Freitag, 26. Dezember 2014

Aufmerksamkeit

Predigt am Altjahrsabend, 31.12.2014, über Lukas 12,35-40:

Jesus spricht: Lasst eure Hüfte gegürtet und eure Lampen brennen. Und seid wie Leute, die ihren Chef erwarten, wenn er von der Feier zurückkommt, damit sie ihm sofort öffnen, wenn er kommt und klopft. Glückwunsch jenen Angestellten, die der Chef wachend findet, wenn er kommt. Wirklich, ich sage euch: Er wird sich schürzen und sie zu Tisch bitten, herbeikommen und sie bedienen. Und wenn er um Mitternacht oder früh um drei kommt und sie so findet, Glückwunsch! Werdet euch aber bewusst: Hätte der Hausherr gewusst, zu welcher Stunde der Dieb kommt, hätte er den Einbruch in sein Haus verhindert. Macht auch ihr euch bereit, denn der Hausherr kommt zu einer Stunde, zu der ihr es nicht erwartet.
(Eigene Übersetzung)


Liebe Schwestern und Brüder,

wenn ich als Jugendlicher spät nachts nach Hause kam, weil wir nach dem Training noch in der Kneipe waren, weil ich mich bei Freunden festgequatscht oder die Veranstaltung in der Schule wieder einmal länger gedauert hatte, dann hörte ich jedes Mal, wenn ich möglichst leise die knarzende Holztreppe zum Schlafzimmer hochstieg, meine Mutter verschlafen meinen Namen rufen. Ganz gleich, zu welcher Zeit ich nach Haus kam, wie leise ich die Treppe hochschlich: Meine Mutter hörte mich. Sie konnte offenbar erst dann schlafen, wenn sie mich sicher zuhause wusste.
Damals belächelte ich ihre unnötige Sorge. Heute, wo ich selbst Vater bin, geht es mir genauso wie ihr.
Um Menschen, die man liebt, sorgt man sich und kann oft nicht schlafen, wenn sie nachts noch unterwegs sind.

Wenn Jesus von einem Chef erzählt, auf den seine Angestellten warten, bis er von der Feier nach Haus kommt, geht es nicht um ein Liebesverhältnis. Die Angestellten warten ja nicht auf ihren Chef, weil sie ihn so furchtbar lieb haben, sondern weil sie es müssen. Sie werden dafür bezahlt, es ist ihr Job. Wir denken dabei vielleicht an Fernsehserien wie Downton Abbey, wo Butler diskret ihrer Herrschaft aufwarten.
Aber der Chef, von dem Jesus erzählt, verhält sich eigenartig. Er scheint es nicht als selbstverständlich anzusehen, dass man ihn erwartet, sondern als etwas ganz Außergewöhnliches. Deshalb tauscht er mit denen, die auf ihn gewartet haben, die Rollen und macht sich selbst zum Diener, der seinen Angestellten das Essen bereitet, es ihnen serviert und sie dabei auch noch bedient. Was für ein eigenartiger Chef - kaum vorstellbar, dass es so etwas geben sollte. Warum erzählt Jesus von einem solchen Chef? Und was hat diese Geschichte mit dem Jahreswechsel zu tun, den wir heute begehen?

Silvester ist ein eigenartiges Datum: Einmal im Jahr wird ein Tag festgesetzt, an dem das alte Jahr endet und das, was es brachte und ausmachte, endgültig vorüber ist. Und ein neues Jahr beginnt, das wie ein leeres, unbeschriebenes Blatt vor uns liegt. Es ist, als würde eine Seite eines Buches umgeschlagen, oder als würde man über eine Schwelle von einem Zimmer in ein anderes gehen, in dem man nie zuvor gewesen ist.
Aber die Zeit ist nicht so, dass man sie umklappen könnte wie eine Buchseite, dass man einen Zeitraum verlässt und in einen neuen hinübergeht wie über eine Schwelle. Wir tun so, als wäre die Zeit in solche Zeiträume eingeteilt, in Minuten, Stunden, Tage und Jahre. Tatsächlich aber ist die Zeit ein Fluss, ist ohne Anfang und Ende - jedenfalls für die Spanne unseres Lebens. Wir heben willkürlich besondere Momente in diesem eintönigen Fluss der Zeit heraus, als würden wir Stöckchen in den Fluss werfen, denen wir zusehen, wie sie langsam davongetragen werden, bis sie den Blicken entschwinden.
Die Zeit ist ein Fluss und sie ist im Fluss, aber mit einer solchen Vorstellung lässt es sich nicht leben. Man braucht eine Zeiteinteilung, man braucht besondere Höhepunkte im Fluss der Zeit - Weihnachten, Geburtstage, Jubiläen, Jahreswechsel. An solchen Höhepunkten scheint die Zeit angehalten. Man blickt zurück, man blickt voraus, als stünde man auf einem Berg, von dem aus man den Fluss der Zeit überschauen kann.
Es ist gut, dass unser Leben solche Höhepunkte hat. Dass wir hin und wieder auf einen Berg steigen können, um den Fluss der Zeit zu überblicken. Nur auf diese Höhepunkte hin zu leben ist aber auch ziemlich einseitig. Vor allem verpasst man dabei viel zu viel. Von der Höhe der Berge übersieht man nämlich allzu leicht, wie viel Schönes die Ebene zu bieten hat. Der Alltag hat viel gemein mit einem gleichförmig und träge dahinströmenden Fluss. Und doch hält er an jedem Tag besondere Momente für uns bereit - Momente, die es manchmal durchaus mit den Höhepunkten im Jahr aufnehmen können.

Zu diesen besonderen Momenten gehören Begegnungen mit anderen Menschen - mit Familienmitgliedern, Freunden, Nachbarn oder gänzlich Fremden, denen wir zum ersten Mal begegnen, oder auch nur dieses eine Mal. Wie würden wir uns aufregen, wie lange im Voraus würden wir uns vorbereiten, wenn wir die Bundeskanzlerin treffen könnten, den Papst, Pep Guardiola oder Helene Fischer - um nur ein paar Berühmtheiten zu nennen. Was würden wir dafür tun, wenn wir einmal dem Menschen begegnen könnten, den wir so sehr verehren und bewundern. Wir würden diese Begegnung niemals vergessen, noch unseren Enkeln würden wir davon erzählen!
Sind denn aber unsere Eltern, unsere Kinder, unsere Nachbarn keine besonderen Menschen? Hätten sie es nicht auch verdient, dass man sich auf sie freut, dass man aufgeregt ist, wenn man ihnen begegnet? Wir haben uns daran gewöhnt, dass unsere Partnerin, unser Partner, dass unsere Kinder, unsere Eltern, unsere Nachbarn immer da sind. Wir haben uns so sehr daran gewöhnt, dass wir sie manchmal wie Möbelstücke behandeln; Inventar, das eben zu unserem Haushalt gehört. So sind wir nun einmal. Wir können nicht jeden Tag, jeden Augenblick diese Anspannung, diese Energie aufbringen, die wir einem ganz besonderen Menschen schenken würden.
Aber an und zu könnten wir es schon. Ab und zu könnten wir uns daran erinnern, dass es nicht selbstverständlich, sondern ein großes Glück ist, dass wir diese Partnerin, diesen Partner haben. Diese Eltern, diese Kinder, diese Nachbarinnen und Nachbarn. Ab und zu könnten wir ihnen das ruhig mal zeigen.

