Samstag, 27. August 2016

Ich bin so frei

Predigt am 14. Sonntag nach Trinitatis, 28. August 2016, über Römer 8,14-17:

14 Welche nun vom Geist Gottes getrieben werden, die sind Kinder Gottes.
15 Denn ihr habt nicht einen Sklavengeist empfangen, der euch wieder in Angst versetzt, sondern ihr empfingt den Geist der Kindschaft, durch den wir bekennen: „Abba, Vater!“.
16 Der Geist selbst bezeugt mit unserem Geist, dass wir Kinder Gottes sind.
17 Wenn aber Kinder, dann auch Erben. Als Erben Gottes sind wir aber Miterben Christi, wenn wir mitleiden, um auch mit verklärt zu werden.
(Eigene Übersetzung)


Liebe Schwestern und Brüder,

Paulus’ Brief an die Römer enthält in seinen 15 Kapiteln so viel Theologie, dass man ein ganzes Leben lang darüber nachdenken kann, ohne damit zuende zu kommen. Über jeden einzelnen der Verse, die uns heute beschäftigen, ließe sich jeweils eine ganze Predigt halten, ohne dass damit auch nur annähernd alles gesagt wäre.

Trotzdem möchte ich versuchen, diese vier Verse aus dem Römerbrief mit Ihnen anzusehen und zu verstehen, was Paulus meint. Damit das in der gewohnten Zeit einer Predigt gelingt, kann ich pro Vers jeweils nur einen Gedanken aufgreifen.

I
„Welche nun vom Geist Gottes getrieben werden, die sind Kinder Gottes.”

Die Kinder Gottes sind vom Geist Getriebene. Hinter diesem Ausdruck steckt eine Menge Energie, die ja der Heilige Geist darstellt: Er ist die göttliche Energie, die uns erfüllt und antreibt. 
Das Getriebensein vom Geist Gottes hat nichts mit der Unruhe zu tun, mit der wir von einem Termin zum nächsten hetzen, mit der wir fünf Dinge auf einmal tun, mit der wir immer wieder Neues beginnen, dem neusten Trend nachlaufen.

Das Getriebensein vom Geist Gottes hat mit Begeisterung zu tun, in der ja auch der Geist steckt - und das nicht bloß als Wortspiel. 
Begeisterung ergreift einen, ohne dass man sich und anderen begreiflich machen könnte, warum man so begeistert ist. Wie soll man auch erklären, dass es aufregend ist, eine Modelleisenbahn im Kreis fahren zu lassen, noch ein Paar Schuhe zu kaufen oder seine Briefmarkensammlung zu vervollständigen? Oft versteht man ja selbst nicht, warum man ein Musikstück so schön findet, dass man es wieder und wieder hören muss, warum man ein Buch nicht mehr aus der Hand legen kann oder warum man staunend und fasziniert vor etwas stehen bleibt, das andere übersehen.

Gottes Geist ist die Energie, die uns Christinnen und Christen antreibt. An diesem Getriebensein erkennen wir, dass wir Gottes Kinder sind. Wir erkennen es an der Begeisterung für die Gemeinde; am Wunsch, bei „Kirche“ mitzumachen und mitzuarbeiten; an der Freude, die wir in der Kirche, im Gottesdienst empfinden, und vielem mehr. 
Entscheidend ist nicht, ob ein anderer Mensch anerkennt, dass man ein Kind Gottes ist, ob man eine Bescheinigung mit Siegel dafür hat, womöglich unterschrieben vom Pfarrer. Entscheidend ist allein die Begeisterung: Begeistert mich der Glaube, die Gemeinde, die Kirche? Dann bin auch ich ein Kind Gottes.

Damit aber gar nicht erst ein Missverständnis entsteht: Begeisterung ist nicht die Voraussetzung dafür, ein Kind Gottes zu sein. Gottes Kinder sind wir durch die Taufe. Aber die Taufe als Tatsache, die sie ist, kann uns nicht das Gefühl ersetzen, dass es eben auch braucht: Das Gefühl, tatsächlich zu Gott zu gehören. Dieses Gefühl teilt sich uns durch die Begeisterung mit, die wir empfinden.

