Dienstag, 29. Dezember 2020

Von Barmherzigkeit überrascht

Jahreslosung 2021:
Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist.
(Lukas 6,36)

Am Beginn eines neuen Jahres blickt man voraus - hoffnungsvoll, erwartungsvoll, oder eher skeptisch und pessimistisch. Die Jahreslosung aber blickt zurück: „wie auch euer Vater barmherzig ist”. Gottes Barmherzigkeit erkennt man nur im Rückblick. Man erkennt sie rückblickend daran, dass man Vergebung erfahren hat - indem andere mir vergaben; indem eine Last von mir genommen wurde, die mir auf dem Gewissen, auf der Seele lag; indem ich mir selbst etwas vergeben konnte. Gottes Barmherzigkeit erkennt man im Rückblick auch daran, dass man Dankbarkeit empfindet. Dankbarkeit, die von der kleinen Freude über einen Sonnenstrahl, ein Lächeln oder eine freundliche Geste bis hin zur Dankbarkeit für eine Genesung reicht, für die Rettung in letzter Minute oder ein unverhofftes Glück.

An Gottes Mitleid und Vergebung und an den kleinen und großen Geschenken, die wir erhalten - an dem Geschenk, das unser Leben selbst ist - zeigt sich Gottes Barmherzigkeit. Zeigt sich, wie gut Gott es mit uns meint, wie sehr Gott uns liebt.

Daran kann man sich erinnern, wenn man das Gefühl hat, vom Pech verfolgt zu sein. Wenn man unter den Einschränkungen und der Isolation durch die Corona-Maßnahmen leidet. Doch gerade dann fällt es besonders schwer, sich an Gottes Barmherzigkeit zu erinnern. Denn wenn man Schweres erlebt und erleiden muss, scheint Gott sehr fern zu sein, scheint Gott mich vergessen zu haben.

Darum fordert die erste Hälfte der Jahreslosung dazu auf, selbst barmherzig zu sein. Nicht mit dem moralischen Druck, sich für ein Geschenk dankbar zu zeigen, so wie man die Kinder lehrt: „Sag danke!”, wenn sie etwas geschenkt bekommen. Wofür sollte man auch danken, wenn einen das Gefühl beschleicht, das Leben habe einem wieder einmal Zitronen gegeben?

Nein, die Aufforderung, barmherzig zu sein - anderen eine kleine oder große Freude zu machen, wenn sie es nicht erwarten, oder ihnen zu vergeben, dass sie so sind, wie sie sind - diese Aufforderung dient dazu, _uns_ zu helfen, wenn wir vom Leben enttäuscht sind. Es lenkt uns ab von Groll und Selbstmitleid, wenn wir uns anderen hilfreich zuwenden. Ihre Freude und Dankbarkeit für unsere Zuwendung macht uns selbst wieder fröhlich, macht Mut und gibt Hoffnung.

Seid barmherzig! Am Beginn eines neuen Jahres, das noch viele Einschränkungen und Schwierigkeiten für uns parat hält, werden wir aufgefordert, uns davon ablenken zu lassen. Von den eigenen Sorgen und Problemen weg hinzusehen auf andere Menschen, und uns ihnen freundlich, hilfreich, vergebend zuzuwenden. Wenn wir das versuchen, werden wir das Glück erleben, das ihre Freude, ihre Dankbarkeit bei uns bewirken. Und vielleicht erleben wir sogar, dass ein*e andere*r für uns dasselbe tut: Uns mit Barmherzigkeit überrascht.

Zurück zu den Fleischtöpfen?

Gedanken zum Predigttext für den Altjahrsabend, 31.12.2020, 2.Mose 13,20-22:

Der Herr zog vor dem Volk Israel her, am Tage in einer Wolkensäule, um sie den rechten Weg zu führen, und bei Nacht in einer Feuersäule, um ihnen zu leuchten, damit sie Tag und Nacht wandern konnten. Niemals wich die Wolkensäule von dem Volk bei Tage noch die Feuersäule bei Nacht.

