Montag, 28. November 2011

Sieben Siegel - Predigt zum 1. Advent

Predigt am 1. Advent, 27.11.2011, über Offenbarung 5,1-14

Liebe Gemeinde,

da steht man morgens voller Vorfreude auf den 1. Advent auf
und freut sich auf den Gang zur Kirche,
mit dem die Adventszeit eingeläutet wird
- und dann trifft man draußen auf dieses fiese,
graue, stürmische Wetter, das zum November passt,
aber so gar nicht zum Advent.
Und dann sitzt man hier in der Kirche
bei Kerzenschein und Adventskranzkerzenglanz
- und hört einen Predigttext,
der so gar nicht zur adventlichen Stimmung passt,
zu unseren Vorstellungen und Erwartungen an einen adventlichen Gottesdienst.

Ein Text wie aus einer anderen Wirklichkeit, wie aus einer anderen Welt.
Fremdartig mutet der Predigttext aus dem Buch der Offenbarung an, und rätselhaft.
Von einem Lamm mit sieben Hörnern und sieben Augen ist die Rede,
"wie geschlachtet" steht es da.
Kann man dem trauen, was der Seher Johannes da sieht und hört?
Hat das irgendetwas mit uns zu tun und unserer Wirklichkeit,
ist das alles nicht nur ein irrer, wirrer Traum?
Man versucht, etwas wiederzuerkennen in diesem Text,
etwas Vertrautes zu finden.
Und dann stößt man plötzlich auf Zeilen, die man kennt.
Zeilen, die den Schlusschor der Oratoriums
"Der Messias" von Georg Friedrich Händel bilden
und die manche oder mancher im Ohr hat:

"Würdig ist das Lamm, das da starb ...
und hat versöhnet uns mit Gott durch sein Blut ...
zu nehmen Stärke und Reichtum und Weisheit und Kraft
und Ehre und Hoheit und Segen.

Alle Gewalt und Ehr und Macht und Lob und Preis gehöret ihm,
der sitzet auf seinem Thron,
und also dem Lamm ...
auf immer und ewig."

Dieser Schlusschor bildet das Ende des 3. Teils und des ganzen Oratoriums.
Es beginnt mit der Verheißung und der Geburt des Messias,
steigt dann im 2. Teil hinab ins Leiden und in den Tod,
um am Ende des 2. Teils im jubelnden "Halleluja" wieder aufzuerstehen.
Der 3. Teil beginnt mit der Arie "Ich weiß, dass mein Erlöser lebt"
und endet mit den Worten, die ich Ihnen gerade vorgelesen habe.

II
Worte.
Worte, die den Mund ganz schön voll nehmen.
Da wird mit aller Macht etwas behauptet,
das unserer Wirklichkeit so gar nicht entspricht.
Am letzten Sonntag haben wir gerade erst noch einmal Abschied genommen
von den Verstorbenen des vergangenen Kirchenjahres,
am Freitag erst hatten wir eine Trauerfeier hier in der Klosterkirche
und am Mittwoch werden wir hier schon wieder Abschied nehmen müssen,
und das wird ein furchtbar schwerer Abschied werden.

Wenn man sich das Leid vor Augen stellt,
das die Angehörigen der Gestorbenen erfahren,
das auch viele von uns schon erfahren haben in ihrem Leben
- wie passen dazu diese triumphalen Zeilen der Offenbarung:
"Alle Gewalt und Ehr und Macht und Lob und Preis gehöret ihm,
der sitzet auf seinem Thron,
und also dem Lamm ...
auf immer und ewig"?
Das geht doch nicht zusammen?
Das ist doch kein Trost?

Ein eigenartiger, fremdartiger, so gar nicht zur Adventszeit passender Text,
dieser Text aus der Offenbarung.
Und vielleicht gerade deshalb passend in unsere Zeit,
die wenig von weihnachtlichem Frieden hat,
in der befremdliche und beunruhigende Dinge vorgehen
- von den Neonazi-Morden, den Castor-Transporten
über den blutig niedergeschlagenen Aufstand in Syrien
und die zahlreichen Unwetterkatastrophen
bis hin zu den persönlichen Schicksalsschlägen mitten unter uns.
Die Fremdheit des Predigttextes scheint irgendwie zu passen
zu den befremdlichen, beängstigenden Dingen,
die in der Welt geschehen.

Und dennoch: Wenn man selbst Zeuge der Macht des Todes wird,
wenn man am eigenen Leib erfährt, wie machtlos man ist
gegenüber dem, was wir "Schicksal" nennen,
aber auch gegenüber den Plänen und dem Willen anderer
- Vorgesetzter, Arbeitgeber, Nachbarn oder anderer Menschen -,
dann klingen die vollmundigen Worte der Offenbarung wie leere Phrasen.
Sie sagen einem nichts.
Sie sind wie mit sieben Siegeln verschlossene, dunkle Worte.

III
Was aber soll man auch sagen angesichts des Leides,
angesichts des Todes?
Wenn Menschen einen schweren Schicksalsschlag erleiden,
dann fehlen einem die Worte, dann ist man sprachlos und bleibt stumm.
Und das ist auch gut so.
Worte können in so einem Moment nicht trösten.
Es gibt da keine Sätze, die man sich für diesen Fall zurechtlegen könnte,
und auch unser Glaube hat dafür keine Worte.
Man kann nur, wie die Freunde Hiobs, dasein und schweigen,
das Leid und den Schmerz teilen.

Und dennoch dürfen wir nicht sprachlos bleiben angesichts des Todes.
Gerade ihm dürfen wir nicht das letzte Wort lassen.
"Christen sind Protestleute gegen den Tod",
hat ein Theologe (Christoph Blumhardt) mal gesagt.
Es ist unsere Aufgabe, dem Tod die Stirn zu bieten,
uns nicht an ihn zu gewöhnen und ihm nicht das letzte Wort zu lassen.

