Dienstag, 25. Dezember 2012

Gleiches Recht für alle


Predigt am 2.Weihnachtstag, 26.12.2012, über Jesaja 11,1-9:

Es wird ein Reis hervorgehen aus dem Stamm Isais und ein Zweig aus seiner Wurzel Frucht bringen. Auf ihm wird ruhen der Geist des HERRN, der Geist der Weisheit und des Verstandes, der Geist des Rates und der Stärke, der Geist der Erkenntnis und der Furcht des HERRN. Und Wohlgefallen wird er haben an der Furcht des HERRN. Er wird nicht richten nach dem, was seine Augen sehen, noch Urteil sprechen nach dem, was seine Ohren hören, sondern wird mit Gerechtigkeit richten die Armen und rechtes Urteil sprechen den Elenden im Lande, und er wird mit dem Stabe seines Mundes den Gewalttätigen schlagen und mit dem Odem seiner Lippen den Gottlosen töten. Gerechtigkeit wird der Gurt seiner Lenden sein und die Treue der Gurt seiner Hüften. Da werden die Wölfe bei den Lämmern wohnen und die Panther bei den Böcken lagern. Ein kleiner Knabe wird Kälber und junge Löwen und Mastvieh miteinander treiben. Kühe und Bären werden zusammen weiden, dass ihre Jungen beieinander liegen, und Löwen werden Stroh fressen wie die Rinder. Und ein Säugling wird spielen am Loch der Otter, und ein entwöhntes Kind wird seine Hand stecken in die Höhle der Natter. Man wird nirgends Sünde tun noch freveln auf meinem ganzen heiligen Berge; denn das Land wird voll Erkenntnis des HERRN sein, wie Wasser das Meer bedeckt.

(Lutherbibel)


Edward Hicks, Peacable Kingdom
Quelle: 


Liebe Gemeinde,

Antonio Marino, Sohn italienischer Gastarbeiter,
war mein bester Freund, als ich zur Grundschule ging;
er wohnte schräg gegenüber, auf der anderen Straßenseite.
Eine italienische Familie war damals noch etwas Besonderes
und ziemlich Exotisches in unserem Dorf.
Von Anfang an verband uns eine Art Leidensgemeinschaft:
Antonio und ich waren die einzigen,
die im Winter wollene Strumpfhosen tragen mussten.
Wir entdeckten das in der Umkleidekabine,
beim Umziehen vor dem Sportunterricht.
Diese Tatsache brachte uns sofort zusammen
und ließ es für jeden von uns nicht mehr ganz so peinlich sein,
dass wir noch, wie die Kleinen, mit Strumpfhose herumliefen.

Eine Gastarbeiterfamilie hatte es damals auf dem Dorf nicht leicht.
Wo ohnehin zwischen "Einheimischen" und "Zugereisten" unterschieden wurde,
hatten Ausländer keine Chance, akzeptiert zu werden.
Bei den Eltern meines Freundes kam erschwerend hinzu,
dass sie Zeugen Jehovas waren;
ich nehme an, er war es auch.
Jedenfalls schenkte er mir eines dieser Traktate, die sie verteilten.
Ich sehe noch die ziemlich kitschigen
und zugleich sehr frommen Illustrationen vor mir.

Eine davon hat sich mir besonders eingeprägt:
Es war der "Tierfrieden";
die Darstellung der Szene, die Jesaja beschreibt:
Kind, Lämmchen, Kuh und Kälbchen,
Löwe, Leopard und Wolf einträchtig und friedlich beieinander.

I
Ganz egal, auf welche Weise man diese Szene illustriert,
sie hat immer etwas Kitschiges, Naives.
Das liegt wohl daran, dass sie so unrealistisch ist.
Wölfe und Lämmer, Kälber und Löwen -
jedes Kind, das das Märchen
vom Wolf und den sieben Geißlein kennt, weiß,
dass das nicht zusammenpassen und niemals gut gehen kann.

Ebenso verhält es sich mit der Aussicht,
dass es jemanden geben könnte,
der nicht nach dem Augenschein urteilt
und nicht nach dem Hörensagen;
der Armen und Schwachen Gerechtigkeit widerfahren lässt
und sie nicht übervorteilt, sie nicht um ihr gutes Recht bringt.

Deshalb passt diese Szene des Tierfriedens so gut zu Weihnachten.
Denn auch in der Weihnachtsgeschichte wird etwas
ganz und gar Unrealistisches erzählt:
dass eine Frau ohne Zutun eines Mannes schwanger wird;
dass ihr Kind, das in einem Stall zur Welt kommt,
von weisen Königen besucht wird
und dass es selbst ein König sein soll.

II
Die Geschichte vom Tierfrieden klingt wie ein Märchen,
ebenso wie die Weihnachtsgeschichte.
Ein Märchen erzählt etwas gänzlich Unwirkliches -
von sprechenden Ziegen
und Wölfen, die mit Kreide ihre Stimme verstellen;
dass es Goldtaler vom Himmel regnet
oder ein Haus aus Lebkuchen gebaut ist.
Aber das Märchen wird nicht nur zur Unterhaltung erzählt,
es hat eine Moral; man kann und soll etwas daraus lernen.
Der Predigttext aus dem Propheten Jesaja aber
und die Weihnachtsgeschichte haben keine Moral.
Es sind einfach nur gut erzählte,
aber völlig an der Wirklichkeit vorbeigehende Geschichten.

Und doch hat die Geschichte vom Tierfrieden
einen Anhalt an der Wirklichkeit;
man bemerkt ihn aber erst auf den zweiten Blick.
Die Geschichte beschreibt, wie es ist im Leben,
indem sie sagt, was das Reis aus dem Stamm Isais nicht tun wird:
Über andere nach dem Augenschein urteilen,
ohne zu fragen, ob der Schein vielleicht trügt;
Gerüchten vertrauen schenken, ohne sie zu überprüfen
- und vor allem, ohne den zu fragen, über den geredet wird.
Arme und Unwissende bekommen weniger oft und weniger leicht Recht
als Einflussreiche und Wohlhabende.
Denken Sie nur daran, wie sehr man sich über angeblich faule und arbeitsscheue Hartz IV-Empfänger erregt
und fordert, der Sozialhilfesatz müsse auf jeden Fall unter dem Mindestlohn bleiben,
sonst wolle ja gar keiner mehr arbeiten,
während man den oberen Gehaltsklassen ihr Einkommen bestenfalls neidet,
aber niemals auf die Idee käme,
von ihnen mehr Bescheidenheit und Solidarität zu fordern.

