Montag, 12. Februar 2018

Sonntagspflicht

Predigt am Sonntag Estomihi, 11.2.2018, über Amos 5,21-24
(Gehalten im Gottesdienst zur Verabschiedung aus den Kirchgemeinden Neudietendorf und Ingersleben)
Gott spricht:
Ich hasse und verabscheue eure Feste
und kann eure Festversammlungen nicht ausstehen.
Denn wenn ihr mir Brandopfer darbringt
und Speiseopfer, gefällt mir das nicht,
und Opfermahlzeiten von euren Mastkälbern
sehe ich mir nicht an.
Tut weg von mir das Lärmen eurer Lieder;
das Geklimper eurer Harfen will ich nicht hören.
Aber das Recht soll sich wie Wasser fortwälzen
und Gerechtigkeit wie ein gewaltiger Schwall.
(Eigene Übersetzung)

Liebe Schwestern und Brüder,

wäre es möglich, dass Gott etwas gegen den Gottesdienst hat?
Das klingt paradox, schließlich machen wir das alles hier doch nur um Gottes willen - oder? Aber so abfällig, wie Gott sich durch Amos über Feste und Festversammlungen, über Opfer und Opfermahlzeiten äußert, so heftig, wie er Lieder und Musik verabscheut, kann es eigentlich nur einen Schluss geben: Gott hat etwas gegen den Gottesdienst!

Aber doch nicht etwa gegen unseren heute‽
Gottes Kritik richtet sich gegen die Opferfeiern zu Amos’ Zeit, das ist weit über zweieinhalbtausend Jahre her. Stellen Sie sich das mal vor: Als sich die Apfelstädt noch durch unberührte Wälder und Auen schlängelte und sich hier, wo die Johanniskirche steht, Fuchs und Hase Gute Nacht sagten;
als Gotha noch an keinem „Fluss“ lag und keine Wildsau auf den Gedanken gekommen wäre, dass anstelle der Eiche, an der sie sich rieb, einmal ein Augustinerkloster stehen könnte: Da zerbrach man sich in Israel schon den Kopf darüber, ob Gott die Gottesdienste eigentlich gefielen, die man seinetwegen feierte. D.h., nicht „man“ zerbach sich den Kopf. Es war eigentlich nur einer, Amos, ein Schafzüchter, der sich plötzlich dazu berufen sah, im Auftrag und Namen Gottes den Gottesdienst zu kritisieren.

I. Zum Glück werden bei uns in der Johanniskirche keine Tiere mehr geschlachtet, wie es damals in den Tempeln üblich war. Zum Glück veranstalten wir keine ausschweifenden Gelage im Gottesdienst, sondern feiern bescheiden mit einem trockenen Stückchen Oblate und einem Schlückchen Wein das Abendmahl. Unsere Lieder sind schön und modern, die Orgelmusik von allererster Güte. Uns kann Amos’ Kritik nicht meinen, uns kann sie nicht treffen.

Aber vielleicht geht es Gott gar nicht um eine bestimmte Form des Gottesdienstes, die ihm nicht gefällt. Vielleicht geht es Gott ums Prinzip. Können wir uns sicher sein, dass Gott mit unserer heutigen Art, Gottesdienst zu feiern, einverstanden ist? Dass er sich freut, wenn wir sonntags zusammenkommen, dass ihn unser Reden, Beten und Singen freuen? Wie können wir das überhaupt wissen, wie könnten wir es feststellen?

Ein Schritt zu einer Antwort könnte das Nachdenken darüber sein, was Gottesdienst eigentlich ist.
Ganz schlicht gesagt: Gottes-Dienst ist ein zusammengesetztes Hauptwort aus den Nomen „Gott“ und „Dienst“, wobei „Gott“ im Genitiv steht, also den bezeichnet, für den der Dienst getan wird.
Das Wort „Gottesdienst“ sagt also, dass das, was wir hier tun, für Gott geschieht. So, wie man beim Militärdienst der Armee dient, beim Zivildienst in zivilen Einrichtungen wie Krankenhäusern oder Pflegeheimen arbeitete.

II. Das, was wir im Gottesdienst tun, geschieht für Gott. Das ist einem gar nicht so bewusst. Man geht doch allgemein davon aus, dass der Gottesdienst für die Gemeinde stattfindet, um ihretwillen und sozusagen ihr zuliebe gefeiert wird. Deshalb sind manche Gemeinden enttäuscht, dass bei ihnen der Gottesdienst nicht mehr so häufig stattfindet wie früher. Und manche Pfarrer*in ist enttäuscht, wenn nur wenige kommen, weil sie sich doch um der Gemeinde willen so viel Mühe mit ihrem Gottesdienst gegeben hat. Beide, die Gemeinde und die Pfarrer*in, gehen von dem Missverständnis aus, der Gottesdienst sei für die Gemeinde da - dann müsste er allerdings „Gemeindedienst“ heißen.
Heißt er aber nicht.

