Freitag, 29. April 2016

Legt die Hände in den Schoß!

Predigt am Sonntag Rogate, 1. Mai 2016, über 1.Timotheus 2,1-6a:

Zuallererst möchte ich, dass man betet: Gebete als Fürbitte und Danksagung für alle Menschen, sogar für die Regierenden und alle hohen Beamten, damit wir ein stilles und ruhiges Leben führen können, in aller Gottesfurcht und Würde. Das ist schön und gefällt Gott, unserem Retter, der will, dass alle Menschen gerettet werden und zur Erkenntnis der Wahrheit gelangen,
dass Gott Einer ist,
Einer auch der Mittler zwischen Gott und Menschen,
der Mensch Jesus Christus,
der sich für alle zum Lösegeld gab.

Eigene Übersetzung, vgl. http://offene-bibel.de/wiki/1_Timotheus_2

Liebe Schwestern und Brüder,

"wenn Wahlen etwas ändern würden, wären sie verboten", hört und liest man manchmal, besonders vor Wahlen. Manch einer begründet mit diesem Satz auch sein Nichtwählen: "Meine Stimme ändert doch sowieso nichts; da kann ich auch gleich zuhause bleiben", heißt es. Das ist natürlich Blödsinn - sowohl der Spruch über die Wahlen, die nichts ändern, als auch die Haltung des Nichtwählens. Dass allgemeine, freie und geheime Wahlen etwas verändern, sieht und erlebt man immer wieder da, wo sie möglich sind. In unserem Land hat vor über 25 Jahren die erste frei gewählte Volkskammer viele Hoffnungen geweckt. Dass manche dieser Hoffnungen enttäuscht wurden - daran sind nicht die Wahlen schuld. Und dass Machthaber, wenn und wo sie können, Wahlen manipulieren, Wähler einschüchtern, Kandidaten oder Parteien nicht zulassen oder das Wahlergebnis nicht anerkennen, spricht nicht gegen die Wahl - im Gegenteil! Darum steckt in diesem Spruch mehr als ein Körnchen Wahrheit: Allgemeine, freie und geheime Wahlen gibt es in Ländern mit Dikatatoren und autoritären Regimen nicht, weil sie tatsächlich alles ändern würden.

I
"Wenn Wahlen etwas ändern würden, wären sie verboten" - gleiches kann man wohl auch über das Gebet sagen: 
"Wenn Beten etwas ändern würde, wäre es verboten". Wahrscheinlich ist, wie bei den Wahlen die Partei der Nichtwähler, auch beim Beten die Partei der Nichtbeter die größte. Vielen Menschen erscheint es sinnlos, mit einem Gott zu sprechen, den man nicht sehen kann und der nicht antwortet. Das ist, als führe man Selbstgespräche, und das ist irgendwie --- peinlich. 
Außerdem bringt das Beten nichts. Wenn man für die Klausur nicht gelernt hat, bewahrt einen auch das inbrünstigste Gebet nicht vor einer Fünf. Den kranken Freund macht ein Gebet nicht gesund; die Liebste, die einen verließ, bringt es nicht zurück; den alkoholkranken Nachbarn rettet es nicht vor der Sucht. Die Skepsis scheint berechtigt: 
"Wenn Beten etwas verändern würde, wäre es verboten".

II
Warum also sollte man überhaupt beten?
Die Epistel gibt eine überraschende Antwort auf diese Frage, sie lautet: "Ich möchte, dass man betet: Gebete als Fürbitte und Danksagung für alle Menschen".
Überraschend ist dieser Satz in mehrfacher Hinsicht:
1. Zunächst ist Beten offenbar nichts, was von der Stimmung abhängt, der eigenen Lust und Laune. Die Epistel verlangt es einfach von ihren Lesern: „Ich möchte …“, heißt es da. Beten ist eine Pflicht. Heute, am Tag der Arbeit, wo es um die Rechte der Arbeitnehmer geht, hören wir das nicht so gern. Doch zugleich passt es gerade zum Tag der Arbeit: Beten ist Arbeit. Ora et labora lautet die Regel der Mönche im Kloster, bete und arbeite. Man hat den Eindruck, als handele es sich um einen Gegensatz - hier das besinnliche, gemütliche, entspannende Gebet, dort die harte, fordernde, ermüdende Arbeit. Aber wer sich einmal den Tagesablauf der Mönche im Kloster angesehen hat, weiß, dass dieser Gegensatz nicht stimmt: Sieben Mal am Tag und einmal des Nachts zu beten ist richtig anstrengende, harte Arbeit.
Es müsste also richtigerweise lauten: Orare est labora, Beten ist Arbeit. Jede geistige Arbeit ist nicht weniger anstrengend als körperliche Arbeit - das erfahren Schüler und Studierende am eigenen Leib.

