Sonntag, 25. Juni 2023

Gerechtigkeit

Predigt am 3. Sonntag nach Trinitatis, 25. Juni 2023, über Jona 3,10-4,11

Liebe Schwestern und Brüder,


Gerechtigkeit ist ein Thema, das wohl niemanden kalt lässt.

Und nichts kann so sehr in Rage bringen,

nichts lässt so schnell Partei ergreifen

wie vermeintliche oder tatsächliche Ungerechtigkeit.

Wie gemein, wenn der Schiedsrichter

ein gegnerisches Foul nicht pfeift

oder ein Tor der eigenen Mannschaft nicht gibt,

weil der Torschütze angeblich im Abseits stand!

Wie genau achtet man beim Teilen

einer Pizza oder eines Kuchens darauf,

dass alle Stücke gleich groß sind

und auf jeden Fall niemand mehr bekommt als ich.

Wie schmerzt es, wenn ein:e Kolleg:in früher befördert wird,

mehr verdient, besser gestellt ist als man selbst.

Am schlimmsten aber scheint es, wenn andere etwas erhalten,

von dem manche meinen, dass sie es nicht verdient haben.

Sozialleistungen zum Beispiel,

die an Arbeitslose oder Asylbewerber:innen ausgezahlt werden.

Das bringt solche Leute gewaltig in Rage,

obwohl sie selbst keinen Nachteil davon haben.

Aber ihr Gerechtigkeitsgefühl ist verletzt.


Auch in der Bibel ist Gerechtigkeit ein Thema.

Da steht zum Beispiel (3.Mose 19,13):

„Du sollst deinen Nächsten nicht bedrücken noch berauben.

Es soll des Tagelöhners Lohn nicht bei dir bleiben bis zum Morgen” -

das heißt: ein Arbeiter soll noch am selben Tag seinen Lohn erhalten.

Ein Gebot zum Schutz von Arbeitnehmer:innen

lange vor Erfindung der Gewerkschaften.

Und weiter (3.Mose 19,15):

„Du sollst nicht unrecht handeln im Gericht:

du sollst den Geringen nicht vorziehen,

aber auch den Großen nicht begünstigen,

sondern du sollst deinen Nächsten recht richten.”

Oder (3.Mose 19,33):

„Wenn ein Fremder bei euch wohnt im Land,

den sollt ihr nicht bedrücken.

Er soll bei euch wohnen wie ein Einheimischer,

und du sollst ihn lieben wie dich selbst.”


Die Gerechtigkeit, von der die Bibel spricht,

und die Gerechtigkeit, für die wir uns engagieren,

unterscheiden sich an einem bestimmten Punkt:

Wir empfinden es als empörend,

wenn Gegner eines Regimes in Prozessen,

die nicht fair und rechtsstaatlich geführt werden,

zu langen Haftstrafen verurteilt werden.

Man kann sich aufregen über Korruption, Vetternwirtschaft,

über die Missbrauchsskandale in der Kirche

oder darüber, dass wir Flüchtende im Mittelmeer ertrinken lassen.

Aber nichts bringt uns so sehr auf die Barrikaden

wie das Gefühl, dass wir selbst ungerecht behandelt werden

oder Menschen, die uns nahe stehen.

Wenn es um Gerechtigkeit geht,

ist uns das Hemd näher als die Jacke,

kommen erst wir selbst und unsere Familie

und dann die anderen.


So empfand auch der Prophet Jona.

Er fühlte sich ungerecht behandelt.

Er sah sich um den Lohn seiner Mühe gebracht:

Die gerechte Strafe, die er den Leuten von Ninive angekündigt hatte,

blieb aus.

Dabei hatten sie es verdient - er hatte ja selbst gesehen,

wie sie lebten und sich benahmen.

Das Wissen um ihre Bosheit und Verderbtheit

hatte ihn von seinem Auftrag zurückschrecken lassen.

