Und Gottes Wort geschah zu mir:
Ich
kannte dich, ehe ich dich im Mutterleibe bereitete, und sonderte
dich aus, ehe du von der Mutter geboren wurdest, und bestellte dich
zum Propheten für die Völker.
Ich
aber sprach: Ach, Gott, ich tauge nicht zu predigen; denn ich bin zu
jung.
Gott
sprach aber zu mir: Sage nicht: »Ich bin zu jung«, sondern du
sollst gehen, wohin ich dich sende, und predigen alles, was ich dir
gebiete. Fürchte dich nicht vor ihnen; denn ich bin bei dir und will
dich erretten, spricht Gott.
Und
Gott streckte seine Hand aus und rührte meinen Mund an und sprach zu
mir: Siehe, ich lege meine Worte in deinen Mund. Siehe, ich setze
dich heute über Völker und Königreiche, dass du ausreißen und
einreißen, zerstören und verderben sollst und bauen und pflanzen.
(Luther 1984)
I
Liebe
Gemeinde,
was
ist aus den Plänen Ihrer Jugendzeit geworden?
Erinnern
Sie sich noch, was Sie werden und machen und bewegen wollten?
Schon
an meiner Frage merken Sie, worauf ich hinaus will:
Ich
nehme an, dass viele Ihrer hochfliegenden Träume und Ideen sich
nicht verwirklicht haben.
Natürlich
kommt es immer auf die Art der Pläne an:
Wer
sich vorgenommen hat, ein gutes Einkommen, ein Haus, eine Familie zu
haben,
der
wird aller Wahrscheinlichkeit nach sein Ziel erreicht haben
-
aber es gibt auch genug Beispiele von Menschen,
die
selbst dieses vergleichsweise bescheidene Ziel nicht erreichten.
Wenn
dagegen das Ziel war, eine erfolgreiche Künstlerin zu werden,
bei
Olympia eine Goldmedaille zu gewinnen oder die Welt zu umsegeln,
dann
könnte es mit der Verwirklichung schon schwieriger werden.
Obwohl
es auch da, wie immer, Ausnahmen gibt.
James
Joyce zum Beispiel war, bevor er auch nur eine Zeile veröffentlicht
hatte,
fest davon überzeugt, ein großer Schriftsteller zu sein -
und das ist er ja auch geworden
(jedenfalls in den Augen derer, die
ihn lesen).
Und
auch Bert Brecht hat schon nach seinen ersten Erfolgen mit der
"Dreigroschenoper" erklärt,
er sei ein "Klassiker",
also Goethe und Schiller gleich zu stellen.
Was
er ja schließlich auch erreicht hat.
Jede
und jeder von uns hat wohl einmal davon geträumt,
etwas Großes zu
tun oder zu erleben.
Jeder
und jede wollte irgendwann mal jemand Besonderes sein,
sich in die
Geschichtsbücher einschreiben, die Welt verändern.
Das
gehört zum Prozess des Erwachsenwerdens dazu.
Und
ebenso gehört die Enttäuschung dazu,
von der Bert Brecht seine
Mutter Courage in ihrem "Lied von der Großen Kapitulation"
singen lässt:
Viele
sah ich schon den Himmel stürmen
Und
kein Stern war ihnen groß und weit genug.
(Der
Tüchtige schafft es, wo ein Wille ist, ist ein Weg,
wir
werden den Laden schon schmeißen.)
Doch
sie fühlten bald beim Berg-auf-Berge-Türmen
Wie
doch schwer man schon an einem Strohhut trug.
(Man
muss sich nach der Decke strecken.)
Und
vom Dach der Star
Pfeift:
wart paar Jahr!
Und
sie marschieren in der Kapell
Im
Gleichschritt, langsam oder schnell
Und
blasen ihren kleinen Ton:
Jetzt
kommt er schon ... [1]
Brecht
spricht von der "Großen Kapitulation".
Und
so wie die Mutter Courage kapituliert fast jeder Mensch
im Laufe
seines Lebens vor den Umständen.
Mal
ist es eine kleine, mal eine große Kapitulation.
Man
wird nicht Entdecker, Künstlerin oder Abenteurer,
sondern doch
Verwaltungsangestellte, Fahlehrer,
Hausmann
oder Lehrerin.
Manchmal
träumt man wehmütig davon,
was
gewesen wäre, wenn ...,
beneidet
die Abenteurer und Wissenschaftler,
die
es geschafft haben,
und
manchmal hadert man sogar mit seinem Schicksal.