Am Jahresende blicken wir zurück auf das vergangene Jahr und voraus auf das Jahr, das vor uns liegt. In diesem Jahr wird es dazu mehr Gelegenheit geben als sonst. Weil die Silvesterfeiern und die Böllerei ausfallen müssen, wird es stiller sein als jemals sonst beim Jahreswechsel. In normalen Jahren blickt man zwar auch zurück und voraus. Aber das, was man erwartet, ist doch meistens das selbe wie im vergangenen Jahr - die alljährlichen Familienfeste, die Feiern im Freundeskreis, der Urlaub, die beruflichen Pflichten und das, was in Haus und Garten im Laufe eines Jahres zu tun ist - Alltag, eben. Dieser Alltag ist für die meisten von uns in diesem Jahr komplett ausgefallen. Und es sieht so aus, als ob es noch eine Weile dauern wird, bis wieder Normalität einkehrt. Dabei ist gerade sie das, was wir uns am sehnlichsten für das neue Jahr wünschen. Wir wollen nichts Neues, wir wollen nichts ändern, wir wollen nur wieder in den Urlaub fahren, uns mit Freunden, Nachbarn oder Verwandten treffen, tanzen oder auf Konzerte gehen können. Wir wollen, um es mit einem Bild der Bibel zu sagen, zurück zu den Fleischtöpfen Ägyptens. Statt dessen irren wir in einer Art Wüste umher. Eine Beziehungs-Wüste, in der wir kaum Kontakte haben dürfen. Eine Erlebnis-Wüste, in der alles, was Spaß macht, geschlossen oder verboten ist. Unser Alltag ist ähnlich eintönig wie der des Volkes Israel auf seiner Wanderung. Vergessen die Erniedrigung, Ausbeutung und Unterdrückung in Ägypten. Vergessen das Gefühl der Befreiung beim Durchzug durchs Rote Meer, der Rausch der Freiheit. Wie übersteht man eine solche Durststrecke, wie die Wüste sie im wahrsten Sinne des Wortes ist? Wie überstehen wir die Durststrecke der Corona-Maßnahmen?

Dem Volk Israel ging Gott in einer Wolken- und Feuersäule voran. Damit hatten sie etwas, woran sie sich orientieren konnten. Sie hatten ein Ziel vor Augen. Zugleich wussten sie, dass sie auf dieser Durststrecke nicht allein waren. Sie würden sich nicht verirren, sondern das Gelobte Land erreichen.

Unsere Wolken- und Feuersäule ist die Bibel. Sie kann uns nicht vorangehen, sie ist ja ein Buch. Die Bibel liegt uns voraus. So alt sie ist, ist sie uns doch immer einen Schritt voraus. Denn sie sieht von einer anderen Warte auf unser Leben, als wir es könnten - wir stecken ja mittendrin. Die Bibel dagegen nimmt Gottes Position ein. Sie sieht quasi von oben auf unser Leben, sieht es als Ganzes, kennt sein Ziel und das gute Ende, das unser Leben nehmen wird. Darum lohnt es sich, in der Bibel nach Orientierung zu suchen auf der jetzigen Durststrecke und auf den Durststrecken unseres Lebens. Wir werden damit nicht ins Gelobte Land gelangen - nicht in diesem Leben jedenfalls. Aber wir werden neue Wege finden. Wege, von den wir jetzt vielleicht noch nichts ahnen.

Ein frohes und gesegnetes neues Jahr!

Samstag, 26. Dezember 2020

durch einen blinden Spiegel

Gedanken zum Predigttext am 1.Sonntag nach dem Christfest, Lukas 2,22-40

Liebe Schwestern und Brüder,

Weihnachten ist ein Fest für alle Sinne. Und was können sie an Weihnachten nicht alles erspüren! Die Nase erfreut sich an Back- und Bratendüften. Die Zunge bekommt leckeres Essen, Christstollen und Lebkuchen zu schmecken. Wir hören Weihnachtslieder und das Knistern von Geschenkpapier. Wir versuchen zu ertasten, welches Geschenk sich unter dem Papier verbirgt.

Doch am meisten gibt es an Weihnachten wohl zu sehen: Tannenbaum und Kerzenglanz, das Leuchten in den Augen der Kinder wie der Erwachsenen, und das Kind in der Krippe.

Darum lesen wir heute die Geschichte von Simeon, der sehnsüchtig darauf wartete, den Messias zu sehen, den Trost Israels, und der ihn in dem Kind erkannte, das Maria und Josef in den Tempel brachten: „Meine Augen haben deinen Heiland gesehen”.