III
2. Die nächste Überraschung: Beim Beten geht es offenbar gar nicht um mich, meine Befindlichkeiten und Bedürfnisse. Beten ist kein Kreisen um sich selbst, sondern ein Durchbrechen dieses Kreisens, indem man einmal an andere denkt. Es besteht, so die Epistel, aus Fürbitte und Dankgebet. In der Fürbitte denke ich an andere, im Dankgebet danke ich für andere.
Ich denke an Menschen, die mich beschäftigen.
- Weil ich mir Sorgen um sie mache: Sie sind vielleicht krank; sie wirken niedergeschlagen oder traurig auf mich; ich weiß, dass sie gerade Schweres durchmachen.
- Menschen beschäftigen mich auch, wenn ich mich über sie ärgere: Jemand hat mich nicht gegrüßt. Jemand war pampig zu mir. Jemand war gemein zu mir, hat mich verletzt oder enttäuscht.
- Dann gibt es die Menschen, die mich beschäftigen, weil sie mir auf der Seele liegen: Ich habe ihnen gegenüber ein schlechtes Gewissen, weil ich ihnen Unrecht tat, sie vergaß, oder einen Fehler machte.
- Und schließlich gibt es noch die Menschen, an die ich denken sollte, die ich aber immer wieder vergesse: Die alten Eltern. Freunde, die weggezogen sind. Die Nachbarin oder den Nachbarn, der keine Angehörigen mehr hat und einsam ist. Die Kollegin, die im Krankenhaus liegt.
Ihnen allen gilt unsere Fürbitte - oder sollte sie gelten.
Nun wird auch deutlich, warum Beten Arbeit ist: Wenn man wirklich an all diese Menschen denken wollte, das artete ja tatsächlich in Arbeit aus!
Aber was spricht dagegen, sich die Namen der Menschen, an die man denken will oder sollte, auf einen Zettel zu schreiben und sich einmal am Tag fünf Minuten Zeit zu nehmen, an sie zu denken? Man muss dafür kein Gebet formulieren - Gott weiß doch sowieso, um was wir ihn bitten wollen. Es genügt, wenn wir für einen Moment in Gedanken bei diesen Menschen sind.

IV
Zur Fürbitte, in der ich an Menschen denke, kommt das Dankgebet, in dem ich für Menschen danke. Wann machen wir uns schon bewusst, dass es jemanden gibt, den wir lieb haben und der uns lieb hat? Wann denken wir dankbar daran, dass es Menschen gibt, die uns gut tun und uns Gutes tun; die uns helfen, wenn wir Hilfe brauchen, oder einfach mal auf einen Plausch vorbeischauen; die uns ein Lächeln aufs Gesicht zaubern, die uns glücklich machen, weil es sie gibt, die uns zum Lachen bringen? Wann denken wir daran, wie kostbar die Zeit ist, die wir mit lieben Menschen verbringen dürfen? - Kinder werden viel zu rasch erwachsen und ziehen aus; Eltern oder Großeltern werden alt und sterben; Verwandte, Freunde, die zu Besuch waren, müssen wieder abreisen.
Auch die Namen dieser Menschen könnten auf unserem Zettel stehen; auch ihnen könnten wir fünf Minuten unserer Zeit widmen, in denen wir an sie denken und Dankbarkeit dafür empfinden, dass es sie gibt.