Das, was wir im Gottesdienst tun, tun wir für Gott. Aber was tun wir eigentlich genau? Wir sitzen oder stehen auf; wir singen, sprechen, vor allem hören wir zu. Alles Tätigkeiten, die man für sich tut. Kein Wunder, dass wir meinen, das alles hier geschähe um unsretwillen. Wir sprechen und singen zwar gemeinsam - und würden das wohl kaum tun, wenn wir allein wären. Wir tun es für uns, weil es uns Freude macht; weil es uns etwas gibt; weil es schön ist. Wenn es das nicht ist, kommt man nicht wieder. Das nennt man „mit den Füßen abstimmen“.

Wir tun aber noch etwas anderes im Gottesdienst, was uns selten bewusst wird: Wir sitzen neben einer/ einem Anderen. Oder setzen uns bewusst nicht neben eine*n Andere*n. Wir lächeln oder sprechen uns an, wir reagieren aufeinander. Wir sind Gemeinde,  d.h. für diese Stunde in der Kirche mehr als eine und noch eine und noch eine …

Dieses Gemeinsame, das uns so selten bewusst wird, ist enorm wichtig. Denn den fehlenden Gemeinsinn kritisiert Gott, wenn Amos Gottes Abscheu vor den damaligen Gottesdiensten formuliert. Aber davon abgesehen ist, so behaupte ich, das Gemeinsame der wesentliche Grund, warum man überhaupt in den Gottesdienst kommt. Es sind nicht so sehr die fesselnde, lebendige Predigt, die virtuose Orgelmusik oder die Schönheit der Kirche, die Menschen in den Gottesdienst einladen. Es ist in erster Linie und vor allem die Gemeinde, die einlädt - oder abstößt.

III. Die Gemeinde ist nicht nur der Hauptgrund, zum Gottesdienst zu kommen oder ihm fernzubleiben. Sie ist auch der Grund, weshalb wir überhaupt Gottesdienst feiern. Der Gottesdienst ist keine Veranstaltung, keine Show, die zu unserer Unterhaltung oder Erbauung aufgeführt wird. Es geht im Gottesdienst nicht um mich, sondern --- ja, klar, um Gott. Aber was bedeutet das?

Bei Amos kritisiert Gott den fehlenden Gemeinsinn. Im Kontrast zu den fröhlichen Feiern, den üppigen Festmählern und der ausgelassenen Musik schreit das Unrecht zum Himmel, für das die Feiernden verantwortlich sind.
Gottesdienst ist ein Liebesdienst - nicht der Pfarrerin an der Gemeinde, sondern aller, die den Gottesdienst feiern, an Gott. Ein Liebesdienst an Gott kann aber nur ein Dienst der Liebe an den Mitmenschen sein. Das hat Jesus uns gelehrt. Wenn wir Gottesdienst feiern, feiern wir ihn nicht für uns. Wir feiern ihn für die Anderen. D.h. man geht nicht in den Gottesdienst, weil die Pfarrerin so nett ist, die Musik so schön und die Kirche gut geheizt. Man geht in den Gottesdienst, weil es unsere Pflicht ist.

- Oh, das Wort „Pflicht“ hört man nicht gern, schon gar nicht in kirchlichen Kreisen. Hier ist alles freiwillig. Sonntagspflicht, die gab es früher einmal. Da musste man jeden Sonntag in die Kirche. Diese Zeiten sind - Gott sei Dank! - vorbei. Ich will Ihnen aber sagen, warum ich meine, dass es trotzdem eine Sonntagspflicht gibt. Dazu drei kurze Vorüberlegungen:

1. Paulus spricht von der Gemeinde als dem „Leib Christi“. Das meint: Die Gemeinde ist der inkarnierte, der Leib gewordene Christus. Nicht in dem Sinne, dass Sie, oder Sie, oder ich Christus wären. Sondern wir alle, und nur wir alle gemeinsam, verkörpern Christus. Will sagen: Durch die Freundlichkeit, Geduld, Zuwendung und Aufmerksamkeit, die wir einander schenken, kann nach außen deutlich werden, was und wie Christus für uns ist. Gottes Freundlichkeit vermitteln wir nicht, wenn wir patzig sind. Gottes Vergebung kann kaum erfahren werden,  wenn man uns als nachtragend und unversöhnlich erlebt.

2. Weil andere durch unser Verhalten erfahren können, wie gut und liebevoll Gott ist, und weil es die „Message“ von Jesus war, Gottes Güte und Liebe zu verkündigen, werden wir zu vicarii Christi, zu Stellvertretern Christi auf Erden. In der römisch-katholischen Kirche ist das ein Ehrentitel und eine Aufgabe des Papstes. Er ist vicarius Christi, Stellvertreter Christi auf Erden. In unserer Evangelischen Kirche haben wir alle diesen Ehrentitel. Wir alle verkünden an Christi statt die Versöhnung, die Liebe Gottes und die Nähe seines Reiches.

