Donnerstag, 29. September 2022

Werden wie die Kinder

Ansprache zur Michaelisandacht am 29. September 2022 über Matthäus 18,1-6.10

Altar des Schweriner Domes, über dem ein Baldachin aus weißer Baumwolle gespannt ist, auf den der „Vergessliche Engel” von Paul Klee gedruckt ist.


Liebe Schwestern und Brüder,

wenn man klein ist, entgeht einem Vieles. Als kleines Kind kann man noch nicht über die Ladentheke schauen. An das, was oben im Regal liegt, kommt man auch nicht heran; man kann es nicht einmal sehen. Weshalb Eltern alles Zerbrechliche und Gefährliche in die Höhe verbannen. Und wenn irgendwo was los ist, bekommen es die Kleinen nicht mit, weil die Großen ihnen die Sicht versperren. Es sei denn, eine Große nimmt eine Kleine auf ihre Schultern, damit sie etwas sehen kann.

Aus Kindersicht wirken wir Erwachsenen wie Bäume. Wir werfen lange Schatten, die den Kleinen das Licht und die Sicht nehmen. Als ausgleichende Gerechtigkeit sind deshalb ihre Engel die größten und höchsten. Sie überragen alle anderen Engel, sodass sie Gott direkt ins Gesicht sehen können.

„Wenn ihr nicht umkehrt und wie die Kinder werdet,
kommt ihr gar nicht erst ins Himmelreich hinein.”

Auf die Frage der Jünger nach der Rangordnung im Himmel antwortet Jesus mit der Voraussetzung, die erfüllen muss, wer hinein kommen will, zu den Engeln und zu Gott. Aber was soll das heißen, „werden wie die Kinder”, und wie soll das gehen?

Wir können, wie Nikodemus einwendet (Joh 3,4), doch nicht wieder in den Bauch unserer Mutter zurück krabbeln! Ganz abgesehen davon, dass weder sie noch wir das wollten. Es kann also nicht darum gehen, physisch oder psychisch wieder ein Kind zu werden.

Jesus verlangt auch nicht, dass wir uns kindisch benehmen sollen. Zumal das, was Erwachsene unter kindlichem Verhalten verstehen, Kindern oft nur peinlich ist.

Dann kann „werden wie die Kinder” nur bedeuten, den Größenvorteil der Erwachsenen aufzugeben. Sich selbst erniedrigen, sich klein machen. Nicht nur im wörtlichen Sinn, dass man sich hinkniet, um mit Kindern auf Augenhöhe zu sein. Sondern vor allem im Verzicht auf die Vorteile, die Größe, Kraft, Können und Erfahrung, kurz: die das Erwachsensein bieten.

Auf diese Vorteile zu verzichten bedeutet, auf Macht zu verzichten. Wer mit Kindern so spielen will, dass sie daran Freude haben, wird nie seine ganze Kraft, nie sein ganzes Können einsetzen. Wird auch das Kind nicht spüren lassen, dass man es nur gewinnen ließ, weil man ja sooo viel größer und klüger ist. Wird sich vielmehr um Fairness bemühen. Dem Kind die Chance geben, es mit seinem  Können, seiner Kraft mit einem Erwachsenen aufzunehmen und ihn vielleicht sogar zu besiegen.

Der Verzicht, die eigene Macht und Stärke auszuspielen, führt in Abhängigkeit - so, wie Kinder von ihren Eltern abhängig sind. Dieser Verzicht hat zur Folge, dass man sich in die Hände anderer Menschen begibt. Dass man ihnen in gewisser Weise sein Leben anvertraut. Jesus hat das getan. Und jedes Jahr an Karfreitag erleben wir, welch furchtbare Folgen es hatte. Das ist kein Weg, den wir gehen könnten.

Deshalb definiert der Theologe Friedrich Schleiermacher den Glauben als „Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit.” Man versetzt sich, sozusagen, in die Lage eines Kindes hinein: Wie ein Kind von seinen Eltern abhängig ist, die es versorgen, beschützen und den Weg ins Leben führen, so abhängig sind wir von Gott. Diese Abhängigkeit besteht nicht in materiellen Dingen - in der Regel können wir ganz gut für uns selbst sorgen.Doch indem man sich eingesteht, dass man trotzdem nicht Herr des eigenen Lebens ist, wirkt das Gefühl der Abhängigkeit auf unser Verhalten zurück: Wir werden dankbar. Können uns bescheiden und uns Gottes Willen unterordnen: „dein Wille geschehe.”

Jesus sagt aber nicht: „Wenn ihr euch nicht fühlt wie die Kinder”, sondern: „Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder.” Jesus mutet uns zu, dass wir uns tatsächlich klein machen und in Abhängigkeit begeben. Das ist wirklich eine Zumutung. Denn wer Schwäche zeigt, wird von Stärkeren zur Seite gedrängt oder einfach überrollt. Und wer sich von anderen abhängig macht, wird ausgenutzt und erpresst.