Wer Kinder hat, weiß nur zu gut,
wo überall Gefahren für sie lauern:
Nicht nur Ottern und Nattern,
die es bei uns zum Glück nur selten gibt,
können Kindern gefährlich werden.
Auch die schönen roten Beeren;
Blätter, die ein Kind sich in den Mund steckt;
Messer, Gabel, Schere, Licht,
vom Straßenverkehr ganz zu schweigen.

III
Jesaja beschreibt, was das Reis aus dem Stamm Isais nicht tun wird
- und beschreibt so seine Wirklichkeit vor zweieinhalbtausend Jahren,
die von unserer nicht so sehr verschieden ist, wie wir meinen.
Der beim ersten Hören utopische und unrealistische Text
zeigt beim genaueren Hinsehen,
dass er die Wirklichkeit sehr scharf in den Blick nimmt
und benennt, was nicht gut ist.

Aber woher weiß Jesaja das?

In der Antike war es über Jahrhunderte,
wenn nicht Jahrtausende hinweg selbstverständlich,
dass es Sklaven gab: Menschen, die anderen Menschen gehörten
und nicht frei entscheiden konnten.
In Amerika wurden Schwarzafrikaner als Sklaven gehalten
und galten als Menschen zweiter Klasse.
In Europa waren Frauen das Eigentum ihrer Väter,
dann ihrer Ehemänner, und hatten kaum eigene Rechte.
Das alles war selbstverständlich und wurde kaum hinterfragt.
Jede und jeder, der anders dachte, wurde als Phantast,
als Spinner, als weltfremd angesehen.
Erst in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts
erstritten Frauen das Wahlrecht;
erst in den 60er Jahren die gesetzliche Gleichheit in der Ehe;
seitdem gibt es erst Pastorinnen in der Ev. Kirche.
Und obwohl die Sklaverei in Amerika 1865 abgeschafft wurde,
dauerte es noch einmal einhundert Jahre,
bis die Rassentrennung aufgehoben wurde.

Wie ist es dazu gekommen,
dass eine Sklavin auf die Idee kam,
sie sei nicht weniger wert als ihr Herr?
Wie kam es dazu, dass ein Afroamerikaner feststellte,
dass seine Hautfarbe ihn nicht zu einem schlechteren Menschen machte als die Weißen?
Wie entdeckten Frauen, dass sie nicht zur Hausfrau und Mutter bestimmt sind,
sondern sich genauso frei entfalten dürfen wir die Männer?
Wie konnte es zu solchen Entdeckungen kommen,
wenn die Wirklichkeit eine ganz andere war,
wenn diesen Menschen von klein auf ihre Minderwertigkeit,
ihr Anderssein, ihre Abhängigkeit und Unfreiheit eingeimpft wurde?

IV
Wenn man genau hinsieht und gut beobachtet,
merkt man, wie es zugeht in der Welt.
Man merkt, dass Jesaja schon damals einen scharfen Blick hatte:
Es wird übervorteilt und betrogen,
es wird nach dem Hörensagen und dem Augenschein geurteilt.
Die Gewalt siegt, und wem nichts heilig ist, der hat Erfolg.

In der Tierwelt ist es nicht anders: Nur die Starken überleben.
"Survival of the fittest" nannte Charles Darwin das.
Und auch wenn er etwas anderes damit meinte,
dieser Satz wurde zum Glaubenssatz aller Macher und Erfolgreichen.
Rücksichtnahme, Fairness, Menschlichkeit, Solidarität
kann man sich im Kampf jeder gegen jeden nicht leisten.
Wer in diesem Kampf nicht bestehen kann,
der muss eben ans untere Ende der Hühnerleiter,
und wer sich nicht wehren kann, geht unter und wird gefressen.
Das war so zu Zeiten Jesajas, und es ist heute nicht anders.

Der scharfsichtige Jesaja bemerkte aber nicht nur,
wie es zugeht in der Welt.
Er sah auch, wie es den Opfern erging,
und er fühlte mit ihnen.
Und plötzlich fand er sich nicht auf der Seite der Gewinner wieder,
sondern war solidarisch mit den Verlierern dieses Kampfes,
mit denen am unteren Ende der Leiter.

Und er erkannte,
dass auch Gott an diesem Ende der Leiter zu finden ist,
und nicht am oberen Ende.
Und so kam er auf die Idee,
die Verhältnisse umzudrehen
und seinen Traum von einer anderen Welt aufzuschreiben:
Seine Utopie von umgekehrten Verhältnissen,
die aber nicht einfach umgekehrt sind,
so dass die Reichen jetzt arm wären
und die Einflussreichen ohnmächtig.
Sondern von einer Gerechtigkeit,
die jeder und jedem Gutes gönnt.

V
An Weihnachten ist etwas ganz und gar Unrealistisches geschehen:
Eine Frau hat ohne das Zutun eines Mannes
ein Kind zur Welt gebracht,
und dieses Kind hat, als es heranwuchs,
die Welt auf den Kopf gestellt:
hat sich zu den Menschen ans untere Ende der Leiter begeben,
ihnen gezeigt, dass sie nicht weniger wert sind
als die Großkopferten, die Schönen,
die Mächtigen und Reichen.
Er hat ihnen ihren eigenen Wert und ihre eigene Schönheit gezeigt;
er hat ihnen gesagt und gezeigt, dass sie dazugehören
und ihnen versprochen, dass sie das Reich Gottes erben werden.
Er wurde dafür hingerichtet, ist gestorben
und in den Augen der Welt mit seiner Mission gescheitert:
Auch nur so ein Spinner, der die Welt verändern wollte,
aber genauso wenig gegen die Macht der Fakten ankam
wie die Weltverbesserer vor und nach ihm.

Aber er ist nicht im Tod geblieben.
Er ist auferstanden, das Leben hat den Tod besiegt.
Die Liebe hat sich als stärker erwiesen als alle Macht der Welt.
Das ist es, was Menschen zu allen Zeiten Hoffnung gegeben hat
und Mut machte, für sich die gleichen Rechte zu fordern,
wie sie für andere galten.
Das ist Auferstehung im Leben.

VI
Mein Freund Antonio Marino
ist nicht lange in unserem Dorf geblieben.
Ich weiß nicht, warum seine Eltern weggezogen sind.
Vielleicht, weil sie bei uns nicht heimisch werden konnten.
Zum Abschied hat er mir ein Büchlein der Zeugen Jehovas geschenkt.
Mir ist davon das Bild vom Tierfrieden in Erinnerung geblieben:
die Hoffnung, dass eines Tages Starke und Schwache,
Löwen und Lämmer in Frieden miteinander leben können;
die Hoffnung, dass wir eines Tages keinen Unterschied mehr machen
zwischen Einheimischen und Zugereisten,
zwischen Deutschen und Ausländern,
zwischen Zeugen Jehovas, Protestanten, Katholiken,
Juden und Muslimen,
zwischen Männern und Frauen,
sondern allen die gleichen Rechte gönnen,
die gleichen Freiheiten,
die Zugehörigkeit zu uns und
ein glückliches Leben unter uns.