Simeon ist glücklich darüber, dass er das Kommen dessen erleben durfte, der angekündigt war vor langer Zeit. Aber anders, als die Propheten es ausmalten, bringt er nicht das Jüngste Gericht und das Reich Gottes - jedenfalls nicht so, wie es die Propheten erwarteten, als Revolution, als Umwälzung und Erneuerung der Welt. Die Welt wird nicht erschüttert, sie nimmt nicht einmal Notiz von der Geburt des Erlösers. Nur ein alter Mann und eine hochbetagte Frau sehen das Kind als das, was es ist.

Warum kommt Gott so heimlich auf die Welt? Warum hängt er nicht an die große Glocke, dass er Mensch geworden ist? Warum erscheinen die Engel nur ein paar Hirten auf freiem Feld, abseits aller Zivilisation, statt mitten in der Stadt aufzutreten, wo alle sie sehen können?

Wenn Gott sein Kommen in die Welt so verbirgt, muss man sich anstrengen, ihn zu finden. Man muss ihn suchen. Ihn ersehnen, wie der alte Simeon. Sich um ihn bemühen, wie Hannah es ihr Leben lang tat.

Als Gott auf die Welt kam, wurde diese Welt nicht mit einem Schlag zum Paradies. Sie blieb so, wie sie ist: So schön, und zugleich so voller Leiden und Leid. In dieser Welt, in diesem Leben können wir Gott nicht so sehen, wie Simeon den Heiland sah. Wir sehen Gott nur wie durch einen blinden Spiegel: Unsicher, ob das, was wir da sehen, wirklich Gott ist, oder nur eine Täuschung, eine Einbildung von uns.

Gott bleibt für uns verborgen. Darum bleibt auch verborgen, wo und wie Gott uns leitet und begleitet, uns unterstützt und trägt. Gott ist da; wir sind im Leben nicht allein, nicht auf uns allein gestellt. Wir können aber auch nicht davon ausgehen, dass Gott für uns alle Steine aus dem Weg räumt, alle Probleme löst. Gott nimmt uns unser Leben nicht ab. Gott nimmt uns auch die Verantwortung für unser Leben, für unsere Mitmenschen und für diese Welt nicht ab. Dafür gibt er uns die Kraft, die Ausdauer und die Ideen, das Leben zu bestehen und diese Welt ein wenig besser zu machen - für uns, und für andere.

Kraft, Ausdauer und Ideen finden wir, wenn wir uns auf die Suche nach Gott machen. Bei dieser Suche stoßen wir immer wieder auf seine Spuren. Wir begegnen dem Kind in der Krippe, wenn wir es am wenigsten erwarten. Und wenn wir auch nicht mit Simeon sagen: „Meine Augen haben deinen Heiland gesehen”, so dürfen wir doch sicher sein, dass Gott immer an unserer Seite ist und bleibt. Und dass er sich von uns finden lässt, wenn wir ihn suchen.

Donnerstag, 24. Dezember 2020

selbstlos geworden

Gedanken zum Predigttext des 1.Weihnachtstages Jesaja 52,7-10

Wie lieblich sind auf den Bergen die Füße des Freudenboten, der da Frieden verkündigt, Gutes predigt, Heil verkündigt, der da sagt zu Zion: Dein Gott ist König! Deine Wächter rufen mit lauter Stimme und jubeln miteinander; denn sie werden’s mit ihren Augen sehen, wenn der Herr nach Zion zurückkehrt. Seid fröhlich und jubelt miteinander, ihr Trümmer Jerusalems; denn der Herr hat sein Volk getröstet und Jerusalem erlöst. Der Herr hat offenbart seinen heiligen Arm vor den Augen aller Völker, dass aller Welt Enden sehen das Heil unsres Gottes.