Was geschieht in diesen fünf Minuten? 
Mehr, als eine Predigt ausmalen kann.
Wer an einen Menschen denkt, vergegenwärtigt ihn sich. Es ist, als wäre er da, in seiner Nähe. So steht er vor dem geistigen Auge als der, der er oder sie ist: mit Stärken und Schwächen, mit dem, was man ihr oder ihm geschenkt hat und was man schuldig geblieben ist.
Und indem man betet, stehen beide, der andere Mensch und man selbst, vor Gott. Dabei bewirkt das Gebet, dass man den anderen mit Gottes Augen sieht - Augen, die liebevoll, barmherzig und voller Vergebung sind. Da kann man nicht anders, da muss man selbst über seinen Schatten springen: da entdeckt man das Liebenswerte am anderen; da empfindet man Mitleid mit dem anderen; da vergibt man dem anderen.

V
3. Es gibt noch eine dritte Überraschung in dem Satz aus der Epistel: "Ich möchte, dass man betet: Gebete als Fürbitte und Dankgebet für alle Menschen". Die dritte und vielleicht größte Überraschung ist, dass unser Gebet allen Menschen gelten soll. Die Epistel nennt als besonders extremes Beispiel die Regierenden und Beamten. Wir verstehen heute nicht mehr, was daran extrem sein soll. Die Bundeskanzlerin würde sich sicher freuen, wenn wir für sie beteten, und uns würde es nichts ausmachen - selbst, wenn wir politisch vielleicht nicht auf einer Wellenlänge sind. Aber als die Epistel geschrieben wurde, da litten Christen unter den Regierenden und Beamten: Sie ordneten brutale Verfolgungen gegen die Christen an, die nicht selten mit einem entsetzlich grausamen Tod endeten. Regierende und Beamte waren damals Todfeinde der Christen. Was die Aufforderung, für diese Leute zu beten, bedeutet, kann man sich vielleicht am besten vorstellen, wenn man sich ausmalt, wie die Aufforderung der Epistel wohl zu DDR-Zeiten gelautet hätte: „ich möchte, dass man betet: Gebete als Fürbitte und Danksagung für alle Menschen, sogar für den Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker und für den Minister Erich Mielke".
Spätestens jetzt wird deutlich, wie groß die Zumutung ist, für alle Menschen beten zu sollen, und welcher Sprengstoff in der gleichlautenden Aufforderung Jesu steckt, seine Feinde zu lieben und für die zu bitten, die einen hassen und verfolgen.

VI
Warum sollte man sich das antun?
Warum sollte man für Leute beten, die das nicht verdienen? Für gemeine Halunken, Schweinehunde, Verbrecher?

Eben darum.
Eben weil wir manche Menschen nur noch als Halunken, Schweinehunde, Verbrecher sehen und bezeichnen und dabei vergessen, dass auch sie, trotz allem, Menschen sind. Gott mutet uns zu, dass wir auch in diesen Unmenschen das Menschliche suchen und entdecken und keinem Menschen das Menschsein absprechen, so unmenschlich er auch sein mag. Denn auch wir bleiben in Gottes Augen immer Menschen, ja, seine geliebten Töchter und Söhne, ganz gleich, was wir getan haben und ganz gleich, was andere oder wir selbst uns nicht vergeben können.
Das Gebet für alle Menschen kostet Überwindung. Auch deshalb ist Beten Arbeit. Eine Arbeit, die uns selbst zugute kommt. Denn erst, wer seinem Feind zugestehen kann, trotz allem ein Mensch und ein Kind Gottes zu sein, kann aus vollem Herzen glauben und annehmen, dass Gott auch ihn selbst als sein geliebtes Kind ansieht und haben will.
Vergebung erfährt nur, wer versucht, anderen zu vergeben. Darum beten wir im Vaterunser: „Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern“.