Amen.

Sonntag, 23. Dezember 2012

Wer liegt da eigentlich in der Krippe?


Predigt in der Christnacht am Heiligen Abend, 24.12.2012, über Johannes 7,28+29:

Jesus rief laut im Tempel,
lehrte und sprach:
"Ihr wisst, wer ich bin,
und ihr wisst auch, woher ich komme.
Aber ich bin nicht aus eigenem Antrieb gekommen,
sondern ich wurde gesandt von dem, der wahrhaftig ist,
den ihr nicht kennt.
Ich kenne ihn,
weil ich von ihm komme,
und er mich gesandt hat."
(Eigene Übersetzung)


Liebe Schwestern und Brüder,

an Weihnachten wird Gottes Sohn Mensch.
Das eine Wort Gottes, mit dem Gott die Welt geschaffen hat,
wie es im Prolog des Johannesevangeliums heißt,
wird von Maria als Menschenjunges in Bethlehem zur Welt gebracht,
wächst in Nazareth auf, lernt von Joseph,
seinem gesetzlichen Vater, das Handwerk des Zimmermanns,
wird dann von Johannes im Jordan getauft,
zieht predigend durch Israel,
gewinnt Jüngerinnen und Jünger
und stirbt schließlich einen qualvollen Tod am Kreuz.

Soweit, in aller Kürze, die Fakten.

Gott wird Mensch, Gott offenbart sich in einem Menschen.
Gott lüftet sein ewiges Geheimnis,
indem er anschaulich wird, fassbar, greifbar
- begreifbar und angreifbar.
Wissen wir dadurch, wer Gott ist?
Kennen wir Gott jetzt, oder kennen wir ihn zumindest besser,
seit er sich begreifbar und angreifbar gemacht hat?

Eine Künstlerin hat sich in einer Performance
einmal so begreifbar und angreifbar gemacht:
Sie hat sich auf den Boden gelegt und erklärt,
sie übernehme die Verantwortung für alles,
was mit ihr geschehe - kurz: man könne mit ihr machen,
was man wolle.
Zunächst wurde sie gestreichelt, sanft berührt.
Dann begannen die Umstehenden,
ihre Kleidung zu zerreisen und sie nackt auszuziehen,
sie zerkratzten ihre Haut, bis sie blutete
und taten andere schmerzhafte, schreckliche Dinge mit ihr.
Sie hätten sie umgebracht,
wenn ihre Assistenten nicht eingeschritten wären.

Auch Jesus hat sich so angreifbar gemacht.
Auch er hat sich in die Hände der Menschen begeben,
aber seine Assistenten, seine Jünger, sind nicht eingeschritten,
- konnten, durften nicht einschreiten.
Man hat ihn schließlich ans Kreuz genagelt.

I
Wenn wir Menschen etwas genauer untersuchen,
machen wir es dabei oft kaputt.
Kinder reißen Insekten aus Neugier die Flügel ab oder die Beine aus,
pflücken Blumen und zerpflücken sie dann;
Wissenschaftler sezieren Pflanzen,
setzen Tiere in Versuchen Schmerzen und Qualen aus,
um herauszufinden, welche Nerven was bewirken,
ob ein Wirkstoff gut verträglich ist oder nicht,
oder ob eine Creme tatsächlich die Falten glättet.

Wie gehen wir mit Gott um,
wenn wir wissen wollen, wer er ist?
Müssen wir mit dem Kind in der Krippe experimentieren,
um herauszufinden, wer es in Wirklichkeit ist?
Werden wir es mit unserem scharfen Verstand sezieren?
Leuchten wir ihm mit dem Licht der Vernunft ins Gesicht
und testen seine Reflexe?

Das Kind würde es geschehen lassen
- es ist ja gerade erst geboren und ganz hilflos,
es kann und wird sich nicht wehren.
Aber wir merken,
dass wir mit unseren wissenschaftlichen Methoden
nichts über dieses Kind herausfinden werden.
Wir merken auch,
dass wir Skrupel bekommen oder es sogar ablehnen,
so über dieses Kind zu denken.
Nicht einmal in einem Gedankenexperiment
würden wir ihm so etwas antun.

II
Es bleibt also ein Geheimnis,
wer dieses Kind in der Krippe ist.
Es bleibt das Geheimnis, das jeder Mensch ist.
Denn selbst die Menschen, die wir über alles lieben
- unsere Partnerin, unseren Partner,
unsere Kinder, unsere Eltern -,
selbst die kennen wir nicht.
Ja, je länger wir zusammen sind,
je besser wir uns eigentlich kennen müssten,
desto stärker wird uns bewusst,
wie wenig wir voneinander wissen.
Jeder Mensch ist ein Geheimnis,
und wenn wir diesen Menschen lieben,
dann respektieren wir ihr oder sein Geheimnis.
Wir versuchen nicht, alles über ihn zu wissen,
jeden seiner Schritte zu kennen und jeden Gedanken.

Dieses kleine Neugeborene, das da in der Krippe liegt,
ist ein Mensch, eine Person, die wir niemals wirklich kennen werden,
so sehr wir uns auch mit ihr beschäftigen,
so gründlich wir ihr Leben und Denken ausforschen.
Sie hat ein Geheimnis, und das macht ihr Menschsein aus,
das macht sie erst zu einem Menschen,
und es gehört zu ihrer Freiheit, ein Geheimnis zu haben.

Das bedeutet aber:
Wir wissen so gut wie nichts über Jesus.
Wir wissen, wer er ist - der Sohn des Zimmermanns,
und woher er kommt - aus Nazareth in Galiläa,
woher, wie die Tradition es behauptet, noch nie Gutes kam.
Aber das, was wir wissen, hilft uns nicht weiter.

In derselben Weise "wissen" wir etwas über andere Menschen.
Aber dieses sogenannte "Wissen" nehmen wir sehr wohl in Anspruch,
um ein Urteil über andere zu fällen.
Die Herkunft spielt da durchaus eine Rolle,
der Beruf ist keineswegs gleichgültig.
Je besser die Herkunft, je angesehener der Beruf,
desto höher denken wir, desto mehr erwarten wir von ihm.
Es spielt auch eine Rolle, dass wir wissen, dass er gelogen hat,
dass sie Geld veruntreute,
dass er neulich nicht grüßte,
oder dass sie immer so komische Sachen trägt.
Durch dieses "Wissen" gewinnen wir ein Bild von anderen,
so wie sie ein Bild von uns gewinnen.
Diese Bilder bauen wir als Wände zwischen uns auf.
Wände, die uns den Blick aufeinander verstellen.
Wir sehen nicht mehr einander,
sondern nur noch die Bilder, die wir voneinander haben.

