Dienstag, 25. Dezember 2012

Gleiches Recht für alle


Predigt am 2.Weihnachtstag, 26.12.2012, über Jesaja 11,1-9:

Es wird ein Reis hervorgehen aus dem Stamm Isais und ein Zweig aus seiner Wurzel Frucht bringen. Auf ihm wird ruhen der Geist des HERRN, der Geist der Weisheit und des Verstandes, der Geist des Rates und der Stärke, der Geist der Erkenntnis und der Furcht des HERRN. Und Wohlgefallen wird er haben an der Furcht des HERRN. Er wird nicht richten nach dem, was seine Augen sehen, noch Urteil sprechen nach dem, was seine Ohren hören, sondern wird mit Gerechtigkeit richten die Armen und rechtes Urteil sprechen den Elenden im Lande, und er wird mit dem Stabe seines Mundes den Gewalttätigen schlagen und mit dem Odem seiner Lippen den Gottlosen töten. Gerechtigkeit wird der Gurt seiner Lenden sein und die Treue der Gurt seiner Hüften. Da werden die Wölfe bei den Lämmern wohnen und die Panther bei den Böcken lagern. Ein kleiner Knabe wird Kälber und junge Löwen und Mastvieh miteinander treiben. Kühe und Bären werden zusammen weiden, dass ihre Jungen beieinander liegen, und Löwen werden Stroh fressen wie die Rinder. Und ein Säugling wird spielen am Loch der Otter, und ein entwöhntes Kind wird seine Hand stecken in die Höhle der Natter. Man wird nirgends Sünde tun noch freveln auf meinem ganzen heiligen Berge; denn das Land wird voll Erkenntnis des HERRN sein, wie Wasser das Meer bedeckt.

(Lutherbibel)


Edward Hicks, Peacable Kingdom
Quelle: 


Liebe Gemeinde,

Antonio Marino, Sohn italienischer Gastarbeiter,
war mein bester Freund, als ich zur Grundschule ging;
er wohnte schräg gegenüber, auf der anderen Straßenseite.
Eine italienische Familie war damals noch etwas Besonderes
und ziemlich Exotisches in unserem Dorf.
Von Anfang an verband uns eine Art Leidensgemeinschaft:
Antonio und ich waren die einzigen,
die im Winter wollene Strumpfhosen tragen mussten.
Wir entdeckten das in der Umkleidekabine,
beim Umziehen vor dem Sportunterricht.
Diese Tatsache brachte uns sofort zusammen
und ließ es für jeden von uns nicht mehr ganz so peinlich sein,
dass wir noch, wie die Kleinen, mit Strumpfhose herumliefen.

Eine Gastarbeiterfamilie hatte es damals auf dem Dorf nicht leicht.
Wo ohnehin zwischen "Einheimischen" und "Zugereisten" unterschieden wurde,
hatten Ausländer keine Chance, akzeptiert zu werden.
Bei den Eltern meines Freundes kam erschwerend hinzu,
dass sie Zeugen Jehovas waren;
ich nehme an, er war es auch.
Jedenfalls schenkte er mir eines dieser Traktate, die sie verteilten.
Ich sehe noch die ziemlich kitschigen
und zugleich sehr frommen Illustrationen vor mir.

Eine davon hat sich mir besonders eingeprägt:
Es war der "Tierfrieden";
die Darstellung der Szene, die Jesaja beschreibt:
Kind, Lämmchen, Kuh und Kälbchen,
Löwe, Leopard und Wolf einträchtig und friedlich beieinander.

I
Ganz egal, auf welche Weise man diese Szene illustriert,
sie hat immer etwas Kitschiges, Naives.
Das liegt wohl daran, dass sie so unrealistisch ist.
Wölfe und Lämmer, Kälber und Löwen -
jedes Kind, das das Märchen
vom Wolf und den sieben Geißlein kennt, weiß,
dass das nicht zusammenpassen und niemals gut gehen kann.

Ebenso verhält es sich mit der Aussicht,
dass es jemanden geben könnte,
der nicht nach dem Augenschein urteilt
und nicht nach dem Hörensagen;
der Armen und Schwachen Gerechtigkeit widerfahren lässt
und sie nicht übervorteilt, sie nicht um ihr gutes Recht bringt.

Deshalb passt diese Szene des Tierfriedens so gut zu Weihnachten.
Denn auch in der Weihnachtsgeschichte wird etwas
ganz und gar Unrealistisches erzählt:
dass eine Frau ohne Zutun eines Mannes schwanger wird;
dass ihr Kind, das in einem Stall zur Welt kommt,
von weisen Königen besucht wird
und dass es selbst ein König sein soll.

II
Die Geschichte vom Tierfrieden klingt wie ein Märchen,
ebenso wie die Weihnachtsgeschichte.
Ein Märchen erzählt etwas gänzlich Unwirkliches -
von sprechenden Ziegen
und Wölfen, die mit Kreide ihre Stimme verstellen;
dass es Goldtaler vom Himmel regnet
oder ein Haus aus Lebkuchen gebaut ist.
Aber das Märchen wird nicht nur zur Unterhaltung erzählt,
es hat eine Moral; man kann und soll etwas daraus lernen.
Der Predigttext aus dem Propheten Jesaja aber
und die Weihnachtsgeschichte haben keine Moral.
Es sind einfach nur gut erzählte,
aber völlig an der Wirklichkeit vorbeigehende Geschichten.

Und doch hat die Geschichte vom Tierfrieden
einen Anhalt an der Wirklichkeit;
man bemerkt ihn aber erst auf den zweiten Blick.
Die Geschichte beschreibt, wie es ist im Leben,
indem sie sagt, was das Reis aus dem Stamm Isais nicht tun wird:
Über andere nach dem Augenschein urteilen,
ohne zu fragen, ob der Schein vielleicht trügt;
Gerüchten vertrauen schenken, ohne sie zu überprüfen
- und vor allem, ohne den zu fragen, über den geredet wird.
Arme und Unwissende bekommen weniger oft und weniger leicht Recht
als Einflussreiche und Wohlhabende.
Denken Sie nur daran, wie sehr man sich über angeblich faule und arbeitsscheue Hartz IV-Empfänger erregt
und fordert, der Sozialhilfesatz müsse auf jeden Fall unter dem Mindestlohn bleiben,
sonst wolle ja gar keiner mehr arbeiten,
während man den oberen Gehaltsklassen ihr Einkommen bestenfalls neidet,
aber niemals auf die Idee käme,
von ihnen mehr Bescheidenheit und Solidarität zu fordern.

Wer Kinder hat, weiß nur zu gut,
wo überall Gefahren für sie lauern:
Nicht nur Ottern und Nattern,
die es bei uns zum Glück nur selten gibt,
können Kindern gefährlich werden.
Auch die schönen roten Beeren;
Blätter, die ein Kind sich in den Mund steckt;
Messer, Gabel, Schere, Licht,
vom Straßenverkehr ganz zu schweigen.

III
Jesaja beschreibt, was das Reis aus dem Stamm Isais nicht tun wird
- und beschreibt so seine Wirklichkeit vor zweieinhalbtausend Jahren,
die von unserer nicht so sehr verschieden ist, wie wir meinen.
Der beim ersten Hören utopische und unrealistische Text
zeigt beim genaueren Hinsehen,
dass er die Wirklichkeit sehr scharf in den Blick nimmt
und benennt, was nicht gut ist.

Aber woher weiß Jesaja das?

In der Antike war es über Jahrhunderte,
wenn nicht Jahrtausende hinweg selbstverständlich,
dass es Sklaven gab: Menschen, die anderen Menschen gehörten
und nicht frei entscheiden konnten.
In Amerika wurden Schwarzafrikaner als Sklaven gehalten
und galten als Menschen zweiter Klasse.
In Europa waren Frauen das Eigentum ihrer Väter,
dann ihrer Ehemänner, und hatten kaum eigene Rechte.
Das alles war selbstverständlich und wurde kaum hinterfragt.
Jede und jeder, der anders dachte, wurde als Phantast,
als Spinner, als weltfremd angesehen.
Erst in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts
erstritten Frauen das Wahlrecht;
erst in den 60er Jahren die gesetzliche Gleichheit in der Ehe;
seitdem gibt es erst Pastorinnen in der Ev. Kirche.
Und obwohl die Sklaverei in Amerika 1865 abgeschafft wurde,
dauerte es noch einmal einhundert Jahre,
bis die Rassentrennung aufgehoben wurde.

Wie ist es dazu gekommen,
dass eine Sklavin auf die Idee kam,
sie sei nicht weniger wert als ihr Herr?
Wie kam es dazu, dass ein Afroamerikaner feststellte,
dass seine Hautfarbe ihn nicht zu einem schlechteren Menschen machte als die Weißen?
Wie entdeckten Frauen, dass sie nicht zur Hausfrau und Mutter bestimmt sind,
sondern sich genauso frei entfalten dürfen wir die Männer?
Wie konnte es zu solchen Entdeckungen kommen,
wenn die Wirklichkeit eine ganz andere war,
wenn diesen Menschen von klein auf ihre Minderwertigkeit,
ihr Anderssein, ihre Abhängigkeit und Unfreiheit eingeimpft wurde?

IV
Wenn man genau hinsieht und gut beobachtet,
merkt man, wie es zugeht in der Welt.
Man merkt, dass Jesaja schon damals einen scharfen Blick hatte:
Es wird übervorteilt und betrogen,
es wird nach dem Hörensagen und dem Augenschein geurteilt.
Die Gewalt siegt, und wem nichts heilig ist, der hat Erfolg.

In der Tierwelt ist es nicht anders: Nur die Starken überleben.
"Survival of the fittest" nannte Charles Darwin das.
Und auch wenn er etwas anderes damit meinte,
dieser Satz wurde zum Glaubenssatz aller Macher und Erfolgreichen.
Rücksichtnahme, Fairness, Menschlichkeit, Solidarität
kann man sich im Kampf jeder gegen jeden nicht leisten.
Wer in diesem Kampf nicht bestehen kann,
der muss eben ans untere Ende der Hühnerleiter,
und wer sich nicht wehren kann, geht unter und wird gefressen.
Das war so zu Zeiten Jesajas, und es ist heute nicht anders.

Der scharfsichtige Jesaja bemerkte aber nicht nur,
wie es zugeht in der Welt.
Er sah auch, wie es den Opfern erging,
und er fühlte mit ihnen.
Und plötzlich fand er sich nicht auf der Seite der Gewinner wieder,
sondern war solidarisch mit den Verlierern dieses Kampfes,
mit denen am unteren Ende der Leiter.