Er hatte die Flucht davor ergriffen -

und musste schließlich doch,

trotz aller innerer und äußerer Widerstände,

den Bewohnern von Ninive Gottes Strafgericht ausrichten:

in 40 Tagen wird Ninive untergehen.”

Und nun sollte dieses Spektakel ausfallen,

bloß, weil die Leute von Ninive ihre Ungerechtigkeit bereuten?


Dann ging auch noch sein Sonnenschutz ein,

der Rizinus mit seinen großen Blättern,

die ihm angenehmen Schatten spendeten,

während er darauf wartete,

dass Feuer und Schwefel vom Himmel regneten

wie beim Untergang von Sodom und Gomorra.


Auch wir sehen uns manchmal vom Pech verfolgt.

Alle anderen bleiben gesund -

ausgerechnet ich fange mir eine Erkältung ein.

Bei allen anderen verläuft die Infektion glimpflich -

ich bin zwei Wochen völlig außer Gefecht gesetzt.

Ausgerechnet ich werde geblitzt,

ausgerechnet mir wird das Handy geklaut.

Ausgerechnet mir muss dies oder das passieren.

Man macht das Schicksal dafür verantwortlich.

Und manchmal fragt man auch Gott,

wie er solche Ungerechtigkeit zulassen kann:

Warum gerade ich?


Zu diesem persönlichen Pech,

den Schicksalsschlägen, die man erlebt,

kommt noch die systemische Benachteiligung:

Als Ostdeutsche:r verdient man immer noch weniger als im Westen,

als Frau verdient man deutlich weniger als ein Mann,

als Hausfrau bekommt man eine Rente,

von der man nicht leben und nicht sterben kann.

Der Krieg Russlands gegen die Ukraine

hat die Preise in die Höhe getrieben,

und der Klimawandel zwingt zum Einbau neuer Heizungen,

die man nicht bezahlen kann.

Das ist alles so ungerecht!


Weil das alles so ungerecht ist,

weil uns diese Ungerechtigkeit so aufregt und schmerzt,

hat eine Partei gerade Zulauf,

die einfache Lösungen gegen diese Ungerechtigkeit anbietet.

Die Antworten dieser Partei lauten ungefähr so:

Wenn man den Klimawandel leugnet,

muss man keine Heizungen tauschen

und keine teuren e-Autos kaufen.

Wenn man sich mit Putin einigt,

wird alles wieder billiger;

was mit der Ukraine passiert, kann uns doch egal sein.

Wenn man keine Flüchtlinge mehr ins Land lässt,

bleibt mehr Geld für die eigenen Leute.

Und wenn Frauen wieder ihrer Rolle

als Hausfrau und Mutter nachkommen,

gibt es keine Arbeitslosigkeit mehr

und keine Ungleichheit bei der Bezahlung.


Es könnte alles so einfach sein,

die Lösungen liegen doch geradezu auf der Hand!

Warum machen wir es uns absichtlich so schwer?


Weil eine Gesellschaft nicht funktioniert,

wenn nicht alle die gleichen Rechte und Chancen haben.

Weil eine Gemeinschaft nur existieren kann,

wenn niemand ausgegrenzt, benachteiligt, bedrückt wird.

Denn Ungleichheit, Ungerechtigkeit können auf Dauer

nur mit Zwang und Gewalt aufrecht erhalten werden.

Mit Zwang und Gewalt aber

kann keine Gesellschaft, keine Gemeinschaft,

keine Familie gedeihen.

Gemeinschaft braucht Gerechtigkeit.

Das gilt für den kleinen Kreis der Familie,

für das Zusammenleben in unserer Stadt;

das gilt für unser Land

und die weltweite Gemeinschaft aller Völker.

Und das gilt auch für unsere Gemeinschaft mit Gott.


Die Gerechtigkeit, die Gott von uns erwartet,

ist nicht der sonntägliche Gottesdienstbesuch,

das regelmäßige Beten oder die Zahlung der Kirchensteuer.