III
Auch von Gott machen wir uns Bilder.
Gott ist lieb. Gott ist gut.
Gott sieht alles. Gott bestraft die Sünde.
Gott ist zornig über uns. Gott wird uns alle richten.
Gott ist allmächtig. Gott hilft oft nicht.
Gott ist oft nicht da, wenn man ihn braucht.
Gott erhört nicht jede Bitte.
Manche erhört er, und bei manchen erhört er mehr als bei anderen.
Manche, die werden nie erhört, obwohl sie sich alle Mühe geben.

Viele geben Gott irgendwann auf,
weil Gott sich nicht so verhält, wie sie es von ihm erwarten
oder wie man es ihnen erzählt hat,
weil Gott nicht dem Bild entspricht, das sie von ihm haben.
Ein Schicksalsschlag, eine Ungerechtigkeit
oder einfach die beharrliche Weigerung Gottes,
sich irgendwie "beweisen" zu lassen,
bringen Menschen dazu, den Glauben an Gott aufzugeben,
oder sogar den Gedanken, dass es Gott überhaupt gibt.

Wenn wir aber ehrlich sind,
wissen wir gar nichts über Gott.
Hilflos versuchen wir, dieses Unwissen zu kaschieren,
indem wir uns darüber Gedanken machen,
ob Gott nun ein Er oder eine Sie ist - oder gar ein Es,
ob Gott "jenes höhere Wesen, das wir verehren" ist,
eine Art Energie oder Kraft,
oder einfach nur ein Hirngespinst.

Wenn Gott aber lebendig ist - so lebendig, dass er einen Sohn hat,
dann ist er eine Person.
Und zu dieser Person gehört, dass sie ein Geheimnis hat.
Dass sie ein Geheimnis haben darf; das ist ihre Freiheit.
Wenn wir Gott diese Freiheit lassen wollen,
dann müssen wir akzeptieren,
dass Gott, wie jede andere Person, manchmal Dinge tut,
die wir nicht verstehen, die wir nicht billigen, die wir nicht mögen.

IV
Versuchen wir einmal, nur probehalber,
alles gelernte Wissen über Gott und über den Glauben
beiseite zu schieben.
Versuchen wir, nicht schon zu wissen,
was Gott über uns denkt, wie Gott ist und was er tun wird.
Tun wir, nur probehalber, einmal so,
als ob wir heute zum ersten Mal von Gott hören würden,
als würde er uns heute vorgestellt,
wie man einen Unbekannten
auf einem Empfang oder einer Party vorstellt,
und wir wüssten noch gar nichts über ihn.

Um uns das vorzustellen, müssen wir nur
einen Blick in die Krippe wagen.
Das Neugeborene, das dort liegt, hat noch keine Geschichte.
Es ist, wie jedes Neugeborene, ein Nobody, ein Niemand.
Und doch ist es für seine Eltern ein Somebody, ein Jemand
- ja, für sie ist es das größte Glück der Welt.

Wenn wir in die Krippe schauen,
sehen wir da ein Neugeborenes liegen.
Wenn wir Glück haben, sieht es uns an.
Dann geht uns unser Herz auf, ob wir wollen oder nicht.
Dann gibt es kein Entrinnen vor der Liebe,
die wir in diesem Moment empfinden.
Und dann wissen und spüren wir es zugleich:
Gott ist die Liebe.
Jesus hat das gesagt.
Und dabei geht es nicht um eine theoretische Abhandlung,
wie Erich Fromm sie geschrieben hat.
Es geht um dieses überwältigende Gefühl.

V
Wenn wir wissen wollen,
wer da in der Krippe liegt, und wer Gott ist,
müssen wir wagen zu fühlen und unserem Gefühl zu vertrauen,
und zwar unserem Mitgefühl.
Wenn wir uns in dieses Menschlein in der Krippe hineinversetzen,
uns fragen, was ihm gut täte, was es braucht,
dann wissen wir, wer es ist.

Wir wissen, dass wir mit Menschen behutsam umgehen müssen.
Wir wissen, dass Tiere und Pflanzen unsere Mitgeschöpfe sind,
die unseren Respekt verdienen,
eine Behandlung, die ihnen gerecht wird
und die ihre Freiheit anerkennt.
Wir wissen, dass wir die Tatsache, dass sich jemand nicht wehrt
oder nicht wehren kann,
nicht ausnutzen dürfen, indem wir ihr oder ihm schaden.
Wir wissen es, weil wir es fühlen,
sobald wir uns in ihn, in sie hineinversetzen.

Gott ist die Liebe.
Gott ist dieses Mitgefühl.
Wenn wir lieben, wenn wir mit anderen fühlen,
dann spüren und wissen wir, wie Gott ist.

Gott war so mutig, sich als kleines, hilfloses Kind
in unsere Hände zu begeben und sich nicht zu wehren.
Er hat das für uns getan.
Dafür lieben wir ihn.

Amen.

Samstag, 15. Dezember 2012

Trost


Predigt am 3. Advent, 16.11.2012, über Jesaja 40,1-11:

Tröstet, tröstet mein Volk!, spricht euer Gott. Redet mit Jerusalem freundlich und predigt ihr, dass ihre Knechtschaft ein Ende hat, dass ihre Schuld vergeben ist; denn sie hat doppelte Strafe empfangen von der Hand des HERRN für alle ihre Sünden. 

Es ruft eine Stimme: In der Wüste bereitet dem HERRN den Weg, macht in der Steppe eine ebene Bahn unserm Gott! Alle Täler sollen erhöht werden, und alle Berge und Hügel sollen erniedrigt werden, und was uneben ist, soll gerade, und was hügelig ist, soll eben werden; denn die Herrlichkeit des HERRN soll offenbart werden, und alles Fleisch miteinander wird es sehen; denn des HERRN Mund hat's geredet. 

Es spricht eine Stimme: Predige!, und ich sprach: Was soll ich predigen? Alles Fleisch ist Gras, und alle seine Güte ist wie eine Blume auf dem Felde. Das Gras verdorrt, die Blume verwelkt; denn des HERRN Odem bläst darein. Ja, Gras ist das Volk! Das Gras verdorrt, die Blume verwelkt, aber das Wort unseres Gottes bleibt ewiglich. 