Und
jedes Mal bleibt ein leicht bitterer Nachgeschmack zurück:
Hätte
man doch den Mut gehabt ... aber man hatte ihn nicht.
II
Bei
Jeremia erleben wir das Gegenteil.
Hier
hat einer alle Chancen, seine Träume zu verwirklichen.
Jeremia
hat das ganz große Los gezogen:
Von
Gott persönlich berufen zum Propheten für die Völker,
ausgesondert
von Mutterleib an - aber wie reagiert er?
Jeremia lehnt das große
Los ab!
Náar
anochi sagt er, ich bin noch zu
jung.
Statt
jugendlichem Rebellenmut – Ängstlichkeit.
Als
ahnte Jeremia schon, worauf dieser Auftrag hinauslaufen würde.
Als
ahnte er, dass er sich unbeliebt machen wird,
dass
er verfolgt, verprügelt, eingesperrt werden wird,
wenn
er den Menschen seiner Zeit tatsächlich Gottes Wort verkündet
- sie
aus ihrer Zufriedenheit, aus ihrem Arrangement mit den Verhältnissen
reißt.
Sie
an ihre Träume von früher erinnert.
Dieser
Schuh ist ihm zu groß.
Náar
anochi - ich bin noch zu jung, sagt er.
Aber
Gott geht auf seinen Einwand gar nicht ein,
sondern
setzt sogar noch eins oben drauf:
Gott
beauftragt Jeremia,
dass
du ausreißen und einreißen,
zerstören
und verderben sollst und bauen und pflanzen.
Jeremia
hat keine Chance, sich
gegen die Beauftragung durch Gott zu wehren
(und
wenn er's versuchte: die Geschichte des Propheten Jona zeigt, wohin
das führt)
-
er muss tun, wozu Gott ihn bestimmt.
Jahre
später, nach den Erfahrungen von Widerspruch, Inhaftierung und
Schlägen, wird er klagen:
Gott,
du hast mich überredet und ich ließ mich betören.
Du
bist mir zu stark gewesen und hast mich überwältigt.
(Jeremia
20,7)
III
Gott,
du hast mich überredet und ich ließ mich betören.
Du
bist mir zu stark gewesen und hast mich überwältigt.
Aus
diesen Worten Jeremias spricht einer,
den
sein Auftrag überfordert hat.
Schon
bei seiner Berufung hat er geahnt,
dass
das zu viel für ihn werden würde - aber das half nichts.
So
etwas wie Jeremia haben auch wir schon erlebt.
Immer
wieder im Leben gibt es Momente,
in
denen wir überfordert sind;
gibt
es Aufträge, die uns zu viel werden.
Ebenso
wie Jeremia seufzt man dann,
ohne
doch etwas daran ändern zu können.
Und
oft geht es uns auch dabei ebenso wie Jeremia:
Wir
haben uns diesen Auftrag nicht ausgesucht.
Er
ist uns ebenso zugefallen wie ihm.
Zum
Beispiel der Auftrag, ein Kind aufzuziehen und zu erziehen.
Natürlich
könnten Sie jetzt einwenden,
dass
man gewusst habe, was man da tat.
Aber
hat man es tatsächlich gewusst?
Hat
man die vielen durchwachten Nächte geahnt, die
Sorgen und Ängste?
Man
hat sie ebenso wenig geahnt
wie
das Glück, die Freude und die Liebe,
die
man durch ein Kind erlebt.
"Wir
müssen vor Hoffnung verrückt sein",
singt
der Liedermacher Wolf Biermann sein Töchterchen an:
"Wir
müssen vor Hoffnung verrückt sein,
Marie,
du dunkle Sonne,
dass
wir dich warfen in diese Welt ..." [2]
Wir
müssen vor Hoffnung verrückt sein ...
-
das beschreibt die Art,
wie
man zu solchen überfordernden Aufträge kommt:
Man
überlegt sich nicht vorher, was einen da erwartet,
sondern lässt
sich leichtsinnig darauf ein.
Auf
ein Kind.
Auf
die Pflege der kranken Eltern.
Auf
die Hilfe für einen Freund.
Auf
die Unterstützung eines Menschen.
Auf
die Liebe zu einem Partner.
Man
übernimmt Verantwortung für einen anderen Menschen,
ohne sich lange
Gedanken über die Folgen zu machen,
weil
man vor Hoffnung verrückt ist:
weil
das Herz es einem befiehlt.
