Sonntag, 22. Mai 2011

Ein Glaubensbekenntnis

Bekenntnis der Weltversammlung für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung, Seoul 1990

Ich glaube an Gott, der die Liebe ist,
und der die Erde allen Menschen gegeben hat.

Ich glaube an Jesus Christus,
der kam, um uns zu heilen
und von allen Formen der Unterdrückung zu befreien.

Ich glaube an den Geist Gottes,
der in allen und durch alle wirkt,
die nach der Wahrheit trachten.

Ich glaube an die Gemeinschaft des Glaubens,
die zum Dienst an allen Menschen berufen ist.

Ich glaube an Gottes Verheißung,
die Macht der Sünde in uns allen zu zerstören
und für die ganze Menschheit
das Reich der Gerechtigkeit und des Friedens zu schaffen.

Ich glaube nicht an das Recht des Stärkeren,
noch an die Kraft der Waffen
und die Macht der Unterdrückung.

Ich glaube an Menschenrechte,
an Solidarität unter allen Menschen,
an die Macht der Gewaltlosigkeit.

Ich glaube nicht an Rassismus,
an die Macht, die aus Reichtum und Privilegien erwächst,
noch an irgendeine bestehende Ordnung,
die Menschen versklavt.

Ich glaube, dass alle Männer und Frauen
in gleicher Weise Mensch sind,
dass eine auf Gewalt und Ungerechtigkeit gegründete Ordnung keine Ordnung ist.

Ich glaube nicht, dass Krieg und Hungersnot unvermeidlich sind
und Frieden nie erreicht werden kann.

Ich glaube an die Schönheit der Einfachheit,
an Liebe mit offenen Händen,
an Frieden auf Erden.

Ich glaube nicht, dass Leiden vergeblich sein muss,
dass der Tod das Ende ist,
dass die Entstellung unserer Welt von Gott gewollt ist.

Aber ich wage es, daran zu glauben,
dass Gottes Macht verwandeln und umgestalten kann
und die Verheißung eines neuen Himmels und einer neuen Erde erfüllen wird,
wo Gerechtigkeit und Frieden blühen werden.
Amen.

Predigt zum Friedenssonntag 2011-05-22


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Predigt am Friedenssonntag Kantate, 22. Mai 2011 über Epheser 2,14-22:

Christus selbst ist unser Frieden. Er hat die Zweiteilung überwunden und hat aus Juden und Nichtjuden eine Einheit gemacht. Er hat die Mauer niedergerissen, die zwischen ihnen stand, und hat ihre Feindschaft beendet. Denn durch die Hingabe seines eigenen Lebens hat er das Gesetz mit seinen zahlreichen Geboten und Anordnungen außer Kraft gesetzt. Sein Ziel war es, Juden und Nichtjuden durch die Verbindung mit ihm selbst zu einem neuen Menschen zu machen und auf diese Weise Frieden zu schaffen. Dadurch, dass er am Kreuz starb, hat er sowohl Juden als auch Nichtjuden mit Gott versöhnt und zu einem einzigen Leib, der Gemeinde, zusammengefügt; durch seinen eigenen Tod hat er die Feindschaft getötet. Er ist in diese Welt gekommen und hat Frieden verkündet – Frieden für euch, die ihr fern von Gott wart, und Frieden für die, die das Vorrecht hatten, in seiner Nähe zu sein. Denn dank Jesus Christus haben wir alle – Juden wie Nichtjuden – durch ein und denselben Geist freien Zutritt zum Vater.
Ihr seid jetzt also nicht länger Fremde ohne Bürgerrecht, sondern seid – zusammen mit allen anderen, die zu seinem heiligem Volk gehören – Bürger des Himmels; ihr gehört zu Gottes Haus, zu Gottes Familie. Das Fundament des Hauses, in das ihr eingefügt seid, sind die Apostel und Propheten, und der Eckstein dieses Gebäudes ist Jesus Christus selbst. Er hält den ganzen Bau zusammen; durch ihn wächst er und wird ein heiliger, dem Herrn geweihter Tempel. Durch Christus seid auch ihr in dieses Bauwerk eingefügt, in dem Gott durch seinen Geist wohnt.


(Neue Genfer Übersetzung)


Liebe Gemeinde,

lang, lang ist's her ...

Wer erinnert sich noch an die lila Halstücher vom Kirchentag 1983 in Hannover mit dem Motto "Umkehr zum Leben - Die Zeit ist da für ein Nein ohne jedes Ja zu Massenvernichtungswaffen"? Anfang der 80er Jahre waren sie überall zu sehen. Anfang der 80er gab es auch die großen Friedensdemonstrationen, überhaupt gingen in diesen Jahren unglaublich viele Menschen auf die Straße - so, wie in den letzten Monaten in den arabischen Staaten, oder diese Woche in Spanien.
Was die Demonstrationen damals von den heutigen unterschied, waren die Beweggründe:
Damals ging es um den Frieden.
Heute geht es um Demokratie.
Das eine schließt das andere nicht aus.
Aber das Thema "Frieden" ist in den Jahren seither in den Hintergrund getreten. Mit dem Fall der Mauer, dem Zerfall des "Ostblocks" war der "Kalte Krieg" auf friedliche Weise beendet worden, und die Welt steuerte einer friedlichen Zukunft entgegen.
So schien es.
Doch schon der Krieg nach dem Zerfall Jugoslawiens,
das Massaker von Srebrenicza,
der Völkermord der Hutu an den Tutsi in Ruanda,
der Krieg um den Kosovo,
der Einmarsch des Irak nach Kuwait
und der darauf folgende Golfkrieg,
das Morden im Südsudan,
der 11. September mit dem auf ihn folgenden Krieg gegen die Taliban in Afghanistan,
der Dauerkonflikt zwischen Israelis und Palästinensern
und viele andere Kriege mehr zeigen,
dass die Welt von einem Frieden genau so weit entfernt ist wie damals, Anfang der 80er.
Nur wir, die wir in den wohlhabenden Staaten der nördlichen Halbkugel leben, wir sind nicht mehr so akut bedroht, wie wir es Anfang der 80er Jahre waren. Auf uns sind keine Atomsprengköpfe mehr gerichtet - und wenn sie es doch noch sind, dann glauben wir nicht, dass noch jemand auf den berüchtigten "roten Knopf" drückt. Frieden, das ist nicht mehr unser Thema. Das betrifft andere, und die sollen sich selbst darum kümmern. Es genügt, dass unser Land Soldaten auf "Friedensmissionen" schickt. Der Beitrag zum Weltfrieden, den wir damit leisten, ist groß genug.

