Mittwoch, 30. Dezember 2015

Ihr Horoskop für 2016

Predigt am Altjahrsabend, 31.12.2015, über Römer 8,31b-39:

Wenn Gott für uns ist, wer ist dann noch gegen uns? Er hat ja seinen eigenen Sohn nicht verschont, sondern ihn für uns alle dem Tod übergeben. Wir könnte er uns da nicht mit ihm alles schenken?
Wer will die Erwählten Gottes anklagen? - Gott rechtfertigt.
Wer verurteilt? - Christus Jesus, der gestorben ist, vielmehr, der auferweckt ist, der zur Rechten Gottes ist, der tritt für uns ein.
Wer will uns trennen von der Liebe Christi? Bedrängnis oder Ausweglosigkeit oder Verfolgung oder Hunger oder Blöße oder Gefahr oder Bedrohung durch Waffen? Wie geschrieben steht:
"Deinetwegen schweben wir den ganzen Tag hindurch in Lebensgefahr.
Wir werden als Schlachtvieh betrachtet." -
Aber all diese Widrigkeiten meistern wir gänzend durch den, der uns liebt.
Denn ich weiß, dass weder Tod noch Leben, weder Engel noch Obrigkeiten, weder Gegenwärtiges, noch Zukünftiges, noch überirdische Wesen, weder Hochstand, noch Tiefstand der Gestirne, noch eine andere Kreatur, uns trennen kann von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserm Herrn.
(Eigene Übersetzung)

Liebe Schwestern und Brüder,

haben Sie schon Ihr Horoskop für 2016 gelesen? Was das neue Jahr wohl bringen wird? Hoffentlich nur Gutes!
Im Supermarkt konnte man sich zu Silvester Glückssymbole aus Blei kaufen, die man heute Abend über der Kerzenflamme in einem Löffel schmilzt. Wenn man sie anschließend in eine Schüssel mit Wasser gießt, ergeben sich bei einigem Glück Figuren, die etwas über das kommende Jahr verraten.

Natürlich sind wir nicht abergläubisch! Wir würden nie eine Entscheidung vom Ausgang des Bleigießens oder vom Horoskop in der Zeitung abhängig machen! Und trotzdem ist man neugierig, was wohl drinsteht im Horoskop, hält alle Jahre wieder geduldig den Löffel über die Kerzenflamme, gespannt, was wohl diesmal herauskommen wird.

II
Auch Paulus stellt uns ein Horoskop, sozusagen. Was er uns vorhersagt, klingt aber gar nicht erfreulich: Bedrängnis, Ausweglosigkeit, Verfolgung, Hunger, Blöße, Gefahr und Bedrohung durch Waffen. Das waren die alltäglichen Bedrohungen der Christinnen und Christen zur Zeit des Paulus. Als Christ war man damals ein Geächteter, ein Staatsfeind. So wie zu Paulus' Zeiten die Christen, so mag sich heute ein Muslim in den Vereinigten Staaten fühlen, oder auch in unserem Land.

Die Erfahrung, jeden Tag in Lebensgefahr zu schweben, machte aber schon der Beter des 44. Psalms, den Paulus zitiert. Er machte sie lange vor den ersten Christinnen und Christen. Es sind also nicht die politischen Umstände, die einen Gläubigen in Gefahr bringen; es ist der Glaube selbst: "Deinetwegen schweben wir den ganzen Tag hindurch in Lebensgefahr", betet der Psalmist.

III
In unseren Breiten befindet man sich als Christin oder Christ nicht in Lebensgefahr. Die schlimmste Gefahr, die einem als Gläubigen droht ist die, sich lächerlich zu machen; nicht für voll genommen zu werden, weil man an einen Gott glaubt, den es doch gar nicht gibt! Die moderne Gesellschaft hat Gott abgeschafft; sie kommt bestens ohne ihn aus. Sie befindet sich nicht einmal mehr in Gegnerschaft zum Glauben. Die Mehrheit vertritt keinen Atheismus, der den schlimmen Irrtum des Gottesglaubens, das mittelalterliche Weltbild der Kirche bekämpfen will. Gott und der Glaube sind für die meisten Menschen schlicht bedeutungslos; sie bemerken nicht einmal mehr, dass ihnen Gott fehlt.

Das Horoskop, das Paulus stellt: Bedrängnis, Ausweglosigkeit, Verfolgung, Hunger, Blöße, Gefahr und Bedrohung durch Waffen, gilt zur Zeit nicht uns. Die erleben es am eigenen Leib, die aus Kriegs- und Krisengebieten zu uns geflohen sind. Durch ihr Schicksal wird uns bewusst, wie gefährdet und zerbrechlich auch unser Glück, unser Wohlstand sind. Ihr Schicksal erinnert uns an die Zeit, in der auch unser Land ein Kriegs- und Krisengebiet war. Die meisten von uns kennen diese Zeit nur aus Erzählungen und aus dem Geschichtsunterricht. Aber es hat sie gegeben, und an den Flüchtenden sehen wir, dass der Krieg leider kein Märchen aus uralter Zeit ist.

Unser Glück ist zerbrechlich. Daran werden wir auch im kommenden Jahr erinnert werden - durch die Nachricht vom Tod einer Nachbarin, eines Verwandten oder eines geliebten Menschen. Durch Schicksalsschläge in der eigenen Familie. Durch den eigenen Körper, der schmerzt und uns Sorgen macht.

IV
Wenn Paulus den 44. Psalm zitiert: "Deinetwegen schweben wir den ganzen Tag hindurch in Lebensgefahr", dann will er damit sagen, dass es das Schicksal der Gläubigen ist, in Widerspruch und im Gegensatz zur Welt zu sein. Der Glaube an sich widerspricht der Welt, weil er ihr eine andere Wirklichkeit entgegen hält, die für den Glaubenden sogar wirklicher ist als das, was man sehen und mit Händen greifen kann.

Solange sich die Welt für den Glauben nicht interessiert, solange er ihr gleichgültig ist, haben die Glaubenden nichts zu befürchten. Es kann aber jederzeit Situationen geben, die uns in Widerspruch zur Welt bringen - z.B., wenn es darum geht, Flüchtlingen zu helfen, was nicht alle Menschen in Deutschland befürworten. Dann kann es sein, dass man selbst angegriffen wird. Wir suchen solche Situationen nicht, aber manchmal gebietet das Gewissen, anders zu handeln als die Mehrheit. Es sind diese Situationen, wegen derer wir im Vaterunser beten: "führe uns nicht in Versuchung".

V
Solche Situationen treten unweigerlich ein. Dazu muss man nicht als Missionarin zu den Heiden gehen, dazu braucht man sich nicht mit Neonazis anzulegen. Es genügt, vor die Haustür zu treten und den Mitschülern oder den Nachbarn zu begegnen. Sobald wir unsere eigenen vier Wände verlassen, geraten wir in Situationen, die unseren Glauben herausfordern: 
Stehen wir dem bei, der von den anderen gemobbt wird? Melden wir uns, wenn wir meinen, jemand wird vom Lehrer ungerecht beurteilt, auch wenn wir sie nicht mögen und finden, es geschieht ihr ganz recht?
Lassen wir uns mit der Nachbarin sehen, mit der niemand etwas zu tun haben will? Widersprechen wir dem Gerücht, das hinter dem Rücken eines Menschen erzählt wird, oder geben wir es zumindest nicht weiter?

VI
Paulus traut uns zu, dass wir dazu in der Lage sind: "Alle diese Widrigkeiten meistern wir glänzend", prophezeit er uns für 2016.
Wir meistern sie, weil wir geliebt werden.

Natürlich werden wir geliebt: Von unseren Eltern. Von unserer Partnerin, unserem Partner. Von unseren Kindern. Aber diese Liebe hat einen Makel: Auch, wenn wir es uns nicht vorstellen können, kann es sein, dass diese Liebe abhanden kommt, aufhört: 
Paare zerstreiten sich untereinander so sehr, dass die Beziehung zerbricht. 
Kinder verlassen das Elternhaus im Zorn und brechen alle Brücken hinter sich ab. 
Geschwister sprechen nicht mehr miteinander.
Manchmal heilt die zerbrochene Liebe. Aber es bleibt immer eine schmerzende Narbe zurück.

Gottes Liebe zu uns dagegen hört niemals auf. Nicht einmal, wenn wir uns im Zorn von Gott abwenden, wenn wir nichts mehr von Gott und dem Glauben wissen wollen. Wir können nichts tun, was Gottes Liebe zu uns beenden könnte. Auch, wenn wir meinen, wir hätten diese Liebe nicht verdient, Gott liebt uns dennoch. Denn Gott liebt uns nicht, wenn und weil wir etwas geleistet hätten, besonders fromm gewesen wären, es zu etwas gebracht hätten. Gott liebt uns seit unserer Geburt, als wir noch gar nichts geben konnten und trotzdem die allerliebenswertesten Geschöpfe waren, die man sich vorstellen kann.