Gott erwartet von uns, dass wir unseren Nächsten,

unseren Mitmenschen,

die selben Rechte zugestehen wie uns.

Dabei ist der Begriff des „Nächsten”, des Mitmenschen

so weit gefasst, dass er auch Fremde beinhaltet -

sogar Menschen, die nicht in unserem Land leben,

die wir gar nicht sehen

und denen wir wahrscheinlich niemals begegnen werden.


Wenn wir anderen diese Gerechtigkeit verweigern,

die wir für uns selbst beanspruchen,

gefährden wir unsere Beziehung zu Gott.


Gott würde sich dennoch nicht von uns abwenden,

wie er sich auch nicht von Jona abwendet,

sondern sich darum bemüht, dass er versteht:

Das Leben der anderen ist ebenso wertvoll wie sein eigenes.

Wie Gott Jona mit Hilfe des Fisches

aus dem tobenden Meer rettete,

so will er auch die Menschen von Ninive retten.

Er macht keinen Unterschied

zwischen ihrer Schuld und Jonas Schuld.

Jona steht ihm auch nicht näher, weil er zu Gottes Volk gehört

und die Leute aus Ninive nicht.

Worauf es Gott ankommt, ist die Reue,

die sie genauso empfinden wie Jona,

und die Umkehr, die sie wie er vollziehen.


Gott entzieht Menschen seine Liebe und seine Vergebung nicht,

wenn sie eine Partei wählen,

die Hass auf Fremde und Andersdenkende,

anders Lebende und Liebende schüren

und die Gesellschaft spalten will.

Die das Rad der Geschichte zurückdrehen will

bis zu einer Zeit, die für die meisten von uns

eine Zeit unfassbarer Grausamkeiten war,

für die wir uns noch als Enkelkinder der Täter schämen.


Aber Gott hört nicht auf, sie und uns zu mahnen,

dass wir dem Untergang entgegengehen,

wenn wir diesen Weg einschlagen.

Und dass der Weg zum Leben nur in der Umkehr liegt:

Der Umkehr zur besseren Gerechtigkeit Gottes,

die das eigene Wohl ebenso im Blick hat wie das des Nächsten.

Die ihren Gottes-Dienst darin sieht,

sich für die einzusetzen und stark zu machen,

die sich selbst nicht Gehör verschaffen können,

wie es der Prophet Jesaja fordert (Jesaja 1,17):

„Lernt Gutes tun, trachtet nach Recht,

helft den Unterdrückten,

schafft den Waisen Recht, führt der Witwen Sache!”


Wir können so tun, als hörten wir nicht.

Als gingen uns die anderen, die Fremden, nichts an.

Wir können wie Jona unter unserem Rizinus sitzen,

auf die Ungerechtigkeit der Welt schimpfen

und allen den Tod wünschen, die nicht so sind wie wir.


Oder wir können ernst nehmen,

dass Gott uns zu seinem Bilde geschaffen

und uns mit Liebe begabt hat.

Liebe, die nicht nur uns selbst gilt,

sondern auch unseren Mitmenschen

in der Nähe und in der Ferne.

Liebe, die aller Kreatur gilt,

der gesamten Schöpfung, für die wir verantwortlich sind.

Wenn wir diese Liebe ernst nehmen,

wenn wir mitfühlend werden,

dann werden wir Gottes Nähe spüren,

das Leuchten seines Angesichts auf uns

und seine unendliche Liebe zu uns und zu allem Lebendigen.


Wir haben die Wahl.

Es ist unsere Entscheidung.

Samstag, 24. Juni 2023

Veränderung

Ansprache zum Johannistag, 24.6.2023, über Jesaja 40,1-11

„Alle Täler sollen erhöht werden,

und alle Berge und Hügel sollen erniedrigt werden,

und was uneben ist, soll gerade,

und was hügelig ist, soll eben werden;

denn die Herrlichkeit des Herrn soll offenbart werden,

und alles Fleisch miteinander wird es sehen.”


Liebe Schwestern und Brüder,


Jesaja spricht von Revolution.