Aber wie soll das gehen, wenn wir nichts als Worte haben?

IV
Der Seher Johannes weint, weil niemand in der Lage ist,
die sieben Siegel des Buches zu brechen und es zu lesen.
In dieser so befremdlichen Vision beschreibt er etwas ganz Alltägliches.
Vielleicht haben Sie es auch schon erlebt:
Dass Sie in einem Buch eine Zeile gelesen haben,
die sie schön fanden, die Sie ergriffen hat, so sehr,
dass Sie unbedingt jemandem davon erzählen mussten.
Aber der andere versteht nicht, was Sie meinen,
und den Satz, den Sie ihm vorlesen,
findet er nicht weiter bemerkenswert.
Das ist kein böser Wille. Der andere ist auch nicht zu dumm.
Es ist nur so, dass ihm diese Worte versiegelt sind,
und Sie können dieses Siegel nicht aufbrechen für ihn.

Jede Sonntagspredigt unternimmt den Versuch,
dass Menschen von den Worten des Predigttextes ergriffen werden.
Wenn es dabei allein auf meine Fähigkeiten,
mein rhetorisches Geschick, meine Phantasie, meine Art zu sprechen ankäme,
wäre dieser Versuch von vornherein zum Scheitern verurteilt.
Ich kann das Siegel, das auf diesen Worten liegt, nicht brechen.
Ich kann es nicht machen, dass meine Ergriffenheit von diesen Worten
auf Sie überspringt, dass Sie von ihnen ergriffen werden.
Das kann allein das Lamm,
das Sie oben auf dem Hochaltar sehen
- Christus, mit der Siegesfahne in der Hand.

V
Worte.
Es sind nur Worte.
Aber wenn das Siegel, das auf ihnen liegt, gebrochen wird,
können sie unglaublich viel bewegen.
Wer solche Worte hat, dem geben sie Hoffnung in tiefster Verzweiflung.
Wer unüberwindliche Hindernisse vor sich sieht, dem machen sie Mut;
sie trösten in Angst und Leid.

"Alle Gewalt und Ehr und Macht und Lob und Preis gehöret ihm,
der sitzet auf seinem Thron,
und also dem Lamm ...
auf immer und ewig."

Gott sprach am Anfang: "Es werde ..."
Und Gott hat das letzte Wort.
In diesen Wochen des Advent denken wir daran,
dass Gottes Wort zu uns kommt
in seinem Sohn, der uns die sieben Siegel aufschließt.
Dann geschieht wieder das unglaubliche Wunder,
dass wir erkennen und begreifen,
dass alle Gewalt und Ehr und Macht und Lob und Preis
versammelt sind in einem kleinen, hilflosen Kind
in einer Futterkrippe in einem Stall.
Ein kleines Menschlein, das es mit allen aufnehmen wird:
Mit Leid, Geschrei und Schmerz und sogar mit dem Tod,
das leiden wird und sterben, wie wir.
Aber am Ende wird es leben,
wie auch wir leben werden.
Auf dieses Wunder warten wir im Advent:
darauf, dass Gottes Wort uns ergreift
und so auch durch uns zur Welt kommt.

Samstag, 19. November 2011

Predigt zum Ewigkeitssonntag/ Gedenktag der Entschlafenen

Predigt zum Ewigkeitssonntag/ Gedenktag der Entschlafenen, 20.11.2011 über Daniel 12,1b-3:

Es wird eine Zeit so großer Trübsal sein, wie sie nie gewesen ist, seitdem es Menschen gibt, bis zu jener Zeit. Aber zu jener Zeit wird dein Volk errettet werden, alle, die im Buch geschrieben stehen. Und viele, die unter der Erde schlafen liegen, werden aufwachen, die einen zum ewigen Leben, die anderen zu ewiger Schmach und Schande. Und die da lehren, werden leuchten wie des Himmels Glanz, und die viele zur Gerechtigkeit weisen, wie die Sterne immer und ewiglich.


Liebe Gemeinde,

"es wird eine Zeit so großer Trübsal sein, wie sie nie gewesen ist, seitdem es Menschen gibt", weissagt der Prophet Daniel. Wir denken bei solchen Weissagungen an einen fernen Termin in der Zukunft, an das "Jüngste Gericht". Aber wir müssen gar nicht so weit voraus schauen. Die "Zeit so großer Trübsal, wie sie nie gewesen ist, seitdem es Menschen gibt", die haben wir selbst schon erlebt, oder erleben sie gerade jetzt. Denn welche Trübsal könnte größer sein als die Trauer über einen Menschen, der gestorben ist und den man geliebt hat?

I
Wir leben im ehemaligen Zonenrandgebiet. Von der Mauer und vom Zaun, der Deutschland teilte, der Trübsal über viele Menschen brachte und an dessen Errichtung vor 50 Jahren wir uns in diesem Jahr erinnert haben, ist nichts mehr zu sehen. Und trotzdem ist vielerorts noch ein Streifen erhalten, der an die ehemalige "Zonengrenze" erinnert: Der sogenannte "Todesstreifen". "Todesstreifen" hieß er, weil dieser Streifen Land anfangs vermint und es deshalb lebensgefährlich war, ihn zu betreten. Und er blieb lebensgefählich: frei gehalten von Büschen und Bäumen, bot er den Grenzposten freies Schussfeld auf jeden, der es wagte, ihn zu betreten. Und nicht zuletzt liefen durch ihn kreuz und quer die Stolperdrähte, die einen "Republikflüchtling" meldeten und die tödlichen Selbstschussanlagen auslösten.
Wir im "Westen" lebten an diesem "Todesstreifen". Wir lebten in seiner ständigen Gegenwart, wir konnten hineinsehen, wir wussten, wozu er da war und was dem passieren konnte, der es wagte, ihn zu überqueren.