VII
Trotz seiner düsteren Prognosen hat Gott für 2016 eine gute Nachricht für uns: Auch 2016 sind und bleiben wir von Gott geliebt. Auch 2016 haben wir diese Liebe im Rücken, die nichts uns niemand uns nehmen kann.

Das gibt uns Kraft, das macht uns Mut, den Schritt über die Schwelle ins neue Jahr zu wagen und es mit den Problemen und Schwierigkeiten aufzunehmen, die es sicher bringen wird. Denn wir wissen: Wir werden sie meistern. Nicht nur irgendwie, nicht nur gerade so eben. Sondern gänzend.
Amen.

Samstag, 26. Dezember 2015

An Engel glauben?!

Predigt am 2. Weihnachtstag, 26.12.2015, über Hebräer 1,1-6:

Die Predigt verdankt ihren Hauptgedanken der Predigt "Über alle Engel" von Manfred Josuttis, gehalten am 9.5.1982, veröffentlicht in: ders., Über alle Engel. Politische Predigten zum Hebräerbrief, München (Kaiser), 1990, S. 11-14.

Nachdem Gott früher vielgestaltig und mannigfaltig durch die Propheten zu den Vätern gesprochen hatte, sprach er am Ende dieser Tage zu uns durch den Sohn, den er zum Universalerben eingesetzt hat, durch den er auch die Welt geschaffen hat.
Er ist ein Abglanz seiner Herrlichkeit,
ein Abdruck seines Wesens;
er trägt das All durch sein Machtwort;
er reinigt von den Sünden;
er hat sich zur Rechten der Majestät im Himmel gesetzt;
er wurde so viel größer als die Engel,
wie der Name, der ihm verliehen wurde, sich von dem ihren unterscheidet.
Denn zu welchem Engel hat Gott jemals gesagt:
"Du bist mein Sohn,
heute habe ich dich gezeugt" ?
Und an anderer Stelle:
"Ich werde sein Vater sein,
und er wird mein Sohn sein" ?
Wenn er aber den Erstgeborenen wieder in die Welt einführen wird, spricht Gott:
"Und alle Engel Gottes sollen ihn anbeten".
(Eigene Übersetzung)

Liebe Schwestern und Brüder,

nun flattern sie wieder mit ihren kleinen Flügelchen, über der Krippe, am Weihnachtsbaum, auf Weihnachtskarten oder als Kerzenständer, allgegenwärtig in diesen Tagen: die Engel. Längst hat sich Rudolf Otto Wiemers Einsicht durchgesetzt, dass es nicht Männer mit Flügeln sein müssen, die Engel. Sie sind emanzipiert: es gibt inzwischen auch Engelinnen. Ob mit luftigem Leibchen, das den nackten Po gerade noch bedeckt, als nackte Putte, oder fast nur noch aus Kopf und Flügeln bestehend: vielgestaltig und mannigfaltig kommen sie daher. Und harmlos - wer würde sich vor solch einem süßen Engelchen fürchten? - Man versteht nicht, warum sowohl der Engel Gabriel, als er Maria die Schwangerschaft ankündigt, als auch die Engel, die den Hirten auf dem Felde die gute Nachricht von der Geburt des Gottessohnes bringen, ihre Hörer erschrecken und sie deshalb zuerst einmal beschwichtigen müssen: "Fürchtet euch nicht!"

Man versteht den Schrecken jedoch, wenn man sich die biblischen Schilderungen der Engel anschaut: da kann einen schon das Grausen überkommen. Zum Beispiel gibt es die Cherubim mit dem flammenden Schwert, die den Eingang zum Paradies bewachen - und die, wie alle Türsteher, allein durch ihr Äußeres deutlich machen sollen: "Du kommst hier nit rein". 
Da ist der Engel mit dem Schwert, der Bileam den Weg versperrt, aber nur von seiner Eselin gesehen wird, die ihm durch ihren Starrsinn das Leben rettet. 
Da ist der Todesengel, der in der Nacht vor dem Auszug des Volkes Israel aus der Knechtschaft durch die Straßen geht und jeden Erstgeborenen Ägypter tötet. 
Und da sind die Engel der Apokalypse, die ein katastrophales Inferno entfachen, als sie ihre Posaunen blasen. 
Sieht man sich diese biblischen Schilderungen von Engeln an, versteht man, warum der Engel sie erst einmal beschwichtigen musste, als er Maria und den Hirten gegenübertrat. Und kann Rainer Maria Rilke nur zustimmen: "Ein jeder Engel ist schrecklich"

II
Unser Verhältnis zu Engeln ist zwiespältig. Das liegt nicht daran, dass sie auf der einen Seite so niedlich und auf der anderen so schrecklich sind. Sondern daran, dass wir nicht wissen, ob wir an sie glauben sollen. Sie sind gerade jetzt allgegenwärtig, aber das muss ja nicht heißen, dass es sie wirklich gibt - der Weihnachtsmann ist jetzt ja auch allgegenwärtig. 
Andererseits tröstet uns die Vorstellung vom Schutzengel, der über den Menschen wacht, die wir lieben. Und wer schmölze nicht dahin bei Humperdincks Abendsegen aus der Oper "Hänsel und Gretel": 
"Abends, wenn ich schlafen geh, 
vierzehn Engel um mich stehn: 
zwei zu meinen Häupten, 
zwei zu meinen Füßen, 
zwei zu meiner Rechten, 
zwei zu meiner Linken, 
zweie die mich decken, 
zweie die wecken, 
zweie die mich weisen zu des Himmels Paradeisen"
Wer wollte nicht glauben, dass es so ist - besonders dann, wenn sich zwei kleine Kinder im Wald verlaufen haben?
Und wiederum wissen wir nur zu gut, dass kein Engel kleinen Kindern beisteht, die mutterseelenallein draußen sind. Dass kein Schutzengel für uns einspringt, wenn wir nur einen Moment nicht hinsehen, während unser Kind mit Messer, Gabel, Schere, Licht hantiert …

Das kann doch nur bedeuten: Es gibt sie nicht, die Engel. Aber so ganz mag man mit dieser Vorstellung von den vierzehn Engeln nicht brechen, denn vielleicht ist ja doch was dran, und es kann ja auch nichts schaden … Daher kommt unser zwiespältiges Verhältnis zu den Engeln.

III
Dass wir trotz aller Widersprüche an der Vorstellung von den Engeln festhalten, hat einen doppelten Grund: 
zum einen ist es der Wunsch, der Glaube an den unsichtbaren Gott möge etwas Handgreifliches haben. "Du sollst dir kein Bildnis und kein Gleichnis machen", heißt es zwar im zweiten Gebot, und daran halten wir uns auch, so gut wir können - obwohl Gott für uns immer diese auffallend große Ähnlichkeit mit dem Weihnachtsmann haben wird. Aber von seinen Dienern, den Engeln, darf man sich ungestraft Bilder machen. Sie stehen an der Grenze zwischen unserer Wirklichkeit und der Welt des Glaubens, als Wächter und als Vermittler. Indem wir sie uns ausmalen; indem wir Engelsfiguren aufstellen, schaffen wir sozusagen ein Portal in diese andere Wirklichkeit; ist der Himmel uns ein bisschen näher; fällt es uns etwas leichter, zu glauben.

Zum anderen steht hinter der Vorstellung vom Engel die Sehnsucht nach einem machtvollen Eingreifen Gottes. In der Bibel wird unzählige Male davon berichtet, wie Gott den Lauf der Welt und das Schicksal von Menschen verändert - von der Sintflut, die alles Leben auf der Welt auslöscht - mit Ausnahme einiger weniger Auserwählter -, über den Auszug aus Ägypten, als Gott für das Volk Israel das Schilfmeer zerteilt und es über den nachfolgenden ägyptischen Truppen wieder zusammenschlagen lässt, bis zum unscheinbaren Brot, das Elia unter dem Wacholder in der Wüste findet und von dem man nicht weiß, ob es eine Hirtin oder ein Engel dort für ihn hingelegt hat …

Solange man an Engel glaubt, hält man sich zumindest die Möglichkeit offen, dass Gott auch in unser Leben eingreifen könnte. Es ist zwar unwahrscheinlich, dass er es tun wird, aber kann man es wissen? Deshalb wagt man es nicht, die Engel ganz und gar ins Reich der Märchen zu verbannen. Denn damit würde man gleichzeitig auch eingestehen, dass man nicht mehr mit einem Eingreifen Gottes rechnet - und wer weiß, ob man das nicht eines Tages bereut?