Als Christen glauben wir, dass Jesus uns in unseren Mitmenschen begegnet. Hier, im Gottesdienst, wenn wir als Gemeinde der Leib Christi sind. Beim Abendmahl, wenn Christus uns in Brot und Wein ganz nahe ist, mitten unter uns im Kreis vor dem Altar.
Christus begegnet uns auch in Menschen. Im wildfremden Menschen, den wir auf der Straße treffen. Den wir im Krankenhaus besuchen. Dem wir durch eine Spende helfen. Dem wir in einer schwierigen Lage beistehen. Den wir durch ein Lächeln, ein freundliches Wort aufmuntern. Dem wir sagen und zeigen, dass er bei uns willkommen ist. Denn Jesus sagt: “Was ihr einer oder einem meiner geringsten Schwestern und Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.”
An Weihnachten haben wir gehört und gesehen, was Jesus damit meint: das schutz- und hilflose Kind in der Krippe unterscheidet sich in nichts von den Neugeborenen überall auf der Welt. Es unterscheidet sich in nichts von dem Säugling, der wir einmal waren, und auch nicht vom Säugling, der im Gazastreifen geboren wird oder in Tel Aviv, im Asylbewerberheim, im Schaustellerwagen oder im Meininger Krankenhaus. Sie alle, wir alle sind Kinder Gottes, Gottes Kinder. Sie alle, wir alle verdienen Liebe, Respekt und Mitmenschlichkeit.

So kommt Jesus, das Kind in der Krippe, nicht nur an Weihnachten zu uns, nicht nur hier und jetzt, im Gottesdienst. Sondern auch und gerade dann, wenn wir es am wenigsten erwarten. Wenn wir nicht darauf eingestellt sind, wenn es ungelegen kommt, wenn es gerade gar nicht passt. Wir sind zu beglückwünschen, wenn wir in einem solchen Moment nicht auf dem Schlauch stehen, sondern die Gelegenheit erkennen und sie ergreifen. Die Gelegenheit, der Partnerin oder dem Partner, dem Kind, den Eltern, der Nachbarin oder der gänzlich Fremden zu zeigen, dass wir auf sie gewartet, dass wir sie erwartet haben. Wir sind zu beglückwünschen, weil diese Menschen uns ebenso beschenken werden wie der eigenartige Chef, von dem Jesus erzählt. Wohl nicht unbedingt mit einem Essen, bei dem sie uns bedienen. Eher mit etwas, das mindestens genauso schön ist und genauso gut tut: einem Lächeln.

Heute ist Silvester. Ein Höhepunkt im Jahr, an dem wir zurückblicken auf Gelungenes und auf verpasste Gelegenheiten. An dem wir gute Vorsätze fassen für's neue Jahr und manches anders oder besser machen wollen. Wie wäre es, wenn wir uns die Geschichte, die Jesus erzählt, zum Vorsatz für das kommende Jahr nähmen? Wie wäre es, wenn wir unsere Aufmerksamkeit, unsere Herzlichkeit, unsere Freundlichkeit nicht nur zu besonderen Anlässen an besondere Menschen verschenkten, sondern freigiebiger damit wären und sie auch im Alltag großzügig verteilten? Wir würden, ohne es zu wissen, Jesus eine große Freude machen. Und wir würden uns damit eine Freude machen. Denn das Lächeln, die Liebe, die Menschlichkeit und Freundlichkeit, die wir schenken, erhalten wir doppelt und dreifach zurück.

Amen.


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Die Predigt zum folgenden Neujahrstag steht (in etwas putzigem Layout) bei den GPI: 

Donnerstag, 24. Juli 2014

Glaubensweg

Predigt am 6. Sonntag nach Trinitatis, 27. Juli 2014, über 1.Petrus 2,2-10: 

Verlangt, wie die neugeborenen Kinder, nach der geistigen, reinen Milch, damit ihr durch sie zunehmt zum Heil, wenn ihr denn geschmeckt habt, wie freundlich der Herr ist. Zu ihm geht hin, dem lebendigen Stein, der zwar von den Menschen verworfen wurde, bei Gott aber erwählt und wertvoll ist, und lasst euch selbst als lebendige Steine zu einem geistigen Haus erbauen, zu einer heiligen Priesterschaft, um geistliche Opfer darzubringen, die Gott gefallen durch Jesus Christus. Denn es steht in der Schrift:
"Schau, ich lege in Zion einen auserwählten und wertvollen Eckstein, und wer an ihn glaubt, wird nicht zuschanden." Für euch, die glauben, hat er Wert. Für die nicht Glaubenden aber ist er "der Stein, den die Bauleute verworfen haben". Dieser wurde zum Eckstein und zum Stein des Anstoßes und zum Fels, durch den sie zu Fall kamen. Sie stoßen sich, weil sie dem Wort nicht gehorchen, wozu sie auch bestimmt sind. Ihr aber seid ein erwähltes Geschlecht, ein Königshaus, eine Priesterschaft, ein heiliges Volk, ein Volk zum Eigentum, damit ihr die Taten dessen verkündet, der euch aus der Finsternis in sein wunderbares Licht rief. Die ihr einst "Nicht-Volk" wart, jetzt aber Volk Gottes seid; die nicht Erbarmen fanden, jetzt aber Barmherzigkeit erlangten.
(Eigene Übersetzung)


Liebe Gemeinde,

verlangen - zunehmen - hingehen - sich erbauen lassen - Opfer bringen - verkünden. Wenn man die Verben aus dem Predigttext aneinanderreiht, ergibt sich ein sehr lebendiges Bild. 

Verlangen - zunehmen - hingehen - sich erbauen lassen - Opfer bringen - verkünden - das sieht aus wie eine große, ausladende Bewegung, wie ein Weg. 

Die Bewegung, die der Predigttext nachzeichnet, ist der Glaubensweg einer Christin, eines Christen. Lassen Sie uns in diesem Gottesdienst, wo wir über die Taufe und damit über unseren eigenen Lebensweg als Christin oder Christ nachdenken, der Glaubensbewegung folgen, die der Predigttext beschreibt. Wir werden uns an manches erinnern, das wir selbst erlebt haben; anderes, das wir bisher nicht sahen oder verstanden, mag dadurch vielleicht Gestalt gewinnen.


#verlangen

"Nach dir, Herr, verlanget mich", so beginnt der 25. Psalm. Und so beginnt auch die Glaubensbewegung einer Christin, eines Christen. Der Predigttext spricht davon, dass man ähnlich ungeduldig hungrig nach Gott sein soll wie Neugeborene nach der Brust ihrer Mutter. Wir können uns selbst nicht daran erinnern, wie wir als Säuglinge waren. Aber wer Kinder hat oder hatte, weiß, in wie kurzen Abständen sie in den ersten Monaten Tag und Nacht an die Brust gelegt werden wollen.

Wenn wir auf unser Glaubensleben zurückblicken: war da jemals ein so heftiges, dringendes Verlangen nach Gott? Sind wir nicht eher irgendwie "reingerutscht" in den Glauben? Als Säuglinge getauft, ohne dass es uns bewusst geworden wäre, ohne dass wir gefragt wurden, und dann in wechselnder Nähe und Distanz zur Kirche aufgewachsen. Irgendwann, irgendwie ist er uns wichtig geworden, der Glaube. Irgendwann, irgendwie haben wir gefühlt und innerlich bejaht, dass wir Christen sind. Aber Verlangen nach Gott - haben wir das je so intensiv empfunden?

"Da wohnt ein Sehnen tief in uns, o Gott, 
nach dir, dich zu seh'n, dir nah zu sein. 
Es ist ein Sehnen, ist einWunsch nach Glück, 
nach Liebe, wie nur du sie gibst", 

singt ein modernes Kirchenlied. Manchmal, da spüren wir ein solches Sehnen in uns.  Die Sehnsucht ist die Schwester des Verlangens. Die Sehnsucht, dass das doch nicht alles gewesen sein kann, dass da noch Leben ins Leben muss. "Unruhig ist unser Herz", sagt Augustinus, "bis es Ruhe findet ihr dir".
Diese Unruhe, diese Sehnsucht stehen, wie das Verlangen, am Anfang des Glaubens. Irgendwann empfindet man diese Sehnsucht nach "mehr", diese innere Unruhe. Irgendwann entdeckt man, dass Gott das Ziel der Sehnsucht ist, dass Gott Ruhe geben, das Verlangen stillen kann. Dann möchte man tatsächlich immer wieder zu ihm, mit ihm zu tun haben, seiner gewiss werden.