Wir sehen das am Überfall Russlands auf die Ukraine und am Verhalten Russlands gegenüber dem Westen. Was wir dort im Großen sehen, erleben wir tagtäglich im Kleinen: Rücksichtnahme, Gutmütigkeit, Fairness und das Spiel nach Regeln werden von denen missachtet, die sich an keine Regel halten. Die unerbittlich ihren eigenen Vorteil suchen. Die jede Schwäche ausnutzen. Die nie zurückstecken, nie andere gewinnen lassen können, immer nur selbst Sieger sein wollen.

Wie die Kinder zu werden mag einen ins Himmelreich bringen;
auf Erden bringt es nur Nachteile.

Ist das nicht schrecklich? Ist es nicht schrecklich, feststellen zu müssen, dass Menschlichkeit, Fairness, Rücksicht im Alltag keinen Platz haben? Dass man Kinder eigentlich lehren müsste, sich durchzuboxen und durchzubeißen, sich zu nehmen, was sie kriegen können und dabei keine Rücksicht zu nehmen - nicht einmal auf die eigenen Geschwister, die eigenen Eltern?

Diese Welt ist wahrlich kein Paradies. Aber sie muss auch keine Hölle sein. Darum denken wir heute an die Engel. Sie sind Boten Gottes, vermitteln zwischen Gottes Reich und unserer Wirklichkeit. Sie vermitteln uns etwas von Gottes Wirklichkeit.

Lassen uns einen Blick auf ein anderes Leben erhaschen, das auch unter uns möglich wäre. Und wecken in uns die Sehnsucht nach diesem Anderen: die Sehnsucht nach Frieden. Nach Gerechtigkeit. Nach Barmherzigkeit und Menschlichkeit. So können wir es wagen, menschlich zu sein, gegen jeden Augenschein und jede Vernunft. Und das heißt: werden wie die Kinder.

Es gibt dafür keine Belohnung. Man hat davon keinerlei Vorteile. Aber der erbarmungslosen Welt, dem unerbittlichen Egoismus wird eine andere Wirklichkeit entgegengesetzt. Eine andere Möglichkeit, als Menschen in dieser Welt zu leben.

So halten wir die Hoffnung lebendig. Die Hoffnung auf Gottes Reich des Friedens und der Gerechtigkeit. So geben wir Menschen Hoffnung, die untergebuttert und zur Seite gedrängt, übers Ohr gehauen und über den Tisch gezogen werden. So treten wir für die Kleinen ein, die sich nicht wehren können.

Wir können  sein wie die Kinder. Wir müssen nicht immer gewinnen. Wir können schwach sein und Schwäche zeigen. Wir können uns vielleicht sogar abhängig machen von anderen Menschen - von ihrer Liebe, ihrer Hilfsbereitschaft, ihrem Wohlwollen. Gebe Gott, dass wir den Mut dazu finden. Amen.


Samstag, 24. September 2022

Erntezeit

Predigt am 15. Sonntag nach Trinitatis, 25. September 2022, über Galater 5,25-6,10:

Der zum Erntedank geschmückte Altar der Kirche in Kühndorf

Wenn wir durch den Geist leben, lasst uns dem Geist auch folgen. Lasst uns nicht solche werden, die eingebildet sind, die einander herausfordern, einander beneiden. Liebe Geschwister, wenn auch ein Mensch bei einer Verfehlung ertappt wird, helft ihr, die ihr geistlich seid, diesem, das Richtige zu tun im Geist der Sanftmut, wobei du darauf achtest, dass du nicht selbst in Versuchung kommst. Tragt einander die Lasten und erfüllt so das Gesetz Christi. Wenn nämlich einer meint, etwas zu sein - obwohl er nichts ist -, täuscht er sich selbst. Doch jeder prüfe sein eigenes Werk, und dann wird jeder für sein Werk allein Anerkennung erhalten und nicht für das eines anderen. Jeder wird nämlich seine eigene Last tragen. Es soll aber der Schüler dem Lehrer Anteil gewähren an allen Besitztümern. Täuscht euch nicht, Gott lässt sich nicht austricksen! Was ein Mensch sät, das wird er auch ernten. Wer auf seinen Leib sät, wird von seinem Leib Vergänglichkeit ernten. Wer aber auf den Geist sät, wird vom Geist ewiges Leben ernten. Als die, die das Gute tun, lasst uns nicht müde werden. Zu seiner Zeit werden wir ernten, wenn wir nicht matt werden. Während wir also noch Zeit haben, lasst uns das Gute tun gegenüber allen Menschen, am meisten aber gegenüber den Glaubensgenossen. 
(Übersetzung nach Offene Bibel)


Liebe Schwestern und Brüder,

es ist an der Zeit, auf die Ernte dieses Jahres zurückzublicken. Doch erst am kommenden Sonntag feiern wir Erntedank. Dann werden wir für die Früchte der Felder und Gärten danken, um sie anschließend dankbar zu genießen. Heute schauen wir auf andere Früchte, eine andere Ernte. Paulus schreibt:

„Was ein Mensch sät, das wird er auch ernten. Wer auf seinen Leib sät, wird von seinem Leib Vergänglichkeit ernten. Wer aber auf den Geist sät, wird vom Geist ewiges Leben ernten.”