Und er erkannte,
dass auch Gott an diesem Ende der Leiter zu finden ist,
und nicht am oberen Ende.
Und so kam er auf die Idee,
die Verhältnisse umzudrehen
und seinen Traum von einer anderen Welt aufzuschreiben:
Seine Utopie von umgekehrten Verhältnissen,
die aber nicht einfach umgekehrt sind,
so dass die Reichen jetzt arm wären
und die Einflussreichen ohnmächtig.
Sondern von einer Gerechtigkeit,
die jeder und jedem Gutes gönnt.

V
An Weihnachten ist etwas ganz und gar Unrealistisches geschehen:
Eine Frau hat ohne das Zutun eines Mannes
ein Kind zur Welt gebracht,
und dieses Kind hat, als es heranwuchs,
die Welt auf den Kopf gestellt:
hat sich zu den Menschen ans untere Ende der Leiter begeben,
ihnen gezeigt, dass sie nicht weniger wert sind
als die Großkopferten, die Schönen,
die Mächtigen und Reichen.
Er hat ihnen ihren eigenen Wert und ihre eigene Schönheit gezeigt;
er hat ihnen gesagt und gezeigt, dass sie dazugehören
und ihnen versprochen, dass sie das Reich Gottes erben werden.
Er wurde dafür hingerichtet, ist gestorben
und in den Augen der Welt mit seiner Mission gescheitert:
Auch nur so ein Spinner, der die Welt verändern wollte,
aber genauso wenig gegen die Macht der Fakten ankam
wie die Weltverbesserer vor und nach ihm.

Aber er ist nicht im Tod geblieben.
Er ist auferstanden, das Leben hat den Tod besiegt.
Die Liebe hat sich als stärker erwiesen als alle Macht der Welt.
Das ist es, was Menschen zu allen Zeiten Hoffnung gegeben hat
und Mut machte, für sich die gleichen Rechte zu fordern,
wie sie für andere galten.
Das ist Auferstehung im Leben.

VI
Mein Freund Antonio Marino
ist nicht lange in unserem Dorf geblieben.
Ich weiß nicht, warum seine Eltern weggezogen sind.
Vielleicht, weil sie bei uns nicht heimisch werden konnten.
Zum Abschied hat er mir ein Büchlein der Zeugen Jehovas geschenkt.
Mir ist davon das Bild vom Tierfrieden in Erinnerung geblieben:
die Hoffnung, dass eines Tages Starke und Schwache,
Löwen und Lämmer in Frieden miteinander leben können;
die Hoffnung, dass wir eines Tages keinen Unterschied mehr machen
zwischen Einheimischen und Zugereisten,
zwischen Deutschen und Ausländern,
zwischen Zeugen Jehovas, Protestanten, Katholiken,
Juden und Muslimen,
zwischen Männern und Frauen,
sondern allen die gleichen Rechte gönnen,
die gleichen Freiheiten,
die Zugehörigkeit zu uns und
ein glückliches Leben unter uns.

Amen.

Sonntag, 23. Dezember 2012

Wer liegt da eigentlich in der Krippe?


Predigt in der Christnacht am Heiligen Abend, 24.12.2012, über Johannes 7,28+29:

Jesus rief laut im Tempel,
lehrte und sprach:
"Ihr wisst, wer ich bin,
und ihr wisst auch, woher ich komme.
Aber ich bin nicht aus eigenem Antrieb gekommen,
sondern ich wurde gesandt von dem, der wahrhaftig ist,
den ihr nicht kennt.
Ich kenne ihn,
weil ich von ihm komme,
und er mich gesandt hat."
(Eigene Übersetzung)


Liebe Schwestern und Brüder,

an Weihnachten wird Gottes Sohn Mensch.
Das eine Wort Gottes, mit dem Gott die Welt geschaffen hat,
wie es im Prolog des Johannesevangeliums heißt,
wird von Maria als Menschenjunges in Bethlehem zur Welt gebracht,
wächst in Nazareth auf, lernt von Joseph,
seinem gesetzlichen Vater, das Handwerk des Zimmermanns,
wird dann von Johannes im Jordan getauft,
zieht predigend durch Israel,
gewinnt Jüngerinnen und Jünger
und stirbt schließlich einen qualvollen Tod am Kreuz.

Soweit, in aller Kürze, die Fakten.

Gott wird Mensch, Gott offenbart sich in einem Menschen.
Gott lüftet sein ewiges Geheimnis,
indem er anschaulich wird, fassbar, greifbar
- begreifbar und angreifbar.
Wissen wir dadurch, wer Gott ist?
Kennen wir Gott jetzt, oder kennen wir ihn zumindest besser,
seit er sich begreifbar und angreifbar gemacht hat?

Eine Künstlerin hat sich in einer Performance
einmal so begreifbar und angreifbar gemacht:
Sie hat sich auf den Boden gelegt und erklärt,
sie übernehme die Verantwortung für alles,
was mit ihr geschehe - kurz: man könne mit ihr machen,
was man wolle.
Zunächst wurde sie gestreichelt, sanft berührt.
Dann begannen die Umstehenden,
ihre Kleidung zu zerreisen und sie nackt auszuziehen,
sie zerkratzten ihre Haut, bis sie blutete
und taten andere schmerzhafte, schreckliche Dinge mit ihr.
Sie hätten sie umgebracht,
wenn ihre Assistenten nicht eingeschritten wären.

Auch Jesus hat sich so angreifbar gemacht.
Auch er hat sich in die Hände der Menschen begeben,
aber seine Assistenten, seine Jünger, sind nicht eingeschritten,
- konnten, durften nicht einschreiten.
Man hat ihn schließlich ans Kreuz genagelt.

I
Wenn wir Menschen etwas genauer untersuchen,
machen wir es dabei oft kaputt.
Kinder reißen Insekten aus Neugier die Flügel ab oder die Beine aus,
pflücken Blumen und zerpflücken sie dann;
Wissenschaftler sezieren Pflanzen,
setzen Tiere in Versuchen Schmerzen und Qualen aus,
um herauszufinden, welche Nerven was bewirken,
ob ein Wirkstoff gut verträglich ist oder nicht,
oder ob eine Creme tatsächlich die Falten glättet.

Wie gehen wir mit Gott um,
wenn wir wissen wollen, wer er ist?
Müssen wir mit dem Kind in der Krippe experimentieren,
um herauszufinden, wer es in Wirklichkeit ist?
Werden wir es mit unserem scharfen Verstand sezieren?
Leuchten wir ihm mit dem Licht der Vernunft ins Gesicht
und testen seine Reflexe?

Das Kind würde es geschehen lassen
- es ist ja gerade erst geboren und ganz hilflos,
es kann und wird sich nicht wehren.
Aber wir merken,
dass wir mit unseren wissenschaftlichen Methoden
nichts über dieses Kind herausfinden werden.
Wir merken auch,
dass wir Skrupel bekommen oder es sogar ablehnen,
so über dieses Kind zu denken.
Nicht einmal in einem Gedankenexperiment
würden wir ihm so etwas antun.

II
Es bleibt also ein Geheimnis,
wer dieses Kind in der Krippe ist.
Es bleibt das Geheimnis, das jeder Mensch ist.
Denn selbst die Menschen, die wir über alles lieben
- unsere Partnerin, unseren Partner,
unsere Kinder, unsere Eltern -,
selbst die kennen wir nicht.
Ja, je länger wir zusammen sind,
je besser wir uns eigentlich kennen müssten,
desto stärker wird uns bewusst,
wie wenig wir voneinander wissen.
Jeder Mensch ist ein Geheimnis,
und wenn wir diesen Menschen lieben,
dann respektieren wir ihr oder sein Geheimnis.
Wir versuchen nicht, alles über ihn zu wissen,
jeden seiner Schritte zu kennen und jeden Gedanken.

Dieses kleine Neugeborene, das da in der Krippe liegt,
ist ein Mensch, eine Person, die wir niemals wirklich kennen werden,
so sehr wir uns auch mit ihr beschäftigen,
so gründlich wir ihr Leben und Denken ausforschen.
Sie hat ein Geheimnis, und das macht ihr Menschsein aus,
das macht sie erst zu einem Menschen,
und es gehört zu ihrer Freiheit, ein Geheimnis zu haben.

Das bedeutet aber:
Wir wissen so gut wie nichts über Jesus.
Wir wissen, wer er ist - der Sohn des Zimmermanns,
und woher er kommt - aus Nazareth in Galiläa,
woher, wie die Tradition es behauptet, noch nie Gutes kam.
Aber das, was wir wissen, hilft uns nicht weiter.

In derselben Weise "wissen" wir etwas über andere Menschen.
Aber dieses sogenannte "Wissen" nehmen wir sehr wohl in Anspruch,
um ein Urteil über andere zu fällen.
Die Herkunft spielt da durchaus eine Rolle,
der Beruf ist keineswegs gleichgültig.
Je besser die Herkunft, je angesehener der Beruf,
desto höher denken wir, desto mehr erwarten wir von ihm.
Es spielt auch eine Rolle, dass wir wissen, dass er gelogen hat,
dass sie Geld veruntreute,
dass er neulich nicht grüßte,
oder dass sie immer so komische Sachen trägt.
Durch dieses "Wissen" gewinnen wir ein Bild von anderen,
so wie sie ein Bild von uns gewinnen.
Diese Bilder bauen wir als Wände zwischen uns auf.
Wände, die uns den Blick aufeinander verstellen.
Wir sehen nicht mehr einander,
sondern nur noch die Bilder, die wir voneinander haben.

III
Auch von Gott machen wir uns Bilder.
Gott ist lieb. Gott ist gut.
Gott sieht alles. Gott bestraft die Sünde.
Gott ist zornig über uns. Gott wird uns alle richten.
Gott ist allmächtig. Gott hilft oft nicht.
Gott ist oft nicht da, wenn man ihn braucht.
Gott erhört nicht jede Bitte.
Manche erhört er, und bei manchen erhört er mehr als bei anderen.
Manche, die werden nie erhört, obwohl sie sich alle Mühe geben.

Viele geben Gott irgendwann auf,
weil Gott sich nicht so verhält, wie sie es von ihm erwarten
oder wie man es ihnen erzählt hat,
weil Gott nicht dem Bild entspricht, das sie von ihm haben.
Ein Schicksalsschlag, eine Ungerechtigkeit
oder einfach die beharrliche Weigerung Gottes,
sich irgendwie "beweisen" zu lassen,
bringen Menschen dazu, den Glauben an Gott aufzugeben,
oder sogar den Gedanken, dass es Gott überhaupt gibt.