#zunehmen

Die Babys, so der Predigttext, nehmen von der Milch zu, die sie trinken. Unglaublich, wie schnell so ein kleines Wurm, das bei der Geburt noch in die Armbeuge passt, aus seinen Sachen herauswächst und bald schon groß und richtig schwer zu tragen ist. Als Christen nehmen wir im übertragenen Sinne zu - wir nehmen natürlich auch an Gewicht zu, was uns ärgert, aber darum geht es beim Glauben ausnahmsweise mal nicht. Die Milch, die wir in uns aufnehmen und die uns zunehmen lässt, ist das Wort Gottes. Es spricht uns an in Geschichten der Bibel, in den täglichen Losungen, im Vers eines Gesangbuchliedes, in einer Predigt. Manchmal stoßen wir auf Gottes Wort, wo wir gar nicht mit ihm rechnen, wo wir es nicht erwarten. Im Urlaub in den Bergen sehen wir das wunderschöne Panorama der Gipfel, und plötzlich kommen uns Worte in den Sinn: 

"Die Himmel erzählen die Ehre Gottes,
und die Feste verkündigt seiner Hände Werk.
Ein Tag sagt's dem andern,
und eine Nacht tut's kund der andern,
ohne Sprache und ohne Worte;
unhörbar ist ihre Stimme."
(Psalm 19,2-3)

In solchen Momenten fühlen wir uns Gott ganz nah. Etwas wächst in uns, wie eine Pflanze eine Wurzel treibt, die sie ernährt und durch die sie größer wird. So treiben auch wir Wurzeln, die uns immer tiefer im Glauben verankern, immer fester mit Gott verbinden; das ist das Zunehmen durch die Milch des Wort Gottes.

#hingehen

Wenn man oben in den Bergen seinem Gott ganz nahe ist, könnte man meinen, der Glaube sei eine einsame und innerliche Sache. Eine Sache zwischen mir und Gott allein, die keinen anderen etwas angeht. Aber so sehr wir den Glauben innerlich empfinden, und so glücklich uns das Gefühl machen kann, Gott nahe zu sein: der Glaube ist nichts, was ich für mich allein haben kann. Jesus hat zwar versprochen: "Ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende", aber bei uns, da ist Jesus, wo "zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind". Die Gemeinde ist der Ort, an dem wir Jesus begegnen. 
Und auch in den Mitmenschen begegnen wir ihm. Jesus hat gesagt: "Was ihr einem der geringsten unter meinen Schwestern und Brüdern getan habt, das habt ihr mir getan". Wir wissen nicht, in welchem der vielen Menschen, mit denen wir täglich zu tun haben, uns Jesus begegnet. Ist es die Verkäuferin an der Supermarktkasse? Der alte Herr, der mühsam am Stock die Straße überquert? Der Penner, der uns um Geld anschnorrt? Unsere Nachbarin, die schon wieder die Musik zu laut aufgedreht hat? Das Kind, dem wir morgens, von seinem schweren Ranzen gebeugt, auf seinem Schulweg begegnen? Wir können es nicht wissen. Und vor allem können wir uns den Menschen nicht aussuchen, in dem uns Jesus begegnen will. Meistens denken wir auch gar nicht daran, dass einer der vielen Menschen, an denen wir achtlos vorbeigehen, für uns Jesus hätte sein können. Nur manchmal, wenn merken, dass wir sie übersehen, dass wir vergessen haben, zu helfen, weil wir in Gedanken, in Eile waren oder anderes uns wichtiger schien, - manchmal erinnern wir uns an die Worte Jesu und daran, was wir versäumten. 
Deshalb gehört zum Glauben das Hingehen - hingehen zum Gottesdienst, wo Jesus mitten unter uns ist. Und hingehen zum Mitmenschen, in dem Jesus uns incognito begegnet.

#erbauen lassen

Wenn wir zum Gottesdienst, wenn wir zum Mitmenschen gehen, bauen wir Gemeinde. Das kommt uns nicht so vor, weil die Gemeinde ja quasi immer schon da ist. Wir gehören zu einer Kirchgemeinde, manche seit ihrer Geburt. Weil die Gemeinde immer schon da zu sein scheint, kommt uns gar nicht in den Sinn, dass sie nicht so beständig und unverrückbar ist, wie die aus Stein gebaute Kirche. Gemeinde ist lebendig. Sie besteht nicht aus Steinen, wie die Kirche, sondern aus Menschen, die der Predigttext lebendige Steine nennt. 
Aber nur, weil es Menschen gibt, gibt es noch lange keine Gemeinde. Gemeinde entsteht aus lebendigen Steinen: aus Menschen, die sich zur Gemeinde erbauen lassen und gemeinsam Gemeinde bauen. Das geschieht, wenn Menschen hingehen - in das Haus der Kirche, und zu anderen Menschen. Der lebendige Bau der Gemeinde ist das Gegenüber zum steinernen Bau der Kirche. Während es für eine Kirche fatal wäre, wenn ihre Steine in Bewegung gerieten, weil dann der ganze Bau einstürzen würde, ist es bei der Gemeinde geradezu Voraussetzung, das wir uns vom Wort Gottes bewegen lassen, dass wir aufeinander zu gehen. 

Wenn wir uns zu einer Gemeinde erbauen lassen, dann geschieht mit uns auch das andere, das in dem Wort "erbauen lassen" mitschwingt: wir werden "erbaut". Wir werden gestärkt, werden zuversichtlich, nehmen im Glauben zu dadurch, dass uns andere Menschen mit ihrem Glauben zum Vorbild werden. Dass sie mit uns einstimmen in die selben, alten Worte. Dass sie uns freundlich begegnen, mit und für uns beten. Wir tun dasselbe für sie. So ist Christus mitten unter uns lebendig, so wird durch uns für andere sichtbar, wie sehr Gott uns liebt.

#Opfer bringen

Hinsehen und hingehen zu anderen Menschen - das ist das Opfer, das wir als Christen bringen. Das hört und fühlt sich aber gar nicht wie ein Opfer an. Müssen Opfer nicht weh tun, müssen sie nicht mühsam sein und etwas kosten? Muss man sich als Christin, als Christ nicht etwas abverlangen? Glaube kann doch nicht so einfach, so billig zu haben sein!?
Wenn mir solche Gedanken durch den Kopf gehen, fällt mir ein Wort Jesu ein, und ich stelle mir vor, dass er ein wenig müde aussieht, wenn er es sagt: "Geht aber hin und lernt, was das heißt (Hosea 6,6): 'Ich habe Wohlgefallen an Barmherzigkeit und nicht am Opfer'." (Matthäus 9,13) 
Wir meinen, man müsse Opfer bringen - für die Familie, für die Beziehung, für die Ausbildung, für den Beruf, und dementsprechend auch für den Glauben. Unser Wirtschaftssystem funktioniert so, dass Opfer gebracht und gebraucht werden, damit wir unsere Kleidung, unser Essen, unsere Smartphones möglichst preiswert kaufen können. Dafür arbeiten Menschen in anderen Ländern für einen Lohn, der ihnen kaum zum Leben reicht. Dafür werden bei uns Schweine und Rinder in Massen "produziert".
Wir sind das Opfern gewohnt. Auch wenn wir keine Tiere mehr auf dem Altar schlachten und verbrennen, müssen Menschen und Tiere für unsere Art zu Leben leiden und sterben. Jesus aber hat sich selbst geopfert, damit wir endlich mit dem Opfern aufhören. Jesus hat ein für allemal Schluss gemacht mit der Opferei. Darum müssen wir uns selbst nicht mehr aufopfern. Wir dürfen und sollen Menschen sein mit ihren Unvollkommenheiten und Schwächen, mit ihren Grenzen und ihrem Bedürfnis, zuerst an sich zu denken, zuerst für sich zu sorgen. Das ist die Barmherzigkeit, die wir gefunden haben. Die andere Seite der Barmherzigkeit aber ist die Gerechtigkeit. Denn so, wie wir Barmherzigkeit erfahren haben und erfahren, sollen wir auch anderen gegenüber - Menschen und Tieren - barmherzig sein und sie nicht zu Opfern unseres Lebensstils machen.
Hinsehen und hingehen zu anderen Menschen, mit anderen Worten: Barmherzigkeit, ist das geistliche Opfer, das wir bringen. Barmherzigkeit und ihre Schwester, die Gerechtigkeit, sind nicht schwer - und doch schwerer, als wir glauben. Denn sie bedeuten, unseren Lebensstil zu ändern. Wir können nicht länger ignorieren, was unsere Art zu leben den Menschen in anderen Teilen der Welt, den Tieren und der Erde, auf der wir leben, antut.