II
„Ihr habt nicht einen Sklavengeist empfangen, der euch wieder in Angst versetzt, sondern ihr empfingt den Geist der Kindschaft, durch den wir bekennen: ‘Abba, Vater!’.“

Ob man tatsächlich zu Gott gehört, und ob man Gott recht so ist, wie man ist, das kann zu einer Frage werden, die einen nicht los lässt.
Martin Luthers Lebensangst und Lebensfrage lautete: „Wie kriege ich einen gnädigen Gott?“
So sehr hatte er unter dieser Frage gelitten, dass er die Antwort - seine reformatorische Entdeckung  - nicht für sich behalten konnte. Es war die Entdeckung, dass Gottes Gerechtigkeit keine Eigenschaft Gottes ist, durch die wir ständig geprüft und für untauglich befunden werden, sondern sein Geschenk an uns, mit dem er uns gerecht macht, so dass wir ihm recht sind.

Nein, wir haben keinen Geist empfangen, der uns durch Angst versklaven will - Angst vor Gottes Zorn; Angst, seinem Anspruch nicht zu genügen; Angst, kein Kind Gottes zu sein.
Der Geist, den wir bei unserer Taufe geschenkt bekamen und der uns seither umtreibt, ist ein Geist der Freiheit
Nicht der Freiheit, zu tun und zu lassen, was wir wollen. 
Auch nicht der Freiheit von Leid, Krankheit, Unglück oder Enttäuschung.
Sondern der Freiheit, die man meint, wenn man sagt: „Ich bin so frei“.

Wir sind so frei, uns zur Familie Gottes zu zählen.
Wir sind so frei, unseren Platz in der Gemeinde einzunehmen - selbst dann, wenn uns niemand eingeladen, niemand uns einen Platz angeboten hat.
Gottes Geist bewahrt uns vor falscher Scham und macht uns unverschämt.
So unverschämt nehmen wir den Platz ein, der uns zusteht.
So unverschämt machen wir unseren Mund auf und sagen, was nicht verschwiegen werden darf.
So unverschämt bieten wir den Fremden einen Platz unter uns an.

Die Unverschämtheit, die der Geist uns gibt, mündet in ein Bekenntnis, in die Worte: „Abba, Vater!“
Es ist nicht das Bekenntnis zu einer schwedischen Popgruppe, über deren Musik man geteilter Meinung sein kann. „Abba“ ist das aramäische Wort für „Vater“. Indem wir Gott als Vater bekennen, erklären wir uns zu Töchtern und Söhnen Gottes. 
Ein Bekenntnis ist ein formaler Akt, es braucht keinen Glauben, keine innere Überzeugung, um uns zu dem zu machen, was es sagt. Wer etwas bekennt, lässt sich darauf ein. „Ich bekenne mich schuldig“ bedeutet: Ich nehme die Konsequenzen meiner Tat auf mich. Es muss nicht heißen, dass ich auch an mein Schuldigsein glaube. Das ist der feine Unterschied, der durch die Vergebung kommt: Indem Gott uns vergibt, müssen wir uns nicht mehr schuldig fühlen. Wir müssen allerdings nach wie vor die Konsequenzen tragen, die unser Handeln verursachte - die kann uns die Vergebung nicht abnehmen.

Indem wir also bekennen: „Abba, Vater!“, sind wir tatsächlich und wirklich Kinder Gottes - selbst, wenn es uns manchmal schwer fällt, es zu glauben; selbst, wenn wir uns dessen nicht für würdig halten.

III
„Der Geist selbst bezeugt mit unserem Geist, dass wir Kinder Gottes sind.”

Ist das wirklich so? Reicht es, zwei Worte zu sagen - „Abba, Vater!“ - und schon ist man ein Kind Gottes? 
Ist denn dann der Glaube nicht bloß leeres Gerede, sind es dann nicht bloß Worte, die uns zu Glaubenden machen?