Wenn wir aber ehrlich sind,
wissen wir gar nichts über Gott.
Hilflos versuchen wir, dieses Unwissen zu kaschieren,
indem wir uns darüber Gedanken machen,
ob Gott nun ein Er oder eine Sie ist - oder gar ein Es,
ob Gott "jenes höhere Wesen, das wir verehren" ist,
eine Art Energie oder Kraft,
oder einfach nur ein Hirngespinst.

Wenn Gott aber lebendig ist - so lebendig, dass er einen Sohn hat,
dann ist er eine Person.
Und zu dieser Person gehört, dass sie ein Geheimnis hat.
Dass sie ein Geheimnis haben darf; das ist ihre Freiheit.
Wenn wir Gott diese Freiheit lassen wollen,
dann müssen wir akzeptieren,
dass Gott, wie jede andere Person, manchmal Dinge tut,
die wir nicht verstehen, die wir nicht billigen, die wir nicht mögen.

IV
Versuchen wir einmal, nur probehalber,
alles gelernte Wissen über Gott und über den Glauben
beiseite zu schieben.
Versuchen wir, nicht schon zu wissen,
was Gott über uns denkt, wie Gott ist und was er tun wird.
Tun wir, nur probehalber, einmal so,
als ob wir heute zum ersten Mal von Gott hören würden,
als würde er uns heute vorgestellt,
wie man einen Unbekannten
auf einem Empfang oder einer Party vorstellt,
und wir wüssten noch gar nichts über ihn.

Um uns das vorzustellen, müssen wir nur
einen Blick in die Krippe wagen.
Das Neugeborene, das dort liegt, hat noch keine Geschichte.
Es ist, wie jedes Neugeborene, ein Nobody, ein Niemand.
Und doch ist es für seine Eltern ein Somebody, ein Jemand
- ja, für sie ist es das größte Glück der Welt.

Wenn wir in die Krippe schauen,
sehen wir da ein Neugeborenes liegen.
Wenn wir Glück haben, sieht es uns an.
Dann geht uns unser Herz auf, ob wir wollen oder nicht.
Dann gibt es kein Entrinnen vor der Liebe,
die wir in diesem Moment empfinden.
Und dann wissen und spüren wir es zugleich:
Gott ist die Liebe.
Jesus hat das gesagt.
Und dabei geht es nicht um eine theoretische Abhandlung,
wie Erich Fromm sie geschrieben hat.
Es geht um dieses überwältigende Gefühl.

V
Wenn wir wissen wollen,
wer da in der Krippe liegt, und wer Gott ist,
müssen wir wagen zu fühlen und unserem Gefühl zu vertrauen,
und zwar unserem Mitgefühl.
Wenn wir uns in dieses Menschlein in der Krippe hineinversetzen,
uns fragen, was ihm gut täte, was es braucht,
dann wissen wir, wer es ist.

Wir wissen, dass wir mit Menschen behutsam umgehen müssen.
Wir wissen, dass Tiere und Pflanzen unsere Mitgeschöpfe sind,
die unseren Respekt verdienen,
eine Behandlung, die ihnen gerecht wird
und die ihre Freiheit anerkennt.
Wir wissen, dass wir die Tatsache, dass sich jemand nicht wehrt
oder nicht wehren kann,
nicht ausnutzen dürfen, indem wir ihr oder ihm schaden.
Wir wissen es, weil wir es fühlen,
sobald wir uns in ihn, in sie hineinversetzen.

Gott ist die Liebe.
Gott ist dieses Mitgefühl.
Wenn wir lieben, wenn wir mit anderen fühlen,
dann spüren und wissen wir, wie Gott ist.

Gott war so mutig, sich als kleines, hilfloses Kind
in unsere Hände zu begeben und sich nicht zu wehren.
Er hat das für uns getan.
Dafür lieben wir ihn.

Amen.

Samstag, 15. Dezember 2012

Trost


Predigt am 3. Advent, 16.11.2012, über Jesaja 40,1-11:

Tröstet, tröstet mein Volk!, spricht euer Gott. Redet mit Jerusalem freundlich und predigt ihr, dass ihre Knechtschaft ein Ende hat, dass ihre Schuld vergeben ist; denn sie hat doppelte Strafe empfangen von der Hand des HERRN für alle ihre Sünden. 

Es ruft eine Stimme: In der Wüste bereitet dem HERRN den Weg, macht in der Steppe eine ebene Bahn unserm Gott! Alle Täler sollen erhöht werden, und alle Berge und Hügel sollen erniedrigt werden, und was uneben ist, soll gerade, und was hügelig ist, soll eben werden; denn die Herrlichkeit des HERRN soll offenbart werden, und alles Fleisch miteinander wird es sehen; denn des HERRN Mund hat's geredet. 

Es spricht eine Stimme: Predige!, und ich sprach: Was soll ich predigen? Alles Fleisch ist Gras, und alle seine Güte ist wie eine Blume auf dem Felde. Das Gras verdorrt, die Blume verwelkt; denn des HERRN Odem bläst darein. Ja, Gras ist das Volk! Das Gras verdorrt, die Blume verwelkt, aber das Wort unseres Gottes bleibt ewiglich. 

Zion, du Freudenbotin, steig auf einen hohen Berg; Jerusalem, du Freudenbotin, erhebe deine Stimme mit Macht; erhebe sie und fürchte dich nicht! 
Sage den Städten Judas: Siehe, da ist euer Gott; siehe, da ist Gott der HERR! Er kommt gewaltig, und sein Arm wird herrschen. Siehe, was er gewann, ist bei ihm, und was er sich erwarb, geht vor ihm her. Er wird seine Herde weiden wie ein Hirte. Er wird die Lämmer in seinen Arm sammeln und im Bausch seines Gewandes tragen und die Mutterschafe führen.
(Luther 1984)


Liebe Gemeinde,

manchmal braucht man Trost.
Da muss man seinen Kopf in den Schoß
von Mutter oder Vater legen,
sich an der Brust der Liebsten oder des Liebsten bergen
und weinen - und dann eine vertraute, beruhigende Stimme hören,
die einem versichert, dass alles gut werden wird,
dass man selbst gut ist und richtig und geliebt.

Manchmal braucht man Trost,
und dieses Bedürfnis richtet sich nicht nach dem Kalender.
Auch kurz vor Weihnachten,
das man so gar nicht mit Trauer und Trost in Verbindung bringt,
muss man manchmal getröstet werden.
Denn auch das Leid richtet sich nicht nach dem Kalender.
Wir haben gerade Szenen aus Newtown in Connecticut gesehen,
wo Eltern, Schülerinnen und Schüler, Lehrerinnen und Lehrer,
aber auch viele Außenstehende nach Trost suchten
und sich die Frage stellten, 
die bis jetzt nicht beantwortet werden kann: Warum?
Warum erschießt ein junger Mann 20 Kinder und 7 Erwachsene?
Warum ändern die 31 Amokläufe seit dem von Columbine
nichts an den US-amerikanischen Waffengesetzen,
während ein einziger sog. "Schuhbomber" erreichte,
dass seitdem an allen Flughäfen die Schuhe ausgezogen werden müssen?

I
Tröstet, tröstet mein Volk!, spricht euer Gott. Redet mit Jerusalem freundlich und predigt ihr, dass ihre Knechtschaft ein Ende hat, dass ihre Schuld vergeben ist; denn sie hat doppelte Strafe empfangen von der Hand des HERRN für alle ihre Sünden.

Neben der Frage nach dem Warum, nach dem Motiv des Täters,
fragen viele Menschen auch danach,
wie Gott das zulassen konnte.
Auch in Newtown wird diese Frage gestellt.
Wenn etwas so Unbegreifliches passiert
wie dieser Amoklauf in einer Grundschule -
aber auch die Nachricht von der unheilbaren Erkrankung
oder vom Tod eines Menschen, den man liebt -,
stellt sich die Frage ganz von selbst:
Wie kann Gott das zulassen?

Man erstarrt fast, wenn man im heutigen Predigttext hört:
Sie hat doppelte Strafe empfangen von der Hand des HERRN für alle ihre Sünden.
Kann es sein, wäre es möglich,
dass Gott solche Schrecken nicht nur zulässt,
sondern sogar veranlasst, als Strafe - wofür auch immer?
Kann es sein, muss man sich das so vorstellen,
dass Gott uns Menschen leiden lässt
für Fehler, die wir begangen haben?

Nein, das kann nicht sein. Und das ist auch nicht so.
Gott bestraft uns nicht für unsere Fehler,
Gott vergibt sie uns.
Zwar wird Gott in der Bibel als Persönlichkeit dargestellt,
die zornig werden kann; die so enttäuscht ist von den Menschen,
vom Volk Israel, dass sie bereut, ihnen Gutes getan zu haben;
die unberechenbar ist und dunkle, unverständliche Seiten hat.
Aber zu Gott gehört seine Vergebung,
seine Barmherzigkeit und sein Mitleid.
Gott ist diese Vergebung, diese Barmherzigkeit.
Gott ist die Liebe, sagt Jesus.
Gott straft nicht, Gott vergibt.

II
Allerdings kann es sein,
dass man selbst das Gefühl hat,
von Gott bestraft zu werden.

Ein Kind, das von Mutter oder Vater getröstet wird,
erlebt doch auch, dass seine Eltern ziemlich sauer werden können;
das sie manchmal launisch sind, kurz angebunden, reizbar.
Und es fragt sich, ob es daran schuld ist,
was es falsch gemacht haben könnte, dass die Eltern so sind.
Und vergisst dabei, dass seine Eltern es über alles lieben
und dass sie sehr traurig würden, wenn sie wüssten,
was ihr Kind da gerade denkt.

Und so ist es auch in Beziehungen:
Wir interpretieren das Verhalten unserer Partnerin, unseres Partners
oft als Reaktion auf unser Verhalten,
denken in Kategorien von Schuld und Strafe.
Dabei gab es einfach nur Ärger auf der Arbeit,
oder der Partner ärgert sich über sich selbst,
aber man merkt das nicht, bezieht es auf sich
und vergisst, dass einen die Partnerin, der Partner über alles liebt
und sich schämen würde, wenn er wüsste,
was man da gerade denkt.

Das Volk Israel fühlt sich von Gott bestraft,
weil es seine Heimat verloren hat,
weil Jerusalem und der Tempel zerstört wurden
und es ins Exil verschleppt worden war.
Wie konnte Gott das zulassen?