Die Ernte, von der Paulus spricht, sind nicht die Früchte des Feldes und der Gärten, mit denen wir am kommenden Sonntag den Altar schmücken und deren Farben und Formen - und vor allem deren Duft, Geschmack und Nährwert - wir genießen. Paulus spricht von Früchten, die wir von uns selbst ernten, von unserem Körper. Was für eigenartige Früchte könnten das sein?

„Wer auf seinen Leib sät” - im erste„Wer auf seinen Leib sät”n Moment könnte man denken, es gehe um die Pfunde, die man seinem Körper aufbürdet, wenn man die Früchte der Ernte im Übermaß genossen hat. Zu viel Fett jedenfalls beschleunigt unsere Vergänglichkeit, das sagen Ärztinnen und Ärzte immer wieder. Aber zu Paulus’ Zeiten kannte man den Zusammenhang zwischen Übergewicht und Herzkrankheiten noch nicht. Korpulenz war damals chic, ein Schönheitsideal, und ein Zeichen von Wohlstand.

„Wer auf seinen Leib sät” - das könnte auch all das meinen, was man für die Schönheit tut: Vom Schminken und Hairstyling über Besuch von Kosmetikerin und Fitnessstudio, dem Kauf der neusten Mode und neuer Schuhe bis hin zu Tätowierungen und Piercings. Tatsächlich kämpfen wir mit allen Mitteln gegen die Spuren unserer Vergänglichkeit, gegen graue Haare, Falten und erschlafftes Bindegewebe an.

Es wäre möglich, dass Paulus die Sorge um den Körper und unseren Versuch, ihn zu verschönern, als Eitelkeit, vielleicht sogar als verwerflich angesehen hat. Jedenfalls wurde es im Laufe der Kirchengeschichte oft so gesehen. Aber Paulus’ erste Gemeindeleiterin - heute würde man sagen: Pastorin - war Lydia, eine Purpurhändlerin aus Korinth. Sie verdiente ihr Geld mit dem Streben nach Schönheit. Sie handelte mit Purpur, dem Stoff, aus dem die Träume der Reichen und Mächtigen waren.

Was also könnte Paulus sonst meinen, wenn er vom „Säen auf den Leib” spricht? Seine Adressaten, die Galater, waren der Überzeugung, man könne und müsse etwas für seinen Glauben tun. Dieses Tun bestand zum einen darin, dass man sich als Mann beschneiden ließ, wie es im Judentum üblich war. Aus dieser Beschneidung folgte das Zweite: Das Leben nach den Geboten der Tora, der fünf Bücher Mose. Die Beschneidung war ein - nicht für alle, aber doch für den Mann selbst - sichtbares Zeichen, dass man sich Gott gegenüber verpflichtet hatte, diese Gebote zu halten. Nicht nur die bekannten zehn, sondern alle 613 Ge- und Verbote, die sich in der Tora finden. Dagegen schreibt Paulus an, deswegen schreibt er seinen Brief an die Galater.

Was kann man denn dagegen haben, dass jemand die Gebote der Tora befolgen will? Ist es nicht ein Zeichen, dass man seinen Glauben ernst nimmt, ein Zeichen der Frömmigkeit? Die Frage ist, warum die Gebote befolgt werden. Paulus hat nichts gegen die Nächstenliebe. Er selbst ermuntert dazu, allen Menschen Gutes zu tun. Aber dieses Gute ist eine Folge des Glaubens, nicht seine Voraussetzung. Die Galater dachten, sie müssten sich den Glauben verdienen, indem sie sich an alle Gebote halten. Beschneidung und Halten der Gebote, das sind nun einmal die Bedingungen dafür, zum Gott Israels zu gehören, dem Vater Jesu Christi.

Was kann Paulus, der doch selbst Jude ist, dagegen haben, dass Christen den Weg ihrer jüdischen Geschwister wählen?

Für Paulus hat mit Jesus etwas Neues begonnen. Eine neue Zeit ist angebrochen. Gott selbst hat sie heraufgeführt. Eine Zeit, in der Gott auch die zu seinen Kindern machen will, die es vorher nicht waren: die Gojim, die Heiden. Und während für die Menschen jüdischen Glaubens weiterhin die Beschneidung und die Gebote gelten, ist das für die Nichtjuden anders. Sie bekommen den Glauben geschenkt, ohne Vorbedingungen, ohne Verpflichtungen.

Wenn, wie die Galater meinen, der Glaube nur durch die Erfüllung der Gebote zu haben ist, wird Glaube zu einer Leistung, die man erbringen muss. Dann liegt es an mir, ob ich in einer Beziehung zu Gott stehe oder mich von Gott entferne oder gar abwende. Eine solche Haltung ist das Gegenteil dessen, wofür die Taufe steht: Dass wir ein für allemal zu Gott gehören und diese Zugehörigkeit nie verlieren können. Und das ohne jede Voraussetzung, ohne eigene Leistung, gratis, sola gratia, wie Luther später sagen wird.