II
"Ihr seid jetzt nicht länger Fremde ohne Bürgerrecht, sondern seid – zusammen mit allen anderen, die zu seinem heiligem Volk gehören – Bürger des Himmels; ihr gehört zu Gottes Haus, zu Gottes Familie."

Lang, lang ist's her, dass Christen sich als Fremde ohne Bürgerrecht fühlten. Es ist schon gar nicht mehr wahr. Und ohne Rückgriff auf die Geschichte verstehen wir auch nicht, was der Predigttext aus dem Epheserbrief meint.
Am Anfang der Christenheit, in den ersten Jahrzehnten der noch jungen Kirche, wurden Christen vom römischen Staat verfolgt. Sie wurden damals als kriminelle Vereinigung angesehen, die den Staat untergraben und destabilisieren wollte.
Auch zwischen Christen und Juden gab es Streit: In der jüdischen Gemeinde hatten die Christen keinen Platz mehr.
Vom Staat verfolgt und der Bürgerrechte beraubt, aus der Gemeinde, aus dem Volk Gottes ausgeschlossen, hatte die junge Kirche keinen Ort, an dem sie erwünscht war, keinen Ort, den sie ihr Zuhause hätte nennen können.

Wir können nicht mehr nachempfinden, wie das ist. Wir sind im christlichen Abendland aufgewachsen, in dem die Kirche ganz selbstverständlich ihren Ort in der Gesellschaft hat,
eine tragende Säule des Staates ist, und wir nicht befürchten müssen, als Christinnen und Christen ausgegrenzt oder gar verfolgt zu werden. Wir können nicht mehr nachempfinden, wie das ist - oder können wir es vielleicht doch?

Manche der Älteren, die nach dem Zweiten Weltkrieg aus ihrer Heimat flohen oder vertrieben wurden, die wissen noch, wie misstrauisch man ihnen begegnet ist. Wie man ihnen das Nötigste zum Leben missgönnte, wie man sie ausgrenzte und ihnen deutlich zu verstehen gab, dass sie unerwünscht waren. Fremde, die unter den Einheimischen nichts verloren hatten.

Und manch eine oder einer der Jüngeren erlebt, von der Klasse, von der Clique ausgegrenzt zu werden. Nicht dazugehören, nicht dabeisein zu dürfen.
Menschen machen noch heute die Erfahrung, Fremde zu sein, die man nicht dabeihaben will.

III
"Christus ist in diese Welt gekommen und hat Frieden verkündet."

Christus ist in diese Welt gekommen - "Welt" heißt auf Griechisch "Ökumene", und dieses Wort stammt von dem Verb "oikéo" ab, "wohnen". Die Welt, das ist der Ort, an dem Menschen zusammen wohnen: Ein Zuhause. Unser Zuhause.
Die kleine Welt unserer Gemeinde vor Ort, die größere unserer Stadt, unseres Landes, bis hin zur Ökumene, dem ganzen Erdenrund.

Die Ökumenische Bewegung war es, die hinter den lila Halstüchern von 1983 stand, die 1987 einen konziliaren Prozess für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung ausrief und die die heute zuende gehende Friedensdekade ins Leben rief. Getragen ist diese Ökumenische Bewegung von dem Gedanken, dass unsere Welt eine Ökumene ist, ein gemeinsames Zuhause für alle Menschen.

Ein Ort ist ein Zuhause, wenn die Menschen, die ihn bewohnen,in Frieden miteinander leben.
Frieden - das bedeutet nicht, dass sich alle mögen oder gar lieben müssen. Dass man niemals unterschiedlicher Meinung ist, sich niemals streitet. Dass man immer nur lächelt, immer vergnügt ist.

Ein Ort ist ein Zuhause, wenn die Menschen, die ihn bewohnen, einander Mensch sein lassen. Einander mit Respekt und Achtung begegnen. Einander Gerechtigkeit widerfahren lassen, und das heißt: Einander das Leben gönnen und darauf achten, dass jede und jeder leben und glücklich werden kann.

Deshalb gehören Gerechtigkeit und Frieden untrennbar zusammen.
Tatsächlich lassen sich viele, wenn nicht sogar alle Kriege und Konflikte erklären und verstehen als Aufstand gegen erlittenes oder gefühltes Unrecht, als der Versuch, sich mit Gewalt Gerechtigkeit zu verschaffen. Und meistens, wenn nicht immer kann Frieden nur hergestellt werden, wenn auch Gerechtigkeit geschaffen wird.

IV
"Christi Ziel war es, Juden und Nichtjuden durch die Verbindung mit ihm selbst zu einem neuen Menschen zu machen und auf diese Weise Frieden zu schaffen. Dadurch, dass er am Kreuz starb, hat er sowohl Juden als auch Nichtjuden mit Gott versöhnt und zu einem einzigen Leib, der Gemeinde, zusammengefügt; durch seinen eigenen Tod hat er die Feindschaft getötet."

Unsere Welt ist ein Zuhause, eine Ökumene. Wir leben alle unter einem Dach. Im Zeitalter des Internet wird uns mehr und mehr bewusst, dass wir in einem "global village" leben, einem Welt-Dorf: Ein Mensch in Japan oder Nordamerika ist durch das Internet nicht weiter entfernt
als mein Nachbar. Freundschaften werden nicht mehr nur unter Menschen geschlossen, die sich täglich begegnen, sondern weltweit zwischen Menschen, die sich möglicherweise niemals persönlich kennen lernen werden.

