Sonntag, 24. März 2013

Auf Ehre

Predigt am Sonntag Palmarum, 24. März 2013, über Johannes 17,1–8

Liebe Gemeinde,


der Begriff der “Ehre” spielt heutzutage keine Rolle mehr - zum Glück. Vor zwei Generationen, zur Zeit des Nationalsozialismus, war die “Ehre” der zentrale Begriff schlechthin. Um der “Ehre” willen wurden die schlimmsten Verbrechen begangen. Wenn die Zeit des Nationalsozialismus nicht gereicht haben sollte, denn Begriff zu desavouieren, dann hat die Affäre um das “Ehrenwort” Uwe Barschels und zuletzt die Debatte um den “Ehrensold” des Bundespräsidenten dem Wort “Ehre” den letzten Stoß gegeben. Es liegt an dieser schlimmen Geschichte, dass der Begriff der “Ehre” aus der Mode gekommen ist und nur noch von den Ewig Gestrigen im Munde geführt wird.
Ewig Gestrige? Sind wir das auch? Schließlich sprechen wir das Wort “Ehre” jede Woche aus. Wir singen zu Beginn des Gottesdienstes - den heutigen Palmsonntag ausgenommen - “Ehre sei Gott in der Höhe” und - außer in der Passionszeit - “Allein Gott in der Höh’ sei Ehr’ ”. Und auch im heutigen Predigttext aus dem Johannesevangelium ist viel von Ehre die Rede:

Jesus erhob seine Augen zum Himmel und betete: "Vater, die Stunde ist gekommen. Ehre deinen Sohn, damit der Sohn dich ehre. du hast ihm ja Vollmacht über jedermann gegeben, damit er jedem, den du ihm anvertraut hast, ewiges Leben gebe. Das aber ist das ewige Leben, dass sie dich, den einzigen wahren Gott, kennen und Jesus Christus, den du gesandt hast. Ich habe dich auf Erden geehrt und das Werk vollendet, das du mir zu tun gabst; und jetzt ehre du mich, Vater, bei dir mit der Ehre, die ich bei dir hatte, bevor die Welt war.
Ich habe dich den Menschen bekannt gemacht, die du mir aus der Welt anvertraut hast. Dein waren sie, und mir hast du sie anvertraut, und auf dein Wort haben sie geachtet. Jetzt haben sie erkannt, dass alles, was du mir anvertraut hast, von dir kommt. Denn die Worte, die du mir gabst, habe ich ihnen mitgeteilt und sie haben sie aufgenommen und wahrhaftig erkannt, dass ich von dir ausgegangen bin, und sie glauben, dass du mich gesandt hast."
(Eigene Übersetzung)

Der Begriff der “Ehre” ist zwar aus der Mode gekommen, doch können wir alle, glaube ich, uns etwas darunter vorstellen. Wir kennen das “Ehrenwort”, das “Ehrenamt”, das “Ehrenmitglied”, den “Ehrenbürger” und den “Ehrendoktor”. Aber was genau ist diese “Ehre”, die in all den Begriffen steckt und um die es hier geht?
In einem alten Lexikon habe ich eine Definition gefunden, die ich für sehr einleuchtend halte: “Die Ehre ist die Geltung der Persönlichkeit im Urteil der Gesellschaft.” (RGG II, 2.Bd., Tübingen 1928, Sp. 40) Mit anderen Worten: “Ehre” hat, wer in den Augen der anderen etwas “gilt”. Im “Gelten” bzw. im Wort “Urteil” zeigt sich aber sogleich der Pferdefuss des Ehrbegriffs: “Ehre” ist keine feste Größe wie das Kilogramm oder der Meter, sondern hängt vom Urteil einer Mehrheit ab. Eine Gruppe entscheidet, was Ehre ist. Falls ich anderer Meinung sein sollte, werde ich überstimmt, und dann habe ich keine Ehre - nicht, weil ich etwa ein ehrloser Gesell wäre, sondern weil die anderen behaupten, dass ich keine hätte. Unsere jüdischen Mitbürger haben in der deutschen Geschichte auf schreckliche, mörderische Weise erleben müssen, wie ihnen die Ehre genommen, wie sie ihnen regelrecht abgeschnitten wurde. Die, die gestern noch geachtete Mitbürger waren, deren Leistungen und deren Bildung man respektierte, die man als Mitbürger schätzte, deren Meinung wichtig war, galten plötzlich als “ehrlos”, waren aus der Gemeinschaft ausgeschlossen und vogelfrei - niemand setzte sich
für sie, ihre Ehre, ihre Würde - ihr Leben - ein.