Liebe Schwestern und Brüder,
dieses Jahr haben wohl alle nur einen Wunsch zu Weihnachten: Dass die Ausnahmesituation, die das Corona-Virus verursacht hat, endlich vorüber geht, und dass alles wieder so wird, wie es vor der Pandemie war.
Einen ähnlichen Wunsch hatten schon die Bürgerinnen und Bürger Jerusalems, die im 6. Jh. vor Christus ins Exil verschleppt worden waren: Sie wollten nach Hause, nach Zion, wie die Stadt Jerusalem auch genannt wurde. Ihnen bringt der Prophet Jesaja die gute Nachricht, dass sie zurückkehren können. Und dass auch Gott nach Zion zurückkehrt, obwohl der Tempel noch in Trümmern liegt.
Bilder einer Stadt in Trümmern kennen wir aus den Kriegs- und Krisengebieten dieser Welt: Das abgebrannte Flüchtlingslager von Moria, oder die zerstörte Stadt Homs in Syrien. Die älteren von uns erinnern sich an die vom Krieg zerstörten Städte in unserem Land. Die Narben des Krieges kann ein geübtes Auge noch heute an vielen Gebäuden entdecken.
Zerstörung und Wiederaufbau haben unsere Städte verändert. Manche Stadt hat sich nach dem Krieg völlig verwandelt, manche hat ihr Gesicht verloren. So war es auch in Jerusalem: Die Stadt war nach der Rückkehr der Exilierten nicht mehr dieselbe. Der zweite Tempel, der nach dem Exil gebaut wurde, hatte wenig gemein mit dem Tempel, dessen Beschreibung wir in der Bibel finden.
Auch nach der Corona-Pandemie wird nicht alles einfach so sein und weitergehen wie früher. Es hat sich etwas verändert. Wir haben uns verändert. Wir sind selbstloser geworden. Wir tragen Masken, obwohl das noch immer ungewohnt und unbequem ist, um andere nicht zu gefährden. Wir halten Abstand, obwohl wir uns nach Berührung, nach einer Umarmung sehnen, um das Virus nicht zu verbreiten. Wir machen uns Gedanken um Menschen, die eine Corona-Infektion nicht oder nur schwer überstehen würden und versuchen, sie besonders zu schützen und auch, sie nicht allein zu lassen - obwohl wir sie oft gar nicht kennen.
Dieses selbstlose Verhalten haben manche schon vor der Pandemie geübt. Aber jetzt sind es viel, viel mehr, die Rücksicht auf andere nehmen. Die nicht zuerst an sich denken, sondern fragen, wie es ihren Mitmenschen geht, und was sie brauchen. Das ist, bei allem Schlimmen und Schweren, das die Pandemie uns gebracht hat, etwas sehr Schönes und Wertvolles. Es macht zuversichtlich, dass wir unser Zusammensein menschlicher gestalten können. Und es weckt die Hoffnung, dass wir auch die anderen großen Herausforderungen meistern werden, die uns erwarten: Den Klimawandel. Die gerechte Verteilung von Nahrung, Wohlstand und Wissen auf der Welt. Die Befreiung von Menschen aus politischer oder religiöser Unterdrückung. Das Ende der Benachteiligung, die noch immer viele wegen ihres Geschlechtes erfahren, wegen ihrer Hautfarbe oder ihrer Herkunft, oder wegen ihrer Lebensweise.
Es sind große Herausforderungen. Aber wir haben auf die Herausforderung durch die Corona-Pandemie so selbstlos, beherzt und einfühlsam reagiert, dass ich glaube: Mit Gottes Hilfe können wir es schaffen!
Amen.

Dienstag, 22. Dezember 2020

Die wichtigste Nachricht des Tages

 

 „Christ, der Retter, ist da!” Unter einem Retter stelle ich mir einen starken Mann vor, einen Held, der alles kann und unbesiegbar ist. Aber Jesus ist kein Held, sondern ein kleines, hilfloses Baby in einer Futterkrippe. Wie kann ein Baby unser Retter sein?
 
Sollen wir unsere Hoffnung auf einen Helden oder einen Anführer setzen? Die denken am Ende doch nur an sich, und es geschieht Unrecht. Die Welt wird nicht gerettet, wenn man Menschen mit Gewalt dazu zwingt, zu tun, was einer für richtig hält. Rettung kommt allein von Gott. Gott wendet keine Gewalt an. Gott haut nicht mit der Faust auf den Tisch, damit alle tun, was er will. Gott vertraut auf uns, wenn es um die Rettung der Welt geht. Darum kommt sein Sohn als Baby auf die Welt. Es gibt böse Menschen, die sogar einem Baby weh tun. Aber wir nicht. Wir haben Mitleid und empfinden Barmherzigkeit mit einem Kind. Genau das rettet die Welt: Mitleid und Barmherzigkeit. Sie machen das Menschsein, die Menschlichkeit aus.
 