#verkünden

Glaube ist also keine heimliche Sache, die man für sich im stillen Kämmerlein mit seinem Gott ausmacht. Glaube muss und will gelebt, gezeigt oder, wie der Predigttext sagt, verkündet werden. Das bedeutet nicht, dass wir uns alle auf dem Markt auf eine Apfelsinenkiste stellen und Predigten halten. Gottes Taten werden nicht allein durch Worte verkündet. Die Taten Gottes, von denen wir durch unser Leben erzählen, sind auch nicht die biblischen Geschichten von Wundern der Vergangenheit, wie dem brennenden Dornbusch oder die Teilung des Roten Meeres. Wir erfahren sie an uns selbst: Das Wunder, dass wir nach einer Enttäuschung, nach einer Krankheit oder trotz großer Verzweiflung Hoffnung gewinnen. Das Wunder, dass uns jemand, dem wir sehr weh getan haben, vergibt. Das Wunder, dass uns jemand liebt, dass wir für jemanden ein sehr wichtiger Mensch sind. Solche und andere Wunder sind Taten Gottes, die wir am eigenen Leib erfahren. Wir verkündigen sie, indem wir uns von ihnen bewegen lassen, anderen Menschen ebenso Gutes zu tun. Der Glaube ist die große, ausladende Bewegung, mit der die Liebe Menschen verbindet und umschließt. Diese Liebe, die wir von Gott erfahren, strahlen wir aus; mit ihr strahlen wir die Menschen an, die uns begegnen, sodass ihr Angesicht leuchtet wie unseres.

Verlangen - zunehmen - hingehen - sich erbauen lassen - Opfer bringen - verkünden. Wir sind in dieser Predigt einen Weg gegangen, der auch der Weg unseres Glaubens ist. Dieser Weg ist noch nicht zuende, im Gegenteil: jeden Tag neu stehen wir sozusagen mit geschnürtem Ranzen in der Türschwelle und gehen aufs Neue los. 
Lassen Sie uns gemeinsam gehen in der Gewissheit, dass wir nicht allein sind, sondern uns gegenseitig geleiten, stützen und ermutigen. 
Und dass der mit uns geht, der uns schon unser ganzes Leben begleitet und der bei uns sein wird, bis wir eines Tages bei ihm angekommen sein werden.


Amen.

Samstag, 19. Juli 2014

Biederkeit

Predigt am 5. Sonntag nach Trinitatis, 20. Juli 2014, über 2.Thessalonicher 3,1-5:

Des weiteren: betet für uns, liebe Geschwister, damit das Wort des Herrn flott vorankommt und Bewunderung findet, so wie bei euch. Und damit wir errettet werden von den unsittlichen und verkommenen Menschen. Denn der Glaube ist nicht jedermanns Sache.
Treu aber ist der Herr, der euch fest machen und bewahren wird vor dem Bösen. Wir vertrauen aber im Herrn auf euch, dass ihr tut, was wir anordnen, auch in Zukunft. Der Herr aber lenke eure Herzen auf die Liebe Gottes und auf die Erwartung Christi.


Liebe Gemeinde,

"spiel nicht mit den Schmuddelkindern,
sing nicht ihre Lieder,
geh doch in die Oberstadt,
mach's wie deine Brüder!"
(Franz-Josef Degenhardt, Spiel nicht mit den Schmuddelkindern)

Immer schon übten Menschen, die sich nicht an die Regeln und Normen der Gesellschaft hielten, einen besonderen Reiz aus - gerade auf Heranwachsende. Ob das früher die Sinti und Roma waren, die Zigeuner, die von Ort zu Ort zogen; oder die langhaarigen Hippies, die barfüßigen Blumenkinder; oder die Punks "mit Kniff im Ohr und rote Haar" (Wolf Biermann, Willkommenslied für Till). Die braven Bürger misstrauten ihnen, der Polizei waren sie verdächtig oder gar ein Dorn im Auge. Manche Eltern sorgten sich, ihr Kind könnte auch so ein Rebell werden, der sich gegen die Gesellschaft stellt, aus ihr aussteigt und ihr den Stinkefinger zeigt. Nicht so sehr, weil sie sich etwa ihres Kindes schämten. Sondern weil es zum Weiterkommen in unserer Gesellschaft nun einmal nötig ist, sich anzupassen, "anständig" zu sein und einen "ordentlichen Beruf" zu erlernen.
Wie müssen solchen geplagten Eltern die Worte des heutigen Predigttextes aus dem Herzen sprechen: "damit wir errettet werden von den unsittlichen und verkommenen Menschen. Denn der Glaube ist nicht jedermanns Sache".

Ja, diese Punks, die sich Bier und Zuckerwasser in die Haare gossen, damit sie wie Igelstacheln nach oben standen; die sich "No future" auf die Lederjacke malten - die schienen wirklich an nichts mehr zu glauben. In der Kirche waren sie nie zu sehen - für sie war Kirche geradezu der Inbegriff des Spießertums, das sie ablehnten und gegen das sie ankämpften.
Aber es war ausgerechnet die Kirche - hier, in Meiningen, jedenfalls -, die den Punks einen Raum anbot, ihnen eine Heimat gab. Das gefiel sicherlich nicht jedem Gemeindeglied, und noch weniger gefiel es dem Staat; der beobachtete Punks und Gemeinde ganz genau.
Warum machte die Kirche das? Warum ließ sie sich mit Menschen ein, die so offensichtlich gegen alles waren, wofür Kirche stand: Anstand und Moral; Bescheidenheit, die sich in zurückhaltendem Wesen äußert; Freundlichkeit, die nicht anecken und niemanden provozieren will. Ein stilles und genügsames Leben im Frieden mit den Nachbarn und der Obrigkeit.

Sind die Punks, sind die Menschen am Rand der Gesellschaft, die oft genug nicht freundlich von der Kirche denken und reden - sind das wirklich die Bösen, die der Predigttext meint und vor denen ein braver Christ sich hüten muss? Ist der Glaube tatsächlich nicht ihre Sache oder, andersherum gefragt: ist der Glaube tatsächlich so, dass er Menschen zu braven, biederen Bürgern erzieht?

"Der Glaube ist nicht jedermanns Sache". So, wie dieser Satz im Predigttext steht, in direktem Zusammenhang mit Unsittlichkeit und Verkommenheit, scheint es beim Glauben tatsächlich um Anstand und Sitte zu gehen. Dann wäre der Gläubige derjenige, der die Moral hoch hält, Unmoral dagegen wäre ein klares Zeichen von Unglauben. - So wurde der Glaube auch über Jahrhunderte gesehen und verstanden. Besonders die Obrigkeit hatte ein Interesse, dass ihre Untertanen den Glauben in dieser Weise verinnerlichten: als Wohlverhalten dem Staat und den Mitbürgern gegenüber, das nicht aufbegehrt und nicht aus der Reihe tanzt. Und das einen ordentlichen Abstand hält zu denjenigen, die sich nicht ein- und unterordnen können.

Heute hat sich vieles geändert - und dennoch tut sich Kirche bis heute schwer mit Menschen, die anders sind. Das zeigen die Debatten um die Segnung von gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaften oder um das Kirchenasyl. Nach wie vor haftet der Kirche ein Hauch von Biederkeit und Spießertum an. Und es gibt nicht wenige Christen, denen ist so ein bisschen Biederkeit und Spießertum gar nicht unrecht; denen wäre es lieber, Kirche kümmerte sich um ihre Leute, statt sich in Dinge einzumischen, die sie nichts angehen, und sich um Leute zu sorgen, die gar keine Christen sind. Denen wäre es lieber, Kirche hielte einen sicheren Abstand zu den Asylanten und Migranten, den Obdachlosen und Drogensüchtigen, den verwahrlosten Kindern, jugendlichen Müttern und verwirrten Alten.

