erhaben -, sondern am Predigttext selbst. Man versteht ihn nicht beim ersten Hören oder Lesen, und auch beim Zweiten und Dritten nicht. Da folgt eine Mahnung auf die andere, es ist wie eine Sammlung von Konfirmationssprüchen, die man aneinandergereiht hat. Man hört darüber weg, man hört nicht richtig zu, weil es keinen roten Faden, keinen Zusammenhang gibt.

Ich will Ihnen jetzt nicht erklären, was es mit diesem Bibeltext auf sich hat.
Ich möchte vielmehr zwei Sätze aus ihm herausgreifen, zwei Sätze, die Konfirmationssprüche für die Goldene und Diamantene Konfirmation, die aber auch bedenkenswerte Worte für jede und jeden von uns sein könnten. Der erste lautet:
Legt von euch ab den alten Menschen mit seinem früheren Wandel. Erneuert euch in eurem Geist und Sinn und zieht den neuen Menschen an, der nach Gott geschaffen ist in wahrer Gerechtigkeit und Heiligkeit.

Den alten Menschen ablegen, wie man abends seine Kleidung ablegt, wenn man zu Bett geht, und den neuen anziehen, so, wie man morgens frische Wäsche anzieht - das kann man sich richtig gut vorstellen, und es ist ein verlockendes Bild. Wenn das doch so ginge, dass man einfach ablegen kann, was einen oder andere an einem selbst stört, was einem selbst oder anderen zu schaffen macht, und ein neuer, ein anderer Mensch wird!

Aber will man das eigentlich wirklich, ein anderer, ein neuer Mensch werden? Jedes graue Haar, jede Falte im Gesicht, jede Narbe ist schwer erkämpft und erzählt eine Geschichte - die Geschichte einer überstandenen Krankheit, eines Verlustes, den man erlitten hat und mit dem man zu leben lernte. Erzählt die Geschichte glücklicher Tage, von Blödsinn, den man machte, von Festen und Feiern, von dem, was man geschafft und geschaffen hat im Leben. Das gehört zu einem, das will man nicht ablegen und aufgeben.

Und das ist auch nicht verlangt. Es geht nicht darum, seine Erfahrungen, seine Lebensgeschichte wegzuwerfen. Sondern es geht darum, offen zu bleiben für neues Denken und neues Empfinden. Nicht jeder hat noch Lust oder ist noch fähig dazu, sich auf all die technischen Neuerungen einzulassen, die unseren Alltag heute prägen, auf iPad und iPhone, auf Facebook und Twitter und was es da alles gibt.
Aber jeder lebt in Beziehungen zu anderen Menschen, zu Kindern und Enkelkindern, zu Nachbarn und Freunden. Wir alle leben in einer Gemeinde zusammen - der politischen wie der Kirchengemeinde -, wir alle leben in einer Gesellschaft. Damit das Zusammenleben glückt, muss man bereit sein, sich auf neues Denken einzulassen, im Kleinen wie im Großen. Statt "das haben wir immer schon so gemacht" überlegen, ob es nicht auch anders geht. Statt "komm du erst mal in mein Alter!" zuhören, was die Jüngeren zu sagen haben.
Um des Zusammenlebens und um des Zusammenbleibens willen müssen wir manchmal Altes ablegen - manchmal auch lieb gewordene Gewohnheiten, Einsichten und Ansichten, und uns an Neues gewöhnen.

Jetzt möchte ich mit Ihnen noch den zweiten Satz ansehen:
Wer gestohlen hat, der stehle nicht mehr, sondern arbeite und schaffe mit eigenen Händen das nötige Gut, damit er dem Bedürftigen abgeben kann.
Sie fragen sich vielleicht, warum ich gerade auf diesen Satz komme. Es hat doch niemand von Ihnen, niemand von uns etwas gestohlen - höchstens die Äpfel vom Lehrer. Die wanderten aus dem Keller der neuen Schule, indem mit einer langen Stange, an der vorn ein Nagel oder eine Gabel befestigt war, einer nach dem anderen aufgespießt und herausgezogen wurde. Auch ein Karpfen wurde mal aus dem Kreuzteich gestohlen und schwamm für ein paar Tage in der Regentonne. Aber weil ihn keiner schlachten mochte, wanderte er zurück in den Teich. Und natürlich war der Gutshof mit seinen Äpfeln und Birnen ein beliebtes Ausflugsziel, und der Acker, auf dem die Erbsen wuchsen, die so süß schmecken, wenn man sie frisch aus den Schoten pahlt ...