Zion, du Freudenbotin, steig auf einen hohen Berg; Jerusalem, du Freudenbotin, erhebe deine Stimme mit Macht; erhebe sie und fürchte dich nicht! 
Sage den Städten Judas: Siehe, da ist euer Gott; siehe, da ist Gott der HERR! Er kommt gewaltig, und sein Arm wird herrschen. Siehe, was er gewann, ist bei ihm, und was er sich erwarb, geht vor ihm her. Er wird seine Herde weiden wie ein Hirte. Er wird die Lämmer in seinen Arm sammeln und im Bausch seines Gewandes tragen und die Mutterschafe führen.
(Luther 1984)


Liebe Gemeinde,

manchmal braucht man Trost.
Da muss man seinen Kopf in den Schoß
von Mutter oder Vater legen,
sich an der Brust der Liebsten oder des Liebsten bergen
und weinen - und dann eine vertraute, beruhigende Stimme hören,
die einem versichert, dass alles gut werden wird,
dass man selbst gut ist und richtig und geliebt.

Manchmal braucht man Trost,
und dieses Bedürfnis richtet sich nicht nach dem Kalender.
Auch kurz vor Weihnachten,
das man so gar nicht mit Trauer und Trost in Verbindung bringt,
muss man manchmal getröstet werden.
Denn auch das Leid richtet sich nicht nach dem Kalender.
Wir haben gerade Szenen aus Newtown in Connecticut gesehen,
wo Eltern, Schülerinnen und Schüler, Lehrerinnen und Lehrer,
aber auch viele Außenstehende nach Trost suchten
und sich die Frage stellten, 
die bis jetzt nicht beantwortet werden kann: Warum?
Warum erschießt ein junger Mann 20 Kinder und 7 Erwachsene?
Warum ändern die 31 Amokläufe seit dem von Columbine
nichts an den US-amerikanischen Waffengesetzen,
während ein einziger sog. "Schuhbomber" erreichte,
dass seitdem an allen Flughäfen die Schuhe ausgezogen werden müssen?

I
Tröstet, tröstet mein Volk!, spricht euer Gott. Redet mit Jerusalem freundlich und predigt ihr, dass ihre Knechtschaft ein Ende hat, dass ihre Schuld vergeben ist; denn sie hat doppelte Strafe empfangen von der Hand des HERRN für alle ihre Sünden.

Neben der Frage nach dem Warum, nach dem Motiv des Täters,
fragen viele Menschen auch danach,
wie Gott das zulassen konnte.
Auch in Newtown wird diese Frage gestellt.
Wenn etwas so Unbegreifliches passiert
wie dieser Amoklauf in einer Grundschule -
aber auch die Nachricht von der unheilbaren Erkrankung
oder vom Tod eines Menschen, den man liebt -,
stellt sich die Frage ganz von selbst:
Wie kann Gott das zulassen?

Man erstarrt fast, wenn man im heutigen Predigttext hört:
Sie hat doppelte Strafe empfangen von der Hand des HERRN für alle ihre Sünden.
Kann es sein, wäre es möglich,
dass Gott solche Schrecken nicht nur zulässt,
sondern sogar veranlasst, als Strafe - wofür auch immer?
Kann es sein, muss man sich das so vorstellen,
dass Gott uns Menschen leiden lässt
für Fehler, die wir begangen haben?

Nein, das kann nicht sein. Und das ist auch nicht so.
Gott bestraft uns nicht für unsere Fehler,
Gott vergibt sie uns.
Zwar wird Gott in der Bibel als Persönlichkeit dargestellt,
die zornig werden kann; die so enttäuscht ist von den Menschen,
vom Volk Israel, dass sie bereut, ihnen Gutes getan zu haben;
die unberechenbar ist und dunkle, unverständliche Seiten hat.
Aber zu Gott gehört seine Vergebung,
seine Barmherzigkeit und sein Mitleid.
Gott ist diese Vergebung, diese Barmherzigkeit.
Gott ist die Liebe, sagt Jesus.
Gott straft nicht, Gott vergibt.

II
Allerdings kann es sein,
dass man selbst das Gefühl hat,
von Gott bestraft zu werden.

Ein Kind, das von Mutter oder Vater getröstet wird,
erlebt doch auch, dass seine Eltern ziemlich sauer werden können;
das sie manchmal launisch sind, kurz angebunden, reizbar.
Und es fragt sich, ob es daran schuld ist,
was es falsch gemacht haben könnte, dass die Eltern so sind.
Und vergisst dabei, dass seine Eltern es über alles lieben
und dass sie sehr traurig würden, wenn sie wüssten,
was ihr Kind da gerade denkt.

Und so ist es auch in Beziehungen:
Wir interpretieren das Verhalten unserer Partnerin, unseres Partners
oft als Reaktion auf unser Verhalten,
denken in Kategorien von Schuld und Strafe.
Dabei gab es einfach nur Ärger auf der Arbeit,
oder der Partner ärgert sich über sich selbst,
aber man merkt das nicht, bezieht es auf sich
und vergisst, dass einen die Partnerin, der Partner über alles liebt
und sich schämen würde, wenn er wüsste,
was man da gerade denkt.

Das Volk Israel fühlt sich von Gott bestraft,
weil es seine Heimat verloren hat,
weil Jerusalem und der Tempel zerstört wurden
und es ins Exil verschleppt worden war.
Wie konnte Gott das zulassen?

Gott diskutiert nicht mit seinem Volk.
Er sagt nicht: Ihr seht das völlig falsch,
ich habe damit nichts zu tun.
Gott hält es aus, dass man ihn verantwortlich macht,
dass man ihm die Schuld gibt an der Misere.
Aber wenn Gott schuld ist, kann er nicht trösten.
Ein Vater, der sein Kind ausgeschimpft hat,
kann es nicht anschließend in den Arm nehmen.
Es rennt erst einmal zur Mutter
und sucht Trost in ihrem Arm.
So bittet Gott um Trost für sein Volk:
Tröstet, tröstet mein Volk!
Gott sucht nach jemandem, der es trösten kann,
der die Tränen und die Verzweiflung aushält
und später einmal, wenn der größte Kummer vorbei ist,
zeigen kann, dass nicht Gott schuld war.

III
Gott ist nicht schuld.
Aber, so kann man jetzt gemeinerweise fragen,
wenn Gott für das Leid und die Schrecken nicht verantwortlich ist, wenn er nichts damit zu tun hat,
kann er dann überhaupt etwas bewirken?
Ist die Rede von den Tälern, die erhöht werden sollen 
und den Bergen und Hügeln, die erniedrigt werden sollen,
anders als symbolisch zu verstehen?