Der Predigttext selbst, so fromm und bieder er daherkommt, zeichnet ein anderes Bild vom Glauben: "Der Herr aber lenke eure Herzen auf die Liebe Gottes und auf die Erwartung Christi". Glaube bedeutet *Herzenslenkung*, man könnte auch sagen: Manipulation. Aber nicht durch menschliche Schliche und Tricks; Gott selbst soll und wird die Herzen lenken; Gott soll uns fremdbestimmen, fernsteuern. Und zwar auf zwei Ziele hin. Das erste Ziel ist: die Liebe Gottes.

Die Liebe Gottes - was soll das sein? Ein ziemlich schwammiger Begriff, der für alles mögliche stehen kann. Schließlich meinte man früher auch: "Wer sein Kind liebt, der züchtigt es" - und empfand in perverser Verkehrung der Tatsachen Schicksalsschläge, Krankheit und Leid als Zeichen der Liebe Gottes, die sich eben darin zeige, dass er uns durch Leiden "züchtigt". Aber schon damals hätte man wissen können, dass Liebe und das Zufügen von Schmerz niemals zusammengehören- es ist schon schlimm genug, wenn man Liebeskummer, ein gebrochenes Herz erleben und erleiden muss. Man hätte es auch deshalb wissen können - wissen *müssen*, weil Jesus diese Liebe Gottes in einer Weise gepredigt und gelebt hat, dass gar kein Zweifel mehr daran bestehen kann, wie diese Liebe Gottes gemeint ist. Die Liebe Gottes ist nämlich eine Liebe, die den Menschen über das Gesetz stellt und notfalls eher eine Regel bricht, als einen Menschen zu brechen. 

Jesus hat oft Regeln gebrochen - vom Gebot der Sabbatheiligung, als er seine Jünger am Sabbat Ähren raufen ließ und als er am Sabbat Kranke heilte, bis hin zur Gotteslästerung, als er sich selbst zu Gottes Sohn machte. Jesus fand auch nichts dabei, zu den Schmuddelkindern zu gehen und mit ihnen öffentlich gesehen zu werden. Er ließ sich von einer Prostituierten die Füße waschen und küssen; er lud sich bei einem Gauner und Halsabschneider mit Namen Zachäus zum Essen ein. Jesus durchbrach die Regeln und Konventionen seiner Zeit, wenn sie der Liebe Gottes zuwider liefen, die er predigte. Und er predigte, dass diese Liebe Gottes allen Menschen gilt. Nicht nur den Frommen und Braven, sondern auch und besonders jenen, deren Sache der Glaube nicht ist, die nichts von Gott wissen oder die auf andere Weise glauben, als es in der Gesellschaft üblich und schicklich ist.

Folgen wir der Liebe Gottes, so, wie Jesus sie gelebt hat, dann gelangen wir immer wieder zu Menschen, die wenig oder selten Liebe erfahren, Menschen, die am Rand der Gesellschaft stehen. Menschen, die nicht beachtet werden, weil sie noch zu klein sind oder schon zu alt. Menschen, die aufgrund einer Behinderung nicht mit der Mehrheit mithalten können. Menschen, die anders aussehen, anders leben, anders lieben als die Mehrheit. Menschen, die Schuld auf sich geladen haben und auf diese Schuld festgenagelt werden. Die Liebe Gottes drängt uns dazu, diesen Menschen mit Respekt und Mitgefühl zu begegnen. Sie als Menschen *erster* Klasse anzusehen, als Mitmenschen. Sie drängt uns dazu, ihnen die Liebe zu erweisen, die Gott uns erweist, und ihnen zu zeigen, dass sie unter uns willkommen sind.

Das zweite, worauf der Herr unser Herz lenken will, ist die Erwartung Christi, die Parusie, wie sie mit einem Fachbegriff genannt wird. Christus wird wiederkommen, um, wie wir im Glaubensbekenntnis sprechen, "zu richten die Lebenden und die Toten". Und um sein Reich aufzurichten. Das Reich, von dem er schon zu Lebzeiten sagte, dass es nahe herbeigekommen sei.
Weil Jesus sein Reich aufrichtet, reden wir ihn als "Herr" an. Dieses "Herr" ist keine Höflichkeitsfloskel wie bei "Herr Dr. Klöbner". Dieses "Herr" meint auch nicht, dass wir unfreie Sklaven wären, die einem Sklavenhalter - eben: unserem Herrn - gehören, der mit uns und unserem Leben tun und lassen kann, was er will. Nein, "Herr" ist ein Titel - so wie "Kaiser, König, Edelmann", wie "Kanzlerin" oder "Bundespräsidentin". Christus ist das Staatsoberhaupt seines Reiches, deshalb *heißt* er "Herr". Und weil sein Reich von dieser Welt ist und wir schon mit einem Bein darin stehen, deshalb *nennen* wir ihn "Herr". Und darum, weil wir bereits Bürgerinnen und Bürger seines Reiches sind, haben die anderen sogenannten Herrn uns gar nichts zu sagen!

Diese Tatsache, dass wir, obwohl wir Bürger sind mit ihren Rechten und Pflichten, einem anderen Reich angehören, hat Christen zu allen Zeiten immer etwas aufmüpfig sein lassen. Es fiel ihnen schwer, sich anzupassen und unterzuordnen - besonders dann, wenn sie erkannten, dass die sogenannten Herrn Unrecht taten. Dass ihre Herrschaft ungerecht war, weil sie Menschen Leid zufügte. Dann haben sich Christen zwar kein Bier und Zucker ins Haar getan, um sich eine Stachelfrisur zu machen. Aber manche haben es gewagt, ein Stachel im Fleisch des Staates zu sein, haben versucht, dem Rad der Geschichte, das die sogenannten Herrn in Schwung bringen wollten, in die Speichen zu fallen. Nicht, weil sie gegen alles gewesen wären - ganz im Gegenteil: Sie glaubten an etwas Großes: an Gottes Reich.

Das Reich Gottes, das Jesus einst aufrichten wird und das bereits jetzt im Werden ist, ist ein besonderes Reich. Die Bilder, die die Bibel vom Reich Gottes zeichnet, erinnern an den Ruf der französischen Revolution: Freiheit, Gleichheit, Geschwisterlichkeit. Die Bibel spricht davon, dass Menschen Gerechtigkeit widerfährt. Dass sie keine Angst mehr vor dem Bösen haben müssen. Dass der Mensch nicht mehr des Menschen Wolf ist, sondern die Wölfe bei den Lämmern weiden und Gras fressen wie das liebe Vieh.

Das Reich Gottes bedeutet nicht Revolution, und es kommt auch nicht schneller, wenn wir Revolution machen. Es selbst *ist* die Revolution, denn es stürzt unser Leben um. Wenn wir meinen, es genüge, still zu halten und anständig zu sein, lenkt Gott unsere Herzen auf seine Liebe und auf die Erwartung Christi: Gott entzündet sie in Liebe zu unseren Mitmenschen und in der Hoffnung auf einen neuen Himmel und eine neue Erde. Wenn der Glaube unsere Herzen entzündet hat, brennen wir für die Sache Gottes. 
Dann kann es sein, dass es uns egal ist, wenn andere sagen:
"Spiel nicht mit den Schmuddelkindern".
Wir gehen trotzdem zu ihnen, reichen ihnen die Hand, lernen, ihre Lieder zu singen und tragen so einen Stein zum Bau des Reiches Gottes bei.

Amen.