Und in diesem „global village“, diesem Welt-Dorf nehmen Menschen Anteil aneinander. Wir erfahren von den Protesten in Spanien, bevor darüber in der Tagesschau oder in der Zeitung berichtet wird, über Menschen, mit denen wir uns im Internet austauschen. Wir hören von den Sorgen und Nöten von Menschen, die weit weg von uns leben, die wir noch nie zuvor gesehen haben,
und wahrscheinlich niemals persönlich kennen lernen werden.
Und wir fühlen mit ihnen.
Sie tun uns leid.
Wir überlegen, wie wir ihnen helfen können.

Das ist Ökumene:
Das Bewusstsein, dass wir Schwestern und Brüder sind auf diesem Planeten.
Ja, genau: Nicht nur die Familie, nicht nur der engste Freundeskreis oder die Nachbarschaft,
die ganze Welt ist unser Zuhause, alle Menschen sind unsere Nächsten und verdienen unser Mitgefühl, unsere Sorge und Rücksichtnahme.

Dieses Bewusstsein schafft der Glaube.
Der Glaube Jesu, der den Tod am Kreuz erlitt, damit wir Frieden hätten. Er gab sein Leben dafür, dass wir keine Unterschiede machen, dafür, dass wir jedem Menschen, wer es auch ist,
das Leben gönnen, Gesundheit und Glück. Es ihr oder ihm nicht nur gönnen.
Sondern unseren Beitrag dazu leisten, dass es nicht nur beim frommen Wunsch bleibt.

V
Wie das geht?
Martin Luther King wird der Ausspruch zugeschrieben:
There is no way to peace. Peace is the way.
Zu deutsch: Es gibt keinen Weg zum Frieden.
Der Friede selbst ist der Weg.
Wenn uns der Friede am Herzen liegt, der nicht nur die Stille am Sonntagmorgen ist, nicht nur das Heucheln von Freundlichkeit, nicht nur das „Kinder, nun seid mal friedlich“; wenn uns der Friede am Herzen liegt, den Jesus der Welt gebracht hat, dann werden wir solche Menschen sein,
die Jesus selig gepriesen hat:
„Selig sind die Friedensstifter,
denn sie werden Gottes Kinder heißen.“


Noch einmal: Wie geht das?
Vielleicht so, wie es in einer modernen Übertragung des 1.Psalms heißt:

Die nach Gott fragen,
werden es gut machen.
Gott ist Gerechtigkeit und Güte,
Friede für die ganze Welt.
Die auf Gewalt bauen,
machen noch mehr kaputt.
Die groß herauskommen wollen,
bringen nichts.
Die es allen recht machen,
verwaschen die Unterschiede.
Und es bleibt, wie es ist.

Die aber Frieden wollen,
gehen vom anderen aus.
Sie nehmen die Geschichte ernst
und haben langen Atem.
Sie machen sich nichts vor
und behalten die Hoffnung.
Sie können zugeben
und verkürzen doch nicht das Ziel.
Sie verstehen sich auf Güte,
stecken Verdächtigungen ein.
Das bringt die Welt vom Tod zum Leben.


(Friedrich Karl Barth)

Amen.

Samstag, 7. Mai 2011

gute Hirten sein

Predigt am Sonntag Miserikordias Domini, 8. Mai 2011 über Ezechiel 34,1-16.31.


Liebe Gemeinde,

Hirten sind out.
Sowas von out!
Ein aussterbender, wenn nicht bereits ausgestorbener Beruf.
Früher, da gab es in jedem Dorf einen Hirten
- und nicht nur einen:
Gänsehirten, Schweinehirten,
Ziegen-, Kuh- und Schafhirten.
Kein besonders angesehener und - mit Ausnahme der Schafhirten - auch kein besonders anspruchsvoller Beruf.
Ein Job für die, die nichts gelernt hatten, für Kinder oder für arme Schlucker.

Aber, wie gesagt, Hirten gibt es nicht mehr.
Hirten sind out.
Trotzdem kann sich jede und jeder etwas unter einem Hirten vorstellen. Denn "hüten" und "behüten" sind nach wie vor wichtige Tätigkeiten, auch wenn es kaum noch Tiere zu hüten gibt.
Wir wissen auch genau, was so ein Hirte tut - oder besser gesagt, tun sollte.
Mit den Worten des Predigttextes ist das:
"das Verlorene wieder suchen und das Verirrte zurückbringen; das Verwundete verbinden und das Schwache stärken
und das, was fett und stark ist, behüten."
Das ist es, was ein guter Hirte tut.

Aber obwohl selbst die, die noch nie einen Hirten gesehen haben, genau wissen, wie sich ein guter Hirte verhält,
ist es alles andere als einfach, ein guter Hirte zu sein.
Jedenfalls gibt es mehr schlechte Hirten als gute.
Schlechte Hirten - das sind solche, die die Herde im Stich lassen um "sich selbst zu weiden". Die sich also lieber um sich selbst als um andere kümmern. Oder die, wenn sie für andere sorgen sollen, sehen, dass sie auf keinen Fall zu kurz kommen.
Schlechte Hirten sind solche, die die Schafe schlachten, die sie doch behüten sollen;
die sich nicht für die Schwachen einsetzen und ihnen nicht helfen;
die sich um Kranke und Verletzte nicht kümmern,
nicht darauf achten, dass niemand zurück bleibt und verloren geht, und denen es egal ist, wenn es jemand tut.
Schlechte Hirten sind auch solche, die alle Mittel nutzen, um die Stärkeren schlecht zu machen, auszuschalten und klein zu halten.

Ist Ihnen das auch so bekannt vorgekommen?
Auch wenn es keine Hirten mehr gibt,
das, was die "schlechten Hirten" tun oder nicht tun,
das ist auch heute noch ziemlich alltäglich:
viele verhalten sich wie ein Wolf im Schafspelz.
Deshalb sagt auch ein Sprichwort:
homo homini lupus - der Mensch ist dem Mensch ein Wolf.
Oft ein Wolf im Schafspelz.