IV
Auch der Hebräerbrief geht nicht so weit, die Existenz von Engeln ganz und gar zu leugnen. Im Gegenteil: Weil sie in der Bibel stehen, muss es sie geben. Doch mit der Geburt Jesu ist etwas geschehen, was die Engel unwiderruflich in die zweite Riege verbannt hat. Jesu Geburt, so könnte man sagen, ist schuld daran, dass die Engel von himmlischen Kriegern, die Angst und Schrecken verbreiteten, zu kleinen, harmlosen Flattermännern und -frauen zusammenschnurrten, die niemandem mehr einen Schrecken einjagen. 

Gott hat seine Politik geändert. Das kommt selbst bei Gott ab und an vor. Die Sintflut lässt er über die Erde hereinbrechen, weil er sich über seine Schöpfung so sehr ärgert, dass er sie wieder rückgängig machen und alles ins Chaos stürzen will. Nach der Sintflut reut ihn, was er getan hat, und er schwört, die Erde nie wieder zu verwüsten. 
Mit der Geburt Jesu ändert Gott noch einmal etwas ganz Entscheidendes: Gott verzichtet auf Gewalt, auf jede ihrer Formen. Darum nimmt Gott die gewaltlose Gestalt schlechthin an: Gott wird ein Baby, das dazu noch in ärmlichen Verhältnissen zur Welt kommt.

Jesus wird später lehren, dass man auch die linke Wange hinhalten soll, wenn man auf die rechte geschlagen wird. Er wird zwar voller Zorn die Tische der Händler im Tempel umwerfen und die Wechsler mit der Peitsche aus dem Tempel jagen, aber als die Jünger seine Verhaftung verhindern wollen, verbietet er es ihnen. Ohne Gegenwehr geht er seinem Tod entgegen, um damit die Spirale der Gewalt zum ersten Mal und zugleich ein für allemal außer Kraft zu setzen.

V
In Jesus hat Gott, wenn man so will, der Gewalt abgeschworen und auf eine andere, eine größere Macht gesetzt: auf die Liebe. Der Nachteil dieser Macht ist, dass sie ohnmächtig ist. Mit Liebe lässt sich Gewalt nicht aufhalten; sie ist machtlos dagegen. Wie eine Sandburg, so spielerisch leicht kann man die Liebe zerstören. Alles Schöne ist so leicht zu zerstören - Bücher, Bilder, Noten sind aus Papier; man kann sie verbrennen oder einfach in den Müll werfen. Blüten verwelken, wenn man sie abschneidet; Musikinstrumente sind so zerbrechlich, dass man sie mit wenigen Handgriffen außer Betrieb setzen kann. 
Aber die Liebe ist es, die uns zu Menschen macht. Wir unterscheiden uns dadurch vom Tier, dass wir Schönes schaffen und uns daran freuen können - und nicht dadurch, dass wir Tiere und uns selbst am effektivsten von allen Lebewesen töten, ja, sogar unsere eigene Erde unbewohnbar machen können. Was das Leben lebenswert macht, ist nicht das Gefühl, dass ich der Stärkste bin, so dass alle anderen Angst vor mir haben, sondern die Schönheit, die ich erlebe und vielleicht sogar selbst schaffe; die Liebe, die ich gebe und empfange.
Wenn Jesus alles auf eine Karte, auf die Liebe, setzt, baut er darauf, dass die Schönheit stärker ist als die hässliche Fratze der Rohheit; dass die ohnmächtige Liebe der einschüchternden Gewalt die Stirn bieten kann; dass Kultur die Barbarei besiegt.

VI
Terroristen versuchen, mit Selbstmordattentaten, Bombenanschlägen und Angriffen auf unbewaffnete Menschen Angst und Schrecken - eben: Terror - zu verbreiten. Sie wollen die Spirale der Gewalt anheizen, indem sie barbarische Dinge tun, die in denen, die sie erleben oder von ihnen erfahren, einen gerechten Zorn nach Vergeltung wecken. Sie schlagen dann zurück, treffen die Terroristen, aber eben auch Unbeteiligte, und damit gibt es in der Heimat der Terroristen neue Opfer, werden Häuser, wird Schönes zerstört, was ihnen neuen Zulauf bringt, und so geht es immer weiter …

Wir werden den Terror niemals mit Gewalt beenden - weder den Terror von Menschen, die Unterkünfte für Flüchtlinge zerstören oder unbewohnbar machen, die Helfer einschüchtern und vor Flüchtlingsheimen Böller zünden, noch den Terror des sogenannten "Islamischen Staates", dem unzählige hilf- und wehrlose Zivilisten zum Opfer fallen. Dass wir uns jetzt in Syrien daran beteiligen, möglichst viele von ihnen umzubringen, wird nicht verhindern, dass sie weiter töten - im Gegenteil: wie man an Israel oder Nordirland lernen könnte, schafft Gewalt zuverlässig neue Gegengewalt, wachsen für jeden getöteten Terroristen zwei neue nach. Wir können das Töten nur verhindern, wenn wir den Menschen dort, wo diese Terroristen rekrutieren, Schönheit bringen. Kultur. Liebe.
"Wer zweifelt, explodiert nicht", sagt Dieter Nuhr. Um zweifeln zu können, muss man erfahren haben, dass es mehr als eine Wahrheit gibt. Muss gelernt haben, die angeblichen Wahrheiten zu hinterfragen. Muss eine Perspektive für sein Leben haben, damit man es nicht einfach wegwirft, die Chance, aus seinem Leben auch etwas zu machen.

VII
Also lassen Sie uns weiter an Engel glauben.
Wir wollen an sie glauben, weil sie für Schönheit stehen an der Grenze zwischen zwei Welten, unserer alltäglichen Welt und dem Reich Gottes, von dem die Bibel sagt, dass es ein Reich des Friedens und der Gerechtigkeit ist. 
Wir wollen an sie glauben, weil Felix Mendelssohn-Bartholdys Vertonung des 91. Psalms, "Denn er hat seinen Engeln befohlen über dir" uns jedesmal zu Tränen rührt und unseren Glauben daran bestärkt, dass die Liebe doch stärker ist als alle Brutalität, Rohheit und Dummheit der Menschen, stärker sogar als der Tod. 
Wir wollen an sie glauben, denn sie weisen uns auf den, der über alle Engel ist, der uns so sehr geliebt hat, dass er sein Leben für uns gab, und dessen Liebe den Tod besiegt hat, damit wir in unserer Angst vor dem Tod nicht mehr auf die Gewalt vertrauen, sondern auf die Liebe. Amen.

Freitag, 25. Dezember 2015

Gott versteckt sich

Predigt zur Christvesper am 24.12.2015 über Jeremia 29,13

Liebe Gemeinde,

I
eins der ersten Spiele, das ein kleines Kind lernt und von dem es gar nicht genug bekommen kann, ist Verstecken. Dieses Versteckspiel der Kleinen ist anders als das der größeren Kinder: nicht so anstrengend, ohne das Zählen, ohne die hektische Suche nach einem möglichst guten Versteck, ohne den Wettlauf, wenn man gefunden wurde … Man braucht sich dabei nicht zu bewegen - es reicht, die Hände vors Gesicht zu halten: Jetzt bin ich weg - jetzt bin ich wieder da; jetzt bin ich versteckt - jetzt wieder da …

Ältere Kinder und Erwachsene amüsieren sich über die Einfalt dieses Spieles: Das Kind muss doch wissen, dass man da ist. Oft sitzt es bei diesem Spiel ja sogar auf dem Schoß - und trotzdem funktioniert es. Offenbar ist es nicht entscheidend, dass Mama oder Papa, Oma oder Opa da sind. Entscheidend ist es, ihr Gesicht zu sehen. Das ist wie mit der Sonne - die ist ja auch immer da, auch wenn sie sich hinter Wolken versteckt. Trotzdem sagen wir dann: "Die Sonne scheint nicht", obwohl sie doch scheint - nur eben über den Wolken.

II
Wie bin ich jetzt auf's Verstecken gekommen? Das gehört doch eigentlich zum Osterfest, wo die Eier versteckt werden. An Weihnachten liegen die Geschenke nach der Bescherung offen unter dem Weihnachtsbaum. Vorher allerdings, da sind sie versteckt … Wo? Tja, das ist und bleibt ein Geheimnis …
Ach ja: Auf's Verstecken kam ich wegen des Kindes in der Krippe!
Ob Jesus wohl auch so Verstecken gespielt hat wie wir? Eigentlich erübrigt sich die Frage, Jesus war doch ein Mensch wie wir. Also wird er auch dieses menschlichste aller Spiele gespielt haben. Aber irgendwie stellt sich die Frage trotzdem, denn - ich weiß nicht, wie es Ihnen geht: mir fällt es schwer, mir Jesus als "richtigen" Menschen vorzustellen. Als Baby, das schreit, weil es Hunger hat; das bäuert und in die Windeln macht; das nicht einschlafen kann und von Maria oder Josef stundenlang geschuckelt oder auf der Schulter durch den Stall getragen werden muss … Das ist so …  menschlich. Aber Jesus ist doch Gottes Sohn, ein göttliches Kind, ein "lieber Stern" (EG 37,6), ein "holder Knabe in lockigem Haar" (EG 46,1), "viel schöner und holder, als Engel es sind" (EG 43,2)!