II
Auch als Christinnen und Christen leben wir am Todesstreifen. Einmal im Jahr, um diese Zeit, wagen wir es, an die Grenze des Lebens zu treten und hineinzusehen in den Grenzbereich zwischen Leben und Tod, in den Todesstreifen. Uns der Trauer auszusetzen, die die Erinnerung an die Gestorbenen mit sich bringt, und der Todesangst, die einen beim Blick auf diese Grenze befallen kann.

Warum tun wir das? Warum tun wir uns das an? Warum trauen sich Christinnen und Christen immer wieder an diese Grenze, warum sprechen sie über den Tod, den die Gesellschaft doch lieber verschweigt, den sie an die Ränder verbannt, dort, wo man ihn nicht sieht? Warum beharren sie darauf, ihre Toten würdevoll und mit einer Trauerfeier zu bestatten, während die Gesellschaft immer mehr dazu übergeht, die Toten still und heimlich zu "entsorgen" und ihre Gräber unter einem grünen Rasen unkenntlich zu machen?

Sind wir wie manche islamistische Fundamentalisten, die ihr Leben in der Überzeugung wegwerfen, es warte ein ewiges Leben mit paradiesischen Freuden auf sie? Nehmen wir unser Leben nicht ernst und wichtig, weil wir auf ein besseres Leben im Himmel, auf das "ewige Leben", hoffen? Treibt uns gar eine heimliche Todessehnsucht, wie sie in manchen Liedern des Gesangbuchs ihren Ausdruck findet?
Ich kann nur von mir sprechen, aber ich glaube, Christinnen und Christen haben nicht weniger Respekt vor dem Tod als andere, und genauso viel Freude am Leben. Niemand, der nicht völlig verzweifelt ist, möchte sein Leben aufgeben oder wegwerfen; selbst dann nicht, wenn er davon überzeugt ist, dass ein besseres Leben auf ihn wartet.

Christinnen und Christen unterscheidet von anderen dadurch, dass sie es wagen, in den Todesstreifen hineinzusehen. Sie haben Respekt vor dem Tod, sie unterschätzen ihn nicht. Im Gegenteil: Sie nennen die tödlichen Mächte, die das Leben bedrohen, beim Namen. Sie kämpfen gegen den Tod, sie kämpfen für das Leben hier und jetzt, sie kämpfen dafür, dass diese Welt besser wird, nicht für eine bessere Welt im Jenseits.
All das tun sie, weil sie keine Angst vor dem Tod haben.

III
Habe ich da den Mund nicht zu voll genommen, wenn ich sage: Wir haben keine Angst vor dem Tod? Nun, es ist schon ein Zeichen von Mut, wenn man es wagt, den Tod beim Namen zu nennen und nicht von "du weißt schon, wem" zu sprechen. Es ist ein Zeichen von Mut, wenn man sich traut, in einem Gottesdienst der Gestorbenen zu gedenken. Es ist ein Zeichen von Mut, wenn wir uns immer wieder mit dem Tod auseinandersetzen - auch mit der Möglichkeit des eigenen Todes.
Es ist ein Zeichen von Mut. Und es ist ein Zeichen der Freiheit.

Einen Menschen zu verlieren, den man liebte, ist eine "so große Trübsal, wie sie nie gewesen ist". Es gibt nichts Schlimmeres. Wer einen solchen Verlust erlitten hat, der hat etwas sehr wertvolles im Leben verloren - wertvoller als alles, was man an Geld, Einfluss, Leistungen oder Ehren erreichen kann.

Und der hat, wenn der Schmerz über den Verlust nicht mehr alles andere überstrahlt, etwas wichtiges gelernt: Dass die Liebe der größte Schatz ist, den man im Leben erwerben kann. Die Liebe dieses Menschen, der gestorben ist. Aber auch die Liebe all der Menschen, die leben.
Und auf einmal verändern sich die Werte: Besitz, Reichtum, Karriere, Ansehen werden nebensächlich. Was zählt, worauf es wirklich ankommt, das ist die Liebe, die wir anderen schenken und von ihnen empfangen. Sind Mitmenschlichkeit. Nachbarschaft. Freundschaft.
Und auf einmal merkt man: Was das Leben wirklich lebenswert macht, ist genau das: Das ist die Liebe dieses besonderen Menschen, das sind Freundschaft, Solidarität, Menschlichkeit.

Die Nähe des Todes und die Erfahrung des Todes lassen einen erkennen, was wirklich zählt, was wirklich wichtig ist im Leben. Diese Erkenntnis schenkt, so unglaublich es klingt, Freiheit. Indem wir erkennen, was wirklich wichtig ist, werden wir frei von all dem, was uns fesseln will und uns unfrei macht.

IV
Was wirklich zählt, was wirklich wichtig ist im Leben, bemerkt man leider erst, wenn das Leben schon fast vorüber ist. Wenn man am Grab des Menschen steht, den man über alles liebte. Wenn man seine letzten Freunde zu Grabe getragen hat. Wenn man selbst mit der Tatsache seines Todes konfrontiert wird.
Muss man denn wirklich erst den Tod erleben um zu lernen, wie wertvoll das Leben ist, und was im Leben wirklich zählt? Findet man die Freiheit erst dann, wenn man sie nicht mehr genießen kann? Wird man erst aus der schrecklichen Erfahrung des Todes klug?

Der Prophet Daniel möchte uns schon vorher eines besseren belehren.
Er sieht sie voraus, die "Zeit so großer Trübsal, wie sie nie gewesen ist, seitdem es Menschen gibt". Und er sieht auch voraus, dass "viele, die unter der Erde schlafen liegen, aufwachen werden, die einen zum ewigen Leben, die anderen zu ewiger Schmach und Schande". Daniel sieht den Todesschmerz voraus. Und er sieht die Auferstehung voraus, ein Leben nach dem Tod, ein ewiges Leben.