Die Nähe des Reiches Gottes zeigt sich darin, dass Erste Letzte und Tränen abgewischt werden. Dass Kranke und Gefangene besucht, Hungernde gespeist, Nackte bekleidet, Fremde willkommen geheißen werden und dass Menschen Recht erhalten und Gerechtigkeit erfahren - durch uns. Darum geschieht Verkündigung nicht nur mit Worten, sondern auch und in erster Linie durch Taten. Wir alle verkündigen - auch und gerade dadurch, wie wir Gemeinde sind, wie wir als Gemeinde miteinander umgehen, wie wir mit Menschen umgehen, die neu in die Gemeinde, in den Gottesdienst kommen.

3. Der/ die Andere, für die wir den Gottesdienst feiern, ist deshalb nicht nur die Freund*in, die Bekannte, neben der ich gern sitze. Der/ die Anderen waren für Jesus vor allem die, die von allen anderen ausgegrenzt wurden: Fremde. Schuldig Gewordene.  Gehandicapte, Kranke, wegen ihres Aussehens Gemiedene. Leute, die aus der Gemeinde geworfen worden waren. Leute, die sich moralisch anstößig verhalten hatten.
Die Anderen sind die, die man - oft im wahrsten Sinne des Wortes - nicht riechen kann. Die Anderen sind immer wieder eine Herausforderung an uns, den Kreis nicht zu klein zu ziehen, „Gemeinde“ nicht zu eng zu denken und uns immer wieder fragen zu lassen, ob wir jemanden übersehen - oder gar nicht erst sehen wollen.

IV. Wenn wir das, was Jesus vorlebte, ernst nehmen wollen, und wenn wir ernst nehmen wollen,
dass Gott keine Freude an schönen Feiern hat, an geputzten und renovierten Kirchen, an ordentlich gewarteten Läuteanlagen und Orgeln, sondern sich freut, wenn Recht und Gerechtigkeit sprudeln, dann haben wir die Pflicht, sonntags in den Gottesdienst zu gehen.
Hier, in der Gemeinde, repräsentieren wir für Andere Christus. Hier, in der Gemeinde, sind wir Stellvertreter*innen Christi, die er ausgesandt hat, die Nähe des Gottesreiches in Wort und Tat zu verkündigen. Hier, in der Gemeinde, versuchen wir, einander anzunehmen, wie Christus uns angenommen hat, zu Gottes Lob.
Wir haben die Pflicht, sonntags in den Gottesdienst zu gehen, weil die Anderen uns brauchen und Gemeinde ohne uns nicht geht.

Nun kann man sagen, und das sagen sich offenbar viele: Es gibt doch welche, die zur Kirche gehen, da braucht es mich doch nicht! Das ist das Schöne an der Gemeinde, dass es auch mal ohne mich geht. Aber es ist wie beim Tandemfahren: Es müssen beide treten. Wenn eine*r immer die Füße hochnimmt, hat die andere bald keine Lust mehr am Radeln.

Der Gottesdienst ist keine Veranstaltung; ihn zu feiern, keine Frage des Angebots, der Lust oder der Tagesform. Er ist eine Pflicht, weil die Anderen Sie brauchen und ein Recht auf Sie haben.

V. Gottesdienst als Pflicht - das ist doch das Letzte! Damit lockt man doch niemanden in die Kirche, damit schreckt man auch die letzten Willigen noch ab! Man will doch, bei aller Liebe, auch etwas für sich haben, wenn man sich schon sonntags aus dem Bett oder vom Sofa hochquält. Was hat man denn noch vom Gottesdienst, wenn er eine Pflicht ist?

Vergessen Sie nicht: Auch Sie sind ein*e Andere. Auch ich bin ein Anderer. So, wie ich für die Anderen zum Gottesdienst komme, damit die Gemeinde entstehen kann, der Leib Christi, durch den Gottes Liebe erfahren werden kann, so kommen die Anderen meinetwegen, damit mir durch sie und in ihnen Christus begegnen kann. Dazu reichen zwei oder drei, das hat Jesus versprochen. Aber schöner und glaubensstärkender ist es doch, wenn es zwanzig oder dreißig sind …

Die Anderen, die zum Gottesdienst kommen, vergewissern mich, dass ich von Gott angenommen bin,
indem sie versuchen, mich anzunehmen - wenigstens für diese eine Stunde.
Sie vergewissern mich, dass Gott mir vergeben hat, indem sie versuchen, mir zu vergeben - wenigstens diese eine Stunde.
Sie vergewissern mich, dass Gottes Angesicht über mir leuchtet, indem sie mir ein freundliches Gesicht zeigen - dass ist viel leichter, als man denkt! 
So stärken Sie meinen Glauben und meine Hoffnung. So erweisen wir einander Taten der Liebe. Das ist doch mehr als genug - finden Sie nicht?