VII
Beten ist Arbeit. Am Ende eines langen Arbeitstages, am Sonntag, am Tag der Arbeit zumal, möchte man einmal nicht arbeiten müssen und auch nicht daran erinnert werden. Aber die fünf Minuten, die wir uns Zeit nehmen, um in Fürbitte und Dank an andere zu denken, sind nicht vertan. Sie kommen ihnen wie uns zugute, indem sie uns verändern. Und gemeinsam werden wir, durch das Gebet verändert, die Welt verändern. Als Betende sind wir Christen Salz der Erde, weil wir der Unmenschlichkeit die Menschlichkeit entgegenhalten, der Unbarmherzigkeit die Barmherzigkeit, der Berechnung die Vergebung.
Darum lassen Sie uns an die Arbeit gehen, gerade heute, am Sonntag, der auch der Tag der Arbeit ist! Dazu brauchen wir nicht die Ärmel hochzukrempeln - im Gegenteil: Wir Christen verändern die Welt, indem wir die Hände falten und in den Schoß legen!
Amen.

Freitag, 1. April 2016

Aufs Sehen verzichten

Predigt am Sonntag Quasimodogeniti, 3. April 2016, über 1.Petrus 1,3-9:

Gelobt sei der Gott und Vater unseres Herrn Jesus Christus, der uns wegen seiner großen Barmherzigkeit wieder gezeugt hat zu einer lebendigen Hoffnung durch die Auferstehung Jesu Christi von den Toten, zu einem unvergänglichen, reinen und unverwelklichen Heilsbesitz, für euch im Himmel aufbewahrt, die ihr durch Gottes Macht bewahrt seid durch den Glauben zur Rettung, die bereitet ist, um zur letzten Zeit offenbart zu werden. In ihr jubelt ihr, die ihr jetzt ein wenig, wenn es sein soll, durch mannigfache Prüfungen betrübt werdet, damit die Echtheit eures Glaubens, die viel wertvoller ist als das vergängliche Gold, das doch durchs Feuer geprüft wird, erwiesen wird zu Lobpreis und Ruhm und Ehre bei der Offenbarung Jesu Christi. Ihn liebt ihr, obwohl ihr ihn nicht seht, an ihn glaubt ihr, ohne ihn jetzt zu sehen, doch jubelnd mit unaussprechlicher verklärter Freude, weil ihr das Ziel eures Glaubens erreicht, die Rettung eures Lebens.
(Eigene Übersetzung)


Liebe Schwestern und Brüder,

von Cat Stevens, der sich heute Yusuf Islam nennt, gibt es ein Lied, in dem er davon singt, was wäre, wenn er dies oder das nicht mehr könnte. "Moon shadow" heißt es auf Englisch. Er singt darin z.B.: "Sollte ich jemals meine Beine verlieren, würde ich weder klagen noch betteln, denn sollte ich jemals meine Beine verlieren, müsste ich nie wieder laufen. Und sollte ich jemals meinen Mund verlieren, meine Zähne oben und unten ausfallen, ja, sollte ich jemals meinen Mund verlieren, müsste ich nie wieder etwas sagen".

Ich weiß nicht, ob wir den Verlust einer Fähigkeit oder eines Körperteils so locker verkrafteten, wie Cat Stevens es in seinem Lied zu tun scheint. Vielleicht meint er es auch nicht ganz so ernst, und wahrscheinlich würde es ihm ziemlich viel ausmachen, wenn er nicht mehr laufen oder singen könnte. Aber bedenkenswert ist seine Anregung doch, nicht nur zu beklagen, was man verliert, sondern auch wahrzunehmen, was nun nicht mehr nötig ist oder was man vielleicht sogar gewinnt. Denn mit zunehmendem Alter büßen wir immer mehr Fähigkeiten ein. Die Ausdauer lässt nach, man kommt schneller aus der Puste als früher und hat auch keine Lust mehr, hinter einem Bus herzurennen. Man ist nicht mehr so beweglich wie man es als Jugendliche war, hört und sieht schlechter.

Den schleichenden Verlust seiner Fähigkeiten bemerkt man zum Glück kaum. Erst über einen längeren Zeitraum hinweg wird einem  bewusst, was nun nicht mehr geht, und manchmal bedauert man das. Schlimm ist es aber, wenn man plötzlich, von einem Moment zum nächsten, etwas nicht mehr kann, durch einen Unfall z.B. Davor haben viele Angst - ich auch. Meine größte Angst war immer, nicht mehr sehen zu können. Wir verlassen uns nun mal auf unsere Augen, wie ein Hund sich auf seine Nase verlässt.