Wir können wissen, was uns blüht. Aber wir verdrängen dieses Wissen: Der Gedanke an den Tod ist zu schmerzlich. Und der Glaube an die Auferstehung ist zu ungewiss. Dabei machen wir doch sonst gute Erfahrungen mit dem Glauben. Ich meine nicht den christlichen Glauben. Ich meine den Glauben, dass wir geliebt werden - von der Partnerin, vom Partner, von den Eltern, von den Kindern. Diese Liebe lässt sich nicht überprüfen, sie lässt sich nicht beweisen. Sie ist Vertrauenssache. Sie ist Glaubenssache. Wenn wir an die Liebe glauben können, die uns geschenkt wird, sind wir glückliche Menschen. Wenn wir allen Menschen misstrauen, werden wir krank.

V
In eben dieser Weise glauben wir an die Auferstehung: Sie ist ein Vertrauen in das Leben. In dieses Leben, das wir jetzt und hier leben. Der Glaube an die Auferstehung ist das Vertrauen, dass das Leben nicht vergebens ist. Das wir es nicht wegwerfen müssen, weil wir im Moment nur Leid und Schmerz erfahren. Der Glaube an die Auferstehung ist das Vertrauen, dass das Leben des anderen Menschen nicht vergeblich war: Des Menschen, der gestorben ist. Und das unsere Liebe zu ihm nicht vergeblich war.

Es gibt keine Beweise für diesen Glauben, wie es keine Beweise für die Liebe gibt. Aber es gibt ein starkes Hoffnungszeichen: Jesus, der am dritten Tage auferstanden ist von den Toten. Gott hat den Tod besiegt, lautet dieses Hoffnungszeichen. Der Tod ist noch immer eine Macht, mit der wir rechnen müssen, der wir nichts entgegenzusetzen haben. Aber er hat keine Macht mehr über uns. Er kann uns keine Angst mehr einjagen. Er kann uns nicht vernichten. Wir sind frei, frei von der Angst vor dem Tod und frei von allem, was uns fesseln will. Und wir werden bleiben, dem Tod zum Trotz, und mit uns die Menschen, die wir lieben, und wir werden leuchten wie des Himmels Glanz, und wie die Sterne immer und ewiglich.

Darum haben Christinnen und Christen keine Angst vor dem Tod. Darum wagen wir es immer wieder auf Neue, in den Todesstreifen zu blicken, die Zäune einzureißen und die Minenfelder unschädlich zu machen und den Menschen im Schatten des Todes beizustehen. Weil unser Gott ein Gott der Lebenden ist, der den Tod besiegt hat.

Darin liegt unsere Freiheit. Wenn wir sie richtig gebrauchen - nicht, um uns noch mehr zu nehmen, als wir ohnehin schon haben, nicht, um noch mehr zu erreichen, noch mehr Macht zu haben, noch mehr Geltung, sondern um auf andere Menschen zuzugehen -, dann erfahren wir das größte Glück, das das Leben bieten kann. Dann brauchen wir uns eines Tages nicht zu schämen für unser Leben, weil all die Menschen, denen wir Mitmenschen waren, für uns sprechen werden. Dann werden wir leuchten wie des Himmels Glanz und wie die Sterne, und die, die wir liebten, werden mit uns leuchten immer und ewiglich.

Amen.

Mittwoch, 16. November 2011

Predigt zum Buss- und Bettag

Predigt am Buss- und Bettag, 16.11.2011, über Matthäus 12,33-37:

Jesus sprach zu den Pharisäern: Nehmt an, ein Baum ist gut, so wird auch seine Frucht gut sein; oder nehmt an, ein Baum ist faul, so wird auch seine Frucht faul sein. Denn an der Frucht erkennt man den Baum. Ihr Schlangenbrut, wie könnt ihr Gutes reden, die ihr böse seid? Wes das Herz voll ist, des geht der Mund über. Ein guter Mensch bringt Gutes hervor aus dem guten Schatz seines Herzens; und ein böser Mensch bringt Böses hervor aus seinem bösen Schatz. Ich sage euch aber, dass die Menschen Rechenschaft geben müssen am Tage des Gerichts von jedem nichtsnutzigen Wort, das sie geredet haben. Aus deinen Worten wirst du gerechtfertigt werden, und aus deinen Worten wirst du verdammt werden.


Liebe Gemeinde,

"wie könnt ihr Gutes reden, die ihr böse seid?"
Über diese Frage möchte ich mit Ihnen heute nachdenken.
Mich hat sie nicht mehr losgelassen beim Lesen des Predigttextes.
Nicht beim ersten Mal, und auch nicht beim zweiten.
Erst, nachdem ich den Text wieder und wieder gelesen hatte,
wurde mir klar, woran ich hängen geblieben war.
Man hört leicht hinweg über diese Frage,
denn sie wird mit einem Schimpfwort eingeleitet:
"Ihr Schlangenbrut".
"Ihr Schlangenbrut" - das lässt man sich nicht gern sagen.
Wir haben es nicht verdient, so abgekanzelt zu werden.
Indem man innerlich gegen dieses Beschimpfung aufbegehrt,
bekommt man den Rest des Satzes nicht mehr mit.
"Wie könnt ihr Gutes reden, die ihr böse seid?"