II
Aber bevor ich hier möglicherweise unberechtigt auf die Wölfe im Schafspelz einschlage, sollten wir uns vorher fragen, ob die guten Hirten wirklich so gut sind? Denn auch wenn sie sich um die Schäflein sorgen, sich um Kranke und Verletzte kümmern, die Schwachen stärken und die Starken fördern - am Ende werden doch alle Schafe geschlachtet. Wenn nicht von den guten Hirten, so doch von den Herren, denen sie dienen. Unterm Strich kommt es auf das gleiche heraus.

Ist z.B. der amerikanische Präsident Barrack Obama ein guter Hirte, wenn er die Exekution des Erzterroristen Osama bin Laden anordnet? Sind Amerikaner, Franzosen und Briten gute Hirten, wenn sie gegen die libysche Armee und gegen Gaddafi kämpfen, oder wäre es besser gewesen, sich herauszuhalten, wie es die Deutschen gemacht haben?

Wir Deutschen haben mit Hirten ja so unsere Erfahrungen gemacht, mit einem ganz besonders. Nur nannte der sich nicht "Hirte", sondern "Führer". Eine ganze Nation ist diesem "Führer" treu wie Schafe hinterhergelaufen und hat mit ihm den bisher größten, schlimmsten und grausamsten Krieg angezettelt, den die Welt gesehen hat - am 8. Mai vor 66 Jahren ist der 2. Weltkrieg beendet worden.

Der Theologe Dietrich Bonhoeffer hat schon zu Beginn des Nazi-Regimes davon gesprochen, dass man "dem Rad in die Speichen fallen" müsse und sich mit anderen verschworen, um diesen "Führer" zu ermorden und den Krieg zu beenden.
Eine heikle Entscheidung, ein Dilemma für einen Theologen, der es besonders erst nimmt mit dem fünften Gebot: "Du sollst nicht töten!"
Dietrich Bonhoeffer hat deshalb klar gesagt, dass auch die Exekution eines solchen Terroristen, wie Hitler einer war, ein Mord bleibt und, wer solches tut, keinesfalls ein Held ist, sondern sich schuldig macht.
Aber man macht man sich eben auch schuldig, wenn man etwas unterlässt - das Schwache nicht schützt, das Starke niedertritt und die Schafe frisst.
Eine "richtige" Entscheidung gibt es nicht.
So oder so, man kann nicht ohne Schuld bleiben.

Irgendwann gibt es nur noch zwei Seiten,
irgendwann geht es nur noch um die Frage,
auf welcher Seite man steht.
Und das ist doch unmissverständlich klar,
wo man dann zu stehen hat:
Auf der Seite der Opfer.
Da, wo die guten Hirten stehen.
Die denen helfen, die Opfer eines Mächtigeren werden.
Die Stärkere und Bessere nicht hinterrücks ausschalten.
Die sich für all diejenigen verantwortlich fühlen, die verloren sind, sich verirrten, krank sind oder verletzt wurden.
Zu denen gehören nie die Stars einer Gesellschaft,
auch nicht die berühmte Mitte,
um die die Parteien buhlen.
Es sind die Menschen an den Rändern.
Menschen, die der Gesellschaft angeblich zur Last fallen,
die Unterstützung brauchen und Hilfe.

III
Ich habe aber trotzdem noch nicht auf die Frage geantwortet, wodurch die guten sich von den schlechten Hirten unterscheiden, wenn doch beide die Schafe, die sie hüten, ans Messer liefern - die einen an das ihrer Herren, die anderen ans eigene.
Ich denke, der Unterschied liegt darin, welchem Herrn sie dienen.

Es ist ja eine Binsenweisheit, dass man nicht zwei Herren dienen kann. Schon Jesus sagte das, und er unterschied zwischen Gott und dem Mammon, zwischen dem lebendigen Gott und dem Götzen Geld.
Ich glaube, das ist auch heute noch eine hilfreiche Unterscheidung: Geht es um Gott, oder geht es ums Geld?
Mit anderen Worten: Geht es darum, Liebe, Gerechtigkeit, Frieden unter den Menschen auszubreiten, oder geht es darum, sich zu bereichern, sich einen Vorteil zu verschaffen?
Handle und entscheide ich so,
dass ich mir solches Handeln auch von anderen gefallen ließe,
oder sind mir die Konsequenzen meines Handelns egal,
so dass ich in Kauf nehme, wenn andere unter meiner Entscheidung zu leiden haben?
- Nun, das würde wohl niemand offen zugeben.
Man verbrämt die Opfer der eigenen Handlungen gern
als "Kollateralschäden", oder man sagt, dass es nötig sei, dass Opfer gebracht werden müssten. Die Manager der japanischen Firma Tepco, der der Unglückreaktor von Fukushima gehört, dessen Havarie tausende Obdachlos gemacht hat und noch viele Menschen und Tiere schädigen wird, die hatten dazu gar nichts mehr zu sagen ...

IV
Es ist die Frage, welchem Herrn ich diene - zweien kann ich nicht dienen. Diene ich Gott, oder diene ich dem Götzen Kapital?
Die Antwort auf die Frage fällt leichter, wenn man sich überlegt, was der Herr mit seinen Schäflein macht.
Wer dem Mammon dient, kann sich darauf verlassen, dass zuerst die Schwachen und Kranken geschlachtet werden. Den fetten und starken Schafen wird zwar auch gehörig das Fell über die Ohren gezogen, oder sie werden zumindest ordentlich geschoren, aber sie bleiben am Leben, denn nur so werfen sie Profit ab - oder tragen zur Gewinnmaximierung bei. Alles, was nicht mehr leistungsfähig ist, kann geschlachtet werden - und wird "entsorgt", so dass es möglichst wenig Kosten verursacht - oder man mit der Versorgung dieser Opfer der Marktwirtschaft möglichst noch einen kleinen Gewinn erzielen kann.

Was macht denn Gott, der Herr, mit seinen Schäflein?
Gott schlachtet sie nicht.
Im Gegenteil: Gott schickt seinen Sohn als Lamm mitten unter die Wölfe. Gott liefert seinen Sohn den Menschen aus, die schon immer einander wie Wölfe waren.
Gott opfert nicht, Gott macht sich selbst zum Opfer, indem er seinen eigenen, einzigen Sohn den Menschen in die Hände gibt.