Siehe, da ist euer Gott; siehe, da ist Gott der HERR! 
Er kommt gewaltig, und sein Arm wird herrschen.
Gott ist nicht schuld.
Gott greift aber auch nicht ein.
Gott entreißt dem Attentäter nicht die Waffe,
Gott besiegt nicht den Krebs,
Gott verhindert nicht den Unfall, den Tod.
Gott, so scheint es, bewirkt gar nichts.
Er greift nicht ein, er verändert nichts.

Aber warum spricht dann der Prophet davon,
dass Gott gewaltig kommt?
Warum singt Maria im Magnificat,
das wir vor der Predigt gehört haben
und dass wir auch nach der Predigt noch einmal hören werden,
davon, dass Gott die Mächtigen vom Thron stürzen wird
und die Niedrigen erhöht?
Er hat die Niedrigkeit seine Magd angesehen.
Siehe, von nun an werden mich selig preisen alle Kindeskinder.
Über diese vollmundigen Worte Marias
würden ihre Zeitgenossen, wenn sie sie gehört hätten,
die Köpfe geschüttelt haben.
Maria war bis zu ihrem Tode eine einfache Frau aus dem Volk.
Es ist nach menschlichen Maßstäben nichts aus ihr geworden.
Und doch wurde wahr, wovon sie sang:
Alle Generationen seitdem preisen sie selig.
Unsere Kirche ist nach ihr benannt,
und überall auf der Welt werden täglich ihre Worte angestimmt.

IV
Gott kommt gewaltig, und sein Arm wird herrschen. Er wird seine Herde weiden wie ein Hirte. Er wird die Lämmer in seinen Arm sammeln und im Bausch seines Gewandes tragen und die Mutterschafe führen.
Gottes Gewalt ist so ganz anders als die Gewalt,
die von Pistolen und halbautomatischen Waffen ausgeht.
Es ist die Gewalt eines kleinen, hilflosen Neugeborenen,
der im Stroh einer Futterkippe in einem Stall liegt.
Ohnmächtiger, abhängiger, hilfloser kann man nicht sein.
Und doch geht eine Macht von ihm aus,
die jeder, der kein Unmensch ist, sofort spürt:
So ein kleines Kind löst sofort Beschützerinstinkte aus.
Man will ihm um jeden Preis helfen, für es da sein.

Und so ein kleines Kind weckt eine unglaubliche Freude -
nicht umsonst kann sich kaum ein Erwachsener beherrschen,
nicht in einen Kinderwagen zu schauen
und sich wie ein Schneekönig zu freuen,
wenn das Kleine im Wagen reagiert, gar lächelt.

Die Macht des Kindes ist hilflos gegen die Macht der Gewehre.
Sie kann leicht, allzu leicht besiegt werden.
Dennoch ist sie eine Macht, die eine unwiderstehliche Gewalt entfaltet.
Eine Macht, die Berge einebnen und Täler erhöhen kann.
Denn sie gibt uns Menschen Hoffnung und Ziel.
Sie lässt uns an das Gute glauben, zu dem Menschen fähig sind,
an das Gute, zu dem Gott seine Welt bestimmt hat,
und gibt uns die Kraft,
das Gute in kleinen Schritten Wirklichkeit werden zu lassen.

So schrecklich und unbegreiflich der Amoklauf in Newtown war -
sofort waren Menschen da, die halfen, die trösteten,
die sich empörten gegen die Waffenlobby.
Im Internet kursierten Aufrufe zum Gebet für die Opfer
und für ihre Hinterbliebenen, für die Lehrer der Schule.
Menschen teilten ihre Fassungslosigkeit mit
und trösteten einander.

Die Macht der Liebe kann mit Gewehren leicht besiegt werden.
Es ist eine ohnmächtige Macht.
Aber sie ist stärker als jedes Gewehr,
weil sie uns Menschen ans Herz geht,
uns barmherzig macht 
und uns Hoffnung gibt.

V
Tröstet, tröstet mein Volk!
Auch in der Adventszeit braucht man manchmal Trost.
Und man findet ihn - bei Mutter und Vater,
bei der Liebsten, beim Liebsten.
Und beim Kind in der Krippe,
das in seiner Armut und Hilflosigkeit
die Welt verändert hat
und zum Trost für alle wurde.
Dieses Kind hat uns Macht gegeben:
die Macht der ohnmächtigen Liebe,
mit der wir einander Trost spenden
und Hoffnung geben über Weihnachten hinaus:
Hoffnung auf Frieden auf Erden
und darauf, dass wir Menschen einander nicht den Tod bringen,
sondern Trost.
Amen.

Samstag, 8. Dezember 2012

Rache und Vergeltung


Predigt am 2. Advent, 9.12.2012, über Jesaja 35,3-10:

Stärkt die schlaffen Hände,
und die zitternden Knie stärkt.
Sagt den klopfenden Herzen:
seid stark, fürchtet euch nicht.
Seht: Euer Gott wird zur Rache kommen,
zur Vergeltung; Gott wird kommen und euch helfen.
Dann werden die Augen der Blinden geöffnet werden
und die Ohren der Tauben.
Dann wird der Lahme springen wie der Hirsch,
und jubeln wird die Zunge des Stummen.
Denn in der Wüste brechen Wasserläufe hervor,
und Bäche in der Steppe.
Und wo das Flirren der Hitze wie Wasser aussieht,
soll ein Schilftümpel sein,
und in wasserlosem Gebiet wird Wasser quellen.
Wo Schakale hausen und lagern,
wächst Schilf für Schilfrohre, und Papyrus.
Und es wird dort eine Straße und ein Weg sein,
"heiliger Weg" wird man ihn nennen;
Unreine dürfen nicht auf ihm gehen,
er ist für die bestimmt, die schon auf dem Weg gehen,
aber die Toren werden nicht auf ihm umherirren.
Es wird dort kein Löwe sein
und Raubtiere werden nicht zu ihm hinaufsteigen;
sie werden dort nicht gefunden,
sondern die Erlösten gehen auf ihm.
Die Losgekauften des Herrn kehren zurück
und kommen zum Zion mit Jubel.
Ewige Freude wird auf ihren Häuptern sein.
Jubel und Freude wird sie einholen,
aber Kummer und Seufzen werden fliehen.

(Eigene Übersetzung, vgl. Offene Bibel)

Liebe Gemeinde,

"du musst jetzt sehr stark sein."
Dieser Satz kündigt eine schreckliche Nachricht an.
Wer ihn hört, der macht sich auf das Schlimmste gefasst.
Dem ergeht es dann so, wie es der Predigttext beschreibt:
die Hände werden schlaff. Die Knie zittern.
Und das Herz klopft zum Zerspringen.
"Setz dich besser erst mal hin", heißt es dann,
und man setzt sich 
und erwartet jeden Moment den Schlag,
den die Nachricht einem versetzen wird.