III
Wenn ich es mir richtig überlege, hat das Verstecken doch sehr viel mit Weihnachten zu tun. Denn eigentlich ist Gott es, der sich an Weihnachten versteckt. - Ein eigenartiger Gedanke, nicht? Dass Gott sich verstecken könnte … Und zugleich eine ganz vertraute Erfahrung: Hat man nicht manchmal das Gefühl, Gott habe sich versteckt? Gott scheint sich immer gerade dann zu verstecken, wenn man ihn am nötigsten braucht. Wenn man für die Matheklausur nicht gelernt hat, aber auf gar keinen Fall eine 5 schreiben darf, dann hilft alles Bitten und Beten nicht: Gott ist nicht zu erreichen, kein Anschluss unter dieser Nummer. Aber auch, wenn man sich Sorgen um einen Menschen macht, wenn jemand schwer krank geworden ist oder gar im Sterben liegt, wenn man selbst Schlimmes erlebt: Dann scheint Gott nicht da zu sein. In solchen Situationen zweifelt man, ob es Gott überhaupt gibt, verzweifelt an der beharrlichen Weigerung Gottes, sich zu melden, das Schicksal zu wenden, ein Wunder zu tun, wenigstens einmal.

IV
Wie aber wäre es, wenn Gott sich gar nicht versteckt hat, sondern wir das bloß denken, weil wir ihn nicht finden? Man sagt ja manchmal, der "sieht den Wald vor lauter Bäumen nicht", wenn man etwas nicht sieht, obwohl man fast mit der Nase darauf stößt.
Ein jüdischer Gelehrter erzählt eine Geschichte von einem Jungen, der mit seinen Freunden Verstecken spielt. Er hat ein so gutes Versteck gewählt, dass seine Freunde ihn nicht finden. Doch statt weiter zu suchen, geben sie die Suche auf, spielen etwas anderes und lassen ihren Freund in seinem Versteck zurück. Da läuft das Kind weinend zu seinem Großvater. Als der erfährt, dass die Freunde seines Enkels ihn nicht suchen wollten, schießen ihm die Tränen in die Augen und er sagt: „So spricht auch Gott: Ich verberge mich, aber keiner will mich suchen.“
(nach: Martin Buber, Die Erzählungen der Chassidim, Zürich (Manesse) 1990, S. 191)

Ist es nicht verständlich, dass man die Suche aufgibt, wenn der, der sich versteckt hat, einfach nicht zu finden ist - vielleicht gar nicht gefunden werden will? Aber das Versteck, das Gott sich gewählt hat, ist wirklich kinderleicht - im wahrsten Sinne des Wortes. Wir stoßen sozusagen mit der Nase darauf. Gott liegt in der Krippe! Dieses kleine, hilflose, wärme- und liebesbedürftige Menschlein ist Gott! - Kein Wunder, dass wir ihn nicht finden. Was soll man schon mit so einem Gott anfangen? Wie soll ein Baby in der Krippe bei der Matheklausur helfen? Was soll es ausrichten gegen Krankheit, Schmerz und Tod? Wie kann es helfen, wenn es selbst hilfebedürftig ist?

V
Eben darum haben wir das Gefühl, Gott habe sich versteckt: Weil wir nach einem ganz anderen Gott suchen als den, der sich uns im Kind zeigt. Wir suchen so etwas wie Supermann, Batman, die X-men: Wir suchen einen, der auf wunderbare Weise alles wieder in Ordnung bringt, was wir nicht schaffen. Wir suchen einen, der mal eben für uns die Naturgesetze außer Kraft setzt - das müsste für Gott doch ein Kinderspiel sein, wenn es den Supermännern und -frauen schon so leicht fällt.
Gott aber weigert sich, ein Supermann zu sein. Als Jesus am Kreuz hängt und provoziert wird, er solle doch herabsteigen vom Kreuz, wenn er Gottes Sohn ist, da rettet er sich nicht. Gott wird Mensch, das bedeutet: Es gibt keinen allmächtigen Gott mehr. Keinen Blitzeschleuderer und Weltveränderer, keinen, der die Naturgesetze außer Kraft setzt, die er selbst gemacht hat. Als Gott Mensch wurde, hat er sich selbst diesen Gesetzen unterworfen. Er hat sich selbst sogar dem Leiden und dem Tod unterworfen. Warum hat er das getan? Er hätte lieber Gott bleiben sollen: Ein allmächtiger Gott nützt uns mehr als ein kleines Menschlein in der Krippe.

VI
Als wir Kinder waren, da waren unsere Eltern Superfrauen und -männer für uns. Was die alles konnten! Wie oft sie uns aus der Patsche halfen, uns trösteten, wenn wir uns weh taten; uns Geld zusteckten, wenn wir mal wieder knapp bei Kasse waren; einen Rat für uns hatten, wenn wir nicht weiter wussten; uns notfalls auch mal beim Lehrer oder beim Ausbilder 'raushauten, wenn es Ärger gegeben hatte.
Als wir selbst erwachsen wurden, mussten wir allein klarkommen. Das gehört zum Erwachsensein dazu, und das wollten wir auch. Inzwischen sind viele von uns selbst Eltern, die das für ihre Kinder tun, was ihre Eltern für sie taten. Und auch unsere Kinder werden eines Tages ohne unsere Hilfe auskommen müssen und wollen.

So ist es auch im Glauben. Als Kind stellt man sich Gott so vor wie Mutter oder Vater - nur eben viel größer und mächtiger, mit Rauschebart und so. Wenn man älter wird, erlebt man die Enttäuschung, dass Gott nicht so ist, wie man ihn sich als Kind vorstellte. Die einen geben enttäuscht ihren Glauben an einen Gott auf, der sich scheinbar weigert, für sie da zu sein. Die anderen finden Gott im Kind in der Krippe und verstehen. 
Sie verstehen, dass Gott Mensch wurde, damit wir Menschen sein können: freie, selbständige Menschen, keine großen Kinder.

VII
Gott versteckt sich in einem kleinen Kind. Dieses Versteck ist so gut, weil wir nie darauf kämen, Gott dort zu suchen. Dort ist Gott zu finden: an den Orten, bei den Menschen, wo wir ihn nicht vermuten würden. Deshalb hat sich Jesus mit Fischern abgegeben, mit Zöllnern, mit Menschen, die am Rand der Gesellschaft standen, nicht mit den Schönen, Reichen und Berühmten. Wer Gott finden will, muss sich bücken, darf sich nicht zu schade dazu sein, sich auch mal die Finger schmutzig zu machen - z.B. beim Wechseln einer vollen Windel … 

Gott versteckt sich, damit wir ihn finden. Wenn wir ihn gefunden haben, kann er uns mit seiner Liebe überwältigen, wie es ein kleines Kind tut. Wenn man beim Versteckspiel die Hände vom Gesicht nimmt, dann lacht und strahlt das Kind, dass man selber lächeln muss, ob man will oder nicht. Ein kleines Kind schenkt einem so viel Liebe, so viel Glück, dass man alle Sorgen vergisst. 
Das ist Gottes Weihnachtsgeschenk für uns. Alle Jahre wieder schenkt sich Gott uns als Kind in der Krippe, dass uns das Herz aufgeht und wir ganz weiche Knie bekommen und dieses Strahlen im Gesicht vor Glück und vor Liebe.
Amen.

Samstag, 28. November 2015

Gefäß sein


Predigt zum Emporenbild "Mariä Verkündigung" zum 1. Advent 2015 in der Johanniskirche Neudietendorf

Teil I: Der Engel

Liebe Schwestern und Brüder,

J.A.Heubach aus Arnstadt, der Künstler, von dessen Hand die Tafeln der Emporenbilder stammen, war kein Rembrandt oder Rubens. Seine Werke sind nicht in den Kunstmuseen zu finden, und sie werden auch nicht im Unterricht behandelt. Trotzdem war er ein Maler, der sein Handwerk verstand und sich etwas bei dem dachte, was er tat. Er "dekorierte" nicht nur, sondern gestaltete. Wohl vom Grafen erhielt er den Auftrag für die Emporenbilder, und der damalige Pfarrer wird ihm das Thema vorgegeben haben: das Leben Jesu sollte er darstellen, wie es die vier Evangelisten, die die Kanzel schmücken, überliefert haben.