Das ist eine Vorstellung, die man nicht gut aushalten kann.

Aber es ist auch nicht auszuhalten, dass nach dem großen Töten der beiden Weltkriege, in denen unvorstellbare Grausamkeiten verübt wurden, das Töten noch immer weiter ging. Dass der Schwur: "Nie wieder Krieg!" schon gebrochen wurde, kaum dass er ausgesprochen war. Dass Menschen trotz all dieser schrecklichen Erfahrungen noch immer in blinder Wut aufeinander einschlagen, einander alle nur erdenklichen Gemeinheiten antun, obwohl da in Verdun und den vielen andern Kriegsgräberstätten die unermesslichen Reihen weißer Kreuze stehen, für jeden toten Soldaten ein Kreuz ...

Und es ist auch nicht auszuhalten, dass wir mit unserem Lebensstil in ähnlich brutaler Weise unsere Mitgeschöpfe, die Tiere ausrotten, sie einfach platt machen bei der täglichen Fahrt mit dem Auto; dass wir das Klima und das Antlitz dieser Welt verändern mit unserer Art zu leben; es ist nicht auszuhalten, dass es billiger ist, Essen wegzuwerfen, als es Bedürftigen zu geben, einfacher, Tiere zu töten, als sie artgerecht zu halten.
Es ist nicht auszuhalten, und deshalb halten wir uns Augen und Ohren zu, sonst könnten wir nicht mitmachen bei diesem weltweiten, wütenden Opfern.

V
Gott schickt seinen Sohn, den guten Hirten.
Sich das vorzustellen, ist nicht auszuhalten.
Aber es bleibt nicht beim Karfreitag.
Es kommt der Ostertag, die Auferstehung.
Auch wenn er, wie alles Gute und Schöne, ein Opfer der blinden Wut der Menschen wurde: Sie konnten ihn nicht zum Schweigen bringen. Sie konnten ihn nicht vernichten. Er lebt.
Und mit ihm lebt der Glaube an den guten Hirten, der Glaube, dass der Mensch in seinem Innersten doch gut ist, gut sein kann, zum Guten bestimmt ist.

Deshalb feiern wir heute nicht nur den Jahrestag des Kriegsendes. Sondern auch den Muttertag.
Von unseren Müttern lernen wir, das Leben zu lieben und zu schützen. An das Gute zu glauben. Das Verlorene zu suchen und das Verirrte zurückzubringen; das Verwundete zu verbinden und das Schwache zu stärken und das, was fett und stark ist, zu behüten.

Lassen wir uns von diesem Muttertag dazu anregen, einen totgeglaubten Beruf wiederzubeleben: Lassen Sie uns gute Hirtinnen und Hirten sein, die sich verantwortlich fühlen für ihre Umwelt und für ihre Mitmenschen.

Lassen Sie uns versuchen, das Opfern zu beenden.
Es ist genug, dass einer sich geopfert hat für alle.
Ein für allemal.

Montag, 2. Mai 2011

Beerdigungsansprache

Eigentlich gehört eine Beerdigungsansprache nicht hierher. Sie ist etwas Persönliches, Privates. Für mich stellt die Beerdigungsansprache immer wieder eine Herausforderung dar: Angesichts von Leid und Tod, die sprachlos machen, darf der Glaube nicht schweigen, sondern muss dem Tod mit Worten die Stirn bieten. Im "Beerdigungsalltag" ist die Gefahr groß, dass man sich bestimmte Bilder und Formulierungen angewöhnt, in Floskeln verfällt - gerade dann, wenn man den Tod nicht an sich heranlassen möchte.
Weil es auch mir so geht, suche ich immer wieder mal nach Beerdigungsansprachen von Kolleginnen und Kollegen, bin neugierig, welche Worte und Bilder sie gefunden haben.
Weil ich nicht nur "schnorren" will, stelle ich hier eine aktuelle Ansprache zur Verfügung - vielleicht kann sie der einen oder dem anderen einen hilfreichen Impuls geben.




Ansprache zur Trauerfeier für W über Psalm 139,16:

Deine Augen sahen mich, als ich noch nicht bereitet war,
und alle Tage waren in dein Buch geschrieben,
die noch werden sollten und von denen keiner da war.



Liebe Angehörige,
liebe Trauergemeinde,

"Muse, erzähl mir vom Manne, dem wandlungsreichen, den oft es
abtrieb vom Wege, seit Trojas heilige Burg er verheerte.
Vieler Menschen Städte sah er und lernte ihr Denken
kennen und litt auf dem Meer viel Qual in seinem Gemüte,
trachtend, sein Leben zu sichern und seinen Gefährten die Heimkehr."

(Homer, Odyssee I,1-5, übers. v. Kurt Steinmann, Zürich (Manesse) 2007, 5)

Das ist, Sie haben es vielleicht erkannt oder geahnt, der Anfang der Odyssee, eines langen Liedes des griechischen Dichters Homer, das in 24 Gesängen von den Irrfahrten des Odysseus erzählt.

"Muse, erzähl mir ..." - von einem Mann wie Odysseus gibt es viel zu berichten: Heldentaten und Irrtümer, Glück und Leid, Erfahrungen, die er machte, und Menschen, die er kennen lernte, bis er am Ende sein Ziel, die Rückkehr zu seiner Frau Penelope, die Rückkehr in die Heimat, erreichte.

Nur wenige Menschen werden von Dichtern so besungen. Das Leben der meisten Menschen erscheint zu alltäglich, nicht wert, dass man es aufschreibt oder dass es gar von einem Dichter besungen wird.