I
"Du musst jetzt sehr stark sein."
Das haben wir uns auch schon oft gesagt.
Auch wenn wir zum Glück nur selten 
eine schlechte Nachricht verkraften mussten,
stark müssen wir trotzdem oft sein.
Es wird viel von uns verlangt.
Wir müssen unsere Kräfte mobilisieren,
noch einmal in die Hände spucken, 
die schon nicht mehr richtig zupacken können;
die Beine, die vom Laufen müde sind
oder vom vielen Stehen schon schmerzen,
noch einmal anspannen;
das vor Anstrengung klopfende Herz beruhigen.

Schülerinnen und Schüler schreiben
in diesen Wochen vor den Weihnachtsferien
eine Arbeit nach der anderen;
Eltern werfen sich nach der Arbeit ins Getümmel
der Kaufhäuser und Weihnachtsmärkte,
stehen im Stau beim Warten auf einen Platz im Parkhaus
und im Stau bei der Fahrt nach Hause.
Alleinstehende fürchten die Einsamkeit dieser dunklen Tage besonders.

Alle haben jetzt mehr zu tun, mehr auszuhalten als sonst,
haben kaum Gelegenheit, 
die freudige Erwartung zu empfinden und auszuleben,
die sich doch mit der Adventszeit verbindet.

Bis zum Weihnachtsfest müssen wir sehr stark sein
und alle Kraft zusammennehmen.
Erst dann ist es soweit:
erst dann können wir das Fest genießen,
uns an den Geschenken und am Miteinander freuen.

II
Irgendwann kann man aber einfach nicht mehr.
Man hat sich schon so oft zusammengerissen,
hat zu oft die letzten Kräfte mobilisiert,
zu oft in die Hände gespuckt,
zu selten die Beine hochlegen können,
hat zu viel auf dem Herzen.

Irgendwann funktioniert man nur noch,
fast wie eine Maschine.
Steht morgens auf, fährt zur Schule oder zur Arbeit,
bringt den Tag irgendwie herum
und fällt abends todmüde, leer und ausgebrannt ins Bett.

Irgendwann weiß man nicht mehr,
wie man sich jetzt noch einmal motivieren,
noch einmal zusammenreißen und Kraft gewinnen soll.
Da hilft kein "Knoppers",
keine "lila Pause" und auch kein "Kinder-Pingui".
Auch keine Zigarette und kein Alkohol.

Woher bekommt man Kraft,
wenn man sich selbst am Ende seiner Kräfte fühlt?
Wer oder was macht einem Mut,
wenn man selbst mutlos geworden ist?
Worauf kann man sich noch freuen,
wenn der Alltag zur freudlosen Pflicht verkommen ist?

Der Predigttext ruft dazu auf,
den Kopf aus den Händen zu nehmen
und aufzublicken, hochzusehen:
"Seht: Euer Gott wird zur Rache kommen,
zur Vergeltung; Gott wird kommen und euch helfen."

III
Rache und Vergeltung - 
darf man in einer Kirche davon überhaupt sprechen?
Gerade zur Advents- und Weihnachtszeit,
in der es friedlich-schiedlich zugehen soll,
will man die Worte "Rache" und "Vergeltung" nicht hören.
Sollten wir als Christinnen und Christen der Rache nicht abschwören?
Sollten wir nicht unsere Feinde lieben
und dem, der uns schlägt, auch die andere Wange hinhalten?

Das stimmt. Schließlich heißt es in der Bibel:
"Die Rache ist mein; ich will vergelten, spricht der Herr."
(5. Mose 32,35)
Aber wenn Jesus dazu auffordert, die Feinde zu lieben,
verlangt er damit nicht, 
dass man sie zu Freunden machen muss.
Jesus vertuscht nicht, dass sie Feinde sind.
Er möchte nur, dass wir in ihnen auch den Mitmenschen sehen
und dass wir ihre Feindschaft nicht erwidern,
nicht Böses mit Bösem vergelten.
Das heißt nicht, dass es nichts Böses gibt,
oder dass man das Böse nicht so nennen dürfte.

Damit wir aufblicken und Gott kommen sehen können,
müssen wir zunächst das sehen,
was unser Leben und das Leben anderer beschwert.
Wir müssen, obwohl wir doch schon so müde sind,
obwohl die Vorweihnachtszeit alles mit Zuckerguss
und Jingle Bells zukleistert,
sehen, wer und was uns so müde und kraftlos macht.

Auf dem Lebensweg, den wir gehen,
gibt es Schakale und Löwen.
Es gibt die Toren, die darauf herumirren,
und die Raubtiere, die uns verletzen, vernichten wollen.
Wenn man hinsieht, entdeckt man sie
in den Mitschülern, die einen ausnutzen, 
aber, wenn man sie braucht, nicht helfen;
die Druck ausüben, lästern und mobben.
Man entdeckt sie in den Kolleginnen und Kollegen,
die einem den Erfolg nicht gönnen,
die einem Stöcke zwischen die Beine werfen
und ihre Intrigen spinnen.
In den Institutionen und Behörden,
die einem mit Verordnungen und Auflagen das Leben schwer machen,
die sich nicht für das interessieren, was man leistet,
sondern nur ihre Regeln und Paragraphen kennen.

IV
Wer sieht, wer und was einem das Leben schwer macht,
wer sich diesen Anblick zumutet - gerade in der Adventszeit,
die ja eine Buß- und Fastenzeit ist, eine Zeit der Besinnung:
der Besinnung nicht nur auf die eigenen Fehler und Defizite,
sondern auch darüber, warum die Welt so ist, wie sie ist,
und ob das alles so sein und bleiben muss -
wer sich diesen Anblick zumutet,
dem wird die Nachricht Mut machen,
dass Gott zur Rache kommt und Vergeltung üben wird.

Dem wird es Kraft geben,
dass Gott nicht zulässt,
dass Leute seinen Weg verschandeln und zerstören,
dass Leute die Menschen, die darauf gehen, 
zu behindern und zurückzuhalten suchen.

Gott, so verkündet unser Predigttext,
will, dass alle, die auf seinem Weg gehen,
diesen Weg unbeschadet und ungestört gehen können.
Gott will, dass Leben aufblühen kann 
und Verwüstungen geheilt werden.
Gott will, dass Menschen sich freuen können -
freuen an den Fähigkeiten und Gaben, die Gott ihnen geschenkt hat,
freuen am Erfolg und den Früchten, die ihre Mühen haben,
freuen am Leben, das sie spenden, wenn sie auf Gottes Wegen gehen.
Gott wird sich an all denen rächen,
die den Nachfolgerinnen und Nachfolgern seines Sohnes
- all denen, die auf seinem heiligen Weg gehen - 
Beschwer machen, und er wird es ihnen vergelten.