II
In dieser Zeit des Nationalsozialismus wollten sogar viele Pastoren nichts mehr davon wissen, dass auch Jesus selbst Jude war und zu denen gehörte, denen man die Ehre abgesprochen, die man aus der “Volksgemeinschaft” ausgeschlossen hatte.
Als “König der Juden”, als Messias zieht Jesus in Jerusalem ein. Er handelt nach den Worten des Propheten, der angekündigt hatte, dass der Messias auf einem Esel und einem Eselsfohlen in Jerusalem einreitet (Sacharja 9,9), und nimmt bewusst in Kauf, dass man ihn als Messias ansieht, als “König der Juden”. “Iesus Nazarenus, Rex Iudaeorum”, INRI, “Jesus von Nazareth, König der Juden” steht denn auch bald als Hinrichtungsgrund auf einem Schild über seinem Kreuz.
Aber Jesus ist gar nicht der “König der Juden”. Die, die dabei ein Wörtchen mitzureden hätten, wollten ihn nämlich auf keinen Fall als König haben: Von seinen Glaubensbrüdern wird er ebenfalls ausgeschlossen. Pharisäer und Schriftgelehrte wollen nichts mit diesem radikalen Rabbi zu tun haben. Sie verfolgen ihn sogar und wollen ihn zum Schweigen gebracht sehen. Jesus ist selbst mit daran schuld. Er provoziert die frommen Juden immer wieder, indem er sich wenig messiasmäßig verhält: Er übertitt absichtlich Gebote - arbeitet, heilt Menschen am Sabbat -, und gibt sich mit Menschen ab, die aus gutem Grund aus der Gemeinde ausgeschlossen sind - Zöllner, Prostituierte, Ehebrecher.
Seinen Zeitgenossen muss Jesus wie ein Hippie vorgekommen sein, ein Aufmüpfiger, ein Herumtreiber, vielleicht sogar ein Terrorist. Mit “Ehre” hat man diesen Menschen nicht in Verbindung gebracht - davon weiß auch der Philipperhymnus ein Lied zu singen, wenn er davon spricht, dass Jesus “sich selbst entäußerte”, “Knechtsgestalt annahm” und “sich selbst erniedrigte”. Die Ehren, die man ihm beim Einzug in Jerusalem erwies, galten denn auch nicht ihm persönlich, sondern dem Messias, den man in ihm sehen wollte - und der er ja auch war. Aber ganz anders, als die Menschen ihn sich erträumten. Als sie merkten, dass er nicht der war, den sie haben wollten, wurde aus dem Ruf “Hosianna!” der Schrei “Kreuzige ihn!”.


III
Wie kann Jesus, der die Erfahrungen machte, dass er keineswegs wohlgelitten war; den man bat, doch schnell weiterzuziehen, sobald er irgendwo auftauchte; der sich verstecken musste, um nicht vor der Zeit gelyncht zu werden - wie kann Jesus von sich behaupten, dass er Gott geehrt habe? Er hat sich anstößig und wenig anständig verhalten, jedenfalls so gar nicht ehrenwert, so gar nicht jesusmäßig, wie man es von einem Mann Gottes erwarten muss. Ein Widerspruchsgeist, ein Aufmüpfiger, der die Autoritäten nicht anerkennt - wie soll der die Autorität Gottes anerkennen, gar vertreten können? Wie soll so einer Gott ehren können?
Für Jesus bestand das Ehren Gottes darin, ihn den Menschen bekannt zu machen. Ein unkonventionelles Verständnis von “ehren”. Aber wenn wir das für den Moment gelten lassen wollen, müssen wir leider feststellen: auch dabei hat er es wieder übertrieben. Wenn man sich ansieht, wie Jesus Gott den Menschen bekannt gemacht hat, schüttelt man erneut entsetzt den Kopf: Jesus hat die Menschen nicht Ehrfurcht vor Gott gelehrt. Er hat ihnen nicht die Scheu vor dem Allmächtigen, die Furcht vor Gottes unerbittlicher Gerechtigkeit eingepflanzt. Er hat vielmehr Gott vom Himmel auf die Erde geholt, aus dem Allerheiligsten des Tempels mitten unter die Leute gezerrt. Er hat den Menschen alle Scheu vor Gott genommen und sie sogar dazu gebracht, Gott so anzureden, wie ein Kind seine Eltern anspricht: “Papa”.
Schockierend ist schließlich auch, was das für Menschen waren, denen Jesus Gott bekannt gemacht hat: Jesus ging nicht zu denen, zu denen er hätte gehen sollen und müssen: den Honoratioren, den Stützen der Gesellschaft, den Machern und Mächtigen, denen, die man ihrer Beziehungen wegen kennen und mit denen man sich gut stellen muss. Jesus erzählte ganz anderen Leuten von Gott; Leute, auf die wir niemals gekommen wären: Fischern, Widerstandskämpfern, Prostituierten, Kollaborateuren - all dem ehrlosen Pack, dem man nicht trauen kann, nicht trauen darf, die Obrigkeit und Gott nicht fürchten und von vornherein keine Ehrfurcht kennen.