Ja, genauso ist es. Es sind nur Worte. 
Genauso, wie es nur Worte sind, wenn andere zu uns sagen: 
Du bist zu dick. 
Du bist nicht schön. 
Du musst mehr aus deinem Leben machen. 
Das kannst du nicht.

Es sind nur Worte, aber sie haben die Macht, dass wir uns dick fühlen oder hässlich, als Versager oder Verlierer. In der Folge sind wir es tatsächlich, weil Worte die Macht haben, Gestalt in uns zu gewinnen.
Nur wenige Menschen mögen sich so, wie sie sind.
Solche Menschen werden oft misstrauisch und neidisch beäugt und für Aufschneider gehalten, weil sie können, was den meisten nicht gelingt: Sich so annehmen, wie sie sind. Sie lassen sich nicht von ihren angeblichen Schwächen und Fehlern bestimmen, sondern sehen, was an ihnen gut ist; sehen, was sie gut können, und freuen sich darüber.
Den meisten von uns fällt es dagegen leichter, unsere Fehler und Schwächen zu sehen als unsere Stärken, unsere Defizite und Mankos als unsere Schönheit.

Wenn man tatsächlich einmal gut über sich denkt, muss man diesen Gedanken festhalten: Er ist ein Geschenk!
Mit der Freiheit und Unverschämtheit, zu der Gottes Geist uns befähigt, können wir öfter solche guten Gedanken über uns denken. Können wir anders über uns denken, anders als bisher. 
Denn die Wahrheit über uns ist nicht das, was andere über uns sagen oder denken. 
Die Wahrheit über uns ist auch nicht das, was uns nahe Stehende sagen oder denken - Eltern, Geschwister, Freund, Partnerin -, denn sie kennen uns längst nicht so gut, wie sie meinen.
Die Wahrheit über uns ist, dass wir Gottes Kinder sind.
Als Kinder Gottes sind wir klug genug, schön genug, fleißig genug, Manns und Fraus genug. Diese Wahrheit ist nicht weniger wirklich und wahr als die angeblichen Wahrheiten über uns, die man uns einredet und die wir selbst uns einreden, denn der Heilige Geist bezeugt sie mit unserem Geist: Der Heilige Geist schafft in unserem Denken Raum für neue Gedanken, für eine veränderte Perspektive auf uns selbst. Raum, der uns frei macht und unverschämt, weil wir die Scham verlieren über unsere angeblichen Fehler und Schwächen.

IV
„Wenn aber Kinder, dann auch Erben. Als Erben Gottes sind wir aber Miterben Christi, wenn wir mitleiden, um auch mit verklärt zu werden.“

Bisher klang das, was Paulus über Gotteskindschaft sagte, wie Autosuggestion: Man redet sich so lange etwas ein, bis man es selbst glaubt. - Nun ja: Genau so läuft es im Leben. Unsere Eltern reden uns etwas ein, unsere Lehrerinnen und Lehrer, unsere Mitmenschen - sie alle beeinflussen uns, wollen uns von ihrer Meinung, ihrer Sicht auf uns überzeugen - natürlich nur zu unserem Besten! Und irgendwann glauben wir, dass wir nicht schön sind, dass wir etwas nicht können, das wir eigentlich gern getan hätten, dass wir zu wenig leisten, nicht gut genug sind als Mutter oder Vater, als Partnerin oder Partner, als Tochter oder Sohn.

Ja, wir reden uns ein, wer und wie wir sind, und bekommen es von anderen eingeredet. Paulus aber legt wert darauf, dass der Heilige Geist keine Einbildung ist, kein Gerede und auch kein Hirngespinst, sondern eine Energie, die unser Leben verändert. Darum spricht er vom Erben, vom Leiden und vom Verklärtwerden.