Gott diskutiert nicht mit seinem Volk.
Er sagt nicht: Ihr seht das völlig falsch,
ich habe damit nichts zu tun.
Gott hält es aus, dass man ihn verantwortlich macht,
dass man ihm die Schuld gibt an der Misere.
Aber wenn Gott schuld ist, kann er nicht trösten.
Ein Vater, der sein Kind ausgeschimpft hat,
kann es nicht anschließend in den Arm nehmen.
Es rennt erst einmal zur Mutter
und sucht Trost in ihrem Arm.
So bittet Gott um Trost für sein Volk:
Tröstet, tröstet mein Volk!
Gott sucht nach jemandem, der es trösten kann,
der die Tränen und die Verzweiflung aushält
und später einmal, wenn der größte Kummer vorbei ist,
zeigen kann, dass nicht Gott schuld war.

III
Gott ist nicht schuld.
Aber, so kann man jetzt gemeinerweise fragen,
wenn Gott für das Leid und die Schrecken nicht verantwortlich ist, wenn er nichts damit zu tun hat,
kann er dann überhaupt etwas bewirken?
Ist die Rede von den Tälern, die erhöht werden sollen 
und den Bergen und Hügeln, die erniedrigt werden sollen,
anders als symbolisch zu verstehen?

Siehe, da ist euer Gott; siehe, da ist Gott der HERR! 
Er kommt gewaltig, und sein Arm wird herrschen.
Gott ist nicht schuld.
Gott greift aber auch nicht ein.
Gott entreißt dem Attentäter nicht die Waffe,
Gott besiegt nicht den Krebs,
Gott verhindert nicht den Unfall, den Tod.
Gott, so scheint es, bewirkt gar nichts.
Er greift nicht ein, er verändert nichts.

Aber warum spricht dann der Prophet davon,
dass Gott gewaltig kommt?
Warum singt Maria im Magnificat,
das wir vor der Predigt gehört haben
und dass wir auch nach der Predigt noch einmal hören werden,
davon, dass Gott die Mächtigen vom Thron stürzen wird
und die Niedrigen erhöht?
Er hat die Niedrigkeit seine Magd angesehen.
Siehe, von nun an werden mich selig preisen alle Kindeskinder.
Über diese vollmundigen Worte Marias
würden ihre Zeitgenossen, wenn sie sie gehört hätten,
die Köpfe geschüttelt haben.
Maria war bis zu ihrem Tode eine einfache Frau aus dem Volk.
Es ist nach menschlichen Maßstäben nichts aus ihr geworden.
Und doch wurde wahr, wovon sie sang:
Alle Generationen seitdem preisen sie selig.
Unsere Kirche ist nach ihr benannt,
und überall auf der Welt werden täglich ihre Worte angestimmt.

IV
Gott kommt gewaltig, und sein Arm wird herrschen. Er wird seine Herde weiden wie ein Hirte. Er wird die Lämmer in seinen Arm sammeln und im Bausch seines Gewandes tragen und die Mutterschafe führen.
Gottes Gewalt ist so ganz anders als die Gewalt,
die von Pistolen und halbautomatischen Waffen ausgeht.
Es ist die Gewalt eines kleinen, hilflosen Neugeborenen,
der im Stroh einer Futterkippe in einem Stall liegt.
Ohnmächtiger, abhängiger, hilfloser kann man nicht sein.
Und doch geht eine Macht von ihm aus,
die jeder, der kein Unmensch ist, sofort spürt:
So ein kleines Kind löst sofort Beschützerinstinkte aus.
Man will ihm um jeden Preis helfen, für es da sein.

Und so ein kleines Kind weckt eine unglaubliche Freude -
nicht umsonst kann sich kaum ein Erwachsener beherrschen,
nicht in einen Kinderwagen zu schauen
und sich wie ein Schneekönig zu freuen,
wenn das Kleine im Wagen reagiert, gar lächelt.

Die Macht des Kindes ist hilflos gegen die Macht der Gewehre.
Sie kann leicht, allzu leicht besiegt werden.
Dennoch ist sie eine Macht, die eine unwiderstehliche Gewalt entfaltet.
Eine Macht, die Berge einebnen und Täler erhöhen kann.
Denn sie gibt uns Menschen Hoffnung und Ziel.
Sie lässt uns an das Gute glauben, zu dem Menschen fähig sind,
an das Gute, zu dem Gott seine Welt bestimmt hat,
und gibt uns die Kraft,
das Gute in kleinen Schritten Wirklichkeit werden zu lassen.

So schrecklich und unbegreiflich der Amoklauf in Newtown war -
sofort waren Menschen da, die halfen, die trösteten,
die sich empörten gegen die Waffenlobby.
Im Internet kursierten Aufrufe zum Gebet für die Opfer
und für ihre Hinterbliebenen, für die Lehrer der Schule.
Menschen teilten ihre Fassungslosigkeit mit
und trösteten einander.

Die Macht der Liebe kann mit Gewehren leicht besiegt werden.
Es ist eine ohnmächtige Macht.
Aber sie ist stärker als jedes Gewehr,
weil sie uns Menschen ans Herz geht,
uns barmherzig macht 
und uns Hoffnung gibt.

V
Tröstet, tröstet mein Volk!
Auch in der Adventszeit braucht man manchmal Trost.
Und man findet ihn - bei Mutter und Vater,
bei der Liebsten, beim Liebsten.
Und beim Kind in der Krippe,
das in seiner Armut und Hilflosigkeit
die Welt verändert hat
und zum Trost für alle wurde.
Dieses Kind hat uns Macht gegeben:
die Macht der ohnmächtigen Liebe,
mit der wir einander Trost spenden
und Hoffnung geben über Weihnachten hinaus:
Hoffnung auf Frieden auf Erden
und darauf, dass wir Menschen einander nicht den Tod bringen,
sondern Trost.
Amen.

Samstag, 8. Dezember 2012

Rache und Vergeltung


Predigt am 2. Advent, 9.12.2012, über Jesaja 35,3-10:

Stärkt die schlaffen Hände,
und die zitternden Knie stärkt.
Sagt den klopfenden Herzen:
seid stark, fürchtet euch nicht.
Seht: Euer Gott wird zur Rache kommen,
zur Vergeltung; Gott wird kommen und euch helfen.
Dann werden die Augen der Blinden geöffnet werden
und die Ohren der Tauben.
Dann wird der Lahme springen wie der Hirsch,
und jubeln wird die Zunge des Stummen.
Denn in der Wüste brechen Wasserläufe hervor,
und Bäche in der Steppe.
Und wo das Flirren der Hitze wie Wasser aussieht,
soll ein Schilftümpel sein,
und in wasserlosem Gebiet wird Wasser quellen.
Wo Schakale hausen und lagern,
wächst Schilf für Schilfrohre, und Papyrus.
Und es wird dort eine Straße und ein Weg sein,
"heiliger Weg" wird man ihn nennen;
Unreine dürfen nicht auf ihm gehen,
er ist für die bestimmt, die schon auf dem Weg gehen,
aber die Toren werden nicht auf ihm umherirren.
Es wird dort kein Löwe sein
und Raubtiere werden nicht zu ihm hinaufsteigen;
sie werden dort nicht gefunden,
sondern die Erlösten gehen auf ihm.
Die Losgekauften des Herrn kehren zurück
und kommen zum Zion mit Jubel.
Ewige Freude wird auf ihren Häuptern sein.
Jubel und Freude wird sie einholen,
aber Kummer und Seufzen werden fliehen.

(Eigene Übersetzung, vgl. Offene Bibel)

Liebe Gemeinde,

"du musst jetzt sehr stark sein."
Dieser Satz kündigt eine schreckliche Nachricht an.
Wer ihn hört, der macht sich auf das Schlimmste gefasst.
Dem ergeht es dann so, wie es der Predigttext beschreibt:
die Hände werden schlaff. Die Knie zittern.
Und das Herz klopft zum Zerspringen.
"Setz dich besser erst mal hin", heißt es dann,
und man setzt sich 
und erwartet jeden Moment den Schlag,
den die Nachricht einem versetzen wird.

I
"Du musst jetzt sehr stark sein."
Das haben wir uns auch schon oft gesagt.
Auch wenn wir zum Glück nur selten 
eine schlechte Nachricht verkraften mussten,
stark müssen wir trotzdem oft sein.
Es wird viel von uns verlangt.
Wir müssen unsere Kräfte mobilisieren,
noch einmal in die Hände spucken, 
die schon nicht mehr richtig zupacken können;
die Beine, die vom Laufen müde sind
oder vom vielen Stehen schon schmerzen,
noch einmal anspannen;
das vor Anstrengung klopfende Herz beruhigen.

Schülerinnen und Schüler schreiben
in diesen Wochen vor den Weihnachtsferien
eine Arbeit nach der anderen;
Eltern werfen sich nach der Arbeit ins Getümmel
der Kaufhäuser und Weihnachtsmärkte,
stehen im Stau beim Warten auf einen Platz im Parkhaus
und im Stau bei der Fahrt nach Hause.
Alleinstehende fürchten die Einsamkeit dieser dunklen Tage besonders.

Alle haben jetzt mehr zu tun, mehr auszuhalten als sonst,
haben kaum Gelegenheit, 
die freudige Erwartung zu empfinden und auszuleben,
die sich doch mit der Adventszeit verbindet.

Bis zum Weihnachtsfest müssen wir sehr stark sein
und alle Kraft zusammennehmen.
Erst dann ist es soweit:
erst dann können wir das Fest genießen,
uns an den Geschenken und am Miteinander freuen.

II
Irgendwann kann man aber einfach nicht mehr.
Man hat sich schon so oft zusammengerissen,
hat zu oft die letzten Kräfte mobilisiert,
zu oft in die Hände gespuckt,
zu selten die Beine hochlegen können,
hat zu viel auf dem Herzen.

Irgendwann funktioniert man nur noch,
fast wie eine Maschine.
Steht morgens auf, fährt zur Schule oder zur Arbeit,
bringt den Tag irgendwie herum
und fällt abends todmüde, leer und ausgebrannt ins Bett.

Irgendwann weiß man nicht mehr,
wie man sich jetzt noch einmal motivieren,
noch einmal zusammenreißen und Kraft gewinnen soll.
Da hilft kein "Knoppers",
keine "lila Pause" und auch kein "Kinder-Pingui".
Auch keine Zigarette und kein Alkohol.

Woher bekommt man Kraft,
wenn man sich selbst am Ende seiner Kräfte fühlt?
Wer oder was macht einem Mut,
wenn man selbst mutlos geworden ist?
Worauf kann man sich noch freuen,
wenn der Alltag zur freudlosen Pflicht verkommen ist?

Der Predigttext ruft dazu auf,
den Kopf aus den Händen zu nehmen
und aufzublicken, hochzusehen:
"Seht: Euer Gott wird zur Rache kommen,
zur Vergeltung; Gott wird kommen und euch helfen."