II
Zu erblinden gehört für viele Menschen mit zum Schlimmsten, was man sich vorstellen kann. Die Farben, die Schönheit der Natur nicht mehr sehen zu können, sich selbst und die Menschen, die man liebt - eine schreckliche Vorstellung! Wie soll man sich zurechtfinden, wie überhaupt etwas finden oder etwas normalerweise so Einfaches schaffen, wie sich eine Tasse Kaffee einzuschenken? Wir verlassen uns so sehr auf unsere Augen, dass wir uns gar nicht vorstellen können, dass es überhaupt anders geht und dass natürlich auch ein blinder Mensch sich selbst eine Tasse Kaffee einschenken kann, ohne zu kleckern.

Wir sind Augenwesen, für die Sehen etwas Selbstverständliches ist - so selbstverständlich, dass wir nur glauben, was wir mit eigenen Augen sehen. So wie Thomas im Evangelium, so sind auch wir: wir möchten sehen und begreifen, etwas anfassen, um es im Wortsinn zu be-greifen, wie Thomas seinen Finger in die Wunde legen wollte. Wenn es sich um komplizierte oder empfindliche Dinge handelt, verbietet deshalb oft ein Schild: "Bitte nicht berühren!" Denn man würde doch zu gerne mal nur ganz kurz ein kleines bisschen mit dem Finger …

Der Glaube ist so gar nichts für uns Augenwesen, denn da gibt es nichts zu sehen. Zwar haben Künstler zu allen Zeiten sich und den Gläubigen ausgemalt, wie Jesus ausgesehen haben könnte. Haben die Geschichten der Bibel bebildert und ihren Protagonisten Gestalt und Charakter gegeben. Haben Himmel und Hölle in den schönsten oder düstersten Farben geschildert und mit Engeln oder grausamen Fabelwesen bevölkert. Aber den Glauben konnten sie mit all ihrer Kunst nicht wecken und schon gar nicht beweisen.

III
Beim Glauben versagt unser wichtigster Sinn, das Sehen. Er kann uns da überhaupt nicht helfen, ja, manchmal ist er uns richtig im Wege. Vielleicht schließt mancher deshalb beim Beten die Augen: um nicht abgelenkt zu werden von äußeren Reizen und sich ganz auf die Wirklichkeit des Glaubens zu konzentrieren.

Ich habe mal mit Jugendlichen an einem "Dialog im Dunkeln" teilgenommen. Dabei ging es darum, zu erleben, wie ein Blinder die Welt wahrnimmt. Wir bekamen einen Blindenstock in die Hand, uns wurde erklärt, wie man damit den Weg ertastet - indem man ihn nicht wie einen Stock umfasst, sondern ihn als verlängerten Zeigefinger benutzt -, dann führte uns ein Blinder durch ein stockdunkles Labyrinth von Räumen. Er "sah" den richtigen Weg, wo wir uns im Dunkeln hoffnungslos verirrt hätten. Es war so komplett dunkel, dass es keine Rolle spielte, ob man die Augen auf oder zu hatte. Doch zu meiner Überraschung konnte ich mich schon nach kurzer Zeit zurechtfinden und "sah" mit meinem Blindenstock mehr, als ich geglaubt hatte. Gehör, Gefühl und auch Geruchssinn ersetzten das fehlende Sehen.

Glaube ist kein Ersatz fürs Sehen. Er ist vielmehr ein Sinn, der aktiviert wird, wenn wir auf das Sehen verzichten. Darauf verzichten, zu beweisen, zu begreifen, sondern uns der Wirklichkeit Gottes auf andere Weise nähern. Der Wissenschaftler rümpft darüber die Nase, der moderne Mensch findet es peinlich oder primitiv. Sie ahnen nicht, was ihnen entgeht.