Ich finde den Satz nicht deshalb bemerkenswert, weil es darin ums Stehlen geht, sondern deshalb, weil er ganze anders lautet, als wir erwarten würden. Es heißt nicht: Wer gestohlen hat, ist ein Schweinehund und muss bestraft werden! Wer gestohlen hat, soll sich schämen. Sondern es heißt nur ganz einfach: Wer gestohlen hat, der stehle nicht mehr. Es wird nicht mit dem moralischen Zeigefinger gefuchtelt, sondern schlicht darum gebeten, etwas Falsches nicht mehr zu tun - ohne, dass der, der das Falsche getan hat, deshalb verurteilt wird.
Die Voraussetzung dafür, den alten Menschen abzulegen und den neuen anzuziehen, ist, dass das, was früher war, nicht mehr zählt. Die Fehler, die man früher machte, sagen nichts über den Menschen aus, der ich heute bin. Sie sollen nicht das belasten, was ich heute tue.

Das würde man gern ablegen: Die Irrtümer und Fehler, die Peinlichkeiten, die Streitereien und Kränkungen, durch die man sich mit Freunden oder Angehörigen überworfen hat. Das wäre man gerne los, was früher einmal war, was einem aber heute immer noch und immer mal wieder aufs Butterbrot geschmiert wird.

Bei Gott ist das abgelegt. Gott interessiert sich nicht dafür, wer wir früher mal waren, was wir früher mal getan oder nicht getan haben. Gott interessiert sich dafür, was wir heute tun. Er befreit uns von unserer Vergangenheit, damit wir heute das tun können, was getan werden muss. Damit wir heute nicht dieselben Fehler begehen müssen, die wir gestern gemacht haben.

Und weil Gott das für uns tut, sollen wir auch neu werden. Und das heißt zu lernen, dass wir uns selbst nicht immer die alten Fehler und Versäumnisse vorrechnen und vorhalten, sondern uns abwenden vom Alten und nach vorn schauen, uns auf das Neue einlassen und uns darauf freuen.
Neu werden heißt, sich selbst nicht kritisch, sondern mit liebevollen Augen anzusehen, heißt zu lernen, sich selbst zu mögen.

Und das heißt schließlich auch, dass wir unsere Mitmenschen so ansehen lernen, wie Gott uns ansieht. Ihnen nicht die Fehler und Versäumnisse von früher vorhalten, sondern ihnen die Chance geben, es anders zu machen. Nicht schon zu wissen, was der andere gleich sagen wird, sondern hören, was er oder sie wirklich sagt. Es bedeutet, hinzunehmen, dass Gott jede und jeden so liebt wie uns, auch wenn wir mit diesem Menschen nichts mehr zu tun haben wollen.

Legt von euch ab den alten Menschen mit seinem früheren Wandel. Erneuert euch in eurem Geist und Sinn und zieht den neuen Menschen an, der nach Gott geschaffen ist in wahrer Gerechtigkeit und Heiligkeit. Das ist das Bibelwort, der Konfirmationsspruch, den ich Ihnen heute mitgeben möchte. Im "Mitgeben" schwingt die Gabe mit, das Geschenk. Damals, bei Ihrer Konfirmation, bekamen Sie etwas geschenkt. Auch wenn es nicht so viel gab wie heute, die Geschenke sind, da mache ich mir nichts vor, das Wichtigste an der Konfirmation.

Ich habe am Anfang davon gesprochen, dass Sie damals, bei Ihrer Konfirmation, zwei Dinge mitbekommen haben, Ihren Konfirmationsspruch - und den Segen. Der Segen ist das größte Geschenk, das wir einander geben können. Denn er bedeutet, dass Gott mit dem Menschen einverstanden ist, den er segnet, er bedeutet unbedingtes Wohlwollen und unbedingte Solidarität. Wenn wir einem Menschen Gottes Segen zusprechen - das kann jede und jeder, der getauft ist -, dann heißt das: Wir stehen hinter ihm, wir sind einverstanden mit ihm und wir wollen ihm nur Gutes. Das wäre doch ein Anfang, ein erster Schritt zum Neuwerden, wenn wir den Segen Gottes nicht nur für uns behalten würden, sondern ihn an andere weitergeben. Das muss nicht so geschehen, wie es der Pastor am Ende des Gottesdienstes macht. Es kann auch dadurch geschehen, dass man dem anderen, der anderen die Hand auf die Schulter legt und sie dabei ansieht - durch jede Geste des Wohlwollens, der Freundschaft, der Solidarität.

Heute wird Ihnen noch einmal der Segen Gottes zugesprochen: Gottes Liebe und Freundlichkeit. Sein Wohlwollen, und dass er zu Ihnen steht und hinter Ihnen steht, komme, was wolle. Gottes Segen begleitet Sie und uns auf unseren Wegen. Er gibt Ihnen und uns die Kraft, den alten Menschen abzulegen, wenn wir das möchten, und es mit uns und miteinander neu zu versuchen.
Amen.