III
Rache und Vergeltung - 
darf man in einer Kirche davon überhaupt sprechen?
Gerade zur Advents- und Weihnachtszeit,
in der es friedlich-schiedlich zugehen soll,
will man die Worte "Rache" und "Vergeltung" nicht hören.
Sollten wir als Christinnen und Christen der Rache nicht abschwören?
Sollten wir nicht unsere Feinde lieben
und dem, der uns schlägt, auch die andere Wange hinhalten?

Das stimmt. Schließlich heißt es in der Bibel:
"Die Rache ist mein; ich will vergelten, spricht der Herr."
(5. Mose 32,35)
Aber wenn Jesus dazu auffordert, die Feinde zu lieben,
verlangt er damit nicht, 
dass man sie zu Freunden machen muss.
Jesus vertuscht nicht, dass sie Feinde sind.
Er möchte nur, dass wir in ihnen auch den Mitmenschen sehen
und dass wir ihre Feindschaft nicht erwidern,
nicht Böses mit Bösem vergelten.
Das heißt nicht, dass es nichts Böses gibt,
oder dass man das Böse nicht so nennen dürfte.

Damit wir aufblicken und Gott kommen sehen können,
müssen wir zunächst das sehen,
was unser Leben und das Leben anderer beschwert.
Wir müssen, obwohl wir doch schon so müde sind,
obwohl die Vorweihnachtszeit alles mit Zuckerguss
und Jingle Bells zukleistert,
sehen, wer und was uns so müde und kraftlos macht.

Auf dem Lebensweg, den wir gehen,
gibt es Schakale und Löwen.
Es gibt die Toren, die darauf herumirren,
und die Raubtiere, die uns verletzen, vernichten wollen.
Wenn man hinsieht, entdeckt man sie
in den Mitschülern, die einen ausnutzen, 
aber, wenn man sie braucht, nicht helfen;
die Druck ausüben, lästern und mobben.
Man entdeckt sie in den Kolleginnen und Kollegen,
die einem den Erfolg nicht gönnen,
die einem Stöcke zwischen die Beine werfen
und ihre Intrigen spinnen.
In den Institutionen und Behörden,
die einem mit Verordnungen und Auflagen das Leben schwer machen,
die sich nicht für das interessieren, was man leistet,
sondern nur ihre Regeln und Paragraphen kennen.

IV
Wer sieht, wer und was einem das Leben schwer macht,
wer sich diesen Anblick zumutet - gerade in der Adventszeit,
die ja eine Buß- und Fastenzeit ist, eine Zeit der Besinnung:
der Besinnung nicht nur auf die eigenen Fehler und Defizite,
sondern auch darüber, warum die Welt so ist, wie sie ist,
und ob das alles so sein und bleiben muss -
wer sich diesen Anblick zumutet,
dem wird die Nachricht Mut machen,
dass Gott zur Rache kommt und Vergeltung üben wird.

Dem wird es Kraft geben,
dass Gott nicht zulässt,
dass Leute seinen Weg verschandeln und zerstören,
dass Leute die Menschen, die darauf gehen, 
zu behindern und zurückzuhalten suchen.

Gott, so verkündet unser Predigttext,
will, dass alle, die auf seinem Weg gehen,
diesen Weg unbeschadet und ungestört gehen können.
Gott will, dass Leben aufblühen kann 
und Verwüstungen geheilt werden.
Gott will, dass Menschen sich freuen können -
freuen an den Fähigkeiten und Gaben, die Gott ihnen geschenkt hat,
freuen am Erfolg und den Früchten, die ihre Mühen haben,
freuen am Leben, das sie spenden, wenn sie auf Gottes Wegen gehen.
Gott wird sich an all denen rächen,
die den Nachfolgerinnen und Nachfolgern seines Sohnes
- all denen, die auf seinem heiligen Weg gehen - 
Beschwer machen, und er wird es ihnen vergelten.

V
Es fällt einem nicht leicht,
diese Worte von Rache und Vergeltung zu hören,
wenn man gelernt hat, dass ein Christenmensch so etwas nicht tun,
ja nicht einmal denken darf.
Aber der Zorn und die Trauer sind ja da -
Zorn und Trauer über die Knüppel, 
die einem zwischen die Beine geworfen,
die Intrigen, die gegen einen gesponnen,
die falschen Dinge, die über einen verbreitet wurden.
Zorn und Trauer darüber,
dass man seine Gaben nicht einbringen darf,
dass es um Beziehungen, und nicht um Fähigkeiten geht,
und dass Einsatz für andere nicht gefördert,
sondern behindert wird.
In der Schule. Am Arbeitsplatz. Auch hier in der Kirche.

Aber es geht dabei nicht um unsere Rache.
Gott wird uns rächen,
und er tut das nicht, indem er Feuer und Schwefel regnen lässt,
sondern indem er uns auf seinem Weg gehen lässt.
Es ist ein Weg durch die Wüste - aber wer ihn geht,
in dessen Fußstapfen bilden sich kleine Oasen.
Es ist ein Weg voller Gefahren - aber wer ihn geht,
dem können sie nichts anhaben.

Jesus ist diesen Weg gegangen,
er hat ihn uns sozusagen gebahnt.
Und auf die Frage des Johannes,
ob man das denn glauben könne,
ob Gott tatsächlich bei uns ist auf dem Weg
und ob die blühenden Landschaften, die dieser Weg schaffen soll,
tatsächlich mehr sind als die leeren Phrasen der Politiker,
hat Jesus mit einem Zitat dieses Textes geantwortet.
Er hat gesagt:
"Blinde sehen und Lahme gehen, 
Aussätzige werden rein und Taube hören, 
Tote stehen auf und Armen wird das Evangelium gepredigt;
und selig ist, wer sich nicht an mir ärgert."
(Matthäus 11,3)

Wenn wir Jesus nachfolgen,
bringen wir die Wüste zum Blühen,
machen wir Menschen Mut,
schaffen wir Frieden und Gerechtigkeit.
Nicht für die ganze Welt.
Aber für die kleine Welt um uns herum.
Wir säen überall Senfkörner aus,
die vielleicht zu einem großen Baum heranwachsen;
wir sind die kleine Menge Sauerteig,
der den ganzen Teig verwandeln kann
in duftendes, schmackhaftes, Leben spendendes Brot.

Wir müssen nicht stark sein.
Wir müssen nicht einmal glauben.
Wir müssen nur aufsehen, dann sehen wir:
"Gott wird zur Rache kommen,
zur Vergeltung; Gott wird kommen und uns helfen."

Es ist Advent.
Gott kommt.

Amen.

Mittwoch, 5. Dezember 2012

Post vom Nikolaus


Liebe Kinder,

wenn ihr dies lesen könnt, seid ihr alt genug, um die Wahrheit zu erfahren.
Nicht darüber, wer Euch in der Nacht zum 6. Dezember die Süßigkeiten in die Schuhe legt. Dass eure Eltern dahinter stecken, habt ihr natürlich längst herausgefunden. Ihr tut so als ob, um ihnen die Freude an der Überraschung nicht zu verderben. Das rechne ich Euch hoch an. Schön, wenn man anderen die Über­raschung nicht verdirbt! Als ich den drei Töchtern eines armen Witwers half, indem ich jeder von ihnen nachts heimlich Geld durchs Fenster warf, lauerte mir ihr Vater auf, um herauszufinden, von wem das Geld stammte. Damit verdarb er mir meine Freude und die Überraschung. Dass ihr neugierig seid, vor allem auf die Weihnachtsgeschenke, kann ich gut verstehen. Darum bin ich stolz auf euch, dass ihr eure Neugier im Zaum haltet und euren Eltern die Freude gönnt, euch überrascht zu haben.

Die Wahrheit, für die ihr alt genug seid, ist die Wahrheit über mich:
ich bin nicht der dicke, freundliche, kitschig-gemütliche Herr im roten Mantel mit weißem Rauschebart, den ihr als Schokoladen­nikolaus in euren Schuhen findet. Das habt ihr euch wahrscheinlich auch gedacht. Ebenso, wie ihr wisst, das ich keine Geschenke bringe und auch nicht mit der Rute drohe. Ich bin anders: ich bin ein Heiliger. Was nicht bedeutet, dass ich keinen Humor verstünde oder mich etwa über die roten Nikoläuse ärgern würde. Ganz im Gegenteil: die finde ich nett! Aber ich war nie so harmlos, wie ich dargestellt werde. Ich konnte aufmüpfig und unbequem sein, wenn es nötig wurde. Als z.B. bei uns eine Hungersnot herrschte, da habe ich von einem Schiff der Regierung Getreide stehlen lassen, das für Rom bestimmt war, damit die Menschen nicht verhungern mussten. Nur durch ein Wunder kam das nicht heraus. Ich hatte auch keine Angst, drei zu Unrecht verurteilten Soldaten beizuste­hen und ihnen das Leben zu retten: Ich stahl einfach das Schwert des Scharfrichters. Mein Glaube half mir, aufmerksam zu werden für die Not anderer Menschen. Durch ihn wusste ich, wo und wie ich helfen konnte. Mein Glaube gab mir Mut, zu tun, was andere nicht wagten.

Es freut mich sehr, wenn ihr zu Nikolaus und zum Weihnachtsfest einander mit Geschenken überrascht, und es ist schön, wenn ihr anderen die Freude nicht verderbt. Aber die heile Welt der Festtage ist nicht die Wirklichkeit. Genießt sie, aber lasst euch nichts vormachen. Bleibt aufmerksam und wachsam für die Ungereimt­heiten und Unwahrheiten in der Welt, für die Not der Menschen in eurer Nähe und in der Ferne. Wenn es nötig und die Zeit reif ist, werdet auch ihr Heilige werden. Ihr werdet euch, wie ich, vom Glauben leiten lassen. Euer Glaube zeigt euch, wann und wofür ihr Regeln brechen und im richtigen Moment aufmüpfig sein müsst. Gott wird euch helfen zu sehen, wo eure Hilfe nötig ist, und euch im richtigen Augenblick den Mut und die Kraft zum Handeln geben.

In diesem Sinne wünscht euch einen schönen Nikolaustag und frohe Weihnachten!