Das Leben Jesu beginnt, wie jedes Leben, mit der Zeugung. Den Menschen auf dem Land war und ist, anders als den Städtern, dieser Vorgang aus eigener Anschauung vertraut. Damals, im ausgehenden 17. Jahrhundert mehr noch als heute, war nichts dabei, wenn der Eber die Sau bestieg, der Erpel die Ente oder der Kater die Katze. Schon für die Kinder war es ein normaler und alltäglicher Anblick, das natürlichste von der Welt. Und sie konnten sich denken, dass sie auf ähnliche, wenn auch nicht ganz so profane Weise gezeugt worden waren.
Aber Jesus wurde nicht so gezeugt; Maria wusste ja noch nichts von einem Mann. Wie aber soll man darstellen, was weder zu sehen, noch zu begreifen ist, weil der Vorgang sich jeder Vorstellung entzieht und im Geheimen stattfindet?

J.A.Heubach fand eine Lösung, die von seinen Zeitgenossen verstanden wurde und die auch wir noch verstehen.
Obwohl die Zeugung Jesu so geheimnisvoll und übernatürlich ist, wählt Heubach das Schlafzimmer Marias als Ort des Geschehens aus - der Ort, an dem Kinder zu allen Zeiten entstehen. Es kann also kein Zweifel daran sein, um was es geht; das große Bett im Hintergrund gibt der Phantasie jede Menge Spielmaterial. Und auch der Engel Gabriel ist alles andere als ein ätherisches Wesen: Seine muskulösen Arme, seine kräftigen Füße und sein derbes Gesicht mit den blonden Locken weisen ihn als kräftigen Bauernburschen aus, der dem Maler vielleicht Modell stand, und in dem sich die männlichen Betrachter wiedererkennen konnten.
Ein Mann und eine Frau, allein in ihrem Schlafzimmer. Bevor die Phantasie zu lebhaft werden kann, bemerkt sie den vor das Bett geschobenen Tisch, der den Weg hinein versperrt - als könne selbst ein Engel auf dumme Gedanken kommen. Doch auch der Engel ist bei näherem Hinsehen nicht auf ein Abenteuer aus. An seinem Gewand finden sich Stoffstreifen, die wie die Stola eines Priesters wirken. Sein Finger zeigt auf etwas in der Luft, so als wolle er der Taube die Flugbahn vorgeben. Er ist durch ein Wolkentor eingetreten, das sich in Marias Zimmer geöffnet hat. Der Himmel steht offen. Eine andere Dimension hat sich aufgetan. Es ist der Himmel, den Jesus das "Reich Gottes" nennt, der Himmel, in dem Gott uns ganz nah ist, wie jetzt der Maria. Diese Nähe Gottes drückt das Bild durch das Licht aus, das den Raum flutet, und durch die Taube, die vom Himmel herabschwebt - Sinnbild des Heiligen Geistes. Das Reich Gottes, eine andere, eine neue Wirklichkeit jenseits unserer oft so leid- und schmerzvollen Realität.

Auf diese neue, andere Wirklichkeit weist auch der zwölfblättrige Zweig, den der Engel in der Linken hält. Es ist kein Ölzweig, aber wie dieser soll er wohl ein Zeichen des Friedens sein, den das Reich Gottes bringt. Doch der Engel hält diesen Zweig wie ein Schwert und erinnert damit an die Cherubim mit dem feurigen Schwert, die den Eingang zum Paradies bewachen. Das Reich Gottes ist nahe, aber nicht da. Es scheint in unserer Welt auf als Licht, das Marias Zimmer erfüllt, aber wir können nicht hinein. Das Tor zum Himmel wird sich wieder schließen, das Licht wird verlöschen und auch der Engel wird nicht bleiben. Doch bevor er wieder gehen muss, lassen sie uns hören, was ein altes baskisches Volkslied von ihm erzählt:

Lied: „Der Engel Gabriel vom Himmel kam“

Teil II: Maria

Welche Lösung hat J.A.Heubach nun gefunden, um die geheimnisvolle Zeugung Jesu darzustellen? Im Gegensatz zur derben ländlichen Wirklichkeit draußen hat er eine sehr feine, geradezu subtile Darstellung gewählt. Sie erkennen sie, wenn Sie sich Maria genau ansehen.
Maria las in der Bibel, als das Wolkentor in ihrem Zimmer sich öffnete und der Engel aus dem Himmel zu ihr herübertrat. Ihre Hand, mit der sie den Zeilen beim Lesen gefolgt ist, liegt noch auf den Seiten des Buches. Maria zeigt damit quasi auf die Schrift, sie zeigt auf das Wort Gottes, mit dem sie sich bereits vor dem Kommen des Engels beschäftigt hat und das sie nun erfüllen wird. Denn nichts anderes ist Marias Schwangerschaft: Sie geht mit dem Wort Gottes schwanger; dem Wort Gottes, von dem der Johannesprolog sagt, dass Gott durch dieses Wort die Welt schuf und dass es Fleisch wurde. Maria nimmt das Wort Gottes in sich auf und gibt ihm durch sich selbst Gestalt. Wodurch nimmt sie das Wort auf? Durch die einzige Stelle, die bei Maria sichtbar entblößt ist. Sie ist ja mehr als züchtig bekleidet, lässt nicht das kleinste Fitzelchen Haut sehen. Sogar ihr Fuß, der unter dem bodenlangen Rock hervorlugt, ist beschuht, während der Engel Gabriel barfuß geht. Etwas aber lugt frech unter all dem Stoff und den Haaren hervor: Ihr linkes Ohr. Das Ohr ist der Weg, durch den das Wort Gottes zu Maria gelangt, und auf diesem Weg gelangt es auch zu uns. Denn so wie Maria gehen auch wir mit dem Wort Gottes schwanger, geben ihm Gestalt durch unser Leben, unser Handeln. Manchmal geht es uns so wie in dem Lied, das wir gleich hören: da ist unser Leben dornig und dunkel. Doch dann kommt ein Wort, das sich in uns festsetzt und ausbreitet, das wächst, bis wir ihm eine Gestalt geben. Dieses Wort hat die Kraft, die Dornen in Rosen zu verwandeln.

Allerdings können wir nicht machen, dass es geschieht. Schön wär's, wenn man bei Kummer, Sorgen, Leid oder Trauer einfach nur das richtige Wort bräuchte, und - schwupps! -, wären sie verflogen. Man kann das richtige Wort nicht einfach so hervorholen, man kann es auch nicht herbeizwingen. Es fliegt einem zu, wie die Taube auf dem Bild. Es ist der Heilige Geist, der das bewirkt; deshalb darf er auf dem Bild nicht fehlen. Er bewirkt das Wunder, dass die Dornen Rosen tragen, wie es das Lied uns singt:

Lied: "Maria durch ein Dornwald ging"

Teil III: Der Krug

Eine Sache haben wir noch nicht betrachtet. Etwas ganz Nebensächliches, geradezu Banales, das man übersehen könnte, wenn es sich nicht so aufdrängen würde, weil es in der Bildmitte steht, und dazu noch im Vordergrund: der Korb. Ein eigenartig geformter Weidenkorb, aus dem ein Stück weißer Stoff herausschaut. Sollte Maria so liederlich sein, dass sie ihr Nähzeug nicht ordentlich weggeräumt hat? Oder hat sie gar nicht in der Bibel gelesen, sondern gestickt und, als der Engel kam, schnell die Stickerei in den Korb gestopft und sich an die Bibel gesetzt, damit er ja keinen schlechten Eindruck von ihr bekommt?
Man könnte sagen, so ein Korb gehörte nun einmal in einen bäuerlichen Haushalt, deshalb ist er eben auf dem Bild dargestellt. Aber der Künstler, der auf alles Überflüssige verzichtete und sich bei jedem Detail seines Bildes etwas dachte, wird doch nicht ausgerechnet den Korb als reines Dekorationsstück gemalt haben?

Da ist zunächst einmal die eigenartige Form des Korbes; sie erinnert mehr an einen Topf, ein Gefäß: ein Hinweis auf die Schwangerschaft Marias.
Dann fällt einem vielleicht ein, dass Mose als Baby in einem Korb im Nil ausgesetzt wurde, wo ihn die Tochter des Pharaos fand und als ihren Sohn aufzog. Mose steht für den Bund Gottes mit seinem Volk Israel und für das Alte Testament. Jesus begründet das neue Testament, den neuen Bund, zu dem auch wir gehören; daran erinnern die Eisetzungsworte zum Abendmahl, wo es heißt: "dieser Kelch ist das Neue Testament (oder: der neue Bund) in meinem Blut".
Schließlich und endlich ist der Korb ein Gefäß: dazu da, etwas hineinzulegen, um es zu sammeln, aufzubewahren oder zu transportieren, seien es Eier, Äpfel oder Frühstücksbrote.
Mit diesem Korb gelangen wir in den Blick und ins Bild, wir, die Betrachterinnen und Betrachter. Der Korb lässt uns erkennen, dass auch wir, wie Maria, *Gefäße* sind: Gefäße für das Wort Gottes, um es einzusammeln und aufzubewahren. Deutlich wird das in der Weihnachtsgeschichte, deren vorletzter Vers lautet: "Maria aber behielt alle diese Worte und bewegte sie in ihrem Herzen". Und im Evangelium des heutigen Sonntages bekennt sie sich selbst dazu, dieses Gefäß für das Wort Gottes zu sein: "Siehe, ich bin des Herrn Magd", sagt Maria zum Engel Gabriel, "mir geschehe nach deinem Wort".