Aber wir sind doch nur so wenige! Ja, das stimmt. Die meisten Menschen scheinen gleichgültig zu sein. Aber immer wieder gibt es jemanden, die etwas sagt oder etwas tut. Hier eine, und da einer. Überall, in unserem Ort, in unserem Land, auf der ganzen Welt. Wenn wir am Heiligen Abend um 20.00 Uhr das Fenster oder die Haustür aufmachen und „Stille Nacht” singen, dann sind wir vielleicht allein in unserer Straße. Vielleicht hören wir aber auch schon aus dem Nachbarhaus jemanden singen. Viele Menschen werden in dieser Nacht singen. Wenn wir sie auch nicht hören können, wissen wir doch, dass sie da sind.
 
Wir müssen gar nicht wissen, wie viele wir sind. Denn wir sollen nicht auf die Macht der Masse vertrauen, sondern auf die Macht der Liebe. Auf Gottes Macht. Die Liebe zwingt nicht mit Gewalt. Die Liebe überzeugt nicht mit Worten. Die Liebe ergreift uns, wie das Wunder der Weihnacht. Wie der Anblick des Kindes in der Krippe. Wir werden davon ergriffen, und Mitleid und Barmherzigkeit erwachen in uns. Wir werden andere Menschen, und wir gehen anders miteinander um: Freundlicher, respektvoller, hilfsbereiter. Das Schicksal fremder Menschen berührt uns. Wir wollen nicht, dass Kinder im Mittelmeer ertrinken, in der Sahelzone verhungern, in Syrien oder im Jemen Angst vor Bomben haben müssen. Weil wir das Kind in der Krippe gesehen haben. Das Kind hat uns angerührt. Und ist unser Retter geworden. Amen.

„Der Hoffnung eine Stimme geben” - Aktion der Nordkirche zu Hl. Abend 2020


Montag, 14. Dezember 2020

Zwischen den Zeiten

Predigt am 3. Advent, 13.12.2020, über Lukas 1,67-79
 
 
Liebe Schwestern und Brüder,
 
im Lobgesang des Zacharias vermischen sich die Zeiten,
Vergangenheit und Zukunft.
„Gott hat besucht und erlöst sein Volk” (V. 68) -
das ist bereits geschehen.
„Du, Kindlein, wirst Prophet des Höchsten heißen.
Denn du wirst dem Herrn vorangehen”
(V. 76) -
das steht noch aus.
Dazwischen, in der Gegenwart, steht Zacharias,
der die Brücke schlägt zwischen Vergangenheit und Zukunft.
Er verbindet die Geschichte Gottes mit seinem Volk Israel
mit dem, was gerade geschieht.
Daraus leitet er gute Prognosen für die Zukunft ab:
Das himmlische Licht wird erscheinen
„denen, die sitzen in Finsternis
und Schatten des Todes”
(V. 79),
wird die Finsternis hell machen
und die Todesschatten vertreiben,
indem es das Leben bringt,
das den Tod hinter sich gelassen hat.
 
In diesen Tagen des Advent
sitzen auch wir im Finsteren.
Und aus dem Fernseher hören wir jeden Abend
die Zahl derer, die an COVID-19,
oder im Zusammenhang damit, gestorben sind.
Und jeden Abend werden es mehr.
 
Da tut es gut, ein Licht anzuzünden,
das gegen die Dunkelheit anleuchtet
und uns ein wenig Hoffnung schenkt.
Doch die Schatten werden länger
und die Dunkelheit tiefer
im Umkreis eines solchen kleinen Lichtes.
Deshalb warten wir auf das Licht der Weihnacht,
auf den Glanz, der die Engel auf dem Feld umgibt,
das die Dunkelheit vertreibt
und uns darin bestärkt,
dass das Licht aus der Höhe zu uns gekommen ist
und die Schatten des Todes uns nichts mehr anhaben können.
 
Was läge da näher,
als gemeinsam diesem Licht der Weihnacht entgegenzugehen
in einem großen Gottesdienst am Hl.Abend
voller Kerzenschein, Lichterglanz
und dem Leuchten auf den Gesichtern,
wenn wir die vertrauten Worte hören:
„Euch ist heute der Heiland geboren”.
 
Doch Wissenschaftler und Experten drängen,
jede Begegnung, die nicht unbedingt sein muss, zu vermeiden.
Und die Verantwortlichen in Politik und Verwaltung
planen eine Verschärfung des Lockdowns
und weitere Einschränkungen des öffentlichen Lebens.
 