Darum unterscheidet Paulus zwischen Leib und Geist, darum dringt er so sehr darauf, auf den Geist zu säen - also sein Vertrauen auf den Geist zu setzen. Nicht auf unsere Klugheit, unseren Verstand, sondern auf den Heiligen Geist, der uns bei der Taufe geschenkt wurde und der bewirkt, dass wir glauben können. Auf diesen Geist sollen wir vertrauen, nicht auf die eigenen Fähigkeiten.

Doch uns, die wir auf die Leistung sehen, die wir uns und andere nach ihrer Leistung beurteilen, fällt ein Glaube viel leichter, den man sich erarbeiten muss, als einer, den man umsonst bekommt. Wer sich den Glauben verdient hat, der hat einen Anspruch auf Gottes Beistand und Liebe, so denken wir. Von Gottes Wohlwollen, Gottes Gnade abhängig zu sein, macht nervös und unsicher: Was, wenn Gott es sich anders überlegt? Dabei macht genau das den Glauben aus: Dass wir darauf vertrauen und uns darauf verlassen, dass Gott uns liebt, ohne dass wir es verdient hätten, und dass er diese Liebe, dieses Ja zu uns, niemals zurücknimmt.

Es ist Erntezeit. Wenn wir nächste Woche, an Erntedank, die Früchte bewundern, die wir durch eigener Hände Arbeit, im Schweiße unseres Angesichts gesät und geerntet haben - und damit auch ein bisschen uns selbst und unsere Leistung bewundern - schauen wir heute sozusagen auf das, was von selbst  gewachsen ist: Vertrauen ist gewachsen. Das Vertrauen, dass wir Gottes Kinder sind und bleiben, für immer. Das Vertrauen, dass wir Gott recht sind, wie wir sind. Und dass unser Leben unter einem guten Stern, unter Gottes Segen steht.

Gebe Gott, dass wir von diesem Vertrauen eine reiche Ernte einfahren.

Amen.

Samstag, 17. September 2022

gut gebrüllt

Ansprache zur Orgeleinweihung am 14. Sonntag nach Trinitatis, 18. September 2022, über Jesaja 12,1-6:

Ernst Barlach, Singender Mann

Zu jener Zeit wirst du sagen:

Ich preise dich, Gott! Als du mir zürntest,
wendete sich dein Zorn und du hast mich getröstet.
Sieh, Gott ist meine Hilfe.
Ich vertraue und fürchte mich nicht,
denn meine Kraft und Stärke ist Gott, der Herr,
und er wurde mir zur Hilfe.
Und ihr werdet Wasser schöpfen mit Jubel
aus den Quellen der Hilfe.
Und ihr werdet sagen zu jener Zeit:
Preist Gott, ruft ihn mit seinem Namen an.
Tut kund den Völkern seine Taten!
Bekennt, wie erhaben sein Name ist!
Singt Gott, weil er Erhabenes tut.
Bekannt sei dies bei allen Völkern.
Kreische und rufe gellend, Bewohnerin Zions,
denn groß ist in deiner Mitte der Heilige Israels.


Liebe Schwestern und Brüder,

„jauchze und rühme, die du wohnst auf Zion,
denn der Heilige Israels ist groß bei dir!”
,

heißt es in der Lutherbibel. Wenn man sich den hebräischen Text anschaut, wird es dort drastischer formuliert:

„Kreische und rufe gellend, Bewohnerin Zions!”

Das Wort, das ich mit „kreischen” wiedergegeben habe, kann auch „wiehern” bedeuten. Das gibt einen Hinweis darauf, wie wir uns Tonhöhe und Lautstärke dieses Kreischens vorzustellen haben. Ein Gekreisch, das in den Ohren gellt - soll das zum Lobe Gottes dienen?

Im Magazin der Süddeutschen Zeitung für das heutige Wochenende stand über die Komikerin Hella von Sinnen geschrieben: Sie „lacht so gellend, dass man schon mal zur Fernbedienung greift, um leiser zu drehen.”

Damit nicht der Eindruck entsteht, nur Frauen würden einen Jubel entfachen, der die Ohren strapaziert, sei an die Fußballstadien erinnert, in denen vor allem Männer aus vollem Halse brüllen. Das kommt auch in geistlichen Umgebungen vor: In einem Buch über die Klöster des Mittelalters las ich, man dürfe sich den Gesang der Mönche damals nicht so gesetzt und melodisch vorstellen, wie er heute erklingt. Früher waren die Mönche zahlreicher, und es waren vor allem junge Männer in der Blüte ihrer Kraft. Wenn sie sangen, taten sie es aus voller Kehle. Das klang eher nach dem Gebrüll von Stieren als nach Gesang. Auch im Pfarrkonvent schließlich schweigen die Kolleginnen oft, wenn die Pastoren zu singen anfangen, weil sie bei dem Lärm ihr eigenes Wort nicht verstehen.

Durch die Zeiten hindurch, von Jesaja bis heute, wird das Lob Gottes nicht nur wohlklingend  dargebracht, sondern manchmal auch laut. Geradezu ohrenbetäubend. Was uns unmittelbar zur Orgel führt. Die kann nicht nur leise, sondern auch mächtig laut gespielt werden - so laut, dass man sein eigenes Wort nicht mehr versteht. Im Unterschied zum Gekreisch bei Jesaja, zum Gebrüll der Mönche und Pastoren klingt die Orgel auch laut immer noch sehr schön - aber eben auch sehr laut.