Es ist eine ganz eigene Logik, die Jesus da entwickelt.
Das fängt schon mit den Bäumen an:
Ein fauler Baum bringt faule Früchte,
ein guter Baum bringt gute Früchte.
Das ist so. Wenn eine Pflanze faul ist,
also von einer Krankheit befallen,
braucht sie alle Kraft, um diese Fäulnis abzuwehren.
Sie hat dann keine Kraft mehr übrig für die Früchte.
Bei der wird nichts zu ernten sein,
und wenn, dann nur minderwertige, faule Früchte.
An der Frucht erkennt man den Baum,
die Güte der Frucht lässt Rückschlüsse auf die Gesundheit des Baumes zu.

Jesus wendet dieses Beispiel von den Bäumen und ihren Früchten auf den Menschen an.
Die Frucht des Menschen kommt aus seinem Herzen.
Ein gutes Herz bringt gute Früchte,
ein böses Herz bringt böse Früchte.
Wir müssen uns hier für einen Moment von unserem Wissen über die menschliche Anatomie verabschieden: Gemeint ist nicht das Herz als Organ,
das schlecht durchblutet sein oder unter Herzrhythmusstörungen leiden kann.
Gemeint ist das Herz im übertragenen Sinne als Sitz dessen,
was den Menschen ausmacht, sein "Ich".
Wir verbinden ja auch das überwältigende Gefühl der Liebe mit dem Herz,
obwohl es sehr wahrscheinlich dort nicht sitzt,
aber das ist uns egal: Wir malen ein Herz, wenn wir verliebt sind,
und uns ist das Herz gebrochen, wenn unsere Liebe nicht mehr erwidert wird.

Also, das Herz des Menschen bringt Früchte hervor,
gute und schlechte.
Früchte, die es nicht nur zu einer bestimmten Jahreszeit gibt,
sondern die das ganze Jahr über reifen,
jeden Augenblick sogar. Es sind die Worte, die wir sprechen.
Gute Worte können nur aus einem guten Herzen kommen,
böse kommen aus einem bösen.
Jesus geht sogar noch weiter, wenn er sagt:
"wie könnt ihr Gutes reden, die ihr böse seid?"
Das soll doch wohl bedeuten,
dass ein böser Mensch gar nichts Gutes sagen kann.

Ist das so?
Gemeinhin wird doch behauptet,
dass gerade die größten Halunken besonders gut mit Worten umzugehen wissen.
Sie gehen einem um den Bart, sie schmeicheln sich ein,
sie reden so lange auf einen ein, bis man nachgibt
und ihnen die völlig überflüssige Versicherung abkauft,
den überteuerten Staubsauger oder den nach Kork schmeckenden Wein.
Und haben wir es nicht auch erlebt,
dass Menschen, die wir für unsere Freunde hielten,
uns gut zugeredet haben, während sie hinter unserem Rücken über uns herzogen?
Machen wir das nicht auch ab und zu:
einem Menschen freundlich, sogar herzlich begegnen
und dann, wenn er nicht dabei ist, über ihn lästern?
Sagen, was er für ein guter Kerl ist, wenn er zuhört,
über ihn schimpfen, wenn er abwesend ist?
Aber das sind offenbar nicht die guten Worte, die Jesus meint.
Was sind denn dann gute Worte, und wo kommen sie her?

"Wes das Herz voll ist, des geht der Mund über."
Dieser Satz hat es zur Redensart gebracht.
Eine ziemlich altertümliche Redewendung;
in modernem Deutsch müsste es heißen:
Wessen Herz voll ist, dessen Mund läuft über.
Aber das würde so keiner sagen.

Schon wieder eine so eigenartige Vorstellung vom Herzen,
als wäre es ein Gefäß, das überlaufen könnte,
und dann kommt's zum Mund heraus ...
Wir müssen wieder unser Wissen über die menschliche Anatomie vergessen:
Es gibt keine direkte Verbindung zwischen Herz und Mund;
Blutbahn und Speiseröhre sind zum Glück fein säuberlich getrennt.
Auch hier müssen wir uns wieder das Herz im übertragenen Sinn vorstellen,
und zwar diesmal als Lagerraum - Jesus nennt es: Schatzkammer.
Im Herzen wird etwas eingelagert, Gutes und Böses.
Und wenn zuviel eingelagert wird,
wenn das Herz voll ist,
dann kommt es aus dem Mund wieder heraus.

Was kann das sein, das da im Herzen eingelagert wird?
Doch wohl nur etwas, das uns zu Herzen gegangen ist:
Erlebnisse und Gefühle.
Wenn wir z.B. vom Schicksal eines anderen Menschen so ergriffen werden,
dass es uns zu Herzen geht.
Es scheint nicht viel zu geben, was uns so zu Herzen geht.
Vielleicht ist das ja gut so - wer weiß,
ob unsere Herzen das aushalten würden?
Zu einer anderen Zeit unseres Lebens war das jedenfalls noch anders.
Kleine Kinder, wenn sie Beeindruckendes erlebt haben,
erzählen davon mit Worten wie ein Wasserfall.
Ein besonderes, aufregendes Erlebnis,
ein Besuch auf dem Rummel oder im Zoo,
das Miterleben von etwas Außergewöhnlichem
kann zu wahren Wortkaskaden führen.
Da stimmt der Satz: Wes das Herz voll ist, des geht der Mund über.
Die kleinen Kinderherzen,
die noch nicht so abgebrüht sind wie unsere,
und noch nicht so abgehärtet,
die können noch nicht so viel fassen,
die quellen über bereits bei einem Erlebnis,
und dann quillt es heraus aus ihnen in Worten ohne Ende.

Was lagern wir in unseren Herzen,
und wovon quellen sie über?
Wann war es zum letzten Mal,
dass unser Herz so übergequollen ist,
dass wir unseren Mund nicht mehr halten konnten?
Wovon schwärmen wir?
Was begeistert uns?
Martin Luther sagt: "Wo dein Schatz ist,
da ist recht eigentlich dein Herz."
Haben wir Schätze oder Schätzchen,
die uns begeistern,
oder geht es uns wie dem Kohlenmunk-Peter in der Erzählung vom "Kalten Herz",
das unser Herz versteinert ist, sich nicht mehr rühren lässt,
dass wir zu keiner Begeisterung mehr fähig sind,
die uns mitteilungsbedürftig macht?