Euer

Bischof Nikolaus von Myra

Mittwoch, 21. November 2012

Wir müssen uns einmal entscheiden


Predigt am Buß- und Bettag, 21. November 2012, über Offenbarung 3,14-22:

Dem Engel der Gemeinde zu Laodizea schreibe:
"Dies sagt der, der "Amen" heißt, der treue und wahrhaftige Zeuge,
das Haupt von Gottes Schöpfung:
Ich kenne deine Werke, dass du weder kalt noch heiß bist.
Wärst du doch kalt oder heiß!
Demnach, weil du lauwarm bist und weder heiß noch kalt,
werde ich dich aus meinem Mund erbrechen.
Weil du sagst:
'Ich bin reich, und bin reich geworden und habe nichts nötig',
aber nicht weißt,
dass du die Elende, die Unglückliche, die Arme, Blinde und Nackte bist,
rate ich dir, kaufe dir von mir im Feuer geläutertes Gold,
damit du reich wirst,
und weiße Kleider, damit du etwas anzuziehen hast
und deine Blöße nicht sichtbar wird,
und Salbe für deine Augen, damit du siehst.
Welche ich liebe, die weise ich zurecht und erziehe sie.
Gib dir Mühe und ändere dich!
Sieh, ich stehe vor der Tür und klopfe an.
Wer meine Stimme hört und die Tür öffnet,
zu dem werde ich hineingehen
und mit ihm speisen und er mit mir.
Wer das vollbringt, dem werde ich gewähren,
mit mir auf meinem Thron zu sitzen,
wie auch ich es vollbracht habe
und mit meinem Vater auf seinem Thron sitze."
Wer Ohren hat, höre, was der Geist den Gemeinden sagt.
(Eigene Übersetzung)


Liebe Schwestern und Brüder,

die Dinge sind oft nicht das, was sie zu sein scheinen.
Wer z.B. in der Dämmerung spazieren geht,
dem spielen seine Sinne oft einen Streich:
das Wildschwein am Wegrand
wird beim Näherkommen zum Baumstumpf;
die Person, die da regungslos steht,
war nur ein Schatten.

Auch wir selbst sind oft nicht das, was wir zu sein scheinen.
Entsetzt starrten Eingeborene auf Fotos,
die man ihnen von sich selbst zeigte;
da hatte ihnen jemand "die Seele gestohlen".
Das waren sie - und waren es doch nicht:
so hatten sie sich noch nie gesehen.

Diese Erfahrung kann jede und jeder machen,
der eine Tonaufzeichnung von sich hört
oder sich auf einem Video sieht.
Man hört und sieht sich plötzlich,
wie andere einen hören und sehen.
Vertraut, und doch auch sehr fremd.
Wer sich das erste Mal so von außen sieht,
erschrickt, empfindet vielleicht sogar Scham:
Dass man so aussieht, so klingt,
das wusste man ja gar nicht.

I
Der Blick von außen auf einen Menschen
fördert oft Überraschendes zutage.
Oft genug beschämt er auch. Oder verletzt.
Wenn man z.B. daran denkt,
was so alles über einen erzählt wird.
Vieles weiß man zum Glück nicht,
und manches will man lieber auch gar nicht wissen.

Wie eine Kamera oder ein Tonband
halten wir Eindrücke unserer Mitmenschen fest
und geben sie an andere weiter:
"Hast du gesehen, wie der aussieht?"
"Hast du schon gehört, was ... gemacht hat?"
"Neulich, da sagt die doch zu mir: ..."

Wir sind schnell dabei, wenn über andere geredet wird.
Tratsch ist ein gesellschaftlicher Kitt,
er schweißt zusammen.
Unangenehm, ärgerlich oder peinlich ist es aber,
wenn man selbst zum Thema wird,
wenn statt mit einem über einen geredet wird.
Was da so an - zum Teil vielleicht sogar berechtigter -
Kritik geäußert wird,
lässt sich nur schwer oder gar nicht annehmen.
Zu groß ist die Beschämung, die Verletzung.

Das Gleichnis vom Dorn und vom Balken im Auge fällt einem ein:
Dass man den Dorn im Auge des anderen,
seine oder ihre kleinen Fehler, sehr genau bemerkt,
während man großzügig über den eigenen Balken im Auge,
die eigenen Unzulänglichkeiten und Schwächen, hinwegsieht.
Ja, oft stört einen am anderen genau das,
was man selbst als schlechte Eigenschaft besitzt.
Aber statt unsere Aufmerksamkeit für die Fehler anderer
dafür zu verwenden, uns selbst genauer zu erkennen
und unsere eigenen Schwächen und Fehler zu durchschauen,
sind wir auf dem Auge blind,
das der Introspektion dienen sollte,
der kritischen Selbstbetrachtung.

II
Wir selbst sind oft nicht das, was wir zu sein scheinen.
Wir selbst sind auch nicht das,
was wir von uns glauben
und wie wir selbst und gern sähen.
Ein Unfall, eine Krankheit oder spätestens das Alter
weisen uns unbarmherzig darauf hin,
dass unsere Beweglichkeit, unsere Leistungsfähigkeit, unsere Kraft
Grenzen haben und mit den Jahren weniger werden.
Leid und Unglück zeigen uns,
- wenn wir es nicht schon wussten -,
dass Glück, Gesundheit und Unbeschwertheit
nichts Selbstverständliches sind.
Auch wenn wir in solchen Situationen nach dem Warum fragen,
wir wissen doch genau,
dass wir kein Anrecht darauf haben,
dass das Leben ausgerechnet für uns eine Ausnahme macht.

Wir wissen all das.
Wir wissen um die Zerbrechlichkeit und Zufälligkeit,
die alles im Leben hat,
dass jeder Augenblick ein Geschenk ist
und wir die Freundschaft und Liebe, die uns geschenkt wird,
nicht erzwingen können und nicht verdient haben.

Wir wissen es
und wiegen uns trotzdem in Sicherheit:
Wir haben ausgesorgt.
Wir sind versichert gegen alle möglichen Unbilden des Schicksals.
Wir sorgen für unser Alter vor.
Wir verdienen ordentlich
und müssen uns keine Gedanken machen,
was wir morgen essen oder anziehen werden.

Auch für unsere Außenwirkung, unser "Image"
haben wir Vorkehrungen getroffen:
Niemand kennt unsere Fehler und Schwächen,
nicht die kleinen und großen Brüche in unserer Biografie,
nicht unsere Ängste und Sorgen,
und niemand darf sie erfahren.
Die Nacktheit unserer Seelen
verbergen wir hinter Masken und Fassaden,
hinter eingeübten Rollen und frisierten Lebensläufen.

III
"Nobody is perfekt" - niemand ist vollkommen.
Das sagt sich so leicht. Aber es lebt sich nicht leicht.
In einer Gesellschaft, die nach Vollkommenheit strebt,
in der sich jede und jeder optimieren kann und muss
und in der makellose, wohlgeformte Models unsere Vorbilder sind,
und zielstrebige, lückenlose Bildungswege;
in der es als selbstverständlich vorausgesetzt wird,
sich gesund, will sagen: arbeitsfähig zu erhalten
und sich ständig weiter- und fortzubilden,
ist jede und jeder ein Schandfleck, der nicht so ist.

Man gibt nicht zu, dass man etwas nicht kann.
Man gibt nicht zu, dass man überfordert ist,
müde, überarbeitet, frustriert.
Man gibt nicht zu, dass man Angst hat oder
nicht mehr weiter weiß.

Warum?

Warum bemühen wir uns so krampfhaft darum,
den Schein zu wahren:
den Schein, dass wir Angst und Müdigkeit nicht kennen,
dass unser Leben perfekt ist, fehlerlos, ohne Brüche?
Glauben wir tatsächlich, so ein Leben gäbe es?
Glauben wir tatsächlich denen, die uns das vorspielen
und dabei genauso verzweifelt lügen wie wir selbst?

IV
Möglicherweise sind wir ja tatsächlich so arm:
So arm zu glauben,
dass uns niemand hilft, wenn wir uns selbst nicht helfen.
Dass uns Geld, Wissenschaft und Medizin retten könnten
vor den Unbilden des Lebens,
vor Leid und Schicksalsschlägen,
vor einer ungewissen Zukunft.

Möglicherweise sind wir ja tatsächlich so arm,
dass uns das Vertrauen fehlt in den,
der das Haupt von Gottes Schöpfung ist,
der an ihrem Anfang steht und an ihrem Ende,
wie er auch am Anfang und am Ende unseres Lebens steht
und es in seiner Hand hält.

Möglicherweise fehlt uns das Zutrauen,
dass er uns tatsächlich halten wird und halten kann.
Da ist es nur allzu verständlich,
dass man lieber auf Nummer Sicher geht:
Hoffentlich Allianz-versichert!
Es schadet schließlich nicht,
ja, es wäre doch geradezu leichtsinnig und töricht,
nicht alle Vorkehrungen zu treffen,
nicht alles auszunutzen,
die uns unsere Gesellschaft und unser Einkommen bieten!

Ja, natürlich darf und kann man das tun,
und sollte es vielleicht auch.
Mit einer solch lauen Haltung kann man sich
irgendwie durchs Leben lavieren.
Aber Gott findet sie - entschuldigen Sie den derben Ausdruck -
Gott findet diese Haltung zum Kotzen.

V
Uns würde es nicht anders gehen.
Einem Menschen, der sagt, dass er uns liebt,
sich aber nicht für uns entscheiden kann und will,
sondern sich lieber noch ein Hintertürchen offen hält
(- weil man ja nicht wissen kann,
und überhaupt, vielleicht kommt ja noch was Besseres -)
den würden wir bald vor die Tür setzen.
Wir könnten Lauheit genauso wenig ertragen,
wie Gott es kann.
Ein Nein, ein Ja: damit kann man leben.
Aber ein Vielleicht, das ist auf Dauer nicht zu ertragen.

Wir müssen uns einmal entscheiden.
Wenn schon nicht um Gottes willen,
dann wenigstens um unserer selbst willen.
Wir müssen uns einmal entscheiden,
ob wir unserem Glauben wirklich trauen wollen,
oder ob wir uns weiterhin halbherzig
die Option des Glaubens offen halten,
weil man ja nie wissen kann, ob nicht doch etwas dran ist,
und schaden kann's ja nicht ...

Wenn wir uns für den Glauben entschieden,
könnten wir die Masken fallen lassen
und aufhören, uns selbst und unseren Mitmenschen
etwas vorzumachen.
Wir dürften endlich zu unseren Schwächen stehen,
weil sie unsere größte Stärke sind:
sie erlauben es Gott, uns zu helfen.

Wenn wir uns für den Glauben entschieden,
würden wir erkennen,
dass wir schon jetzt reich sind,
mit dem Besten ausgestattet,
was man im Leben erreichen kann:
ein gelungenes, ein richtiges, ein sinnvolles Leben.

Schaut man aus dem Blickwinkel des Glaubens
auf das eigene Leben zurück,
dann läuft alles zielgerichtet und zwingend
auf das eine Ziel zu:
dass wir bei Gott geborgen sind,
dem wir recht sind,
dem wir gut genug sind,
der stolz ist auf uns und auch zu uns sagen wird:
Du bist meine geliebte Tochter, du bist mein geliebter Sohn,
an dir habe ich Wohlgefallen.
Amen.