IV
Was bekommt denn der Glaube zu "sehen", was dem Nichtglaubenden entgeht?
Ich würde sagen: Ein glaubender Mensch steht über den Dingen. Er oder sie steht sozusagen neben sich und betrachtet sich und die Welt aus einer anderen Perspektive, mit anderen Augen. Das ist eine Erfahrung, wie ich sie beim "Dialog im Dunkeln" machen konnte. Mit einem Mal merkt man, dass man seine Umwelt auch anders "sehen" kann. Grenzen werden durchlässig, Überzeugungen geraten ins Wanken. Sätze wie "das war immer schon so", "das gehört sich so" oder "das muss nun mal so sein" werden einem plötzlich verdächtig. Man beginnt sich zu fragen, ob wirklich alles so sein und bleiben muss, wie es ist, oder ob es nicht auch anders ginge. Liebevoller. Freundlicher. Gerechter. Hoffnungsvoller.

Wenn Grenzen ins Fließen geraten und Überzeugungen wanken, beginnt man auch, die Werte und Ziele infrage zu stellen, an denen man sich bisher orientierte. Ist Geld wirklich das Wichtigste im Leben? Muss ich mir alles leisten können, muss ich alles kaufen, was es gibt? Ist unsere Art zu wirtschaften wirklich "alternativlos"? Ist unsere Freiheit tatsächlich nur um den Preis vertriebener Familien, unsere Ernährung tatsächlich nur um den Preis der Tierquälerei und der Schädigung der Umwelt, unser Wohlstand tatsächlich nur um den Preis verhungernder Kinder, zerstörter Natur, vergifteter Luft, Wasser und Erde zu haben?

Der Glaube bekommt all das Unrecht zu sehen, das in der Welt geschieht und für das wir mit verantwortlich sind, und das ist kein schöner Anblick. Der Glaube sieht aber auch die Hoffnung, dass unsere Welt noch zu retten ist; die Hoffnung, dass der Mensch gut sein kann; die Hoffnung, dass unser Leben einen Sinn hat, der darüber hinausgeht, Konsument und ein gutgläubiger Depp für die Wirtschaft zu sein. Der Glaube sieht, dass jeder Mensch schön ist und dass diese Schönheit unschätzbar und unbezahlbar ist.

V
"Ihn, Jesus Christus, liebt ihr, obwohl ihr ihn nicht seht; an ihn glaubt ihr, ohne ihn jetzt zu sehen".
Der Glaube tut das in den Augen der "vernünftigen" Menschen Verrückte und hält sich an Christus. Wie von einem Blindenstock lässt er sich von Jesus durch die Wirklichkeit führen und sieht mit geschlossenen Augen mehr als viele kluge Wissenschaftler, Politiker oder Unternehmer. Denn er sieht die Konsequenzen. Er sieht die Mitmenschen, und er sieht die Zukunft. Er sieht die Schönheit dieser Welt, ihrer Pflanzen, Tiere und Menschen, die von unserer Gier, unserem rücksichtslosen Raubbau bedroht ist. Und so öffnet er sich für die andere Wirklichkeit, die Wirklichkeit Gottes, die Liebe. 
Martin Luther hat es in seiner Schrift "Von der Freiheit eines Cristenmenschen" so beschrieben:
"Aus dem allen ergibt sich die Folgerung, dass ein Christenmensch nicht in sich selbst lebt, sondern in Christus und in seinem Nächsten; in Christus durch den Glauben, im Nächsten durch die Liebe. Durch den Glauben fährt er über sich in Gott, aus Gott fährt er wieder unter sich durch die Liebe und bleibt doch immer in Gott und göttlicher Liebe".
Für diese Freiheit eines Christenmenschen öffnet der Glaube uns den Sinn: Er lässt uns Gottes Liebe zu uns erkennen, und er macht uns empfänglich für die Not und die Schönheit unserer Mitmenschen und Mitgeschöpfe. Es ist eine ganze Welt, die uns der Glaube aufschließt; eine Wirklichkeit, von der uns Hören und Sehen vergehen. Lassen wir sie vergehen. Unser Herz wird uns sagen, was zu tun ist.
Amen.