Denn das ist doch genau die Bedeutung von Revolution:

Alle Täler werden erhöht,

alle Berge und Hügel erniedrigt.

Das Unterste wird zuoberst gekehrt.

Die, die vorher unten waren, sind jetzt oben.

So war es bei der französischen Revolution von 1789,

als die Herrschaft vom König und Adel auf die Bürger überging.

So war es bei der Oktoberrevolution von 1917,

als die Bolschewiki in Russland die Macht übernahmen.


Doch wie es so geht im Leben -

die neuen Machthaber waren auf Dauer nicht besser als die alten.

Robespierre ließ in Paris die Köpfe rollen,

bis er selbst einen Kopf kürzer gemacht wurde.

Und auch die Bolschewiken machten kurzen Prozess

mit ihren tatsächlichen oder vermeintlichen Gegnern.


Die Revolutionen haben den Menschen Freiheiten gebracht -

wo wären wir heute ohne die Menschenrechte?

Wo ohne Chancengleichheit und Gleichheit vor dem Gesetz?

Doch so groß die Errungenschaften auch waren:

Die Gewalt, der Terror, die Ungerechtigkeit,

die mit diesen Revolutionen einher gingen,

haben das Wort „Revolution” zu einem Menetekel gemacht.

Revolution war nichts, was man ersehnte -

es sei denn, man hatte nichts mehr zu verlieren.


Bis zur „friedlichen Revolution” 1989.

Sie bewies, dass ein Umsturz auch ohne Gewalt möglich war.

Ein Umsturz, der gewaltige Folgen hatte:

Mit der Mauer wurde auch der „Eiserne Vorhang” eingerissen.

Der „Kalte Krieg” war zu Ende.

Manche Historiker sprachen damals vom „Ende der Geschichte”:

Nachdem die Demokratie sich scheinbar durchgesetzt hatte,

konnte offensichtlich nichts Besseres mehr kommen.


Heute wissen wir, dass das ein Irrtum war.

Die Geschichte war mit 1989 nicht zu Ende, im Gegenteil:

Das Rad der Geschichte holte nur neuen Schwung.

Heute stehen wir vor Problemen,

die wir 1989 weit hinter uns gelassen zu haben glaubten.

Was niemand mehr für möglich hielt

und keine:r sich vorstellen konnte,

ist seit anderthalb Jahren wieder bittere Realität:

Es herrscht Krieg in Europa.

Der Klimawandel, damals schon prophezeit,

stellt uns heute vor Herausforderungen,

die wir noch gar nicht richtig begreifen können.


Auch die Kirche hat sich seitdem verändert.

Ihre letzte große Revolution, der Thesenanschlag Martin Luthers,

liegt schon 500 Jahre zurück.

Mit der Reformation wurde Revolution sogar zum Programm erhoben:

ecclesia semper reformanda - Kirche muss sich ständig erneuern,

heißt es seitdem.

Aber seit längerem schon kann die Kirche mit den Veränderungen

der Gesellschaft und der Umwelt nicht mehr Schritt halten.

Erstmals seit der Einführung des Christentums in Europa

machen Christ:innen weniger als die Hälfte der Gesellschaft aus,

Tendenz fallend.


Was wurde nicht alles versucht,

diese Entwicklung aufzuhalten oder gar umzukehren.

Von der Inneren Mission,

die von Johann Hinrich Wichern ins Leben gerufen wurde,

bis heute hat es ungezählte Anstrengungen gegeben,

Menschen für das Christentum, für die Kirche zu begeistern.

Auch hier, in der Domgemeinde,

würde die Liste der Unternehmungen,

mit denen Menschen in den Dom gelockt werden sollten,

wahrscheinlich ein ganzes ganzes Schulheft füllen.


Das Bemerkenswerte daran ist:

Wir geben nicht auf.

Obwohl doch schon alles probiert wurde,

überlegen wir trotzdem wieder und wieder,

wie wir Menschen für den Dom interessieren,

für die Sache Jesu begeistern können.