Erben ist ein sehr realer Vorgang. Zum einen, weil dazu leider jemand gestorben sein muss. Der Tod eines Menschen gehört zu den einschneidendsten Erfahrungen, die oft tief ins Leben eingreifen, es aus dem Gleichgewicht bringen oder verändern.
Zum anderen ist das Erben ein sehr realer Vorgang, weil man nur Zählbares erben kann - Geld, ein Grundstück, ein Haus.
Wenn Paulus uns Erben nennt, meint er damit, dass unser Glaube etwas Reales ist, so wirklich wie ein Haus oder eine Münze.

Dieser Glaube führt ins Leiden. Man erwartet in der Regel nicht, zu leiden, wenn man etwas erbt - obwohl so mancher Erbfall viel Leid und Streit verursacht. 
Der Glaube führt ins Leiden, weil er uns auf den Weg der Nachfolge Jesu führt. Wer versucht, so konsequent zu lieben, wie Jesus es tat, sich allein auf die Macht der Liebe zu verlassen und nicht auf die eigene Kraft, wird sehr bald Leid erfahren. Doch ist der Weg der Nachfolge bei keinem Menschen gleich. Für jede und jeden gestaltet er sich so, wie es ihrer und seiner Leidenfähigkeit entspricht. Von niemandem verlangt Gott mehr, als er aushalten und leisten kann.

V
Kein schöner Gedanke, dass die Nachfolge Jesu Leiden mit sich bringt. Glaube sollte doch eigentlich eine fröhliche Angelegenheit sein; ein Kind Gottes zu sein, das ist doch etwas Schönes!?

Wer, vom Geist Gottes getrieben, so frei ist, die Wahrheit zu sagen, auf Fremde zuzugehen, seinen Platz zu behaupten und für sein Recht und das anderer zu kämpfen, macht sich nicht beliebt. Solche Un-Verschämtheit wird einem oft übel genommen. Und das bedeutet am Ende meist Leiden, in der einen oder anderen Form.

Ebenso leidet man, wenn man sich das Schicksal, die Not anderer zu Herzen gehen lässt: Hungernde sättigt, Fremde aufnimmt, Bedürftige kleidet, Kranke oder Gefangene besucht.

Der Geist Gottes treibt uns dazu. 
Er treibt uns in den Widerstand gegen die herrschenden Verhältnisse, wenn Menschen darunter leiden. 
Er treibt uns in den Widerspruch zur herrschenden Meinung, wenn sie dem Gebot der Liebe widerspricht.
Sobald man sich jedoch mit denen anlegt, die herrschen, bekommt man ihre Macht zu spüren.
Darum bedeutet die Nachfolge Jesu Leiden.

Aber am Ende wartet nicht der Tod auf uns, sondern die Verklärung.
Verklärung ist eine Verwandlung.
Der Tod wird vom Leben verschlungen.
Das Leid wandelt sich in Freude.
Wir werden alle verwandelt werden, sagt Paulus an anderer Stelle. Verwandlung geschieht nicht erst am Ende. Während wir auf dem Weg sind, verwandeln wir uns und erkennen staunend an den Reaktionen der Menschen, denen wir begegnen, dass wir gute Menschen sind, liebenswerte Menschen, schöne Menschen; dass wir etwas bewirken und etwas können.
Und je mehr wir den anderen zeigen und es sie spüren lassen, dass sie Gottes geliebte Kinder sind, desto mehr zeigen sie es uns, und wir spüren, wie Gottes Geist uns und unsere Welt verwandelt.

VI
In den vier Versen des Römerbriefes, über die wir nachdachten, versucht Paulus, uns vom Hören auf die zahlreichen Stimmen abzulenken, die auf uns einreden und uns sagen wollen, wer wir sind und wie wir sein sollten, was wir zu tun und zu lassen haben.

Paulus macht uns Mut, dem Geist zu vertrauen, der uns begeistert, und un-verschämt die Freiheit zu ergreifen, die er uns schenkt: So frei zu sein, zu sein, wie wir wollen und können. Mit anderen Worten: Die Freiheit, Töchter und Söhne Gottes zu sein.

Amen.