Donnerstag, 4. Februar 2016

Das Wort wird - Mensch

Predigt am Sonntag Sexagesimae. 31.1.2016, über Hebräer 4,12+13:

Das Wort Gottes ist lebendig; es enfaltet Wirkung; es ist schärfer als jedes zweischneidige Schwert. Es dringt durch, bis es Seele und Geist spaltet, Gelenke und Knochenmark. Es prüft die Gedanken und Erkenntnisse des Herzens. Kein Geschöpf ist vor ihm verborgen, sondern vor seinen Augen ist alles unverhüllt und offengelegt. Von ihm reden wir.
(Eigene Übersetzung)

Liebe Schwestern und Brüder,

das Bild vom Wort, das schärfer ist als jedes zweischneidige Schwert, leuchtet unmittelbar ein. Man braucht es nicht zu erklären, auch wenn wir Schwerter nur aus dem Museum kennen. Dass Worte verletzen können, dass manche Worte schmerzten, wie der Stich oder Hieb eines Schwertes, musste jede und jeder schon am eigenen Leib erfahren. Wir sprechen deshalb von "schneidender Ironie" und "beißender Kritik", von "Sticheleien" oder von "Worten wie Pfeilen", wenn wir beschreiben wollen, was böse Worte bei uns anrichten. Es sind Bilder von Wunden, die wir dann benutzen. Wunden, die von Waffen hervorgerufen wurden - wie wir ja auch nicht selten Worte als Waffe benutzen.

I
Eine solche Waffe ist, so sagt es der Hebräerbrief, auch das Wort Gottes. Sogar eine Superwaffe, denn es übertrifft jedes Schwert an Schärfe. Es ist eine Art Skalpell, das sogar die feinsten Gedankenfäden sezieren kann. Zugleich ist es so robust und scharf, dass selbst Knochen und Gelenke ihm keinen Widerstand bieten. 
Eine gefährliche Waffe, das Wort Gottes! Man stelle sich nur vor, welchen Schaden diese Waffe in den falschen Händen anrichten kann! - Ach, leider müssen wir uns das nicht vorstellen. Wir wissen aus der Geschichte unserer Kirche, dass nur zu oft das Wort Gottes als Waffe missbraucht wurde. Mit dem Wort Gottes wurden und werden Menschenrechte und Menschenwürde beschnitten. Mit dem Wort Gottes wird Frauen in der Kirche das Wort abgeschnitten. Mit dem Wort Gottes wurden und werden Menschen gepiesackt, drangsaliert und in Gewissensnöte gebracht. Ja, in den falschen Händen kann das Wort Gottes eine verheerende Waffe sein …

II
Aber was ist überhaupt das Wort Gottes? Wo findet man es, und wann hört man es? Gott redet ja nicht mit uns, wie er einst mit Mose redete, wie mit einem Freund (2.Mose 33,11). Wir sind zwar per Du mit Gott und können ihm alles sagen, aber sehr gesprächig ist Gott nicht gerade. 
Gott kann sehr ausdauernd schweigen. Gott schweigt nicht aus Desinteresse - sein Schweigen kann sehr beredt sein, wenn man sich die Zeit nimmt, darauf zu hören. In der Regel genügt es, auf Gottes Schweigen zu hören, um mit Gott Zwiesprache zu halten. Denn im Hören auf Gottes Schweigen spürt man, wie Gottes Wort alles durchdringt - die Gedanken, Herz und Glieder.

Ha! Da ist es wieder, das Wort! In, mit und unter allem Schweigen ist eben doch auch das Wort da. Aber was und wo ist es denn nun?

Wir sagen von der Bibel, dass sie "Gottes Wort" sei. An zahlreichen Stellen heißt es: "Gott sprach", "Spruch Gottes" oder "so spricht der Herr". Die Bibel zeigt uns Gott, wie er durch das Wort die Welt und das Leben erschafft. Wie er mit den Erzvätern Abraham, Isaak und Jakob, mit Mose und David redet, und wie er durch die Propheten spricht. In der Bibel finden wir Gottes Wort, oder besser: Gottesworte, jede Menge davon, zu jeder Gelegenheit eines.

III
Die Bibel hält ein Wort zu jeder Gelegenheit bereit. Darum lässt sich mit der Bibel zu fast jeder Position ein Bibelwort finden, das sie begründet - und eines, das ihr wiederspricht. Wenn man anfängt, Bibelstellen als Begründung für einen Standpunkt oder als Gegenargument anzuführen, kommt man vom Hundertsten ins Tausendste.
Darum sind die Herrnhuter Losungen den umgekehrten Weg gegangen: Statt eine passende Bibelstelle für die jeweilige Meinung oder Situation zu bieten, stellen die Losungen ein Bibelwort über jeden Tag des Jahres; sie stellen die Bibel über die Meinung oder die Situation. So wird man durch die Losungen jeden Tag neu angesprochen von Gottes Wort oder mit ihm konfrontiert. Der Tag erhält eine Überschrift, unter der er steht, oder das Tagesgeschehen wird auf hilfreiche Weise gedeutet und verstehbar.