Wenn Sie auf das Leben Ihrer Ehefrau, Ihrer Mutter, Ihrer Freundin zurückblicken, dann war da nichts Besonderes, nichts Aufregendes. Ein ganz normales Leben. Am Ende war es überschattet von einer chronischen Erkrankung, die W schwächte und die in immer kürzeren Abständen wiederkehrte und behandelt werden musste. Bis die massiven Nebenwirkungen der Medikamente und die Auswirkungen der Krankheit auf die Organe den Körper Ihrer Ehefrau, Ihrer Mutter so schädigten, dass sie einen Tag vor ihrem Geburtstag ins Koma gelegt werden musste. Aus diesem Koma ist sie nicht mehr erwacht; sie starb am vergangenen Dienstag im Krankenhaus.

Diese letzten Jahre ihrer Krankheit kann man durchaus mit einer Odyssee, einer Irrfahrt durch verschiedene Krankenhäuser, vergleichen. Viele Stunden, Tage und Wochen hat sie im Krankenbett, in Reha-Kliniken verbracht statt mit Ihnen in Ihrer Wohnung. Ist hin und her geschickt worden von Ärzten, die sie, um sicher zu gehen, oder weil das Blutbild wieder mal nicht in Ordnung war, in die Klinik einwiesen.
Ihre Ehefrau, Ihre Mutter hat diese schwere Zeit tapfer erduldet. Tapfer, weil in dieser Zeit ihr Enkelsohn geboren wurde, und jeder Krankenhausaufenthalt ihr Zeit nahm mit ihrem Enkelkind, verhinderte, dass sie es besuchen konnte. Zum Glück ist er seine Oma besuchen gekommen.

Auch am Anfang ihres Lebens steht eine Irrfahrt: Sie wurde bei Kriegsende aus ihrer Heimat vertrieben - da war W gerade mal etwas älter als ihr Enkelkind - kam nach T, wo sie als Flüchtling nicht willkommen war; wo man ihr gerade so viel gönnte, dass es zum Überleben reichte, aber nichts darüber hinaus - bis sie endlich hier ein neues Zuhause fand.

Es sind keine Heldensagen, die Geschichten, die W erlebte, weder die am Anfang ihres Lebens, noch die am Schluss. Aber sie hat in ähnlicher Weise Qualen und Schmach, Leiden und den Verlust der Heimat erduldet, wie Odysseus es tat. Auch ihr Leben ist wert, besungen zu werden.

Im 139. Psalm, den wir eingangs hörten, heißt es:
"Deine Augen sahen mich, als ich noch nicht bereitet war,
und alle Tage waren in dein Buch geschrieben,
die noch werden sollten und von denen keiner da war."

Was wir erfahren und erleiden, aber auch, was wir an Glück und Freude erfahren, geht nicht verloren. Bei Gott ist es aufgeschrieben. Gott bewahrt es auf. Bei ihm ist kein Mensch vergessen. Bei ihm ist auch keine Minute unseres Lebens vergessen - selbst, wenn wir uns nicht mehr daran erinnern können, ja sogar wenn es niemanden gibt, der sich unserer erinnert.

Sie erinnern sich an vieles, das Sie in den 48 gemeinsamen Jahren Ihrer Ehe erlebt haben, in den bald 47 Jahren, die Sie Kind Ihrer Eltern sind, in den über 30 Jahren beim Kegeln oder den 25 Jahren in der Gymnastikgruppe und im Freundeskreis, der daraus entstanden ist. Vieles war dabei alltäglich, nicht der Rede wert. Aber wenn Sie nur ein bisschen nachdenken, fallen Ihnen unzählige Begebenheiten und Geschichten zu W ein, kleine und große, erfreuliche und traurige, schöne und schwere. Wenn Sie die alle aufschreiben würden - 24 Gesänge würden wohl gar nicht reichen.

Unzählige Geschichte, in denen W eine wichtige Rolle spielt, sind mit Ihrer eigenen Lebensgeschichte eng verwoben - bei Ihrer Ehefrau, Ihrer Mutter müsste man wohl eher sagen: Vernäht. Vernäht zu einem riesigen Quilt, einem Flickenteppich.
Sie ist ein Teil Ihres Lebens geworden; Sie können ihre Geschichten nicht mehr herauslösen.
So lebt W in Ihnen weiter. Die Geschichten werden sich verändern, es werden andere dazukommen, auch wieder schöne und aufregende. Der Flickenteppich Ihres Lebens wird vielleicht noch bunter werden. Aber Ihre Ehefrau, Ihre Mutter wird immer einen wichtigen Platz darin behalten.

"Deine Augen sahen mich, als ich noch nicht bereitet war,
und alle Tage waren in dein Buch geschrieben,
die noch werden sollten und von denen keiner da war."

In Gottes Augen ist das Leben von W wertvoll und wert, aufbewahrt zu werden. Deshalb schenkt er ihr ein neues Leben: Ein Leben, in dem das, was sie erlebt und erlitten hat, nicht einfach ausgelöscht ist.
Die Spuren, die Menschen in ihrem Leben hinterließen, die Liebe, die sie gab und empfing, bleiben erhalten - so wie die Spuren Ihrer Ehefrau, Ihrer Mutter in Ihrem Leben erhalten bleiben. Sie werden verwandelt, und so entsteht etwas Neues.
Was das für Sie sein wird, können Sie heute noch nicht erahnen.

Für Ihre Ehefrau, Ihre Mutter wird es das ewige Leben sein.
Ein Leben, befreit von Leid und Schmerz, von Irrtum und Sorge, von panischer Angst, ja sogar befreit vom Tod.
Sie lebt weiter in diesem Leben bei Gott, wie die Erinnerung an sie in Ihnen weiterlebt. Ihre Irrfahrt ist zu einem glücklichen Ende gekommen; sie ist jetzt am Ziel: sie ist zuhause.
In dieses Zuhause werden auch Sie, werden auch wir eines Tages gelangen.
Solange wir noch auf der Reise sind, grüßen wir die Sterne, an denen wir unseren Kurs abstecken und uns orientieren:
Einer von ihnen ist W.

Amen.

Sonntag, 1. Mai 2011

Ihr seid Engel!