Montag, 5. November 2012

Sich vergeben lassen - und sich selbst vergeben



Predigt am 22. Sonntag nach Trinitatis über Römer 7,14–25a

Denn wir wissen, dass das Gesetz geistlich ist; ich aber bin fleischlich, unter die Sünde verkauft. Denn ich weiß nicht, was ich tue. Denn ich tue nicht, was ich will; sondern was ich hasse, das tue ich. Wenn ich aber das tue, was ich nicht will, so gebe ich zu, dass das Gesetz gut ist. So tue nun nicht ich es, sondern die Sünde, die in mir wohnt. Denn ich weiß, dass in mir, das heißt in meinem Fleisch, nichts Gutes wohnt. Wollen habe ich wohl, aber das Gute vollbringen kann ich nicht. Denn das Gute, das ich will, das tue ich nicht; sondern das Böse, das ich nicht will, das tue ich. Wenn ich aber tue, was ich nicht will, so tue nicht ich es, sondern die Sünde, die in mir wohnt. So finde ich nun das Gesetz, dass mir, der ich das Gute tun will, das Böse anhängt. Denn ich habe Lust an Gottes Gesetz nach dem inwendigen Menschen. Ich sehe aber ein anderes Gesetz in meinen Gliedern, das widerstreitet dem Gesetz in meinem Gemüt und hält mich gefangen im Gesetz der Sünde, das in meinen Gliedern ist. Ich elender Mensch! Wer wird mich erlösen von diesem todverfallenen Leibe? Dank sei Gott durch Jesus Christus, unsern Herrn!
(Lutherbibel)

Liebe Gemeinde,

der Apostel Paulus hat kein gutes Image. Er schreibt so kompliziert; man versteht nicht, was er eigentlich will. Er setzt Frauen zurück, will, dass sie Kopftuch tragen und duldet nicht, dass sie in der Gemeine sprechen. Und vor allem gönnt er einem nichts. Paulus spricht negativ und despektierlich vom “Fleisch”, das er dem “Geist” gegenüberstellt. “Fleisch” ist bei ihm soviel wie “Sünde”. Kein Wunder, dass ein scheinbar so lust- und sinnenfeindlicher Theologe nicht viele Anhänger und noch weniger Anhängerinnen hat.

Martin Luther war einer seiner Anhänger. Er hat viel von Paulus gelernt, und seine reformatorische Entdeckung der Gerechtigkeit Gottes, die auf einem winzigen grammatischen Unterschied beruht, geht auf Paulus zurück. Deshalb, meine ich, lohnt es sich, so kurz nach dem Reformationstag, die Vorverurteilungen und das Vorwissen über Paulus für einen Moment beiseite zu legen und zu fragen, was er uns eigentlich sagen will. Vielleicht können auch wir dabei eine Entdeckung machen.

I
Wir Menschen unterscheiden uns von den Tieren, und wer einen Menschen mit einem Tier vergleicht, mit einem Schaf, einem Schwein oder einem Hund, meint es in 99% der Fälle als Beleidigung. Wir sehen uns selbst als “Krone der Schöpfung”. Wir spielen in einer ganz anderen Liga als die Hunde und Katzen, die wir uns als Haustiere halten, als die Schweine, Rinder und Hühner, die wir essen. Wir vergessen dabei, dass wir uns von ihnen weniger unterscheiden, als wir denken. Auch wir sind, von außen betrachtet, eine Art Tier. Die Tatsache, dass wir aufgrund unseres prächtig entwickelten Großhirns die dominierende Lebensform auf unserem Planeten sind, ändert nichts daran, dass wir - sozusagen unterhalb dieses Großhirns - genauso funktionieren wie alle anderen Tiere auch. Sonst wären ja auch die ganzen Tierversuche sinnlos ...

Uns unterscheidet von den Tieren, dass die Tiere tun müssen, was sie tun - sie können nicht anders. Sie sind ihren Hormonen, ihren Trieben unterworfen. Wir dagegen können uns entscheiden, haben Alternativen - zumindest glauben wir das. Aber jeder, der einmal regelmäßig geraucht hat, weiß, dass man sein Leben lang ein Raucher, eine Raucherin bleibt. Eine einzige Zigarette kann einen rückfällig werden lassen. Ebenso ist es mit dem Alkohol. Für manche Frauen sind die Tage vor den Tagen die Hölle. Und Frauen wie Männer trifft Amors Pfeil: Liebe macht nicht nur blind, sie lässt einen oft auch Grenzen überschreiten - manchmal sogar gegen den Willen des Partners. Lust und Gier sind mächtige Triebe, gegen die wir meistens machtlos sind.

Unser Körper zeigt uns immer wieder, dass wir trotz unseres Verstandes tierischer sind, als wir uns selber eingestehen möchten. Das meint Paulus, wenn er sagt, dass wir “fleischlich” sind. Zunächst einmal ist das nichts Schlechtes. Wir können ja nichts dafür, dass wir einen Körper haben, im Gegenteil: Er gehört zu uns. Wir brauchen ihn.

Aber die Bedürfnisse unseres Körpers, unsere animalische, tierische Seite, bringt uns manchmal dazu, Dinge zu tun, die wir eigentlich nicht tun wollen und die uns hinterher leid tun. Jede und jeder hat wohl schon einmal erlebt, wie in der Erregung ein Wort herausrutschte, das den anderen sehr verletzte. Man möchte es zurücknehmen, aber es ist heraus, der Schaden ist schon angerichtet. Oder manchmal “rutscht einem die Hand aus”, wie es so schlecht eufemistisch heißt. Man wendet im Zorn Gewalt an gegen die Kinder oder den Partner.

II
Aber, wird man vielleicht jetzt einwenden, dafür haben wir doch unser Großhirn. Das unterscheidet uns doch vom Tier: dass wir denken können, dass wir uns selbst Regeln und Maßstäbe geben können, nach denen wir handeln. Und dann schlagen wir eben nicht zurück, dann greifen wir eben nicht zur Zigarette oder zur Flasche, dann halten wir eben unsere Lust, unsere Gier im Zaum.

Wir glauben, dass wir das können. Aber wenn man ehrlich ist, gelingt es eben nicht immer. Siegmund Freud hat gezeigt, dass es nichts nützt, seine Gefühle, seine Leidenschaften zu kontrollieren. Sie finden immer ein Ventil, um erneut auszubrechen. Gewalt, die man nicht nach außen richten will, wendet sich gegen einen selbst. Lust, die man auf dem einen Weg nicht befriedigen kann, sucht sich einen anderen Weg. Siegmund Freud hat uns gezeigt, dass wir weniger Herrinnen und Herren im eigenen Haus unseres Körpers sind, als uns lieb ist und als wir glauben wollen. Und Paulus sagt dasselbe: “Ich weiß nicht, was ich tue. Denn ich tue nicht, was ich will, sondern was ich hasse, das tue ich.”

III
Wir fühlen uns als Krone der Schöpfung, als Herrinnen und Herren dieser Erde. Und was haben wir nicht alles erfunden: den Pflug und die Stahlerzeugung, die Elektrizität und die Atombombe, den Kunststoff und das Internet. Wir haben alles im Griff. Es gibt nichts, was wir nicht kontrollieren könnten. Es ist nur eine Frage der Zeit. Schon manipulieren wir unsere Erbinformation. Bald werden wir auch unsere Gedanken, unsere Erinnerungen manipulieren können. Alles, was Menschen denken können, kann eines Tages auch Wirklichkeit werden. Da erscheint es doch lächerlich, dass wir nicht Herrinnen und Herren über unseren eigenen Körper sein sollten! Wir zähmen ihn und zeigen ihm, wer hier der Herr im Hause ist und was wir ihm antun können durch Training und Schönheitsoperationen, durch Piercings und Tattoos, durch Diäten und Medikamente.

Aber unsere Pläne und Ideen gehen manchmal auch schief - furchtbar und schrecklich schief. Das hat Folgen, nicht nur für uns. Wir überblicken die Folgen unseres Tuns nicht. Wir können es nicht, dazu ist das Leben, ist unsere Umwelt viel zu kompliziert. Wir verstehen immer erst hinterher, warum eine Entscheidung falsch war. Das gilt für den privaten wie für den gesellschaftlichen Bereich.

IV
In ähnlicher Weise können auch Moralvorstellungen schief gehen und schreckliche Folgen haben. Denn auch über unser Zusammenleben, über das, was “richtig” und “falsch” ist, haben wir genaue Vorstellungen. Und auch darüber, wie jemand zu sein hat. Die Kirche hat sich über Jahrhunderte in oft schlimmer Weise als Wächterin der Moral betätigt und damit Menschen das Leben schwer oder sogar unmöglich gemacht. Paulus beschreibt das mit seinen Worten so: “Ich habe Lust an Gottes Gesetz nach dem inwendigen Menschen. Ich sehe aber ein anderes Gesetz in meinen Gliedern, das widerstreitet dem Gesetz in meinem Gemüt und hält mich gefangen im Gesetz der Sünde, das in meinen Gliedern ist.”

Regeln, Gebote und Vorschriften sind gut, ja, notwendig für das Miteinander von Menschen. Aber sie sind nicht an sich gut. Denn für jede Regel gibt es eine Ausnahme, für die diese Regel nicht gut tut oder sogar schadet. Was für eine Mehrheit von Menschen richtig ist, kann für einzelne Menschen völlig falsch sein.
Wir sprechen von Gottes Gebot, aber was das - abgesehen von den 10 Geboten - wirklich ist, wissen wir nicht so genau. Es ist Auslegungssache. Und die ändert sich mit der Zeit und mit den Umständen. Wir können uns nicht wirklich sicher sein, ob wir tatsächlich tun, was Gott will, oder ob wir seinen Willen zu unseren Gunsten manipuliert haben. Anders wäre so manche Bigotterie und Doppelmoral nicht zu erklären - bis hinauf in die obersten Ämter der Kirche.

Paulus warnt davor, das Tier im Menschen durch Regeln, Gebote und Gesetze im Zaum halten zu wollen. Das kann nicht gelingen, das muss schief gehen; es führt zu Bigotterie und Doppelmoral. Schlimmstenfalls bringt es den Menschen, der es dennoch versucht, zur Verzweiflung.

V
“Ich elender Mensch! Wer wird mich erlösen von diesem todverfallenen Leibe?” 
Vielleicht verstehen wir jetzt diesen Stoßseufzer des Paulus und stimmen sogar in ihn ein. Wenn wir uns selbst nicht erlösen, wenn wir uns selbst nicht retten können trotz unseres so überaus grandios entwickelten Großhirns - wer kann es dann?