IV
“Die Ehre ist die Geltung der Persönlichkeit im Urteil der Gesellschaft.” Auch Jesus hatte eine Gesellschaft, die ihn respektierte, denen er etwas galt und die ihn ehrten - so sehr, dass eine seiner Freundinnen eine ganze Flasche kostbares Parfum vergoss, um Jesus damit zu salben. Es war nicht die feine Gesellschaft, die ihn umgab. Uberhaupt war keine und keiner von denen, die er seine Jüngerinnen und Jünger nannte, ein Mitglied der Gesellschaft - es waren die, die an ihrem Rand lebten. Die nicht dazugehören wollten, nicht dazugehören durften. Die keine Riddagshäuser waren, weil sie nicht da geboren waren. Keine Deutschen, weil ihnen die deutsche Abstammung fehlte. Keine Adligen, weil sie keinen Stammbaum hatten. Keine Respektspersonen, weil sie weder ein hohes Einkommen hatten, noch Mitglied in einem der Clubs waren, zu denen man gehören muss.
Aber daran hängt die Ehre Gottes ja auch nicht. Die Ehre Gottes hängt nach Ansicht Jesu daran, Gott den Menschen bekannt zu machen. Andersherum ehren also die Menschen Gott, die sich für ihn interessieren und die Gott anderen bekannt machen wollen. Es war und es ist die Gemeinde, die Jesus ehrt und mit ihm Gott. Die Gemeinde, die sich sonntags zum Gottesdienst trifft und immer wieder selbst überrascht ist, wer heute gekommen ist. Die sich nicht selbst aussucht, wer zu ihr gehören darf und wer nicht.
Gott sucht sich aus, wer zur Gemeinde gehört: alle, die zum Gottesdienst kommen. Große, Kleine, Reiche, Arme, Einflussreiche und Außenseiter, Hell- und Dunkelhäutige, Ausländer und Deutsche, Macher und Loser, Kluge und Dumme, Alte und Junge. Nicht wir entscheiden, wer zur Gemeinde gehört, Gott entscheidet, wer dazugehört. Wir haben das nicht zu kommentieren oder zu kritisieren, wir sollen nur unsere Reihen öffnen und unsere Arme und jeden begrüßen, den Gott dazugehören lässt.
Die Ehre Gottes ist eine andere Ehre als die, die eine Gesellschaft oder eine Gruppe definiert. Denn hier legt nicht eine Gruppe fest, wer als ehrenwert gilt, sondern Gott. Gott fragt uns nicht, was wir von seiner Wahl halten, ob wir damit einverstanden sind. Gott hat jede und jeden von uns Jesus anvertraut - auch die Menschen, denen wir das nicht gönnen; die wir nicht bei uns haben wollen; die wir ausschließen möchten, weil wir sie nicht für ehrenwert halten.
Durch Jesus kennen wir Gott, wir kennen ihn als Papa oder Mama, als liebevolle, liebende Mutter oder Vater, die stolz ist auf uns, wie Eltern es auf ihre Kinder sind, jede ihrer Kinder über alles liebt, wie Eltern es tun, und möchte, dass wir glücklich sein und das Leben genießen können. Jede und jeder von uns. Ohne Ausnahme. Ohne dass wir uns fragen müssen, ob uns das zusteht, ob wir das verdient haben.


V
Weil Gott so zu uns ist, darum singen wir jeden Sonntag: “Ehre sei Gott”. Vielleicht singen wir es jetzt noch ein bisschen inbrünstiger, noch ein bisschen lauter als ohnehin schon, weil wir jetzt wissen, wie Gott für uns ist. Welche große Ehre lässt er uns zuteil werden, dass wir seine Kinder heißen dürfen und es auch sind! Das ist mehr wert, als Riddagshäuser zu sein, Braunschweiger, Deutscher zu sein, Ehrenbürger, Ehrenmitglied, oder einen Ehrendoktor zu haben. Das ist mehr wert als jedes
denkbare Amt, jeder denkbare Titel, jede denkbare Ehrung. Weil Gott uns damit das ewige Leben schenkt: seine Gegenwart, seine Nähe und den Sinn für unser Leben. Amen. 

Freitag, 15. März 2013

Ein neues Kleid - eine Beerdigungsansprache


Ansprache zur Trauerfeier über Jesaja 38,12.17:

Zu Ende gewebt habe ich mein Leben wie ein Weber;
er schneidet mich ab vom Faden.
Siehe, um Trost war mir sehr bange.
Du aber hast dich meiner Seele herzlich angenommen,
dass sie nicht verdürbe.