Engel aus Pappmaché, hergestellt von Konfirmanden


Predigt zur Konfirmation am 1. Mai 2011 in der Klosterkirche Riddagshausen über Matthäus 28,18-20


Liebe Konfirmandinnen,
liebe Konfirmanden,
liebe Gemeinde,

Sie haben schon eine Weile die Figuren aus Draht und Pappmachée betrachtet,
die wir hier in der Kirche aufgebaut haben.
Sie sind sehr schön geworden, finde ich,
und man erkennt auf den ersten Blick,
was sie darstellen:
Es sind Engel.
Engel, die Ihr, die Konfirmandinnen und Konfirmanden, geschaffen habt in vielen Stunden,
vor und nach Weihnachten,
mit mal mehr, mal weniger Lust.
Mit mal mehr, mal weniger Mühe und Sorgfalt
sind sie doch irgendwann fertig geworden
und stehen nun hier.

Ich will sie jetzt nicht erklären,
keine Deutung geben über das, was sie darstellen.
Für mich ist im Moment wichtig,
dass Ihr sie gemacht habt
und dass dadurch etwas von Euch hier steht.
Diese Engel stehen für Euch,
sozusagen als Eure Stellvertreter.
Es steckt viel von Euch in diesen Figuren,
mehr, als man auf den ersten Blick erkennt.
Aber natürlich seid Ihr nicht so,
wie diese Engel:
Noch etwas unvollkommen,
an manchen Stellen nicht ganz fertig.
Etwas wild und ungewohnt und "anders".
Ihr seid nicht so - vielmehr seid ihr so wie das,
was diese Figuren darstellen:

Ihr seid selber Engel.

Ein Engel - das ist jedes Kind für seine Eltern.
Jede Mutter, jeder Vater ist stolz auf die Tochter, auf den Sohn.
Heute ist eine Gelegenheit,
wo Eure Eltern,
Eure Großeltern, Eure Paten und Verwandten
Euch das besonders deutlich zeigen können.
Auch wenn es Euch peinlich ist,
heute könnt Ihr Euch nicht dagegen wehren,
dass Ihr im Mittelpunkt steht.
Heute wird deutlich, dass Ihr in den Augen Eurer Eltern
die beste, schönste, begabteste auf der ganzen Welt seid;
der netteste, liebenswerteste, freundlichste,
den man sich nur denken kann.
Heute ist jede und jeder von Euch
ein Engel.

Das muss so sein.
Und es ist gut, wenn es so ist.
Es gibt einem unglaublich viel Kraft,
wenn man fühlt und weiß,
dass die Eltern stolz auf einen sind,
und wie sehr sie es sind.
Solz - nicht so sehr wegen der guten Noten in der Schule,
der sportlichen oder musikalischen Leistungen;
stolz nicht nur, weil man zuhause mithilft
oder sich gut benehmen kann.
Sondern auch und überhaupt und vor allem,
weil man da ist,
weil man einzigartig, besonders ist.
Weil man so ist, wie man ist.

Manchmal wird Eltern das bewusst.
Manchmal wird ihnen bewusst,
dass sie einen - oder mehrere -
Engel unter ihrem Dach beherbergen.

Heute im Laufe des Tages geschieht des Unvermeidliche,
das manche von Euch insgeheim fürchten:
Heute werden die Fotos herausgeholt,
die Euch als Baby zeigen, als Kleinkind,
im Kindergarten oder bei der Einschulung,
auf dem Kindergeburtstag oder im Urlaub.
Wenn die Bilder von Hand zu Hand gehen
oder an die Wand geworfen werden,
dann sagt bestimmt irgendjemand:
"Sieht sie, sieht er da nicht aus wie ein Engel!"
Und es stimmt.

Die Fotos, auf denen Ihr ausseht wie Engel
sind oft Fotos, die Euch schlafend zeigen.
Fast alle Kinder sind Engel, wenn sie schlafen.
Denn es ist für ein Kind ziemlich schwierig,
im wachen Zustand ein Engel zu sein.
Da braucht es nur eine winzige Gelegenheit,
einen einzigen Buchstaben,
damit aus einem "Engel" das Gegenteil, ein "Bengel", wird.
Nicht nur bei den Jungen, den "Bengeln";
bei Mädchen ist das ebenso.

Auch diese Momente gab es und gibt es,
wo der Engel sich in sein Gegenteil verkehrt:
wo es Streit gibt. Wo Ihr Eure Eltern ganz schön nervt.
Ihnen weh tut, ihnen Sorgen macht.
Momente, in denen sie Angst um Euch haben,
oder richtig sauer auf Euch sind.
Die spielen heute keine Rolle, diese Momente.
Aber es gibt sie, und sie kommen wieder.

Ebenso wie die Momente,
in denen Eure Eltern Euch nicht sahen.
In denen sie nicht sehen konnten oder nicht sehen wollten,
dass Ihr Engel seid.
Momente, in denen sie ungeduldig, unzufrieden waren mit Euch und vor allem das sahen,
was manche vielleicht auch in Euren Engelskulpturen sehen:
das Unvollkommene,
das nicht ganz Fertige.
Das Wilde und Ungewohnte und "Andere".


II
In der nächten Zeit werdet Ihr die Entdeckung machen,
wie besonders und einzigartig Ihr seid.
Dass niemand so denkt, niemand so fühlt wie Ihr.
Und weil ihr so einzigartig seid,
weil es niemand vergleichbaren gibt,
kann Euch niemand verstehen.
Kein Erwachsener jedenfalls.
Nicht einmal Eure Eltern
- schon gar nicht Eure Eltern.
Dabei haben die das selbe durchgemacht wie Ihr:
Haben auch ihre Einzigartigkeit entdeckt
und sich ebenso wenig verstanden gefühlt wie Ihr
von ihren Eltern
- schon gar nicht von ihren Eltern.

Aber selbst die Tatsache, dass es so ist,
dass jede Generation dasselbe erlebt und durchmacht wie die vorige und dass unsere Eltern genauso ratlos vor uns standen
wie wir vor Euch,
ändert nichts daran, dass auch Ihr und wir da durch müssen.
Dass es Streit geben wird und Tränen
auf beiden Seiten.

Wichtig ist nur, dass wir Eltern dabei nie verlernen,
den Engel in Euch zu sehen
und Euch spüren zu lassen,
dass Ihr in unseren Augen Engel seid.