V
Es fällt einem nicht leicht,
diese Worte von Rache und Vergeltung zu hören,
wenn man gelernt hat, dass ein Christenmensch so etwas nicht tun,
ja nicht einmal denken darf.
Aber der Zorn und die Trauer sind ja da -
Zorn und Trauer über die Knüppel, 
die einem zwischen die Beine geworfen,
die Intrigen, die gegen einen gesponnen,
die falschen Dinge, die über einen verbreitet wurden.
Zorn und Trauer darüber,
dass man seine Gaben nicht einbringen darf,
dass es um Beziehungen, und nicht um Fähigkeiten geht,
und dass Einsatz für andere nicht gefördert,
sondern behindert wird.
In der Schule. Am Arbeitsplatz. Auch hier in der Kirche.

Aber es geht dabei nicht um unsere Rache.
Gott wird uns rächen,
und er tut das nicht, indem er Feuer und Schwefel regnen lässt,
sondern indem er uns auf seinem Weg gehen lässt.
Es ist ein Weg durch die Wüste - aber wer ihn geht,
in dessen Fußstapfen bilden sich kleine Oasen.
Es ist ein Weg voller Gefahren - aber wer ihn geht,
dem können sie nichts anhaben.

Jesus ist diesen Weg gegangen,
er hat ihn uns sozusagen gebahnt.
Und auf die Frage des Johannes,
ob man das denn glauben könne,
ob Gott tatsächlich bei uns ist auf dem Weg
und ob die blühenden Landschaften, die dieser Weg schaffen soll,
tatsächlich mehr sind als die leeren Phrasen der Politiker,
hat Jesus mit einem Zitat dieses Textes geantwortet.
Er hat gesagt:
"Blinde sehen und Lahme gehen, 
Aussätzige werden rein und Taube hören, 
Tote stehen auf und Armen wird das Evangelium gepredigt;
und selig ist, wer sich nicht an mir ärgert."
(Matthäus 11,3)

Wenn wir Jesus nachfolgen,
bringen wir die Wüste zum Blühen,
machen wir Menschen Mut,
schaffen wir Frieden und Gerechtigkeit.
Nicht für die ganze Welt.
Aber für die kleine Welt um uns herum.
Wir säen überall Senfkörner aus,
die vielleicht zu einem großen Baum heranwachsen;
wir sind die kleine Menge Sauerteig,
der den ganzen Teig verwandeln kann
in duftendes, schmackhaftes, Leben spendendes Brot.

Wir müssen nicht stark sein.
Wir müssen nicht einmal glauben.
Wir müssen nur aufsehen, dann sehen wir:
"Gott wird zur Rache kommen,
zur Vergeltung; Gott wird kommen und uns helfen."

Es ist Advent.
Gott kommt.

Amen.

Mittwoch, 5. Dezember 2012

Post vom Nikolaus


Liebe Kinder,

wenn ihr dies lesen könnt, seid ihr alt genug, um die Wahrheit zu erfahren.
Nicht darüber, wer Euch in der Nacht zum 6. Dezember die Süßigkeiten in die Schuhe legt. Dass eure Eltern dahinter stecken, habt ihr natürlich längst herausgefunden. Ihr tut so als ob, um ihnen die Freude an der Überraschung nicht zu verderben. Das rechne ich Euch hoch an. Schön, wenn man anderen die Über­raschung nicht verdirbt! Als ich den drei Töchtern eines armen Witwers half, indem ich jeder von ihnen nachts heimlich Geld durchs Fenster warf, lauerte mir ihr Vater auf, um herauszufinden, von wem das Geld stammte. Damit verdarb er mir meine Freude und die Überraschung. Dass ihr neugierig seid, vor allem auf die Weihnachtsgeschenke, kann ich gut verstehen. Darum bin ich stolz auf euch, dass ihr eure Neugier im Zaum haltet und euren Eltern die Freude gönnt, euch überrascht zu haben.

Die Wahrheit, für die ihr alt genug seid, ist die Wahrheit über mich:
ich bin nicht der dicke, freundliche, kitschig-gemütliche Herr im roten Mantel mit weißem Rauschebart, den ihr als Schokoladen­nikolaus in euren Schuhen findet. Das habt ihr euch wahrscheinlich auch gedacht. Ebenso, wie ihr wisst, das ich keine Geschenke bringe und auch nicht mit der Rute drohe. Ich bin anders: ich bin ein Heiliger. Was nicht bedeutet, dass ich keinen Humor verstünde oder mich etwa über die roten Nikoläuse ärgern würde. Ganz im Gegenteil: die finde ich nett! Aber ich war nie so harmlos, wie ich dargestellt werde. Ich konnte aufmüpfig und unbequem sein, wenn es nötig wurde. Als z.B. bei uns eine Hungersnot herrschte, da habe ich von einem Schiff der Regierung Getreide stehlen lassen, das für Rom bestimmt war, damit die Menschen nicht verhungern mussten. Nur durch ein Wunder kam das nicht heraus. Ich hatte auch keine Angst, drei zu Unrecht verurteilten Soldaten beizuste­hen und ihnen das Leben zu retten: Ich stahl einfach das Schwert des Scharfrichters. Mein Glaube half mir, aufmerksam zu werden für die Not anderer Menschen. Durch ihn wusste ich, wo und wie ich helfen konnte. Mein Glaube gab mir Mut, zu tun, was andere nicht wagten.

Es freut mich sehr, wenn ihr zu Nikolaus und zum Weihnachtsfest einander mit Geschenken überrascht, und es ist schön, wenn ihr anderen die Freude nicht verderbt. Aber die heile Welt der Festtage ist nicht die Wirklichkeit. Genießt sie, aber lasst euch nichts vormachen. Bleibt aufmerksam und wachsam für die Ungereimt­heiten und Unwahrheiten in der Welt, für die Not der Menschen in eurer Nähe und in der Ferne. Wenn es nötig und die Zeit reif ist, werdet auch ihr Heilige werden. Ihr werdet euch, wie ich, vom Glauben leiten lassen. Euer Glaube zeigt euch, wann und wofür ihr Regeln brechen und im richtigen Moment aufmüpfig sein müsst. Gott wird euch helfen zu sehen, wo eure Hilfe nötig ist, und euch im richtigen Augenblick den Mut und die Kraft zum Handeln geben.

In diesem Sinne wünscht euch einen schönen Nikolaustag und frohe Weihnachten!

Euer

Bischof Nikolaus von Myra