Liebe Angehörige,
liebe Trauergemeinde,

"zu Ende gewebt habe ich mein Leben wie ein Weber;
er schneidet mich ab vom Faden",
heißt es beim Propheten Jesaja im 38. Kapitel.
Das Leben eines Menschen -
eine große Stoffbahn, an der man webt,
bis eines Tages der Faden abgeschnitten wird.
Das bedeutet: der Stoff ist fertig,
ganz gleich, wie kurz oder lang die Bahn geworden ist,
wie viel sich auf dem Webstuhl befindet.
Ganz gleich auch, wie sorgfältig gewebt wurde,
wie viele Fehler darin sind.

Ich finde, das Bild vom Leben als einer Stoffbahn,
die man im Laufe seines Lebens webt,
passt gut zu Ihrer Mutter,
die gern und viel mit Stoffen umgegangen ist -
wenn sie auch keine Weberin war.
(...)

I

(...)
Als dann aber vor zwei Jahren Ihre Schulfreundin starb,
mit der sie sehr viel verband, verlor Ihre Mutter doch den Lebensmut.
Sie erwartete nichts mehr vom Leben, zog sich von der Welt zurück.
Sie, Ihre Kinder, erkannte sie noch,
aber auf neue Menschen konnte sie sich nicht mehr einstellen.
Sie hatte den Stoff ihres Lebens zuende gewebt
oder hatte kein Kraft, keine Phantasie mehr für ein weiteres Stück.
Und dennoch hatte sie Angst davor,
den Stoff vom Webstuhl zu lösen, den Faden abzuschneiden.

Es ist dann einfach so passiert.
(...)

II

Wenn man sich den Stoff ihres Lebens ansieht,
den ich ein wenig vor Ihnen ausgebreitet habe,
und wenn Sie im Geiste die eine oder andere Bahn aufdecken,
an der Sie mitgewirkt haben:
Was für ein wunderbarer, bunter Stoff ist da entstanden!
Da gibt es Kettfäden, die sich durchziehen,
es gibt alle Arten von Farben und Mustern,
und auch der eine oder andere Webfehler findet sich.
Das Bild des Webers, der den Faden am Stoff des Lebens abschneidet,
wie die Parze den Lebensfaden durchschneidet,
scheint vollständig zu sein:
Der Stoff ist fertig, das Leben ist zuende.

Aber Ihre Mutter war keine Weberin. Sie war Schneiderin.
Für sie war der Stoff die Ausgangsbasis für etwas Neues,
das sie schon im Kopf hatte
und das unter ihren Händen Gestalt annahm.
So dürfen wir uns vielleicht die Auferstehung vorstellen,
das neue Leben, das Ihre Mutter erwartet:
aus dem Stoff ihres Lebens entsteht eine neue Gestalt.

Sie entsteht bei Ihnen, in Ihnen, die Sie ihr Leben geteilt haben.
Vielleicht fügen Sie Teile von NNs Lebensstoff
in den Stoff Ihres Lebens ein,
so dass eine Art Patchwork entsteht,
oder ein schwedischer Flickenteppich.
Vielleicht ziehen sich Fäden aus NNs Leben
durch Ihr Lebensgewebe hindurch,
verschönern, verändern den Stoff Ihres Lebens,
so dass er eine neue Textur, einen neuen Glanz erhält.

Für Ihre Mutter beginnt noch einmal etwas Neues.
Ihr Lebensfaden ist durchschnitten,
der Stoff ihres Lebens vom Webstuhl abgenommen.
Nun entsteht etwas Neues aus diesem Stoff:
Aus dem Stoff ihres Lebens entsteht ein himmlisches Kleid -
so beschreibt es der Zeltmacher Paulus,
der davon spricht, dass wir "Christus anziehen",
dass wir "mit einem neuen Leben überkleidet werden".
In diesem neuen Kleid lebt all das weiter,
was NN für Sie war,
was sie Ihnen von sich geschenkt hat,
und was Sie ihr schenkten an Zeit, an Zuneigung und Liebe.

Wir können uns nicht vorstellen,
wie dieses neue, himmlische Kleid sein und aussehen wird.
Wir können es nicht vor uns sehen,
und dennoch ist es nicht unsichtbar
wie es des Kaisers neue Kleider waren.
Gott lässt den Stoff des Lebens Ihrer Mutter,
er lässt ihre Seele nicht verderben,
sondern nimmt sich ihrer herzlich an,
macht ein Kleid daraus,
in dem Ihre Mutter in einem neuen Leben geht und tanzt.
Amen.