So viele engagieren sich,

geben Zeit, Kraft und Geld,

um den Dom zu öffnen und instand zu halten,

Gottesdienste, Konzerte vorzubereiten,

die, die zu uns gehören, zu betreuen

und neue Gemeindeglieder zu gewinnen.

Niemand zieht sich auf seinen Platz in der Kirchenbank zurück,

niemand denkt: Das hat doch alles keinen Sinn.

Niemand sagt: Der Letzte macht das Licht aus.


Und wenn doch jemand die Hoffnung verliert,

alle Anstrengung für vergeblich hält,

dann wecken das Erlebnis der Osternacht

oder der Nacht der Chöre,

dann weckt das Gefühl,

in der Gemeinde zuhause und getragen zu sein,

den Wunsch, dieses Erlebnis auch anderen zu ermöglichen.


Und doch gibt es einen Reformstau,

der die Kirche irgendwann einholen und überrollen wird.

Es ist noch nicht abzusehen, was zuerst ausgeht:

das Geld, oder die hauptamtlich Mitarbeitenden.

Wir werden eher früher als später

nicht mehr alle Kirchengebäude erhalten,

nicht mehr alle Mitarbeitenden bezahlen können.

Und in manchen ländlichen Gebieten Mecklenburgs

gibt es schon jetzt nicht mehr genug Gemeindeglieder,

die eine Mitarbeiterstelle rechtfertigen könnten.

Auch die Gemeinden in Schwerin

werden vermutlich enger zusammenrücken,

werden Ressourcen und Mitarbeiter teilen

und aufeinander zugehen müssen.


Wie sollte es auch anders sein in einer Gesellschaft,

die sich so radikal verändert, wie wir es gerade erleben.

Die Kirchen, immer schon ein Zufluchtsort,

ein Ort des Asyls, eine Insel für Andersdenkende,

können nicht hoffen, ungeschoren zu bleiben.

Der Dom wird hoffentlich noch einmal 850 Jahre stehen.

Aber er kann uns nicht vor den Veränderungen schützen,

die nötig und unausweichlich sind.


Was uns dabei Mut machen kann:

Diese Domgemeinde hat Erfahrungen mit Veränderungen.

Seine heutige Gestalt erhielt der Dom,

weil zwei Pastoren, Pastor Hebert und Pastor Pilgrim,

zusammen mit dem Kirchengemeinderat

eine damals radikale Umgestaltung des Kirchenraums durchsetzten.

Dabei wurden sie von vielen aus der Gemeinde unterstützt -

einige, die heute hier sind,

kletterten damals in schwindelnder Höhe auf dem Gerüst herum

und schwangen den Pinsel.

Was damals neu und unerhört war und auch Widerstand hervorrief -

ein Beispiel dafür sind die weißen Talare -,

ist heute eine Tradition, die gefühlt „schon immer” existierte

und auf die die Domgemeinde zu recht stolz ist.


Veränderungen machen Angst.

Man möchte gern, dass alles so bleibt, wie es ist.

Aber die Geschichte lehrt uns, dass es nie so war.

Immer schon wurde etwas verändert,

wurde Neues versucht und durchgesetzt,

das uns heute als ewig und unverrückbar erscheint.

Wahrscheinlich stimmt der Satz:

Wer will, dass die Kirche so bleibt, wie sie ist,

der will nicht, dass sie bleibt.


Was uns in aller Veränderung trösten und Halt geben kann

ist die Einsicht, dass die Kirche nicht unseretwegen da ist,

sondern weil Christus Menschen zu Menschenfischern berief.

Dass wir Gottesdienste nicht feiern,

damit der Pastor reden und der Kantor seine Kunst zeigen kann,

sondern um Gott die Ehre zu geben

und uns von Gottes Wort Weg und Richtung zeigen zu lassen.

Christus ist der Herr der Kirche.