Zum Glück können sie die Gottesdienste nicht einschränken!
Wenn auch schon lange keine Konzerte, Theateraufführungen oder Ausstellungen
mehr stattfinden dürfen,
Schulen und Universitäten vorzeitig in die Weihnachtsferien gehen,
wir dürfen uns weiterhin treffen, als einzige.
Denn wir treffen uns ja nicht zum Spaß,
um uns zu unterhalten.
Wir treffen uns zum Gottesdienst.
In diesem Wort steckt der „Dienst”:
Wir tun das nicht für uns, sondern für Gott.
Bzw. weil es Gottes Wille ist,
dass wir „ihm dienen ohne Furcht unser Leben lang” (V. 75).
 
Es kann keinen anderen Grund geben als diesen.
Denn wenn wir uns träfen, weil wir das gerne möchten,
weil es uns gut tut, tröstet und erbaut,
dann müssten sich auch die Theaterfreunde und Konzertliebhaber treffen dürfen,
denn auch sie suchen in ihrem Kunstgenuss
nach Trost und Erbauung,
wie wir im Gottesdienst.
 
Aber ihre Treffen sind durch die Verfassung nicht geschützt,
unsere schon.
Denn wir Gläubigen - Christ*innen, Jüd*innen und Muslim*a -
erfüllen eine wichtige Aufgabe für die Gesellschaft.
Wir sind nicht nur Staatsbürger*innen,
sondern wir dienen Gott,
leben nach seinem Willen.
Und geben so dem Staat eine Orientierung,
die er sich selbst nicht geben kann,
ziehen Grenzen, wenn er sich wichtiger nimmt, als er ist
und treten ein für die Menschenwürde,  
die der Dreh- und Angelpunkt unserer Verfassung ist.
 
Wir treffen uns also am Sonntag,
um Gott dadurch zu dienen,
und weil wir Gott dienen,
sind unsere Treffen vom Staat geschützt
und auch unter den verschärften Corona-Bedingungen erlaubt.
 
Und wenn wir uns am Hl.Abend treffen in Zahlen,
die sonst überall verboten sind
und bei denen man davon ausgeht,
dass eine erhöhte Ansteckungsgefahr besteht,
dann tun wir auch das nicht,
weil es für uns zu Weihnachten nun mal dazugehört,
weil wir jedes Jahr Weihnachten so feiern
oder weil wir es zuhause nicht mehr aushalten.
Sondern es ist ein Gottes-Dienst.
 
Dann stellt sich aber doch die Frage,
ob Gott diesen Dienst von uns will.
Will Gott, dass wir in großer Zahl zusammenkommen
und sich so die Gefahr einer Ansteckung mit dem Covid-Virus erhöht?
Ist es wirklich ein Gottesdienst,
wenn wir als einzige Hl.Abend in gewohnter Weise feiern,
während so viele Menschen sich nicht treffen dürfen?
Und ist Gott dann wirklich unter uns,
wenn auch am Hl.Abend
Menschen in Altersheimen und auf Intensivstationen  
an den Folgen von COVID-19 sterben
oder auf der gefährlichen Fahrt übers Mittelmeer ertrinken?
Ist Gott dann wirklich bei uns
und nicht vielmehr an den Kranken- und Sterbebetten,
auf den Schlauchbooten und Nussschalen?
 
Und würde Gott sich nicht auch am Hl.Abend wünschen,
dass wir unseren  Teil dazu beitragen,
dass Menschen nicht an COVID-19 erkranken
oder im Mittelmeer ertrinken?
 
Könnte es also - auf diese Frage läuft es schließlich hinaus -
könnte es also in diesem Jahr ein Gottes-Dienst sein,
wenn wir erst einmal auf Gottesdienste verzichteten?
Wenn wir besonders am Hl.Abend nicht zusammenkommen,
sondern jede und jeder für sich
seinen und ihren Teil tut,
dass Gottes Menschlichkeit sich unter uns ausbreitet -
indem wir uns NICHT treffen,
um Menschen nicht zu gefährden?
 
Wir befinden uns zwischen den Zeiten.
Das Gewohnte und Vertraute  
liegt als eine scheinbar unerreichbare Vergangenheit hinter uns.
So vieles ist im Moment -
und wer weiß, wie lange noch - nicht möglich,
das für uns selbstverständlich und lebenswichtig war.
Oder wenn, wie wir jetzt merken,
vielleicht nicht lebenswichtig,
so hat es doch das Leben erst lebenswert gemacht.
 