Was hat Lautstärke beim Lob Gottes zu suchen? Sollte man Gott nicht gesittet und gemessen loben? Schließlich kündigte Gott dem Elia sein Erscheinen nicht mit Sturmgebraus, Donner oder Erdbeben an, sondern mit einem sanften Säuseln. Sollte da nicht auch unser Gesang, unser Orgelspiel einem sanften Säuseln gleichen? 

Doch wer würde bei einem sanften Säuseln darauf kommen, dass hier gerade Gott gelobt wird? Freude, wenn sie einen Menschen ganz erfüllt, ist überschwänglich. Und im Überschwang wird es schon einmal laut. Was uns erfüllt und bewegt, froh und glücklich macht, will heraus, muss sich äußern. Nicht durch Wohlklang, durch Lautstärke vor allem. Hella von Sinnen kreischt nicht, um die Fernsehzuschauer zu ärgern, damit sie zu ihren Fernbedienungen greifen. Sondern weil es aus ihr herausplatzt. Sie kann sich überschwänglich freuen.

Und wir?
Wann haben wir zuletzt vor Freude gekreischt und gewiehert vor Lachen? Wann waren wir so übervoll Glück, dass wir es herausbrüllen mussten, sonst hätte es uns zerrissen? Ich vermute, bei den meisten  von uns ist das lange her. Die meisten würden, wenn man sie fragte, sagen, dass sie nichts zu lachen hätten und dass sie ein Glück, das eine:n bis zum Platzen erfüllt, schon lange nicht mehr erlebt hätten.

Aber vielleicht stimmt das gar nicht. Vielleicht haben Gesetztheit und Schamgefühl uns den Überschwang nur ausgetrieben. Man freut sich nur noch verhalten. Sein Glück genießt man gesetzt und gediegen. Dadurch wird die Freude viel kleiner, als sie in Wahrheit ist. 

Darum gibt es die Orgel mit ihren vielen Registern und ihrer gewaltigen Lautstärke. Die Orgel lehrt uns den Überschwang. Sie lehrt uns, unsere Freude, unser Glück herauszulassen. Sie erfüllt uns mit schönen Klängen, mit wunderbarer Musik. Das alles nicht als Selbstzweck, wie man in ein Rockkonzert geht, um in der Musik zu baden und zu versinken; wie man beim Feiern einen über den Durst trinkt, um endlich einmal wieder aus sich heraus zu gehen. Der alles erfüllende Klang der Orgel, unser lautes Singen bringen unsere Freude über Gott zum Ausdruck. Über Gott, der, wie es bei Jesaja heißt, unsere Hilfe ist, unsere Kraft und Stärke. Wie sollte man von der Kraft und Stärke Gottes mit leisen, verhaltenen Tönen singen?

Und wenn so laut und jubelnd gesungen und musiziert wird, geschieht es, dass wir von diesem Lob ergriffen werden. Wir spüren, wie viel Grund zur Freude und zum Lob wir haben. Trotz alledem. Trotz der Angst, der Sorgen, die wir so oft empfinden. Trotz allem, was uns belastet und beschwert. Trotz Leid und Tod. Die Fülle, der Überschwang der Musik überzeugen uns, mehr, als Worte es vermöchten, dass Gott da ist und Wunder tut: Das Wunder des Lebens, jeden Tag neu. Das Wunder der Vergebung und des neuen Anfangs. Das Wunder der Liebe.

Darum muss die Organist:in manchmal alle Register ziehen. Darum müssen wir manchmal kreischen oder brüllen, statt lieblich und schön zu singen: Damit die Freude herauskommt und spürbar wird, für uns und andere. Die Freude über Gott, der uns dieses seltsame, zerbrechliche, wunderbare Leben schenkt, jeden Tag neu. Und ein für allemal am Ende aller Tage. 

Darum „kreische und rufe gellend, Bewohnerin Zions,
denn groß ist in deiner Mitte der Heilige Israels.”

Amen.

Samstag, 10. September 2022

Die Zukunft wirft ihre Schatten zurück

Predigt zur Goldenen Konfirmation am 13. Sonntag nach Trinitatis, 11. September 2022, über Lukas 10,25-36


Liebe Schwestern und Brüder,

„mit 66 Jahren, da fängt das Leben an”, singt Udo Jürgens. Das 66. Lebensjahr, das erste Jahr im Ruhestand. Nicht mehr ganz. Inzwischen muss man bis 67 arbeiten. Und ginge es nach dem Willen einiger Arbeitgeber, dürfte es auch gern erst das 71. Lebensjahr sein, in dem das Leben anfängt.

Manchen wäre das gar nicht unrecht. Während die meisten sich danach sehnen, endlich den Hammer fallen lassen zu können, fürchten sie sich vor dem Tag, an dem sie nicht mehr arbeiten gehen können. Und manche haben gar keine Wahl, als immer weiter zu arbeiten.