Samstag, 21. Juni 2014

Das höchste Gebot

Predigt am 1. Sonntag nach Trinitatis, 22. Juni 2014, über 5. Mose 6,4-9:

"Höre, Israel, der Herr ist unser Gott, der Herr allein. Und du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all deiner Kraft. Und diese Worte, die ich dir heute gebiete, sollst du zu Herzen nehmen und sollst sie deinen Kindern einschärfen und davon reden, wenn du in deinem Haus sitzt oder unterwegs bist, wenn du dich niederlegst oder aufstehst. Und du sollst sie binden zum Zeichen auf deiner Hand, und sie sollen dir ein Merkzeichen zwischen deinen Augen sein, und du sollst sie schreiben auf die Pfosten deines Hauses und an die Tore."


Liebe Gemeine,

auf die Frage, was das höchste Gebot sei, antwortet Jesus: 
"Höre, Israel, der Herr ist unser Gott, der Herr allein. 
Und du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, 
von ganzer Seele und mit all deiner Kraft."

"Du sollst Gott lieben". Kann man Liebe befehlen? 
Schon, wenn man sie stellt, merkt man, wie unsinnig diese Frage ist. Liebe und Zwang passen überhaupt nicht zusammen. Liebe ist ein Geschenk, das man freiwillig gibt, aus vollem, überfließendem Herzen.
Stellen Sie sich vor, jemand träte vor Sie hin, hielte Ihnen quasi die Pistole vor die Brust und forderte Sie auf: "Du sollst mich lieben!" Wenn man in einer solch verrückten Situation nicht ängstlich oder verunsichert wäre, könnte man gar nicht anders, als über diese Aufforderung zu lachen.
Und doch - wenn man Liebesgedichte liest - solche, in denen der Dichter darüber klagt, dass seine Liebe nicht erwidert wird -, und wenn man sich an die Szenen erinnert, in denen man selbst einen "Korb bekam"; Momente, in denen die Liebe zurückgewiesen wurde, oder, wie es Erich Kästner so traurig formuliert, die Liebe "abhanden kam" - in solchen Situationen hätte man wohl selbst gern den anderen Menschen am Kragen gepackt und ihn beschworen: "Du sollst mich lieben!". 
Obwohl man weiß, dass niemand zur Liebe gezwungen werden kann - manchmal versucht man wider besseres Wissen, mit allen Mitteln, den geliebten Menschen zu halten, der dabei ist, sich abzuwenden. Nur, um hinterher um so schmerzhafter festzustellen, dass der Versuch vergeblich war.

Liebe lässt sich nicht befehlen, sie lässt sich nicht zwingen, sie lässt sich weder mit Geld noch mit guten Worten "erkaufen". - Dann aber wäre das Gebot: "Du sollst Gott lieben" ebenso unsinnig wie der Versuch, einen Menschen, der nicht lieben will, zur Liebe zu zwingen. Oder, anders herum gesagt: Dass es Menschen gibt, die Gott lieben - dass wir Gott lieben - oder, wenn Ihnen der Ausdruck "Liebe" vielleicht zu groß erscheint: dass Gott uns sehr viel bedeutet - das ist geradezu ein Wunder. Ein ebensolches Wunder wie die große, die wahre Liebe, die einem angeblich nur einmal im Leben begegnet. 

Ein Hinweis darauf, dass man Liebe zu Gott nicht befehlen kann, dass sie ein Wunder ist, dass einem einfach so widerfährt, könnte auch sein, dass wir vergleichsweise Wenige sind, die sich sonntäglich zum Gottesdienst zusammenfinden. Nicht, weil die anderen nicht wollten, weil sie zu faul wären oder nicht interessiert. Sondern weil ihnen dieses Wunder nicht widerfahren ist, das wir erlebt haben: das Wunder, dass wir Gott lieben, dass Gott uns sehr viel bedeutet.

Ist es etwas so Seltenes und Besonderes, dass ein Mensch die Liebe zu Gott entdeckt? - Sagen wir mal so: es ist nicht selbstverständlich. Aber doch auch nicht so außergewöhnlich oder schwierig, dass die Fähigkeit, Gott zu lieben, nur wenigen Auserwählten zuteil würde. Im Gegenteil: ich meine, dass jeder Mensch - zumindest jede und jeder Getaufte - in der Lage ist, Gott zu lieben.
Die Liebe ist ja gar nicht so selten, wie wir angesichts unserer manchmal enttäuschenden Erfahrungen mit dem Verlieben meinen. Wenn nicht etwas ganz schrecklich schief gegangen ist, lieben wir unsere Kinder und Enkelkinder. Ja, selbst einem fremden Baby gegenüber kann man gar nicht anders, als vor Liebe zu zerfließen, wenn es einen anlächelt. Wir lieben unsere Eltern und Großeltern, wie lieben unsere Geschwister - manchmal lieben wir sie sogar, obwohl sie uns sehr weh getan haben.
Die Liebe ist ein Gefühl, das uns sehr vertraut und nicht nur auf die Partnerin, den Partner oder unsere Familie beschränkt ist. Selbst Menschen, die uns fern stehen, so wie das fremde Baby, das uns anlächelt, können wir lieben. Jesus traut uns zu, unsere "Nächsten", also unsere Nachbarn und Mitmenschen zu lieben, ja, sogar unsere Feinde.

Bei der Nächstenliebe spürt man kein Kribbeln im Bauch; man bekommt keine feuchten Hände, wie beim ersten Verliebtsein. Aber auch die Liebe zu den Kindern, zu den Eltern ist nicht so - und trotzdem ist sie nicht geringer, nicht weniger wert als die Liebe zum Partner oder zur Partnerin.
Wenn wir beschreiben sollten, was diese Liebe ist, die wir gegenüber den Menschen, die wir lieben, empfinden - gegenüber der Partnerin oder dem Partner, den Kindern, den Eltern und Großeltern - könnte man sagen: Es ist ein Gefühl der Dankbarkeit. Dankbarkeit, dass sie für uns da sind, dass wir zu ihnen und sie zu uns gehören. Es ist die Freude darüber, dass sie die Menschen sind, die sie sind - die uns immer wieder überraschen, uns immer wieder neue Seiten sehen lassen. Und wir empfinden Glück, wenn sie uns ansehen und uns ein Lächeln schenken.

Dankbarkeit, Freude, Glück empfinden wir, wenn wir einen anderen Menschen lieben. Es sind Gefühle, die wir auch Gott gegenüber empfinden: Dankbarkeit, dass Gott uns ins Leben rief und für uns da ist, dass wir zu ihm gehören. Freude darüber, dass Gott uns so mag und haben will, wie wir sind. Glück, dass Gott uns ansieht und sein Angesicht dabei leuchtet, wie es im Segen heißt. Dass wir Dankbarkeit, Freude, Glück empfinden, wenn wir im Gottesdienst sind, wenn wir an Gott denken, zeigt: wir lieben Gott. Wir lieben Gott, weil wir wissen, dass Gott uns liebt, und wir deswegen Dankbarkeit, Freude und Glück empfinden.

Woher aber wissen wir das?
Woher wissen wir, dass unser Partner, unsere Partnerin uns liebt, dass unsere Kinder, unsere Eltern und Großeltern uns lieben? Oft genug machen wir Erfahrungen, die uns daran zweifeln lassen - wenn Kinder in die Pubertät kommen und sich mit ihren Eltern streiten, manchmal so sehr, dass böse Worte fallen. Wenn Eltern ihre Kinder nicht verstehen oder nicht für sie da sind, wenn sie sie brauchen, weil sie durch ihren Beruf, ihre Sorgen abgelenkt sind. Woher wissen wir, dass Eltern ihre Kinder, Kinder ihre Eltern trotz alledem über alles lieben?

Wir können es nicht wissen. So wenig man Liebe herbeireden, erkaufen oder erzwingen kann, so wenig kann man sie beweisen. - Liebe kann man aber spüren. Dankbarkeit, Freude, Glück sind die Signale, die uns zeigen, dass der andere uns liebt.
Oft deckt der Alltag diese Gefühle zu. - Dass wir für den anderen da sind, und was wir für den anderen tun, wird zur Selbstverständlichkeit, die der andere gar nicht mehr wahrnimmt. Er vergisst, dankbar zu sein. - Wenn man sich jeden Morgen ungewaschen und ungekämmt begegnet, wenn man den anderen immer wieder ungeschminkt sieht und erlebt, wie er seinen Frust, seinen Ärger zuhause ablädt, ist es manchmal schwer, Freude zu empfinden. - Und wenn es Reibereien oder gar Streit gibt, wenn einem die Macken und Eigenheiten des anderen auf die Nerven gehen - wo bleibt da das Glück?