IV
Als der Hebräerbrief vom Wort Gottes als einem zweischneidigen Schwert sprach, gab es die Bibel nicht so, wie wir sie heute kennen: das Neue Testament fehlte noch - und der Hebräerbrief wäre fast nicht hineingekommen. Die Bibel war zur Zeit des Hebräerbriefes der Tenach, die jüdische Bibel aus Torah, Propheten und Schriften, die wir das "Alte Testament" nennen.
Auch die Losungen stammen alle aus dem Alten Testament. Damit bewegen sie sich in der Spur der ersten Christen, die die Worte des Alten Testaments auf Jesus deuteten und alles, was Gott zu Israel sprach, auch auf sich bezogen. Spätere Generationen identifizierten sich so sehr mit dem "Volk Gottes", dass sie vergaßen, wen dieses Wort zuerst und eigentlich bezeichnet.
Wie aber kamen die Christen überhaupt dazu, sich von den Worten des Alten Testaments angesprochen zu fühlen? Sie waren ja eindeutig nicht gemeint. - Bei einem Roman würden wir nie auf den Gedanken kommen, dass wir damit gemeint seien. Zwar kann es passieren, dass wir etwas darin ausgesprochen finden, was uns bewegt; vielleicht werden oder sind wir sogar von dem Buch ergriffen. Doch wir wissen genau, dass der Autor dieses Romans nicht uns im Sinn hatte, als er es schrieb. Bei der Bibel aber tun wir so, als sei sie überhaupt und ausschließlich nur für uns geschrieben, als gälte jedes einzelne ihrer Worte uns persönlich. Wie kommen wir bloß darauf?

V
Sie alle kennen den Anfang des Johannesevangeliums: "Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort". Johannes wiederholt die Schöpfungsgeschichte aus dem ersten Buch der Bibel, in der Gott alles durch das Wort erschafft, und sagt: dieses Wort ist Jesus. Die Barmer Theologische Erklärung spitzt das noch zu, indem sie sagt: "Jesus Christus, wie er uns in der Heiligen Schrift bezeugt wird, ist das eine Wort Gottes, das wir zu hören, dem wir im Leben und im Sterben zu vertrauen und zu gehorchen haben". All die vielen Gottesworte der Bibel werden zu einem einzigen Wort, und dieses Wort wurde Fleisch und wohnte unter uns. Jesus ist das menschgewordene Wort Gottes, und zugleich ist er die Zusammenfassung aller Gottesworte zu einem einzigen, wie Paulus schreibt: "Auf alle Gottesverheißungen ist in ihm das Ja; darum sprechen wir auch durch ihn das Amen, Gott zum Lobe" (2.Korinther 1,20).

VI
Wenn das Wort Gottes in Jesus Mensch wurde, verstehen wir, dass es lebendig ist und Wirkung entfaltete und auch heute noch entfaltet - sonst wären wir heute Morgen nicht hier. Aber was hat es mit der Schärfe des Wortes Gottes auf sich? Ist Jesus, den wir als "guten Hirten" kennen, etwa gefährlich? Haben wir uns so in ihm getäuscht, dass wir seine schreckliche Seite übersahen?

Dass ein Wort uns trifft, uns vielleicht sogar erschüttert, ist ein schöner, aber seltener Zufall. Man kann das nicht "machen", und man ist selbst überrascht, wenn es geschieht, und zu welchen meist ungeahnten Gelegenheiten es geschieht.
Ebenso kann man andere zwar mit einem Wort verletzen, sehr verletzen sogar. Aber dass sie einem glauben, gar eine feste Überzeugung ändern, ist weitaus schwerer zu bewerkstelligen, und meist unmöglich.

In Jesus tritt uns Gottes Wort nicht als Wort, sondern als Person gegenüber. Es ist ein Mensch, der als hilfloses, anrührendes Kind in der Krippe lag und ohnmächtig am Kreuz einen qualvollen Tod starb. Die Schärfe des Wortes Gottes besteht darin, dass es uns mit sich selbst konfrontiert: dass wir diesem am Kreuz leidenden und sterbenden Menschen gegenüberstehen und hören, dass er für uns leidet und stirbt. Sich das zu vergegenwärtigen kann sehr schmerzhaft sein. Jesus tat es aber nicht, um uns zu beschämen oder zu verletzen. Er tat es, um damit Ja zu uns zu sagen. Er tat es, damit wir uns angeredet fühlen dürfen, wenn Gott zu seinem Volk spricht; damit wir uns mitgemeint fühlen dürfen, wenn es um Gottes Verheißungen für die Zukunft seines Volkes und für die Zukunft unserer Erde geht. Er tat es, damit wir mit unserem Leben dazu Amen sagen.

VII
Wem Gottes Wort gegenübertritt im Menschen Jesus, dem kann es das Herz zerreißen. Es fährt einem durch Mark und Bein. Man sieht sich bloßgestellt als die oder der, die man ist. Man versteht mit einem Mal, welch ein Mensch Jesus war, und was er aus Liebe für uns tat. In den sieben Wochen der Passionszeit, die jetzt vor uns liegen, haben wir Gelegenheit, das zu bedenken. Nicht nur in den sieben Wochen, sondern immer wieder begegnet uns das menschgewordene Wort - heute im Lachen eines Kindes, morgen im Druck einer Hand, übermorgen im Bettler an der Straße oder im Nachbarn. Wie bei den Losungen wissen wir nie im Voraus, in welcher Gestalt Jesus uns heute gegenübertreten wird. Wenn man aber dann auf den Tag zurückblickt, kann man Gottes Spuren darin feststellen.

Amen.