“Dank sei Gott durch Jesus Christus, unsern Herrn!”
Jesus hat uns erlöst. Jesus, der die Gesetze und Gebote auf die Spitze getrieben hat, indem er lehrte: “Ihr habt gehört, dass gesagt ist (2. Mose 20,14): »Du sollst nicht ehebrechen. « Ich aber sage euch: Wer eine Frau ansieht, sie zu begehren, der hat schon mit ihr die Ehe gebrochen in seinem Herzen.” Oder: “Ihr habt gehört, dass gesagt ist: »Du sollst deinen Nächsten lieben« (3. Mose 19,18) und deinen Feind hassen. Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde und bittet für die, die euch verfolgen.”

Jesus will damit nicht Unmögliches von seinen Anhängern fordern. Er will vielmehr deutlich machen, dass es unmöglich ist, die Gebote zu erfüllen. Weil es unmöglich ist, sollen wir aber auch nicht die Hände in den Schoß legen und es gar nicht erst versuchen. Wir sollen vielmehr Zuflucht nehmen zu seiner Vergebung.

Vergebung bedeutet: Jesus nimmt uns so an, wie wir sind. Als Menschen, die Fehler haben, die Gutes tun möchten und es doch nicht immer schaffen. Der erste und einzige Schritt, den wir tun müssen, ist: das liebevoll anzunehmen. Uns liebevoll anzunehmen als die, die wir sind. Zu verstehen und zu akzeptieren, dass wir nun einmal nicht vollkommen sind, weder körperlich, noch, was unsere Art zu leben angeht.

Wenn wir gelernt haben, und selbst liebevoll mit Gottes Augen anzusehen und uns anzunehmen, dann können wir wahrhaft versuchen, nach Gottes Gebot der Nächstenliebe zu leben. Dann können wir unangestrengt und unverkrampft lieben, Gutes tun und dabei Fehler machen und es beim nächsten Mal anders und vielleicht besser machen.

Paulus möchte uns frei machen, indem er uns unsere Grenzen aufzeigt. Es ist schmerzlich, die eigenen Grenzen zu erfahren. Aber wenn man sie akzeptiert, merkt man, dass die Liebe Gottes alle Grenzen sprengt und uns eine Freiheit schenkt, die alles übersteigt, was wir uns vorstellen können.

Deshalb lohnt es sich, ab und an mal Paulus zu lesen und auf ihn zu hören.

Amen.

Rechnen müsste man können


Predigt im Gottesdienst zum Thema Schöpfung am 4. November 2012 um 17.00 Uhr in der Klosterkirche über Genesis 1,28


Liebe Gemeinde,

“Wir sind Kinder einer Erde, die genug für alle hat. 
Doch zu viele haben Hunger und zu wenige sind satt. 
Einer prasst, die andern zahlen, das war bisher immer gleich. 
Nur weil viele Länder arm sind, sind die reichen Länder reich.”

So heißt es in einem Gedicht von Volker Ludwig. Dieses Gedicht bringt das Problem auf den Punkt, das unsere Gesellschaft hat: Es ist ein Verteilungsproblem. Die Ressourcen dieser Erde, die für alle Menschen reichen würden, sind ungleich verteilt. Manche haben mehr davon - oder alles, andere wenig - oder nichts.

Geld ist der Schlüssel, der die Tür zur Vorratskammer aufschließt. Wer es sich leisten kann, bekommt unbegrenzten Zugang zu frischem Wasser und Energie, zu Bildung und Nahrung, zu Gesundheitsversorgung und Treibstoff. Wer kein Geld hat, hat eben - - - Pech gehabt.

Das Problem unserer heutigen Gesellschaft ist ein Problem der Verteilung der Ressourcen. So ein Verteilungsproblem lässt sich mathematisch lösen; theoretisch ist das gar nicht schwer. Praktisch ist es so gut wie unmöglich.

Was aber hat das mit dem Thema dieses Gottesdienstes zu tun, in dem es um unseren zerstörerischen Umgang mit der Natur und den Lebewesen auf dieser Erde geht?

I
“Seid fruchtbar und mehrt euch und füllt die Erde und macht sie euch untertan und herrscht über die Fische im Meer und über die Vögel unter dem Himmel und über das Vieh und über alles Getier, das auf Erden kriecht.”

Gott, so stellt es der erste Schöpfungsbericht dar, vertraut den Menschen die Erde an. Damit wird keine Entstehung der Welt erzählt, die im Widerspruch zu den wissenschaftlichen Erkenntnissen steht, die wir über die Entstehung der Welt und der Arten gewonnen haben. Vielmehr wird mit diesen Sätzen das Verhältnis beschrieben, in dem sich der Mensch zu seiner Umwelt findet: Als Herr, der über die Natur herrscht und gebietet.

Das ist zunächst einmal nicht mehr als eine Beschreibung der Realität: Wir Menschen halten uns für die Krone der Schöpfung, für die Herren dieser Erde. Aber während wir für uns selbst die Demokratie als Gesellschaftsform fordern und bevorzugen, bewegen wir uns als “Herren” und “Herrinnen” der Schöpfung noch immer in den Bahnen absolutistischer Herrscher. So, wie z.B. der Sonnenkönig Ludwig der XIV., der von sich sagte: “L’État, c’est moi” - ich bin der Staat, um mich hat sich alles zu drehen und ich kann mit meinem Staat und mit meinen Untertanen lassen und tun, was ich will.

Gesellschaftlich haben wir den Absolutismus hinter uns gelassen. Es hat viel Kraft und Blut, viele Revolutionen gekostet, bis die Gesellschaft so erwachsen wurde, dass sie sich nicht mehr von einem Herrscher tyrannisieren lassen wollte und bereit war, selbst Verantwortung für das Gemeinwesen zu übernehmen. In unserem Verhältnis zur Natur, so scheint es, sind wir noch längst nicht in der Demokratie angelangt.

II
Zum Glück kann die Natur keine Revolution gegen uns machen. Sie würde es, wenn sie könnte. Denn gegenüber unserer Umwelt verhalten wir uns nicht anders als der Sonnenkönig. Wir benehmen uns wie Tyrannen, nehmen uns, was wir kriegen können, verschwenden und vergeuden, was Mensch und Tier zum Leben brauchen. Einfach so, weil wir es können. Oder weil wir der Meinung sind, es stünde uns zu, wir hätten es vielleicht sogar verdient.

Kleine Kinder verhalten sich manchmal wie kleine Tyrannen. Kleine Kinder, die “den Hals nicht voll kriegen können”, wie man sagt. Die alles Spielzeug an sich raffen und den anderen nichts davon abgeben. Die sich die größten Portionen aufschaufeln und hinterher nicht einmal die Hälfte von dem essen, was sie sich aufgeladen haben. Die Wasser und Lebensmittel verschwenden. Kinder sind so. Kinder dürfen so sein.

Wir aber sind keine Kinder mehr. Wir sind Erwachsene, die sich aber trotzdem oft wie Kinder benehmen:
So gierig.
So egoistisch.
So verantwortungslos.
So unbedacht gegenüber den Folgen unseres Handelns.

III
Gott hat die Erde nicht Kindern anvertraut. Auch wenn Herbert Grönemeyer fordert: “Gebt den Kindern das Kommando, sie berechnen nicht, was sie tun”, gehören zum Beherrschen der Welt Fähigkeiten, wie sie erst Erwachsene entwickelt haben. Mathematische Fähigkeiten zum Beispiel. Wenigstens die Grundrechenarten sollte man beherrschen. Dann fällt es leicht zu erkennen, dass die Vorräte an Rohstoffen, aber auch an Trinkwasser und Ackerflächen begrenzt sind und nicht unendlich verschwendet werden können. Dass, wenn man mehr Kohlenstoff verbrennt, auch mehr CO2 entsteht. Dass, wenn man mehr Flächen versiegelt, weniger Lebensraum zur Verfügung steht, usw.

Wenn der erste Schöpfungsbericht davon spricht, dass Gott den Menschen zum Herrn über seine Schöpfung machte, dann wollte er damit nicht sagen, dass Gott dem Menschen einen Freibrief gegeben habe. Gott gab dem Menschen nicht Narrenfreiheit, mit der Erde umzugehen wie ein kleines Kind, das nicht weiß, was es tut.

Gott hat seine Schöpfung Erwachsenen anvertraut, die rechnen können und daher wissen, dass man Ressourcen sparsam verwenden und gerecht verteilen muss. Erwachsenen, die umsichtig und vorsichtig mit der Natur, mit Pflanzen und Tieren umgehen. Die mit dem Leben anderer Lebewesen nicht spielen und wissen, dass alles Leben beseelt ist, weil alles Leben seinen Ursprung und sein Ziel in Gott hat.

IV
Der Schöpfungsbericht der Bibel gibt uns keinen Freibrief, sondern mutet uns eine große Verantwortung zu. Wir sind für diese Erde verantwortlich. Als Herrinnen und Herren nicht nur für uns, für unsere Mitmenschen und unsere Nachkommen, sondern auch für unsere Mitgeschöpfe, für Pflanzen und Tiere.

Da kann einem schon mulmig werden angesichts dieser Verantwortung. Wer will die schon auf sich nehmen?

Gott traut uns das zu. Gott traut uns zu, dass wir seine Welt nicht ausbeuten und verschandeln, nicht verschwenden und zerstören, dass wir seine Geschöpfe nicht quälen und sinnlos töten, sondern vorsichtig und verantwortungsvoll mit ihnen umgehen, mit Weitblick und mit Zurückhaltung.

Gott traut uns das zu, weil er selbst uns dazu befähigt hat: Er hat uns die Gaben der Liebe geschenkt, des Mitgefühls und der Barmherzigkeit. Wir können wissen und berechnen, was wir tun, und die Folgen unseres Handelns abschätzen. Das ist verantwortliches Handeln.

V
“Wir sind Kinder einer Erde die genug für alle hat.” 
Als erwachsene, verantwortungsvolle Menschen erkennen wir, dass diese Erde Ressourcen genug hat für alle und Platz genug für Mensch und Tier, wenn der Mensch sich nicht mehr nimmt, als er wirklich braucht und auch an seine Mitmenschen und Mitgeschöpfe denkt. Der Reichtum der Welt ist riesengroß, wenn wir ihn klug verwalten und gerecht verteilen. Das ist keine zu schwere Aufgabe. Sie müsste sich lösen lassen, wenn wir gemeinsam daran arbeiten. Mit Gottes Hilfe wird es uns gelingen. Amen.