Für die meisten liegt die Goldene Konfirmation am Übergang vom Erwerbsleben zu einem neuen Lebensabschnitt. Manche von Ihnen kennen dieses neue Leben bereits. Andere probieren es gerade aus. Vielleicht gibt es sogar jemand unter Ihnen, die oder der sich noch ein wenig gedulden muss, bis es endlich so weit ist.

„Mit 66 Jahren, da fängt das Leben an.” Und was war vorher? Haben wir da etwa nicht gelebt? Wer all die guten Vorsätze, die Träume von einer großen Reise oder von einem neuen Hobby bis zum  Ruhestand aufschiebt, muss zuweilen die bittere Erfahrung machen, dass manches nicht mehr geht. Die Gesundheit lässt eine weite Reise nicht mehr zu. Die Beweglichkeit ist nicht mehr da, die Schmerzen sind zu groß, um noch etwas Neues anzufangen.

Trotzdem fängt ja etwas Neues an, oder hat bereits angefangen: Eine Zeit, in der man nicht mehr arbeiten muss, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen, sondern arbeiten kann. Eine Zeit, in der man nicht mehr dafür verantwortlich ist, dass die Kinder etwas lernen und ihren Weg im Leben finden, sondern sich an den Enkeln freuen und sie verwöhnen kann, ohne alle Verpflichtungen. Eine Zeit, in der eine:n niemanden und nichts mehr hetzt. Wo man sich Zeit lassen kann. Zeit wofür?

„Meister, was muss ich tun,
dass ich das ewige Leben ererbe?”

Die Frage klingt, als hätte da einer sein Testament gemacht. „Ewiges Leben” kommt nach dem Tod, und der liegt hoffentlich in weiter Zukunft. Auch das Stichwort „erben” lässt an ein Testament denken, und damit an das Lebensende - dabei fängt, wie Udo Jürgens singt, das Leben gerade erst an.

Und doch ist uns diese Frage vielleicht nicht fremd. Manchmal grübelt man, wozu es da ist, dieses Leben. Ob es einen Sinn hat und wenn ja, welchen. Was man aus seinem Leben gemacht hat. Bei solchem Grübeln stellt man fest, dass manches im Leben nicht so lief, wie man wollte. Wege verliefen anders als geplant. Träume erfüllten sich nicht, Hoffnungen zerplatzten. Man fragt sich, was man vom Leben hatte und was davon einmal bleiben wird.

„Meister, was muss ich tun,
dass ich das ewige Leben ererbe?”

Was an dieser Frage stutzig macht: Dass man etwas tun muss für’s ewige Leben. Wir dachten, es fällt uns zu, wie den Kindern das Erbe zufällt, ohne dass sie etwas dafür getan oder es sich verdient hätten. Ebenso, dachten wir, hat Jesus uns durch seinen Tod am Kreuz das Leben erworben. Es gibt nichts, was wir dem noch hinzufügen könnten. Nichts, womit wir uns Leben erwerben, gar erkaufen könnten. Mit der Taufe bekamen wir sozusagen die Eintrittkarte ins Paradies. Wir werden sie nicht einmal vorzeigen müssen, wie man im Alten Griechenland den Toten ein Geldstück unter die Zunge legte, damit sie den Fährmann, Charon, bezahlen konnten, der sie über den Fluss Styx ins Totenreich bringen sollte. Nein, unsere Namen stehen schon jetzt im Buch des Lebens geschrieben. Wozu also diese Frage?

Das ewige Leben liegt hinter dem Horizont, liegt jenseits unserer Vorstellungskraft. Wenn wir eines Tages im ewigen Leben erwachen werden, haben wir diese Welt verlassen. Wir werden uns wohl an sie erinnern. Aber von der Zukunft her gibt es keine Erinnerung zurück in unsere Gegenwart. Es sei denn in den Visionen der Propheten, die von Gottes Reich des Friedens und der Gerechtigkeit träumen. 

Auch der Ruhestand lag einmal hinter dem Horizont. Während der Berufstätigkeit träumt man wohl  manchmal davon, wie es sein wird, wenn man endlich die Beine hochlegen kann. Man sieht an denen, die bereits im Ruhestand sind, wie sie ihn meistern und genießen - oder auch nicht. Aber wie man selbst den Ruhestand erleben und gestalten wird, das kann man erst wissen, wenn man selbst an der Reihe ist.

Im Kleinen ist es auch bei einer Reise so: Man plant, bereitet sich vor. Aber erst am Urlaubsort weiß man, wie es dort wirklich ist. Vielleicht fahren deshalb manche immer an den selben Ort. Sie wollen keine Überraschungen erleben. Sie wollen sich die Urlaubsfreude nicht verderben durch die Unsicherheit, ob es dort wirklich so schön ist, wie sie es sich vorstellen.

Man könnte zu Hause bleiben. Da weiß man, was man hat.
Man könnte nie aufhören zu arbeiten. Dann müsste man sein Leben nicht umstellen.