In der Geschichte, an deren Ende der Predigttext steht,
treibt Jesus einen Dämon aus einem Menschen aus.
Ein Dämon, das bezeichnet etwas, das einen Menschen besetzt.
Er besetzt das Herz, so dass nichts anderes mehr herein kann.
Deshalb war der Besessene, den Jesus heilte, auch taub und stumm:
Es kam nichts mehr herein ins Herz
und deshalb auch nichts mehr heraus aus seinem Mund.
Das Herz dieses armen Menschen
war ein Stein geworden.
Mit der Austreibung des Dämon war es wieder aufnahmebereit.
Offen für alles, was einem Menschen zu Herzen gehen kann.

Gott möchte unser Herz für sich gewinnen.
Er möchte es besetzen.
Darum wird Gott Mensch.
Gott inkarniert sich. Das Wort wird Fleisch.
Darauf gehen wir zu.
Das feiern wir bald wieder, an Weihnachten.
Das Wort wird aber nicht nur einmal Fleisch.
Gott inkarniert sich in uns.
Das Wort Gottes will immer wieder Fleisch werden in uns.
Es wird Fleisch, indem es unser Herz ergreift und besetzt
und für das, was dieses Wort Gottes sagt, entfacht.
Für Gottes Gerechtigkeit. Für Gottes Frieden. Für Gottes Liebe.

Das Wort Gottes ist unser Schatz.
Und wenn es unser Herz anfüllt,
dann drängt es heraus aus uns,
nicht nur in anderen, neuen Worten aus dem Mund.
Es drängt heraus aus unseren Augen in freundlichen Blicken,
im Ansehen und Hinsehen, im Wahrnehmen und in teilnehmender Freude.
Es drängt heraus aus Armen und Händen
im Helfen und Heilen, im Tragen und Trösten.
Aus jedem Menschen drängt es heraus,
dieses Wort Gottes, um Gestalt zu gewinnen
in der Art und Weise, wie wir unser Miteinander gestalten.

Von Gottes Wort ergriffen,
von Gottes Wort besessen,
können wir nicht böse sein.
Wir können Gutes reden.
Wir können Gutes tun.

Wenn Gott sich so in unser Leben einmischt,
dann mischt er sich durch uns auch in die Welt ein, die uns umgibt:
in die Politik, in die Wirtschaft,
in unsere Art, mit Armen, Alten oder Kranken umzugehen.

Gott mischt sich durch uns in die Welt ein.
Gott will mit uns und unseren Fähigkeiten etwas produzieren.
Gott fängt an, mit uns zusammen etwas herzustellen,
etwas Neues, das wir Frieden, Freiheit, Gerechtigkeit nennen,
oder, wie Jesus es genannt hat: Reich Gottes.

Wir selbst wirken daran mit, jede und jeder von uns,
in den Gott sich eingemischt hat,
in den Gott sich einmischt,
wenn wir nachher Abendmahl feiern
und Gott in uns aufnehmen.
Jede und jeder von uns kann daran mitwirken,
dass das Reich Gottes unter uns Raum gewinnt.
Ohne unsere Kooperation kommt Gott da nicht weiter.
Weil er sich aber eingemischt hat in unser Leben,
darum können auch wir uns einmischen
und daran mitarbeiten, dass Gottes Reich kommt.
Jeden Tag neu.

Amen.

Montag, 7. November 2011

Hubertuspredigt, 6.11.2011

Predigt zur Hubertusmesse am 6. November 2011 um 17.00 Uhr in der Klosterkirche Riddagshausen über Jesaja 55, 8-13:

Meine Gedanken sind nicht eure Gedanken, und meine Wege sind nicht eure Wege, spricht der Herr, sondern soviel der Himmel höher ist als die Erde, so sind auch meine Wege höher als eure Wege und meine Gedanken als eure Gedanken. Denn gleichwie der Regen und Schnee vom Himmel fällt und nicht wieder dahin zurückkehrt, sondern feuchtet die Erde und macht sie fruchtbar und lässt wachsen, dass sie gibt Samen, zu säen, und Brot, zu essen, so soll das Wort, das aus meinem Munde geht, auch sein: Es wird nicht wieder leer zu mir zurückkommen, sondern wird tun, was mir gefällt, und ihm wird gelingen, wozu ich es sende. Denn ihr sollt in Freuden ausziehen und im Frieden geleitet werden. Berge und Hügel sollen vor euch her frohlocken mit Jauchzen und alle Bäume auf dem Felde in die Hände klatschen. Es sollen Zypressen statt Dornen wachsen und Myrten statt Nesseln. Und dem Herrn soll es zum Ruhm geschehen und zum ewigen Zeichen, das nicht vergehen wird.


Liebe Gemeinde,

"ihr geht mit der Erde um, als hättet ihr eine zweite im Keller".
Dieser Spruch klebte in den 80er Jahren auf vielen Autohecks,
oft zusammen mit der Weissagung der Cree, einem nordamerikanischen Indianerstamm:
"Erst wenn der letzte Baum gerodet, der letzte Fluss vergiftet und der letzte Fisch gefangen ist, werdet ihr feststellen, dass man Geld nicht essen kann."
Sprüche aus den 80er Jahren, wie gesagt, die meist auf R4s oder "Enten" klebten, auf VW-Käfern oder alten VW-Bussen. Umweltschutz war Anfang der 80er Jahre in der öffentlichen Meinung eine Sache der langhaarigen, latzhosentragenden "Alternativen" und "Ökos", aus denen dann bald die "Grünen" wurden.