Sehen Sie - dafür gibt es das Gebot "Du sollst Gott lieben". Das Gebot will uns nicht zur Liebe zwingen - das könnte es auch gar nicht. Sondern es will uns daran erinnern, die Liebe nicht zu vergessen. Die Liebe soll uns in Fleisch und Blut übergehen. Wir sollen sie im Herzen tragen - was damals nicht dasselbe meinte wie heute, wenn wir vom Herzen als Sitz der Liebe sprechen: das Herz war im Altertum, als man es noch nicht besser wusste, der Ort der Gedanken und des Willens. Also: die Liebe soll unser Denken und Wollen bestimmen. Aber auch das, was uns ausmacht, die Seele. Und wir sollen uns für die Liebe anstrengen und ins Zeug legen, weil wir an sie glauben - deshalb: mit aller Kraft.
Die Liebe soll unser Leben so bestimmen, dass wir sie immer vor Augen haben, dass sie die Grundlage unseres Handelns wird - darum soll sie ein Merkzeichen zwischen unseren Augen und auf unserer Hand sein. Die Liebe ist so grundlegend für unser Leben, dass sie nicht nur unser Handeln, sondern auch unser Reden bestimmen soll. Die Liebe soll ebenso Grundlage der Erziehung unserer Kinder wie unseres Verhaltens im Alltag sein.

Schön und gut, ich weiß also, dass und warum ich lieben soll. Aber damit weiß ich noch immer nicht, dass ich geliebt werde. Oder, besser gesagt - weil ich es ja nicht wissen kann - ich spüre diese Liebe nicht.
Dafür sind die Merkzeichen da. Die Tefillin, die Gebetsriemen, die  sich gläubige Jüdinnen und Juden beim Gebet an Stirn und Arm binden. Und die Mesusa, eine kleine Kapsel mit den Worten des "Höre, Israel", die am Türpfosten angebracht wird. Tefillin und Mesusa erinnern eine gläubige Jüdin immer wieder daran, dass und wie sehr Gott sein Volk liebt. Bei jedem Gebet, bei jedem Gang durch die Tür. 

Auch wir haben ein Merkzeichen. Manche tragen es an einer Kette um den Hals. Es ist so schlicht, dass es überall begegnen kann - oft unerwartet und unverhofft. Auch heute steht es uns vor Augen. Unser Merkzeichen ist das Kreuz. Es erinnert uns daran, wie sehr Gott auch uns liebt - so sehr, dass sein Sohn Leiden und Tod für uns auf sich genommen hat. Damit wir vor niemandem und nichts mehr Angst haben müssen. Denn wir wissen, dass Leben auf uns wartet - Leben nach dem Tod, und Leben vor dem Tod. Leben, das Jesus nicht durch überlegene Stärke oder Macht gewann, sondern durch das Vertrauen auf die ohnmächtige Macht der Liebe. Das Kreuz, ein Folterinstrument, das für uns zum Glaubens- und Hoffnungszeichen wurde, erinnert uns, so oft wir es ansehen, an die Liebe, die so hilflos und ohnmächtig zu sein scheint und doch die größte Macht ist, die es gibt. Weil Gott die Liebe ist.

Die Liebe hat eine so unglaubliche Macht, weil sie eine göttliche Kraft ist. Gott greift nicht in den Lauf der Welt ein und auch nicht in unser Leben, jedenfalls nicht so, wie wir es uns manchmal wünschen: mit starker Hand das böse Schicksal abwendend, mit eiserner Faust dreinschlagend, wenn Menschen nicht zum Frieden bereit sind. Gott ist die ohnmächtige Macht der Liebe, und manchmal ergreift diese Liebe Menschen, die dann alles auf eine Karte setzen und blind auf die Macht dieser Liebe vertrauen. Diese Liebe Gottes hat auch uns ergriffen. An einem Punkt in unserem Leben, an dem die meisten von uns noch gar nichts wissen oder wollen konnten, hat sie uns mit Beschlag belegt. Damals wurde uns das Zeichen des Kreuzes zwischen die Augen gemalt, das uns als Merkzeichen ein Leben lang daran erinnert, dass Gott uns liebt, was auch immer wir tun, denken oder sagen. Die Taufe lässt uns sicher sein, dass wir von Gott Geliebte sind. Das kann uns nichts und niemand nehmen.

Weil Gott uns liebt, sitzen wir quasi an der Quelle der Liebe. Es ist eine ganz wundersame Quelle, denn sie fließt um so stärker, je mehr man aus ihr schöpft. Je stärker wir die Liebe unser Leben bestimmen lassen und versuchen, allen Menschen mit der Liebe zu begegnen, mit der Gott uns liebt, desto stärker fühlen und wissen wir, dass wir von Gott Geliebte sind. 

"Du sollst Gott lieben" - das ist kein Gebot. Es ist die Antwort auf Gottes Liebe zu uns, die wir mit unserem Leben geben. Nicht mit Worten, sondern mit unserem Herzen, unserer Seele und mit all unserer Kraft.

Amen.

Freitag, 23. Mai 2014

Gott lässt mit sich reden

Predigt am Sonntag Rogate, 25. Mai 2014, über 2.Mose 32,7-14

Der Herr sprach aber zu Mose: Geh, steig hinab; denn dein Volk, das du aus Ägyptenland geführt hast, hat schändlich gehandelt. Sie sind schnell von dem Wege gewichen, den ich ihnen geboten habe. Sie haben sich ein gegossenes Kalb gemacht und haben's angebetet und ihm geopfert und gesagt: Das ist dein Gott, Israel, der dich aus Ägyptenland geführt hat. Und der Herr sprach zu Mose: Ich sehe, dass es ein halsstarriges Volk ist. Und nun lass mich, dass mein Zorn über sie entbrenne und sie vertilge; dafür will ich dich zum großen Volk machen. Mose aber flehte vor dem Herrn, seinem Gott, und sprach: Ach Herr, warum will dein Zorn entbrennen über dein Volk, das du mit großer Kraft und starker Hand aus Ägyptenland geführt hast? Warum sollen die Ägypter sagen: Er hat sie zu ihrem Unglück herausgeführt, dass er sie umbrächte im Gebirge und vertilgte sie von dem Erdboden? Kehre dich ab von deinem grimmigen Zorn und lass dich des Unheils gereuen, das du über dein Volk bringen willst. Gedenke an deine Knechte Abraham, Isaak und Israel, denen du bei dir selbst geschworen und verheißen hast: Ich will eure Nachkommen mehren wie die Sterne am Himmel, und dies ganze Land, das ich verheißen habe, will ich euren Nachkommen geben, und sie sollen es besitzen für ewig. Da gereute den Herrn das Unheil, das er seinem Volk zugedacht hatte.
(Luther 1984)


Liebe Gemeinde,

früher war es manchmal so: Wenn unsere Tochter etwas ganz besonders gut gemacht oder aus der Schule eine gute Note mit nach Hause gebracht hatte, dann war es "mein Kind". Wenn es aber Ärger gab oder sie nicht so wollte wir wir, dann war es jeweils "dein Kind" - je nachdem, wer sich über sie ärgerte. 
Sie kennen das sicherlich auch. Statt des Kindes kann es auch ein Haustier sein: "mein Hund", wenn er auf's Wort gehorcht oder ihm ein Kunststück gelungen ist, "dein Hund", wenn er Gassi geführt werden muss oder etwas ausgefressen hat.
Selbst mit Dingen machen wir das hin und wieder so: "mein Auto" ist es, wenn es fährt und sauber ist, "dein Auto", wenn es in die Werkstatt oder in die Waschanlage muss.
Allgemein kann man sagen: Wenn Menschen, Tiere, Dinge uns Freude machen, dann betonen wir gern, dass sie uns gehören, dass wir für sie verantwortlich sind. Wenn sie dagegen Ärger machen oder Probleme bereiten, dann betonen wir gern, dass es ja nicht meine, sondern deine sind; dass der Partner dafür verantwortlich ist und sich kümmern muss.