Das ewige Leben, unsere Zukunft, wirft seinen Schatten voraus. Und weil dieses ewige Leben Gerechtigkeit und Frieden ist - weil wir dann im Einklang mit der Natur, Gottes Schöpfung, leben; weil wir dann Konflikte friedlich lösen, Mitleid empfinden und Mitleid erfahren werden; weil wir dann anderen das Gute gönnen, denn es fehlt uns selbst an nichts: Darum können wir uns schon jetzt auf dieses ewige Leben vorbereiten, wie man sich auf eine Reise vorbereitet oder auf den Ruhestand.

Und wie manchmal die Vorbereitung und die Vorfreude fast schöner sind als die Erfüllung, können wir uns unser Leben schon jetzt schön machen, indem wir menschlich und freundlich zu uns selbst und zu unseren Mitmenschen sind.  Auch und gerade, wenn sie es nicht sind oder wir meinen, dass sie es nicht verdienen. Unsere Freundlichkeit, unsere Menschlichkeit öffnet ein kleines Stück vom Paradies mitten in unserem Alltag. Das Licht, das von diesem kleinen Stück Paradies ausstrahlt hat die Macht,  Menschen zu verändern. Gott hat die Macht, Menschen zu verändern. Das Paradies, das ewige Leben, dem wir entgegengehen, sind nur andere Worte für Gott, weil Gott die Fülle und die Erfüllung unseres Lebens ist.

An Gott glauben, Gott lieben bedeutet, die Welt mit Gottes Augen zu sehen: Als seine Schöpfung, die er uns anvertraut hat zu treuen Händen, damit wir sie schützen und bewahren. Bedeutet, uns mit Gottes Augen zu sehen: Menschen, die Gott über alles liebt. Gott glaubt an uns, an unsere Güte, unsere Träume von einer besseren Welt, unseren guten Willen. Gott will für unser Leben Gutes und eine gute Zukunft für uns. Und es bedeutet, unsere Mitmenschen mit Gottes Augen zu sehen als Menschen, die Gott nicht weniger liebt als uns. Bei denen er keinen Unterschied macht in Bezug auf Hautfarbe, Bildung, beruflichen Erfolg oder Geschlecht. Gott liebt alle Menschen, auch wenn wir uns manchmal fragen, was an ihnen liebenswert sein soll. Diese Liebe Gottes erkennen: Das ist Glauben.

Indem wir glauben, gehen wir Gott entgegen. Und Gott kommt uns entgegen. Als Licht, das Dunkelheit und Angst vertreibt. Als Wärme, die Hass, Egoismus, Neid und Menschenverachtung wegschmilzt. Darum lautet die Antwort auf die Frage, was man tun muss, um das ewige Leben zu ererben:

„Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben
von ganzem Herzen, von ganzer Seele
und mit all deiner Kraft und deinem ganzen Gemüt
und deinen Nächsten wie dich selbst.”

„Mit 66 Jahren, da fängt das Leben an.” Während wir die Träume verwirklichen, die wir uns für den Ruhestand vorgenommen haben und die Ruhe des Ruhestandes genießen, träumt Gott von einer Welt des Friedens zwischen Mensch und Mensch, zwischen Mensch und Natur. Gott träumt von einer Welt der Gerechtigkeit im Kleinen unserer Beziehungen und im Großen des weltweiten Miteinanders. Und lädt uns ein, mitzuträumen. Damit heute schon die Welt von morgen aufblitzen kann.

Amen. 

Sonntag, 4. September 2022

Ein damaszenischer Stierkämpfer

Predigt am 12. Sonntag nach Trinitatis, 4. September 2022, über Apostelgeschichte 9,1-20

Stierkampf in Arles, ein Torrero lässt den angreifenden Stier unter dem roten Tuch hindurchlaufen.

Liebe Schwestern und Brüder,

„Paulus schnaubte mit Drohen und Morden …” - bei diesen blumigen Worten stellt man sich einen wütenden Stier vor, der mit blutunterlaufenen Augen das rote Tuch fixiert, bereit, jeden Moment anzugreifen.
Tatsächlich schnauben Rinder manchmal. Wenn man einen wütenden Stier vor sich hat, kann dieses Schnauben fürchterlich klingen, sodass man sich besser in Sicherheit bringt.

Saulus, ein wütender Stier, ein unberechenbarer, geradezu tollwütiger Eiferer, der auf alle losgeht, die sich zu Christus bekennen. Dazu mit Vollmachten ausgestattet, die Anhänger:innen Jesu gefangenzunehmen und seine Opfer nach Jerusalem zu verschleppen, wo das Gefängnis auf sie wartet. Sein schlimmer Ruf ist ihm nach Damaskus vorausgeeilt. Man kann sich vorstellen, wie die Christ:innen dort seine Ankunft fürchten. Wie sie sich überlegen, ob sie es wagen können, in der Stadt zu bleiben, oder ob sie besser die Flucht ergreifen.

Saulus ist in seinem Eifer nicht nur unberechenbar, sein Hass auf die Christ:innen macht ihn auch blind. Er ist davon überzeugt, dass er im Glauben auf der richtigen Seite steht. Es kann in Glaubensdingen nur eine Wahrheit geben; Saulus kennt sie, und darum müssen die Christ:innen im Irrtum, im Unrecht sein.