Aber damals gab es noch andere "Grüne", die sich auch als Natur- und Umweltschützer verstanden, die aber, wenn überhaupt, dann meist andere Aufkleber auf ihrem Auto hatten: "Jäger - Heger", zum Beispiel. Diese anderen "Grünen" orientierten sich dabei an der "Waidgerechtigkeit", die der "Blase", das Handbuch für Jäger, beschreibt als Ausgleich "der jagdlichen Interessen mit den sonstigen öffentlichen Belangen, insbesondere mit den Belangen ... des Naturschutzes ...". (Blase, Richard, Die Jägerprüfung in Frage und Antwort. Ein Handbuch für Jäger, 21. Aufl., Melsungen 1979, S. 269)

Bereits in der Auflage von 1979 steht dort unter der Überschrift "Natur- und Umweltschutz":
"Für jeden Waidmann gilt ... durch Vermeidung der Überhege, gezielte Bejagung bestimmter Wildarten und durch freiwilligen Verzicht auf die Bejagung gefährdeten Wildes den Fortbestand einer großen Vielfalt von Tierarten in einem gesicherten und gesunden Lebensraum (Biotop) zu sichern. Merke: Erst Heger und Umweltpfleger - dann Jäger!" (Blase, S. 363)

Und im nächsten Absatz heißt es nach der Aufzählung von Umweltschäden:
"Die Folgen dieser Umweltverschmutzung in gesundheitsschädlicher Hinsicht sind bekannt und bereits so augenscheinlich, dass endlich Einhalt geboten werden muss. Der Jäger hat deshalb ... die Aufgabe, ... sich als aktiver Helfer im Umweltschutz zu betätigen ... und den Menschen seines Wirkungskreises die große Bedeutung des Natur- und Umweltschutzes bewusst zu machen und bei ihnen die Einsicht zu wecken, dass unsere natürlichen Lebensgrundlagen heute bereits überbeansprucht sind und der Schutz der Umwelt zu einem Weltproblem erster Ordnung geworden ist." (Blase, S. 363f)

Das sind, wie gesagt, Sätze aus dem Jahre 1979. Wenn man das Fazit aus ihnen zieht - so viel anders als die Sprüche auf den Aufklebern ist es nicht, wenn den Mitmenschen eingeschärft werden soll, wie bedroht unsere Umwelt ist.
Heutzutage gibt es daran auch keinen Zweifel mehr. Über alle Parteien hinweg besteht die Einsicht, dass die Welt in großer Gefahr ist. Nur über den Weg, diese Gefahr abzuwenden, herrscht nach wie vor Uneinigkeit.

Man könnte - ja, man muss eigentlich sagen, dass die Jäger - und, nebenbei bemerkt, auch die Land- und Forstwirte, die ja oft auch Jäger sind -, die ersten "Grünen" waren und immer noch "Grüne" sind - nicht nur wegen ihrer grünen Kleidung. Gemeinsam mit den Land- und Forstwirten setzen sich die Jäger für den Landschafts- und Naturschutz ein. Im strengen, schneereichen Winter Ende der 70er Jahre fuhr mein Vater mit dem Traktor Heubunde in die Feldmark, damit das Rehwild, das unter dem Schnee und Eis keine Äsung mehr fand, nicht verhungerte. Gräben werden sauber gehalten, Müll eingesammelt und Wege ausgebessert. Hecken als Deckung für das Wild und Brutplatz für Singvögel werden gepflanzt. Oft genug werden Spaziergänger angesprochen, die fröhlich zur Brutzeit abseits der Wege durch Wald und Wiesen stromern, sie möchten doch bitte auf den Wegen bleiben und ihre Hunde anleinen - selten erntet man dafür Verständnis, sondern meist böse Worte.
Jäger setzen sich für den Natur- und Umweltschutz ein.
Warum aber gibt es dann gerade zwischen den Umwelt- und Naturschützern auf der einen und Landwirten und Jägern auf der anderen Seite so oft Spannungen und Konflikte, warum können die einen den anderen nicht auf Fell gucken, wenn doch beide am selben Strang ziehen?

Ich habe als Pastor eigentlich gar nicht das Recht, diese Frage zu stellen. Denn unter Christenmenschen geht es ja nicht anders zu: Evangelische und Katholische Kirche liegen im Dauerclinch. Wenn wir uns unter den ev. und kath. Kollegen auch gut verstehen, wenn wir hier in der Klosterkirche auch ökumenische Trauungen feiern - im Großen gibt es nach wie vor keine Einigung, und es wird auf absehbare Zeit wohl auch keine geben.
Aber vielleicht hilft das Beispiel der beiden Kirchen zu verstehen, warum der Dialog zwischen Naturschützern und Jägern so oft misslingt:

Evangelische und Katholische Kirche haben ihre Glaubenswahrheiten, die sie nicht aufgeben können und wollen - zwei Sakramente gegen sieben; Priestertum aller Gläubigen gegen Primat des Papstes; Verständnis der kirchlichen Trauung als Segnung der Brautleute, die auch die Segnung gleichgeschlechtlicher Lebensgemeinschaften möglich macht, gegen die Unauflöslichkeit der Ehe, und so weiter.

So haben auch Land-, Forstwirte und Jäger auf der einen, Naturschützer auf der anderen unterschiedliche Auffassungen von Umwelt- und Naturschutz, die sich zum Teil gegenseitig ausschließen. Auf der einen Seite steht die Nutzung von Feld, Wald und Wild, bei der die Landschaft als Kulturlandschaft betrachtet wird. Auf der anderen Seite der Wunsch, Pflanzen und Tiere vor dem Zugriff des Menschen zu schützen und Lebensräume zu schaffen, die durch die land- und forstwirtschaftliche Nutzung verloren gingen.