Wir sollen dem Vorbild Marias folgen und Gefäße für das Wort Gottes werden. Gefäße, in die es gelegt werden kann, die es aufbewahren, aber auch weitertragen zu Menschen, die es hören müssen. Indem wir Gefäße für das Wort Gottes sind, gewinnt Jesus, das Wort Gottes, Gestalt in uns. So werden, so sind wir der Leib Christi: indem Gottes Wort uns zu Herzen geht, uns ergreift und bewegt.

Heute, am 1. Advent, beginnt die Zeit des Wartens auf die Ankunft des göttlichen Kindes. Wir warten auf die Geburt Jesu und gehen ihm an den Sonntagen des Advent dabei entgegen. Auch wir machen uns auf einen Weg im Advent, der uns schließlich zur Krippe, zu Jesus führen wird. Denn Jesus wird unter uns geboren, hier, in dieser Gemeinde, die sein Leib heißt und ist. Er wird unter uns geboren, wenn und weil das Wort Gottes in uns wohnt, durch uns und unter uns Gestalt gewinnt.

Samstag, 21. November 2015

Sehnsucht

Predigt am Ewigkeitssonntag, 22.11.2015, über Matthäus 25,1-13


Liebe Gemeinde,

was wohl dahinter liegen mag?
Das Kind, das durch das Haus gestromert ist,
hat eine Tür gefunden, die es noch nicht kannte.
Nun steht es davor und würde zu gern wissen,
was dahinter ist. Soll es sie öffnen? Darf es sie öffnen?
Was wird es da erwarten?

Viele von uns haben wohl schon einmal so vor Türen gestanden 
- vor Keller- und Bodentüren, vor Schränken oder Truhen -, 
neugierig, was sich wohl dahinter befindet,
und zugleich ein bisschen ängstlich.
Vor solch einer geheimnisvollen Tür spielt auch der Predigttext für den heutigen Sonntag bei Matthäus im 25. Kapitel:

Jesus erzählte dies Gleichnis:
Dann wird das Himmelreich gleichen zehn Jungfrauen,
die ihre Lampen nahmen und gingen hinaus,
dem Bräutigam entgegen.
Aber fünf von ihnen waren töricht, und fünf waren klug.
Die törichten nahmen ihre Lampen, aber sie nahmen kein Öl mit.
Die klugen aber nahmen Öl mit in ihren Gefäßen,
samt ihren Lampen.
Als nun der Bräutigam lange ausblieb,
wurden sie alle schläfrig und schliefen ein.
Um Mitternacht aber erhob sich lautes Rufen:
Siehe, der Bräutigam kommt! Geht hinaus, ihm entgegen!
Da standen diese Jungfrauen alle auf
und machten ihre Lampen fertig.
Die törichten aber sprachen zu den klugen:
Gebt uns von eurem Öl, denn unsre Lampen verlöschen.
Da antworteten die klugen und sprachen:
Nein, sonst würde es für uns und euch nicht genug sein;
geht aber zum Kaufmann und kauft für euch selbst.
Und als sie hingingen zu kaufen, kam der Bräutigam;
und die bereit waren, gingen mit ihm hinein zur Hochzeit,
und die Tür wurde verschlossen.
Später kamen auch die andern Jungfrauen und sprachen:
Herr, Herr, tu uns auf!
Er antwortete aber und sprach:
Wahrlich, ich sage euch: Ich kenne euch nicht.
Darum wachet! Denn ihr wisst weder Tag noch Stunde.

I
Hinter der Tür, da feiern und tanzen sie.
Wie schön muss es auf dieser Hochzeit sein!
Was wohl die Brautjungfern hinter der Tür, auf der anderen Seite, erwartet? 
Wie wunderbar darf man sich das Fest vorstellen,
für das man sich eine Nacht um die Ohren schlägt?
Für das man Ewigkeiten lang auf den Gastgeber,
den Bräutigam, wartet - bis er endlich kommt
und die Tür aufschließt.
Hinter der Tür, da feiern und tanzen sie.
Aber nicht alle dürfen mitfeiern.

Wir sind mit 10 Brautjungfern aus der Stadt hinausgegangen. 
Hinaus aufs freie Feld,
wo es keine Lampen mehr gibt
und wo man sich selbst leuchten muss.
Die Öllampen der Brautjungfern werfen Licht auf den Weg,
auf dem der kommen wird, den wir erwarten, der Bräutigam. 
Gleich, jeden Augenblick, oder irgendwann später,
man weiß es nicht.
Die Zeit wird lang, die Brautjungfern werden müde.
Sie haben sich hingesetzt, schon fallen den ersten die Augen zu.
Sie lehnen sich aneinander, jetzt schlafen sie.
Nur ihre Lampen leuchten weiter,
werfen ihr Licht auf den Weg und verzehren das Öl, das in ihnen ist.
Auf einmal ist etwas zu hören, da ruft jemand: Er kommt!
Alles ist plötzlich auf den Beinen,
rückt die Kränze zurecht, greift nach den Lampen.
Aber nun, als alle fertig sind, stellt sich heraus:
Fünf haben nicht genug Öl. Ihre Lampen gehen bald aus,
wenn sie nicht Öl nachfüllen,
und sie müssen dem Bräutigam doch den Weg leuchten!
Die anderen fünf können nichts hergeben von dem,
was sie mitnahmen, also müssen die ersten fünf in die Stadt zurück, neues Öl kaufen.
Wir folgen ihnen nicht, wir lassen sie in die Stadt rennen.
Wir bleiben bei den anderen, sehen, was passiert.
Wir sehen den Bräutigam kommen.
Die fünf Brautjungfern setzen sich an die Spitze des Zuges
und ziehen mit in das Haus, wo die Hochzeit gefeiert wird.
Hinter ihnen schließt sich die Tür, und wir bleiben außen vor.
Wie die fünf, die gerade atemlos keuchend
mit ihrem Öl aus der Stadt kommen - zu spät.
Sie dürfen nicht mehr hinein.

Wozu erzählt Jesus dieses Geschichte?
Wozu lässt er uns, seine Zuhörerinnen und Zuhörer,
diesen Weg mit den zehn Brautjungfern nicht wirklich mit gehen? 
Wir bleiben weder bei denen,
die schnell noch um Öl in die Stadt laufen,
wir dürfen aber auch nicht mit den anderen zum Fest hinein,
als die Tür sich für sie öffnet.
Wir dürfen nicht einmal einen Blick hinein tun.
Höchstens einen Lichtstrahl haben wir erhascht,
ein paar Töne der himmlischen Musik.
Das Geheimnis bleibt gewahrt,
hinter diese Tür können wir nicht schauen.
Das, was wir sehen können, liegt vor dieser Tür.

II
Vor der Tür liegt die Nacht.
Dunkelheit, von der Jesus an anderer Stelle sagt,
dass dort "Heulen und Zähneklappern" ist.
Heulen und Zähneklappern vor Angst, vor Kälte oder vor Einsamkeit.
Solche Dunkelheit kennen wir.
Jede und jeder hat sie erlebt und erlebt sie wieder:
Dunkelheit der Angst. Dunkelheit des Schmerzes.
Und, heute besonders, Dunkelheit,
die einen beim Verlust eines lieben Menschen überfällt.
Darum ist es gut, wenn man schlafen kann wie die zehn Brautjungfern. 
"Wir sind ja Schläfer aus Furcht, uns und unsere Welt wahrnehmen zu müssen" (Ingeborg Bachmann).
Wer schläft, muss die Wahrheit nicht ertragen, die Angst nicht und nicht den Schmerz. 
Der Schlaf kann gnädig sein.
Aber der Schlaf ist auch düster und bedrohlich. 
"Der Schlaf der Vernunft bringt Ungeheuer hervor" (Wolf Biermann).
An den Schlaf liefern wir uns auch aus,
er ist der kleine Bruder des großen Schlafes Tod.
Manchmal wird einem das beim zu-Bett-gehen bewusst.
Kinder haben manchmal Angst, einzuschlafen.
Angst vor den Türen, die sich öffnen, wenn man die Augen schließt.
Angst vor der Reise über die unendliche Tiefsee der Nacht.
"Morgen früh, wenn Gott will, wirst du wieder geweckt",
sang mir die Mutter am Bett. Und ich wusste nicht:
War es Verheißung, dass ich wieder geweckt werden würde,
oder war es eine Drohung: "wenn Gott will"?
Gott wollte. Am nächsten Morgen kitzelte mich die Sonne aus dem Schlaf, 
oder meine Mutter kam und weckte mich.