Etwas Ähnliches passiert im Predigttext in der Unterhaltung zwischen Moses und Gott.
Erinnern wir uns:
Moses war auf den Sinai, den Gottesberg, gestiegen, um dort die beiden Steintafeln mit den 10 Geboten von Gott zu erhalten. Doch so schnell, wie wir etwas einkaufen oder abholen, ging das nicht. Gott und Moses unterhielten sich ausführlich miteinander - so lange, dass die Israeliten sich zuerst wunderten, wo Moses blieb, dann sich Sorgen um ihn machten und es schließlich aufgaben, auf seine Rückkehr noch länger zu warten. Ihr "Kontaktmann" zu Gott kam nicht zurück. Wie sollten sie jetzt mit Gott in Verbindung treten? Würde Gott sie ohne Moses führen können? Besser war es doch, einen eigenen Gott vor Ort zu haben. Also bestimmten sie Aaaron, Moses' Bruder, dazu, ihnen ein Goldenes Stierbild zu machen, das in Zukunft an Gottes Stelle stehen sollte.

Gott war zornig darüber, dass Israel sich einen eigenen Gott gemacht und so schnell vergessen hatte, wem es die Rettung aus der Knechtschaft in Ägypten zu verdanken hatte. "Du sollst keine anderen Götter haben neben mir" ist das erste der 10 Gebote, die Moses vom Gottesberg mitbringen sollte.
Gott ist zornig und enttäuscht über sein Volk. Da passiert etwas, das wir aus unserem Alltag kennen. Gott sagt zu Moses: "dein Volk, das du aus Ägyptenland geführt hast, hat schändlich gehandelt."
Sonst wird überall in der Bibel betont, dass Israel Gottes Volk ist, das er aus der Knechtschaft in Ägypten befreite. Hier aber verhält sich Gott Moses gegenüber wie eine Mutter oder ein Vater, der sich über sein Kind ärgert und zu seinem Partner sagt: "Kümmere du dich darum, schließlich ist es dein Kind!"

Wenn ein Partner dem anderen so die Verantwortung für das Kind, den Hund oder das Auto zuschiebt, entsteht manchmal Streit, wenn der andere zurückgibt: "Warum ich? Es ist auch dein Kind!", und beide darüber debattieren, wer "schuld" ist oder wer an der Reihe ist, sich zu kümmern.
Meistens aber hat sich eine gute Familie so eingespielt, dass der eine Partei für das Kind ergreift, wenn der andere sich ärgert. Nicht so, dass er dem Partner offen widerspricht. Aber wenn Vater schimpft, stellt sich die Mutter hinter das Kind, drückt es an sich, und das Kind weiß: Mutter steht hinter mir, auch wenn Vater gerade gegen mich ist. Oder wenn Mutter die Türen knallt, zwinkern Vater und Kind sich zu, als wollten sie sagen: "Ist nicht so schlimm, das gibt sich wieder."
In einer guten Familie ergreift der eine Partei, wenn der andere sich über das Kind ärgert. Nicht, um dem Partner in den Rücken zu fallen, seine Erziehung zu torpedieren oder ihn zu verletzen. Sondern weil beide ihr Kind über alles lieben und wissen, dass ihr Kind es braucht, Grenzen aufgezeigt zu bekommen, ein Nein zu hören, den Zorn und die Strafe auszuhalten, wenn es einen Fehler gemacht hat. Ebenso braucht es die Gewissheit, dass die Liebe seiner Eltern größer ist als aller Ärger, und dass selbst der größte Wutausbruch nicht bedeutet, dass diese Liebe verloren ist. Dazu verbündet sich der andere Elternteil mit dem Kind und sagt damit: Wir stehen hinter dir und haben dich lieb.

Etwas Ähnliches passiert zwischen Gott und Moses. Moses ergreift Partei für das Volk Israel. Er spricht Gott nicht seinen Zorn und seine Enttäuschung ab. Aber er erinnert ihn auch daran, was er für Israel getan hat, wie sehr er sein Volk liebt und welche Zukunft er ihm versprochen hat. Und so, wie Mutter oder Vater sich von ihrer Partnerin beschwichtigen lassen, so lässt Gott sich bei allem berechtigten Zorn an seine Liebe zu Israel, seine Verantwortung und sein Versprechen erinnern. Moses lenkt Gottes Blick zurück auf Israel, indem er ihm sagt, dass es sein Volk ist, das er aus Ägypten befreit hat.

So weit, so gut - aber was hat das mit dem Beten, dem Motto dieses Sonntages, zu tun?
Auch das Beten geschieht in einer Beziehung. Und wie das Eintreten für den, der einen Fehler gemacht hat, die Beziehung und das Gespräch aufrecht erhält, so tritt auch im Gebet Gott für den ein, der einen Fehler gemacht hat und hilft uns so, die Beziehung zu unseren Mitmenschen oder zu uns selbst nicht zu verlieren, mit den Mitmenschen und mit uns selbst in Kontakt und im Gespräch zu bleiben.

Wenn uns ein anderer enttäuscht oder verletzt hat, sind wir zu recht wütend darüber, und dürfen das auch sein und sagen. In den Psalmen, die ja auch Gebete sind, finden wir viele Beispiele für solche Wutausbrüche - bis dahin, dass der Psalmbeter seinen Feinden eine Krankheit an den Hals wünscht, oder schlimmeres. Aber wenn wir mitten am Fluchen und Schimpfen sind, meldet sich eine leise Stimme, die uns daran erinnert, dass der andere, den wir in Grund und Boden verdammen, ein Mensch ist. Ein Mensch, den Gott über alle Maßen liebt, genau wie uns. Vielleicht erkennen wir dann, dass es nicht ums Rechthaben oder Recht behalten geht, sondern um Barmherzigkeit und Liebe.

Das gilt auch für uns selbst.
Wenn wir uns schuldig fühlen, wenn wir von uns selbst enttäuscht oder zornig auf uns sind, meldet sich eine leise Stimme, die uns daran erinnert, dass wir Menschen sind. Menschen, die Gott über alle Maßen liebt. Vielleicht erkennen wir dann, dass es Gott nicht ums Rechthaben oder Recht behalten geht, sondern um Barmherzigkeit und Liebe.

Nach dem berechtigten Zorn über meinen Gegner kommt die Reue darüber, dass ich ihm die Pest an den Hals gewünscht habe.
Nach der Enttäuschung über mich selbst kommt die Reue darüber, dass ich mit mir selbst ungeduldig bin, mir selbst nicht vergeben und mich selbst nicht so lieben kann, wie Gott micht liebt und mir vergibt.

Die leise Stimme meldet sich aber nicht von selbst.
Sie spricht zu uns, wenn wir mit Gott im Gespräch bleiben.
Gott, das zeigt uns die heutige Geschichte, lässt mit sich reden. Ebenso möchte er, dass wir mit uns reden lassen. Dass wir mit unseren Mitmenschen und mit uns selbst im Gespräch bleiben. Das gelingt uns, wenn wir Gott ein Wörtchen mitreden lassen. Wenn wir auf seine leise Stimme zu hören versuchen, die uns an seine Liebe erinnert.

Das ist: Beten. Es geschieht nicht nur in der Kirche. Nicht nur, wenn wir uns still hinsetzen und die Hände falten. Es gibt so viele Arten, auf Gottes leise Stimme zu hören, wie es Menschen gibt; jede und jeder hat oder findet seine oder ihre eigene. Alles, was man dazu braucht ist, dass wir uns ab und zu daran erinnern lassen, wie sehr Gott uns und jeden Menschen liebt.
Wenn wir versuchen, dass zu begreifen und uns zu Herzen zu nehmen, geht das Beten ganz von allein.
Amen.