Neben diesen Differenzen über das Wie gibt es aber noch etwas anderes, das vielleicht noch mehr trennt als die unterschiedlichen Ansichten, und das ist die Tradition.
In Nordirland haben sich evangelische und katholische Christen nicht wegen der Zahl der Sakramente die Köpfe eingeschlagen, sondern wegen der unterschiedlichen Traditionen, für die jede Konfession stand und steht. In allen Konflikten, die sich vordergründig um den Glauben drehen, geht es neben Macht und Geld immer um Traditionen, die man nicht aufgeben will. Sie feuern den Konflikt an und halten ihn am kochen.

Bei den Jägern ist die Tradition ganz offensichtlich, nicht nur durch ihre Kleidung. Das jagdliche Brauchtum gehört wesentlich zur Identität, von der Waidmannssprache über die Jagdsignale bis hin zur Waidgerechtigkeit. Und es gehört zu unserer Kultur, wie die kirchlichen Traditionen und Feiertage. Aber auch die Umweltschutz-, die Friedens- und die Anti-Atomkraftbewegung hat eine Tradition, wenn sie auch viel jünger ist. Sie drückt sich ebenfalls in der Kleidung aus, im Liedgut, in der Lebensart.

Bei so viel Unterschieden, bei so viel Trennendem ist es kein Wunder, dass sich Naturschützer und Jäger oft wie Katze und Hund gegenüberstehen. Und wie bei den beiden christlichen Kirchen ist nicht in Sicht, dass das jemals anders werden könnte.

Meine Gedanken sind nicht eure Gedanken, und meine Wege sind nicht eure Wege, spricht der Herr, sondern soviel der Himmel höher ist als die Erde, so sind auch meine Wege höher als eure Wege und meine Gedanken als eure Gedanken, hieß es in der Lesung, die wir vorhin gehört haben. Wenn wir nur auf Äußerlichkeiten achten, wenn jeder nur am Eigenen festhält, wird es nie zu einer Einigung kommen. Möglicherweise aber können wir uns diesen Luxus nicht mehr lange leisten, weder bei der Kirche mit ihren sinkenden Mitgliederzahlen, noch bei denen, die unsere Umwelt schützen wollen. Wie der Blase schon 1979 feststellt und den Jägern einschärft, "dass unsere natürlichen Lebensgrundlagen heute bereits überbeansprucht sind und der Schutz der Umwelt zu einem Weltproblem erster Ordnung geworden ist", - heute ist es in unserem Land zwar besser, dafür weltweit gesehen dramatischer geworden.

Sind wir in der Lage, in der Kirche und im Naturschutz, von den Streitereien um das Wie auf das gemeinsame Ziel zu schauen, das so unterschiedlich gar nicht ist? Sind wir bereit, über unseren Schatten zu springen und zunächst einmal die unterschiedlichen Sichtweisen und Traditionen des jeweils anderen nicht abzulehnen, sondern als etwas anzuerkennen, das seine Berechtigung hat, seinen Wert - auch wenn wir ihn nicht teilen? Sind wir schließlich bereit und in der Lage, uns auf Gottes Gedanken einzulassen und von unseren kleinmütigen und kleingläubigen Gedanken wegzukommen?

Gottes Gedanken kreisen um das Wohl für alle Menschen und für seine ganze Schöpfung. Wir sind nur eine Spezies auf diesem Planeten, aber wir haben bereits 20% seiner Oberfläche für uns beansprucht. Wir sind 80 Millionen Bundesbürger, aber die Erde beherbergt bereits 7 Milliarden Menschen. Wenn alle 7 Milliarden so lebten wie wir, gäbe es unseren Planeten schon lange nicht mehr.

Zum Jägersein gehört die Waidgerechtigkeit, wie sie in einem Merkvers ihren Ausdruck findet:
"Das ist des Jägers Ehrenschild,
dass er beschützt und hegt sein Wild,
waidmännisch jagt, wie sich's gehört,
den Schöpfer im Geschöpfe ehrt."

Wir müssen heute lernen, dass in diesem Wort "Waidgerechtigkeit" auch die Gerechtigkeit steckt. Wenn wir den Schöpfer im Geschöpfe ehren wollen, dann müssen wir dem Geschöpf Gerechtigkeit widerfahren lassen - dem Wild ebenso wie unseren Mitmenschen. Und wenn es gerecht zugehen soll in der Welt, wird es nicht gehen, ohne dass wir auf vieles verzichten, das wir lieb gewonnen haben und das uns unverzichtbar erscheint.

Wir haben keine zweite Erde im Keller.
Aber wir alle, die wir heute hier versammelt sind, haben einen Traum von der Erde. Und wie auch immer der für jeden einzelnen aussehen mag, es sind Szenen aus der Natur. Es sind Momente, die man auf dem Ansitz erlebt und die oft schöner und intensiver sind als die eigentliche Jagd und ihr Erfolg.

Der Traum, von dem der Prophet Jesaja spricht, ist ein ganz ähnlicher Traum. Dort heißt es: "Ihr sollt in Freuden ausziehen und im Frieden geleitet werden. Berge und Hügel sollen vor euch her frohlocken mit Jauchzen und alle Bäume auf dem Felde in die Hände klatschen. Es sollen Zypressen statt Dornen wachsen und Myrten statt Nesseln."
Die Träume der Bibel haben immer einen Überschuss, etwas, das von der Wirklichkeit nicht eingelöst werden kann. Aber gerade dadurch geben sie uns Antrieb und Kraft, die Wirklichkeit zu verändern. Indem wir unsere Erde erhalten und bewahren. Indem wir die Schönheit und die Gaben, die sie zu bieten hat, gerecht verteilen.
Amen.