Und
ebenso unerbittlich wie Gott den Jeremia
entlässt
auch das Herz den Menschen nicht aus seiner Verantwortung.
IV
Die
Enttäuschung darüber, dass sich die Pläne und Träume der
Jugendzeit nicht verwirklichten,
geht
von der irrigen Annahme aus, das Leben sei planbar, und wir hätten
es in der Hand.
Redensarten
wir die von Brecht zitierten
(Der
Tüchtige schafft es, wo ein Wille ist, ist ein Weg,
wir
werden den Laden schon schmeißen),
aber
auch die Legende des Aufstiegs vom Tellerwäscher zum Millionär,
die
Behauptung, jeder sei seines Glückes Schmied,
nähren
diesen Irrtum.
Denn
immer wieder stößt uns das Leben schmerzhaft mit der Nase auf die
Tatsache,
dass wir unser Leben nicht in der Hand haben – eher hat
das Leben uns in der Hand.
Auch
Jeremia hat es nicht in der Hand,
seinen
Auftrag als Prophet auszuführen
-
dazu ist dieser Auftrag einfach zu groß.
Aber
er muss es ja auch nicht aus eigener Kraft schaffen:
"du
sollst gehen, wohin ich dich sende,
und
predigen alles, was ich dir gebiete.
Fürchte
dich nicht vor ihnen;
denn
ich bin bei dir und will dich erretten".
Gott,
der Auftraggeber,
gibt
Jeremia auch alles mit, seinen Auftrag auszuführen.
Ja,
es ist geradezu die Bedingung,
dass
Jeremia noch "náar" ist, noch zu klein.
Denn
es soll ja allein durch Gottes Kraft geschehen.
V
Wir
sind nicht Jeremia.
Aber
auch wir sind, quasi von Mutterleib an, berufen.
Gott
hat uns durch die Taufe berufen,
seine
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu sein.
Wie
Jeremia schickt er auch uns aus, in dieser Welt
-
"zu gehen, wohin ich dich sende, und predigen alles, was ich
dir gebiete."
Und
uns nicht zu fürchten.
Wir
können nicht alle Propheten und Prediger werden.
Wir
können nicht alles stehen und liegen lassen
wie
die Jünger Jesu, und nur noch unserem Glauben leben.
Der
Weg in die Zurückgezogenheit der Klöster ist ein Weg aus der Welt
-
es ist ein Ausweg, eine Flucht,
aber
nicht der Königsweg.
Der
Königsweg verläuft mitten durch diese Welt,
mitten
durch Überforderung und Irrtümer.
Und
mitten durch den Alltag des Berufs- und Familienlebens.
Auch
wir sind Berufene.
Von
Gott dazu berufen, eine Mutter oder ein Vater zu sein.
Ein Freund,
eine Freundin.
Ein
Sohn, eine Tochter.
Eine
Liebste oder ein Liebster.
Das
ist unser Amt,
und
meistens haben wir mehrere Ämter auf einmal.
Das
ist nicht leicht, oft genug seufzen wir, wie Jeremia.
Dann
sagt uns Gott, dass wir uns nicht fürchten sollen.
Weil
er doch bei uns ist.
Weil
es nicht unser Vermögen, unsere Kraft und unsere Fähigkeiten sind,
an denen das Gelingen hängt, sondern allein Gottes.
VI
Und
die Träume von damals?
Sie
mögen Träume bleiben.
Träume,
die wir - vielleicht ein bisschen wehmütig - belächeln.
Auf
die wir aber vielleicht auch stolz sind
-
stolz, dass wir sie noch immer haben.
Denn
das Größte haben wir bereits erreicht:
Wir
sind von Gott Berufene!
Von
Gott außerordentlich wert geachtet und geliebt.
Und
mit seinem Geist beschenkt,
so
dass wir uns vor nichts zu fürchten brauchen.
Amen.
[1] Bertolt Brecht, Die Gedichte von Bertolt Brecht in einem Band, Frankfurt (Suhrkamp), 6. Aufl. 1990, S. 1192.
[2] Wolf Biermann, Alle Lieder, Köln (Kiepenheuer & Witsch), 1991, S. 356
Amen.
[1] Bertolt Brecht, Die Gedichte von Bertolt Brecht in einem Band, Frankfurt (Suhrkamp), 6. Aufl. 1990, S. 1192.
[2] Wolf Biermann, Alle Lieder, Köln (Kiepenheuer & Witsch), 1991, S. 356