Vor uns liegt eine ungewisse Zukunft.
Niemand kann uns sagen,
wann endlich alle Beschränkungen fallen,
wann die Schutzmaßnahmen vor dem Covid-Virus überflüssig sein werden.
Dazwischen stehen wir, in der Gegenwart,
und bauen die Brücke
zwischen Gottes Versprechen an sein Volk Israel
und einer Zukunft,
die keine Finsternis und keine Todesschatten mehr kennt.
 
Wir sind die Verläufer*innen und Wegbereiter*innen für den Herrn,
wenn er kommt.
Es ist unsere Aufgabe und unsere Verantwortung,
seinen Willen zu tun.
Denn es ist uns gesagt, was gut ist
und was Gott von uns fordert (Micha 6,8).
Gebe Gott, dass wir es auch tun.
 
Amen.

Samstag, 5. Dezember 2020

(nicht nur) heute ein Nikolaus

Predigt am 6. Dezember, Nikolaustag, über Jesaja 61,1-2+10:
 
Der Geist Gottes des Herrn ist auf mir,  
weil der Herr mich gesalbt hat.
Er hat mich gesandt, den Elenden gute Botschaft zu bringen,  
die zerbrochenen Herzen zu verbinden,  
zu verkündigen den Gefangenen die Freiheit,  
den Gebundenen, dass sie frei und ledig sein sollen;  
zu verkündigen ein gnädiges Jahr des Herrn  
und einen Tag der Rache unsres Gottes,  
zu trösten alle Trauernden.
Ich freue mich im Herrn,  
und meine Seele ist fröhlich in meinem Gott;  
denn er hat mir die Kleider des Heils angezogen  
und mich mit dem Mantel der Gerechtigkeit gekleidet,  
wie einen Bräutigam mit priesterlichem Kopfschmuck geziert  
und wie eine Braut, die in ihrem Geschmeide prangt.
 
 
Liebe Schwestern und Brüder,
 
es sind zwar noch ein paar Wochen hin bis Silvester,
aber schon werden Jahresrückblicke gezogen.
Offenbar kann das Jahr 2020 nicht schnell genug zu Ende gehen.
Denn darin sind sich alle einig:
Dieses Jahr konnte man komplett vergessen.
Es hat uns mit Corona nur Schwierigkeiten und Probleme gebracht.
 
Eine eigenartige Vorstellung, wenn man’s recht bedenkt,
dass ein Jahr etwas Gutes oder Schlechtes bringt.
So, als wäre ein Jahr eine Person,
die uns Gutes tun oder schaden will.
Dabei ist ein Jahr nur eine willkürlich gewählte Zeiteinheit,
die in grauer Vorzeit eingeführt wurde,
um dem Alltag eine Struktur zu geben
und Geschichte schreiben zu können.
 
Trotzdem hält sich hartnäckig die Vorstellung,
dass ein Jahr Gutes oder Schlechtes bringt,
und dass wir erleiden müssen, was es bringt.
So, wie der Nikolaus Geschenke bringt - oder die Rute.
Natürlich bringt er uns und unseren Kindern nur Geschenke.
Die Rute hat er vor langer Zeit schon zuhause gelassen -
zum Glück!
 
Übrigens ist der Nikolaus identisch mit dem Weihnachtsmann,
weshalb der Weihnachtsmann einen bischöflich roten Mantel trägt.
Coca Cola hat den Nikolaus zum Weihnachtsmann gemacht.
Bis dahin brachte und das Christkind die Geschenke.
Martin Luther wollte nicht, dass ein Heiliger,
und sei es der Heilige Nikolaus,
eine so wichtige Rolle als Geschenkebringer spielen sollte.
Darum hat er ihn arbeitslos gemacht -
bis eine Brausefirma ihn wieder eingestellt hat.
 
Als Kind durchschaut man irgendwann,
dass weder Christkind noch Nikolaus die Geschenke bringen,
sondern die Eltern und Großeltern.
Weshalb man sich dann mit seinen Wünschen direkt an sie wendet.
Und als Erwachsene?
 