Seinetwegen existiert sie,

um seinetwillen ist sie da,

und weil er es will, wird sie immer da sein.

In welcher Gestalt, das können wir nicht wissen.

Aber daran hängt auch nicht das Heil der Kirche.

Christus baut sich seine Kirche, wo er will,

und uns kann und will er dazu gebrauchen.


Wie wunderbar, dass es so viele sind,

die sich in dieser Gemeinde

von Christus haben rufen und in Dienst nehmen lassen!

Es erscheint selbstverständlich -

doch das ist es ganz und gar nicht.

Es ist alles andere als selbstverständlich,

dass Sie Zeit, Kraft und Geld geben,

damit andere, auch und gerade viele fremde Menschen,

hier im Dom Gottes Wort hören,

den Zauber der Musik erleben

und die Schönheit dieser Kirche bewundern können.

Im Namen all dieser Menschen

möchte ich Ihnen von ganzem Herzen dafür Danke sagen.

Das will ich tun nach dem Lied,

das wir jetzt singen:

„Vertraut den neuen Wegen.”

Sonntag, 11. Juni 2023

bleiben

Predigt am 1. Sonntag nach Trinitatis, 11. Juni 2023, über 1.Johannes 4,13-21

Es ist Unsinn

sagt die Vernunft

Es ist was es ist

sagt die Liebe


Es ist Unglück

sagt die Berechnung

Es ist nichts als Schmerz

sagt die Angst

Es ist aussichtslos

sagt die Einsicht

Es ist was es ist

sagt die Liebe


Es ist lächerlich

sagt der Stolz

Es ist leichtsinnig

sagt die Vorsicht

Es ist unmöglich

sagt die Erfahrung

Es ist was es ist

sagt die Liebe

(Erich Fried)


Liebe Schwestern und Brüder,


sprechen wir über die Liebe.


Aber kann man überhaupt über die Liebe sprechen?

Es gibt Liebesbriefe, Liebesschwüre

oder Liebesgedichte wie das von Erich Fried.

Sie sprechen mehr oder weniger beredt von dem,

was man fühlt, wenn man verliebt ist -

vielleicht zum allerersten Mal.


Wenn man, wie der 1.Johannesbrief, über Liebe spricht,

knüpft man an ein Gefühl an, das man gerade hat

oder von dem man weiß, wie es sich anfühlt.

Wer noch nie geliebt hat,

wer die Liebe noch nicht kennt,

kann dabei nicht mitreden.

Um bestimmte Wahrheiten des Glaubens zu verstehen,

braucht es Lebenserfahrung -

Erfahrungen, die man erst ab einem gewissen Alter macht.


Der 1.Johannesbrief ruft das Gefühl wach,

das alle kennen, die schon einmal geliebt haben.

Er weckt dieses Gefühl,

um uns damit eine Wahrheit unseres Glaubens zu vermitteln.

Der 1.Johannesbrief sagt: „Gott ist Liebe.”


Die Liebe ist für jede:n, die sie empfindet,

etwas Besonderes, Beglückendes.

Und zugleich ist sie eine Erfahrung,

die hoffentlich jede:r gemacht hat und gerade macht:

Etwas Alltägliches.

Liebe ist für uns so selbstverständlich

und so lebensnotwendig wie Atmen, Essen, Schlafen.


Wenn der 1.Johannesbrief sagt: „Gott ist Liebe”,

versetzt er die Liebe aus unserem alltäglichen Bereich

in die Sphäre des Göttlichen.

Man könnte sagen: Er hebt sie in den Himmel -

ein Platz, der der Liebe durchaus gebührt.

Man könnte aber auch sagen: Er nimmt sie uns weg,

macht sie von unserer Sache zu einer Sache Gottes.


Der 1.Johannesbrief will weder das eine noch das andere tun.

Er will zeigen, wie ein Leben im Glauben aussieht.

Glauben, das bedeutet für den 1.Johannesbrief: Gott lieben.

Was man liebt und vor allem: wen man liebt

nimmt die wichtigste Stelle im Leben ein.