Gott jedenfalls sieht Euch so.
Und Gott nimmt es ernst, dass Ihr Engel seid.
Gott macht Euch zu seinen Botschaftern.
Wir haben das eben in der Lesung gehört:
"Geht hin und macht zu Jüngern alle Völker.
Tauft sie ...
und lehrt sie halten alles, was ich euch befohlen habe."

Die wenigsten richten Gottes Botschaft durch Taufen und Predigen aus.
Wir Christinnen und Christen sind Boten vor allem durch unser Leben.
Die Art, wie wir leben,
das, was uns wichtig ist,
das, was unser Handeln bestimmt,
das ist unsere Botschaft.
Damit zeigen wir, was wir glauben,
damit zeigen wir, was und wie Gott ist.

Eben probiert Ihr noch aus,
was das sein könnte
- man probiert wahrscheinlich sein ganzes Leben,
was das sein könnte.
Aber sehr bald schon weiß man,
was gut ist und was nicht;
was menschlich ist und was unmenschlich ist;
was fair ist und was unfair.
Eigentlich weiß das jedes Kind ...

"Lehrt sie halten alles, was ich euch befohlen habe", sagt Jesus.
Es ist nicht viel, was man da wissen muss.
Man braucht sich nicht so viele Gebote und Verbote einzuprägen
wie später bei der Führerscheinprüfung.
Im Prinzip ist es nur eins:
"Liebe deinen Nächsten wie dich selbst."

"Liebe deinen Nächsten wie dich selbst."
Wer versucht, dieses Gebot zu befolgen,
dem wird es nicht gelingen,
seine Mitmenschen zu belügen;
sie zu bestehlen oder auszunutzen;
sie zu verletzten oder zu quälen.

Wer versucht, dieses Gebot zu befolgen,
dem wird Gerechtigkeit wichtig sein.
Fairness. Aufrichtigkeit. Mitgefühl.

Und schließlich wird jemand,
dem der Mitmensch nicht weniger wichtig ist als er selbst,
eine Hoffnung haben.
Eine Hoffnung, die nicht nur um ihn selbst und seinen Vorteil, seine Karriere kreist,
nicht nur um seine Familie oder seine Freunde.
Eine Hoffnung vielmehr, die alle Menschen einschließt.
Eine Hoffnung, die die Welt verändern will
und verändern kann.

Wer versucht, das Gebot der Nächstenliebe zu befolgen,
der wird nicht zufrieden sein,
dass es ihm und seiner Familie gut geht,
sondern wollen, dass alle Menschen das erleben können.
Er oder sie wird sich fragen, was er dazu beitragen kann.
Wer das versucht, die oder der
wird ein Engel sein.


III
Gott sieht Euch als Engel an,
als seine Botinnen und Boten.
Wenn Gott Euch etwas bedeutet,
wenn es Euch etwas bedeutet
"zu halten, was Jesus befohlen hat",
dann werdet Ihr Engel sein.

Engel - das sind Wesen,
die ganz nah bei Gott sind,
sozusagen per Du mit Gott.
In direktem Kontakt mit ihm.
Jesus sagt: "Siehe,
ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende."

Jesus ist bei Euch.
Auch deshalb seid Ihr Engel.
Jesus ist bei uns
- deshalb bekreuzigen sich manche Menschen
oder tragen ein Kreuz als Anhänger um den Hals:
Als Zeichen, dass Jesus bei ihnen ist.
Denn sein Zeichen ist das Kreuz.

Jesus aber ist noch anders bei Euch
als ein Kreuz es sein kann.
Er steht hinter Euch. Ihr steht auf seiner Seite.
Auf der guten Seite.

Ihr habt einen Verbündeten.
Einen, der bedingungslos für Euch ist
- auch wenn andere gegen Euch sind.
Einer, der keinen Gefallen von Euch verlangt,
damit er sich für Euch einsetzt.
Der für Euch ist, ohne Euch in eine Richtung zu drängen
oder dafür etwas von Euch zu erwarten.

Man kann das nicht sehen oder fühlen.
Man kann das nur glauben.

Man kann ja oft auch nicht sehen oder fühlen,
wie sehr die eigenen Eltern einen lieben
- gerade, wenn man sich nicht versteht
oder wenn es Streit gegeben hat.
Dann kann man das auch nur glauben.
Und trotzdem ist es wahr:
Eure Eltern werden Euch immer lieben,
und sie werden immer in Euch den Engel entdecken,
der Ihr seid.

Mindestens ebenso liebt Gott Euch.
Und der Sinn der Konfirmation ist eigentlich,
Euch das zu sagen und zu zeigen:
Dass Gott Euch über die Maßen liebt
und dass Ihr Engel seid.
Weil Gott Euch über alle Maßen liebt,
weil Ihr Engel seid,
könnt Ihr auch Botinnen und Boten sein
für das, was wirklich wichtig ist und zählt.

Und so freuen wir uns heute mit Euch
über die Geschenke, die Ihr bekommen habt,
oder die Euch noch erwarten;
über Besuch, der gekommen ist,
vor allem Eure Patinnen und Paten
- Menschen, die Ihr gern habt,
die Euch etwas bedeuten,
die von weit her angereist sind,
die Ihr lange nicht gesehen habt.

Wir freuen uns mit Euch, dass Ihr etwas geschafft habt:
Eure Konfirmation.
Dass mit dem heutigen Tag ein Abschnitt Eures Lebens hinter Euch liegt, und ein neuer, spannender Abschnitt beginnt.

Wir freuen uns als Kirchengemeinde,
dass Ihr Gottes Botschaft weiter tragt
und die Hoffnung aufrecht erhaltet
auf Gerechtigkeit und Frieden,
auf Gottes Reich.

Und als Eltern freuen wir uns über Euch,
einfach und überhaupt und vor allem,
weil Ihr da seid.
Weil Ihr so seid, wie Ihr seid.

Bleibt so:
So seid Ihr gut und richtig,
Ihr Engel!

Amen.