Als Erwachsene genießt man es,
den Kindern, der Partnerin oder dem Partner,
den Menschen, die man liebt,
eine Freude machen zu können.
Da sind wir wie der Heilige Nikolaus,
der sich bei seinen guten Taten nicht erwischen lassen wollte
und der beim Geben seine Linke nicht wissen ließ,
was seine Rechte tat.
 
Als Erwachsene wissen wir,
dass Geschenke, dass Gutes nur kommen,
wenn wir dafür sorgen.
Hätten wir vor dem Nikolaustag nicht eingekauft oder gebacken,
wären die geputzten Schuhe heute morgen leer geblieben.
Trotzdem warten auch wir darauf,
dass uns etwas Gutes widerfährt.
Dass Corona „irgendwie” verschwindet,
die Klimaerwärmung, und all die anderen Probleme unserer Welt.
Dass sich „jemand” um all das kümmert,
am besten um alles auf einmal,
und am besten sofort,
wie wir darauf warten,
dass zuhause mal „jemand” aufräumt,
die Wäsche macht oder den Müll rausbringt.
 
Wir warten darauf, dass „jemand” etwas tut,
und sehen unseren Beitrag darin,
sozusagen die geputzten Schuhe herauszustellen:
Indem wir uns beschweren und benennen, was wir schlecht finden,
und das ins Internet schreiben.
Indem wir eine Kerze als Hoffnungslicht anzünden.
Indem wir eine Petition unterzeichnen,
oder für einen guten Zweck spenden.
 
Ich will das alles nicht schlecht reden.
Aber, wenn man ehrlich zu sich selbst ist,
steht hinter all dem die Überzeugung,
dass ANDERE sich kümmern sollen.
Man selbst hat seinen Beitrag ja schon geleistet.
Es ist schön, ein Hoffnungslicht anzuzünden.
Es kann Trost spenden, wenn man im Dunkeln
hinter einem Fenster eine Kerze leuchten sieht.
Aber man wird davon nicht satt,
und warm wird einem davon auch nicht.
 
„Der Geist Gottes des Herrn ist auf mir,
weil der Herr mich gesalbt hat”
-
das ist nicht nur den professionellen Helferinnen und Helfern gesagt.
Mit unserer Taufe haben wir alle Gottes Geist erhalten.
Wir alle sind dazu berufen,
den Elenden gute Botschaft zu bringen,
die zerbrochenen Herzen zu verbinden
und den Gefangenen die Freiheit zu verkündigen.
Wir alle sind zu Bischöfinnen und Bischöfen geweiht
wie Nikolaus von Myra,
um nicht nur am 6. Dezember,
sondern das ganze Jahr über
Hoffnung, Freundlichkeit und Wärme zu verbreiten.
 
Wir kennen das von der Hausarbeit:
der Jemand, der die Wäsche macht,
den Müll rausbringt oder aufräumt -
das sind wir.
Wer sollte es auch sonst tun?
Wir sind es, die diese Welt retten -
oder sie zumindest zu einem schöneren,
friedlicheren, lebenswerten Ort machen.
Es wird kein anderer, keine andere kommen,
die uns das abnimmt.
 
Das Jahr 2020 geht seinem Ende entgegen.
Es hat uns mit Corona eine Aufgabe gegeben,
die für alle sehr, sehr schwer ist
und für viele zu schwer.
Aber so, wie das Jahr 2020 nicht schuld an Corona ist,
so sind wir dieser Pandemie,
sind wir dem Klimawandel und den vielen anderen Problemen
nicht hilflos ausgeliefert.
Wir können etwas tun.
Dabei zählt nicht die Größe der Tat,
sondern der gute Wille.
Unser guter Wille, etwas zu tun
und nicht auf andere zu zeigen
oder zu warten, dass „jemand” etwas unternimmt.
Man muss auch nicht gleich zum Hammer,
zur Schippe oder Schubkarre greifen.
Ein Lächeln wirkt auch wunder,
wenn ich mich aufmache, jemanden zu besuchen;
die Nachfrage, wie es geht,
oder die liebevolle Aufmerksamkeit,
die man jemandem in den Schuh steckt.
 
Die Kraft dafür fließt uns vom Geist Gottes zu,
mit dem wir beschenkt sind
und der uns strahlen lässt,
sodass wir schön sind wie eine Braut,
stolz wie ein Bräutigam.
 
Wir sind schön,
und wir sind reich beschenkt.
Wenn wir allein das erkennen würden,
wäre die Welt schon ein besserer Ort.
 
Amen.