Die Gedanken kreisen immer wieder um die Liebste, den Liebsten.

Sie, er ist ständig gegenwärtig -

auch und gerade, wenn sie nicht da ist.

Bei einem Kind macht sich das noch einmal besonders bemerkbar.

„Du machst dich heut in meinem Leben

so breit, das ich vergessen hab:

Was hat es eigentlich gegeben

damals, als es dich noch nicht gab? (…)

Denn du kommst und gibst allen Dingen

eine ganz neue Dimension.

Und was mir die Jahre bringen

mess ich an dir, kleine Person”,

singt Reinhard Mey seinem Kind zu.


Wer Gott liebt, für den nimmt Gott

eine zentrale Stelle im Leben ein.

Die Gedanken kreisen immer wieder um Gott -

auch und gerade, weil man Gott nicht sieht.

Man fragt sich, was Gott sich wünschen,

was Gott Freude machen könnte -

wie man sich das bei der Liebsten, dem Liebsten,

wie man sich das bei seinen Kindern fragt.


Was Gott sich von uns wünscht ist,

dass wir unsere Schwester, unseren Bruder lieben.

Nicht nur die Geschwister, mit denen man verwandt ist.

Schwestern und Brüder sind alle Menschen.

Weil alle Menschen Gottes Kinder sind wie wir,

sind alle Menschen untereinander Geschwister.


Geschwisterliebe kann sehr innig sein.

Das Verhältnis von Geschwistern kann aber auch

schwierig, kompliziert und distanziert sein,

bis dahin, dass Geschwister nicht mehr miteinander reden.

„Liebe” bezeichnet hier nicht ein Liebesverhältnis

wie zum Partner oder zur Partnerin,

sondern eine enge Beziehung, die niemals aufhört -

nicht einmal dann, wenn man jede Beziehung abbricht.


Die Geschwister- oder Nächstenliebe ist eine Form der Beziehung,

ein Bezogensein auf alle anderen Menschen,

mit denen man diese Welt teilt.

Man muss die anderen nicht lieben, nicht einmal gern haben,

um mit ihnen in Beziehung zu stehen.

In derselben Weise sind wir auf Gott bezogen.

Man muss Gott nicht lieben, um mit Gott in Beziehung zu stehen -

manchmal ist Gott sehr fern und fremd,

ist die Beziehung zu Gott kompliziert und distanziert.

Trotzdem ist sie da und hört niemals auf.


„Gott lieben” heißt also für den 1.Johannesbrief

nicht mehr und nicht weniger als:

sich dieser Beziehung zu Gott bewusst werden -

und damit zugleich der Beziehung zu allen Mitmenschen.

Diese beiden Beziehungen werden von Jesus

in zwei Geboten zusammengefasst (Markus 12,29-31):

„Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben

von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Gemüt

und mit all deiner Kraftund

„Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.”


Es sind also nicht nur zwei, sondern drei Beziehungen:

Die Beziehung zu Gott,

die Beziehung zum Mitmenschen

und die Beziehung zu sich selbst.

Alle drei Beziehungen können von zwei Gefühlen geprägt sein:

Von Unfreiheit und von Furcht.


„Darin ist die Liebe bei uns vollendet,

auf dass wir die Freiheit haben, zu reden am Tag des Gerichts.”

Vom Tag des Gerichts sprechen wir im Glaubensbekenntnis,

wenn wir beten: „Von dort wird er kommen

zu richten die Lebenden und die Toten.”

Dieser Satz des Glaubensbekenntnisses

bezieht sich auf eine Stelle im Matthäusevangelium (Mt 25,40),

wo Jesus als Richter erscheint,

der die Menschen fragt, was sie für ihn getan haben.

Denn, sagt Jesus, „was ihr getan habt einer oder einem

von diesen meinen geringsten Schwestern und Brüdern,

das habt ihr mir getan.”


Dieses Gericht findet aber nicht erst am Ende der Zeiten statt.