Was weckt uns heute - außer dem Wecker mit seinem schrillen Gebimmel, 
lästigen Piepsen oder nervigen Radiogedudel?
Was elektrisiert uns heute so wie bei den Brautjungfern der Ruf: 
"Der Bräutigam kommt!"? 
Was gibt uns die Spannung, die Kraft, aufzuspringen oder aufzustehen 
und uns dem neuen Tag zu stellen?

III
Das, was wir sehen können, liegt vor der Tür.
Aber das, was wir sehen sollen, liegt dahinter.
Darin unterscheiden sich die fünf klugen Brautjungfern von den fünf törichten: 
Die Klugen sahen voraus.
Das Symbol dafür ist das Öl,
das sie zusätzlich mitgenommen hatten.
Die Törichten sahen nur das, was vor ihnen lag
- im Gleichnis gesprochen: Sie hatten nicht genug Öl mit.
Das hat nichts mit Fleiß zu tun.
Die klugen und törichten Brautjungfern sind nicht wie Goldmarie und Pechmarie, 
so sehr sie uns daran erinnern mögen.
Sie sind nicht fleißig oder faul - im Gegenteil:
Beide werden vom Schlaf überwältigt.
Der einzige Unterschied zwischen beiden ist die Menge Öl,
die sie dabei hatten, und die im Gleichnis für die Vorausschau steht.
Mit einem anderen Wort: Für die Sehnsucht.

Die Sehnsucht ist das Öl,
das die Lampen der Brautjungfern am Brennen hält.
Wenn der Bräutigam halbe Ewigkeiten braucht, bis er kommt,
wie hält man da die Vorfreude wach?
Die Sehnsucht ist auch das Öl, das unserem Motor die Kraft gibt, 
jeden Morgen wieder neu anzuspringen und zu laufen
- auch und gerade in und gegen Dunkelheit und Angst und Schmerzen.
Denn die Sehnsucht kehrt die Blickrichtung um:
Sie blickt von der Tür her zurück auf den dunklen Weg.
Wir stehen schon im Licht der Hochzeit,
wir hören schon die Musik
und sehen zurück auf die Wegstrecke, die wir gegangen sind.
Sie war anstrengend, steinig, düster,
aber das ist jetzt, wo wir am Ziel sind, nicht mehr wichtig.
Das, was uns am Ziel erwartet,
verdrängt die Beschwernis des Weges 
- diese Erfahrung macht jeder, der schon einmal einen Berg bestiegen hat.

Was uns Christinnen und Christen in die Wiege gelegt ist,
ist diese Sehnsucht nach Leben und Gerechtigkeit,
von dem wir immer schon einen Zipfel in der Hand halten.
Mit einem Begriff: Sehnsucht nach dem Reich Gottes.
Das Reich Gottes - das ist die Hochzeit, von der Jesus erzählt,
zu der die Brautjungfern sich aufmachen
und auf der sie erwartet werden.
Leben und Gerechtigkeit
- diese Sehnsucht ist es,
die wir nicht aus dem Blick verlieren dürfen.
Die Sehnsucht nach einem neuen Himmel und einer neuen Erde,
wo Gott alle Tränen abwischt.
Wo Leid, Geschrei und Schmerz nicht mehr sind
und wo den Tod niemand kennt.
Die Sehnsucht blickt vom Reich Gottes,
auf dessen Schwelle wir schon stehen,
zurück auf unser Leben, unsere Welt.
In der Vorschau, in der Sehnsucht,
die zugleich eine Rückschau ist,
schrumpfen Angst, Sorgen und Leid.
Sie schrumpfen auf eine Größe,
in der wir sie ertragen können.
Und auch der Tod, der uns liebe Menschen nahm,
schrumpft auf das, was er ist:
Das Ende unseres biologischen Lebens, nicht weniger
- aber auch nicht mehr.

IV
Die Sehnsucht nicht aufgeben.
Dazu will uns Jesus mit seinem Gleichnis aufrufen.
Wir sollen uns die klugen Brautjungfern zum Vorbild nehmen,
die am Ende durch die offene Tür zum Fest gehen.
Die Sehnsucht nicht aufgeben.
Mit dieser Aufgabe hat Gott uns nicht allein gelassen.
Quer über unseren Lebensweg hat er Dinge gestreut,
Zipfel des Reiches Gottes,
die uns daran erinnern sollen wie der Knoten in einem Taschentuch.

Gras, das sich sanft im Wind kräuselt,
kann solch ein Taschentuch sein
und auch die wunderbaren Farben und tanzenden Sonnenflecken auf dem Herbstlaub.
Ein Brief von einem lieben Menschen
und auch eine wundervolle Melodie, die uns berührt und ergreift. 
Ein Blick und ein Lachen eines Kindes kann es sein
und eine Hand, die die unsere drückt und hält,
ein Gesicht, das unseren Blick erwidert und davon aufleuchtet.

All das sind Taschentücher,
die Gott über unseren Lebensweg gestreut hat.
Und wenn man genau hinsieht,
erkennt man das Monogramm des Eigentümers in der Ecke.
Es sind vier griechische Buchstaben:
Alpha und Omega, der Anfang und das Ende,
und Chi und Rho, die Anfangsbuchstaben des Namens,
der über alle Namen ist: Christus.
Und diese vier Buchstaben ergeben ein griechisches Wort:
ἌΡΧΩ (archo), ich herrsche.
Ich herrsche, sagt Christus,
nicht die Gewalt und nicht der Tod,
sondern ich herrsche im Himmel und auf Erden.
Denn "ich lebe", sagt Jesus, "und ihr sollt auch leben."

Amen.

Donnerstag, 19. November 2015

Die Fremden willkommen heißen

Predigt in der Marienkirche Ingersleben zum Buß- und Bettag/ zum Ende der Friedensdekade am 18.11.2015 über Matthäus 2,13-15:

Als die drei Weisen fortgezogen waren, da erschien Josef ein Bote des Herrn im Traum und sprach: Steh auf, nimm das Kind und seine Mutter und flieh nach Ägypten; bleib dort, bis ich dir's sage. Denn Herodes will das Kind suchen, um es zu töten.
Er aber stand auf, nahm das Kind und seine Mutter bei Nacht und floh nach Ägypten und lebte dort bis zum Tod des Herodes, damit erfüllt würde, was der Herr durch den Profeten sagte, der spricht: "Aus Ägypten habe ich meinen Sohn gerufen" (Hosea 11,11).
(Eigene Übersetzung)


Liebe Schwestern und Brüder,

"Grenzerfahrung" war das Motto der diesjährigen Friedensdekade. In den Friedensandachten hier in der Marienkirche haben wir über unsere persönlichen Erlebnisse mit der Grenze nachgedacht, haben ost- und westdeutsche Erfahrungen ausgetauscht. Aus der Partnergemeinde Wolfschlugen kam eine Andacht von Birgit Stoll über Pater Jacques, Priester der katholischen Gemeinde Qaryatein in Syrien, dessen Gemeinde viele hundert muslimische Flüchtlinge beherbergt hatte, bevor Pater Jaques von Terroristen des sog. "Islamischen Staates" entführt wurde. Er wurde von Muslimen aus den Händen der Terroristen befreit. Seine Arbeit und sein Schicksal: eine Ermutigung, dass unterschiedlicher Glaube nicht nur trennen und als Verbrämung terroristischer Grausamkeit dienen muss, sondern dass der Glaube die Grenzen zwischen den Religionen überwinden kann.

Heute, am letzten Tag der Friedensdekade und zugleich am Buß- und Bettag, hören wir von der Familie Jesu, die über die Grenze flieht, um der Verfolgung durch Herodes zu entgehen.
Wahrscheinlich sind Ihnen, wie mir, bei dieser Geschichte die Menschen eingefallen, die aus Syrien, dem Irak oder Afghanistan zu uns fliehen. Wie der Familie Jesu sitzt auch ihnen eine Todesdrohung im Nacken, weil sie dem angeblich falschen Glauben angehören, der falschen Volksgruppe, oder weil die Kämpfe in ihrem Heimatort keine Rücksicht auf das Leben von Zivilisten nehmen.
Mancher hat vielleicht auch zum ersten Mal bewusst wahrgenommen, dass am Anfang des Lebens Jesu eine Fluchterfahrung steht, die er mit vielen von uns, unseren Eltern oder Großeltern gemeinsam hat.

Flucht ist eine Grenzerfahrung im engsten Sinne: Erst, wenn man die Grenze eines anderen Landes überschritten hat, ist man in Sicherheit. Grenze ist hier etwas Gutes: Sie trennt Unrecht von Recht, Verfolgung von Sicherheit, Armut von Wohlstand, Diskriminierung von Gleichberechtigung, Unbehaustheit von Schutz.
Jesus' Eltern fliehen nicht in irgendein Land. Wie die Flüchtlinge heute wählen sie bewusst ein Land, das ihnen Sicherheit verspricht, gute Versorgung, eine Perspektive für die ungewisse Zeit, die sie in diesem Land zubringen werden.