Täglich fragt man sich, ob man genug getan hat

für die Partnerin, den Partner,

für die Kinder,

für die Eltern,

für Freundinnen und Freunde,

für Schüler:innen, Patient:innen,

für Menschen in Not.

Nie ist man sich sicher, ob es wirklich genug war.

Ob man nicht mehr hätte tun müssen,

länger bleiben, besser zuhören, mehr Kraft investieren,

freundlicher, großzügiger oder geduldiger sein.

Man fühlt sich nicht frei,

weil man anderen immer etwas schuldig bleibt.


Diesem Gefühl, nicht genug getan zu haben,

kommt Gott mit seiner Liebe entgegen.

Gottes Liebe rechtfertigt uns.

„Rechtfertigung” heißt auf Latein satisfactio, Genugtuung.

Wer gerechtfertigt ist, hat genug getan.

Wir müssen uns nicht schuldig fühlen,

uns nicht mit Schuldgefühlen beladen.

Das macht uns frei, zu leben und zu lieben

und dadurch tatsächlich viel und genug zu geben und zu tun.


Das andere Gefühl ist die Furcht, die Angst vor Strafe.

Zu der Frage, ob man genug für andere getan hat,

vor allem für die Menschen, die man liebt

und denen man sich verpflichtet fühlt,

kommt die Frage, ob man gut genug ist.

Mit dieser Frage wächst man auf.

Schon als Kind wird man verglichen und bewertet:

„Du siehst aus wie deine Mutter!”

„Du bist aber groß geworden!”

„Das hast du fein gemacht!”

Das ist alles nett und liebevoll gemeint.

Trotzdem wird damit Kindern von klein auf beigebracht,

dass sie Erwartungen erfüllen und Ansprüchen genügen müssen.

In der Schule setzt sich das fort

und hört niemals wieder auf.


Mit der Zeit hat man keine Angst mehr

vor dem Ausgeschimpftwerden oder vor der schlechten Zensur.

Denn die strengste Richterin, der unbarmherzigste Richter

uns gegenüber sind wir selbst.


Auch hier kommt uns Gott mit seiner Liebe entgegen

und nimmt uns an so, wie wir sind.

Das ist nicht ein Annehmen,

wie wir bestimmte Dinge hinnehmen,

die nun einmal nicht zu ändern sind.

Das ist Liebe: Gott will uns nicht anders haben

als so, wie wir sind.

Wir müssen uns nicht ändern,

wir müssen nicht besser werden, schöner, schlanker,

klüger, gesünder, wohlhabender, fleißiger,

um für Gott liebenswert zu sein.


„Furcht ist nicht in der Liebe,

sondern die vollkommene Liebe treibt die Furcht aus.”

Wie erreicht man diese vollkommene Liebe,

die die Furcht besiegt, man sei nicht gut genug

und die Freiheit schenkt, genug getan zu haben?

„Wir haben erkannt und geglaubt die Liebe, die Gott zu uns hat:

Gott ist Liebe;

und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm.”


Alles, was zu tun nötig ist, ist bleiben.

Bleiben bedeutet hier nicht, dass man nicht weggeht,

dass man die Beziehung nicht aufgibt -

das ist gar nicht möglich,

weil wir unsere Beziehung zu Gott niemals verlieren können.

Wir bleiben Kinder Gottes,

wie wir die Kinder unserer Eltern bleiben

und die Geschwister unserer Schwestern und Brüder,

wie auch immer die Beziehung aussieht, die wir zu ihnen haben.


Bleiben bedeutet, in Beziehung zu Gott zu leben.

Im Bewusstsein, dass Gott da ist

und dass Gott mich liebt,

über alle Maßen liebt.


„Es ist, was es ist, sagt die Liebe.”

Kein Überschwang ist nötig,

kein Opfer, kein Verzicht.

Nur sehen und erkennen, was da ist,

was immer da war und immer da sein wird:

Gottes bedingungslose, unendliche Liebe.