Die Wahl des Fluchtortes ist in unserer Geschichte auch dseshalb nicht zufällig, weil dadurch ein Profetenwort erfüllt wird. Mit der Flucht nach Ägypten soll sich das Wort des Propheten Hosea bestätigen, der sagt: "Aus Ägypten habe ich meinen Sohn gerufen".
Nun ist dieses Wort Hoseas aber gar keine Prophezeihung, sondern eine Feststellung. Hosea erinnert damit an den Exodus, die Flucht des Volkes Israel aus der Knechtschaft in Ägypten unter Moses' Führung. Hosea erinnert Israel daran, dass es damals noch auf Gott hörte, sich von ihm rufen ließ, während es jetzt nichts mehr von Gott wissen will.

Matthäus reißt nun diesen Satz Hoseas aus seinem Zusammenhang und tut damit so, als stünde die Erfüllung des Profetenwortes noch aus; als sei die Flucht nach Ägypten teil eines göttlichen Plans. Man kann dadurch den Eindruck gewinnen, Gott habe das alles bloß inszeniert und sei letztlich sogar für den Kindermord des Herodes verantwortlich.
Aber so ist es natürlich nicht. Was sollte es für einen Sinn ergeben, Jesus in Ägypten aufwachsen zu lassen, wo Ägypten in der Geschichte Israels zwar immer wieder Asyl geboten hat, aber vor allem als Land der Knechtschaft in Erinnerung geblieben ist?
Wenn man denn von einem "Plan" Gottes sprechen will und kann; wenn Menschen überhaupt etwas von Gottes Absichten wissen oder auch nur vermuten könnten, dann spielt Ägypten in dieser Geschichte eine ganz andere Rolle: Es ist Ausland. Jesus, der Messias Israels, kommt nicht aus Israel. Er kommt nicht aus den Kreisen der Hohenpriester und Schriftgelehrten, nicht aus den Kreisen der Sadduzäer oder Pharisäer und nicht aus dem terroristischen Zirkel der Zeloten. Jesus ist ein Fremder.

Jesus muss aus der Fremde kommen, um ein Fremder zu sein.
Er muss ein Fremder sein, um nicht verquickt zu sein in die Kreise, wo die Strippen gezogen und die Politik gemacht wird.
Jesus muss ein Fremder sein, weil die Leute in Nazareth dem Sohn des Zimmermanns nicht zutrauen, der Messias zu sein, weshalb Jesus feststellt: "Ein Prophet gilt nichts in seinem Heimatland" (Matthäus 13,57).

Es ist in diesem Zusammenhang bemerkenswert, dass die ältesten Schriften des Neuen Testaments nicht von den Geschwistern Jesu oder seinen Jüngern stammen, also weder von seiner Familie, noch von seinen Freunden, sondern von jemandem, der Jesus gar nicht persönlich kennen gelernt und ihn nur einmal gesehen hat, dazu noch in einer Vision: von Paulus. Paulus war für die christlichen Gemeinden ein Fremder; er hat sie sogar verfolgt. Aber gerade von ihm haben wir die meisten und wichtigsten Schriften über unseren Glauben!

Jesus ging in die Fremde, um als Fremder zurück zu kehren.
Nur ein Fremder nimmt keine Rücksicht auf alte Freunde und alte Feinde; er geht auf alle mit der selben Offenheit und Unbefangenheit zu.
Nur ein Fremder muss niemandem gefallen, niemandem nach dem Munde reden.
Nur ein Fremder sieht, was wir alles besitzen; wie reich wir sind an Gütern und an Begabungen.
Nur ein Fremder sieht, wie bedürftig wird sind, was wir vor anderen verbergen möchten, was uns fehlt.

Deshalb sollen wir die Fremden bei uns willkommen heißen.
Und sie sind vielleicht gerade deshalb nicht willkommen: Weil sie nicht mitspielen bei unseren Freund-Feind-Spielen. Weil sie uns einen Spiegel vorhalten, der unser Klagen als Jammern entlarvt, der aber auch unsere kleinen und großen Schwächen aufdeckt.
Die Flüchtlinge, die als Fremde zu uns kommen, zeigen uns, wie gut es uns in Wahrheit geht, wie viel wir besitzen, wie klein unsere Sorgen eigentlich sind, verglichen mit ihren.
Die Terroranschläge in Paris waren schrecklich und grausam, sie haben in ganz Europa Mitgefühl und Solidarität geweckt. Was die Augenzeugen dieser Anschläge erleben und mit ansehen mussten: diese Bilder und Erfahrungen werden sie ihr Leben lang verfolgen.
Aber das, was an diesem einen, schrecklichen Abend in Paris geschah, erleben Menschen in Syrien Tag für Tag. Die Bewohner Israels leben jeden Tag mit der Angst vor einem Raketenangriff, einem Selbstmordattentat.

Vielleicht ziehen die Flüchtlingen gerade deshalb den Hass derer auf sich, die sich von unserer Gesellschaft benachteiligt fühlen. Es sind ja nicht die Flüchtenden, die sie benachteiligen, sondern es ist unsere Gesellschaft, es sind wir alle, die einer Frau, die ihr Leben lang schwer gearbeitet hat, nur eine lächerlich kleine Rente zugestehen; die nicht genug dafür tun, Jugendlichen, gerade in ländlichen Gebieten, eine Perspektive zu geben; die Senioren mit den gravierenden Veränderungen unserer Gesellschaft allein lassen. 
Aber im Vergleich zu den Ländern, aus denen die Flüchtlinge fliehen, geht es selbst diesen benachteiligten Menschen noch ausgesprochen gut. Durch die Flüchtenden werden sie Tag für Tag daran erinnert, dass sie - wie wir alle - auf hohem Niveau jammern.

Die Flüchtenden machen Menschen wütend, weil sie ihnen ungewollt den Spiegel vorhalten und ihnen zeigen, wie gut sie es haben, und wie viel besser sie es haben könnten, wenn sie nicht nur jammern würden.
Und sie machen Menschen wütend, weil sie angeblich unsere Kultur zerstören, indem sie ihre fremde Kultur mitbringen. Schon bald, so das Szenario mancher Unheilspropheten, wird Deutschland muslimisch sein, und niemand wird mehr ein Gedicht von Goethe zitieren können.
Aber das Gegenteil ist der Fall. Die vielen katholischen Flüchtlinge, die nach dem Krieg aus Schlesien in die evangelischen Stadtteile zogen, haben auch nicht zu einer Rekatholisierung Deutschlands geführt. Sie haben den Gemeinden, in die sie kamen, oft gut getan, sie bereichert und ihnen neues Leben eingehaucht; aber die Reformation haben sie denn doch nicht rückgängig gemacht …
Die Fremden lassen uns erkennen was uns unsere Kultur bedeutet, was uns so wertvoll ist, dass wir es erhalten und pflegen wollen. Durch sie werden wir uns bewusst, was wir an unserer Kultur schätzen, welche Werte uns wichtig sind.

So ist es auch in der Kirche. Auch hier gibt es Grenzen zwischen den Konfessionen, aber es gibt auch Grenzerfahrungen wie diesen Gottesdienst, es gibt die Ökumene. Wenn wir als Katholiken und Protestanten zusammen feiern, zeigen wir uns, was uns an unseren jeweiligen Glaubenstraditionen wichtig ist und was wir auf keinen Fall aufgeben wollen. So können wir zusammenkommen und gemeinsam Gottesdienst feiern: wir schätzen wert, was der andere hat, ohne es ihm zu neiden, aber auch, ohne es abzuwerten oder schlecht zu reden.

Der Fremde, die Fremde ist unser Spiegel. In ihr erkennen wir, wer wir wirklich sind. In ihr erkennen wir, was wir haben, worauf wir stolz sein können. In ihr erkennen wir, was uns fehlt, was sie uns lehren und geben kann.
Am Buss- und Bettag erinnern wir uns an Gottes Gebot, die Fremden nicht zu unterdrücken, sondern sie zu achten und ihnen die gleichen Rechte zuzugestehen wie uns.
So sollen wir die Fremden achten und willkommen heißen.
Weil sie unser Gegenüber sind, durch das wir erst ganz und vollkommen die werden, die wir sind.
Weil Gott die Fremden besonders liebt und schützt und sie uns wieder und wieder ans Herz legt.
Weil wir selbst immer wieder Fremde sind - nicht nur in unserem Alltag, in den Kreisen und Gruppen, denen wir begegnen, sondern auch und vor allem als Christen in dieser Welt: "Denn wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir" (Hebräer 13,14).
Und schließlich, weil Jesus selbst ein Fremder wurde, um wahrhaft unser Bruder sein zu können.
Amen.