Warum aber verfolgt er sie so erbarmungslos? Warum genügt es ihm nicht, recht zu haben und die anderen im Unrecht, im Irrtum zu wissen? Warum muss das Andere bekämpft werden? Warum wollen religiöse Fanatiker wie Saulus bis heute Menschen, die anders glauben als sie, den Schädel einschlagen  wie zuletzt beim Attentat auf Salman Rushdie? Auch unter den sogenannten „Querdenkern” gibt es einige, die ihre Weltsicht mit geradezu religiösem Eifer vertreten. Sie schleudern Andersdenkenden, und vor allem der von ihnen so bezeichneten „Lügenpresse”, ihren Hass entgegen. Warum muss die andere Meinung, der andere Glaube so vehement bekämpft werden? 

Vermutlich spielen Unsicherheit und Verunsicherung dabei eine große Rolle. Wenn man etwas messen oder nachprüfen kann, lässt sich in aller Regel Einmütigkeit über einen Sachverhalt erzielen. Scheint die Sonne, ist es Tag; wird es dunkel, ist es Nacht. Dem wird niemand widersprechen. Auch nicht, dass dieser Sommer sehr heiß war. Aber ob diese extreme Hitze durch den Klimawandel verursacht wird, oder ob es einfach Kapriolen des Wetters waren, wie sie immer wieder vorkommen, darüber herrscht Streit. Man streitet auch darüber, wie schlimm die Klimaveränderungen sind, ob und wie dringend etwas dagegen unternommen werden muss und wie einschneidend die Maßnahmen sein müssen, damit nicht der Punkt erreicht wird, an dem es kein Zurück mehr gibt.

Das Klima verändert sich. In der Ukraine herrscht Krieg, mit der Folge explodierender Kosten für Heizung, Benzin und Strom. Grenzen, die bisher scheinbar felsenfest waren, verschwimmen. Das begann mit dem Fall der Mauer 1989; seitdem gibt es kein „West” und „Ost” mehr. Die Welt ist zusammengerückt, und manchmal rückt sie uns regelrecht auf die Pelle. Auch die Grenzen von Partnerschaft und Geschlecht öffnen sich. Und während die einen das als neue Freiheit, als den Aufbruch in ein neues, aufregendes Land begrüßen, sind andere davon verunsichert, fühlen sich dadurch bedroht und meinen, sich dagegen wehren, den Verfall der Grenzen aufhalten zu müssen.

Dabei wird der Ton immer schärfer, während die Bereitschaft, die andere Seite wenigstens anzuhören, verschwindet. In den Vereinigten Staaten sehen wir, wie sich eine ganze Gesellschaft in zwei unversöhnliche Hälften gespaltet hat, die nicht mehr miteinander sprechen können.

Wenn es zwei gegensätzliche Positionen gibt, kann nur eine recht haben, oder? Und natürlich hat immer die Position recht, die man selbst vertritt. Man muss nicht mit Drohen und Morden schnauben und kann trotzdem kompromisslos und unerbittlich sein.

Auch der Jünger Hananias, den Jesus zu Saulus schicken will, hat sich eine Meinung über Saulus gebildet und eine ablehnende Haltung eingenommen. Er äußert schwere Bedenken gegen den Auftrag, den Jesus ihm gibt: Über Saulus wird Schlimmes erzählt, und außerdem soll er Briefe dabei haben, die ihn mit Vollmachten gegen die Christ:innen ausstatten. Zu dem möchte er lieber nicht hingehen.

Das Erlebnis, das Saulus zum Paulus macht, wird eindrücklich geschildert: Da sind ein Leuchten vom Himmel und eine Stimme. Da ist die Blindheit, die Saulus’ Blindheit gegenüber dem Glauben an Christus entspricht. Auch Hananias erlebt eine Bekehrung, die ihn von seiner Angst vor Saulus befreit. Durch die Bekehrung erkennt er ihn als Bruder: „Lieber Bruder Saul”, spricht er ihn an. Dieser Schritt, den Hananias tat, ist nicht weniger groß als die Veränderung, die mit Saulus vorgegangen ist. Als Hananias dem blinden, aufgelösten und zutiefst verunsicherten Saulus gegenübertritt, erkennt er in ihm den Mitmenschen, den Bruder.

Es ist unmöglich, dass man keine Position einnimmt. Zu den Fragen des Klimawandels, der Gefährlichkeit von Atomwaffen, zu Krieg oder Unterdrückung von Menschen aufgrund ihres Geschlechtes, ihrer Hautfarbe, ihrer Herkunft oder ihres Glaubens kann es keine zwei Wahrheiten und auch keine Kompromisse geben. Aber sobald sich die Positionen verhärten, ist ein Gespräch nicht mehr möglich. Und sobald man die Person mit ihrer Haltung in eins setzt, wird aus Gegnerschaft unerbittliche Feindschaft. Wir sehen das überall in der Welt; wir selbst sind nicht frei davon. Obwohl wir uns selbst nie als intolerant oder gar als fanatisch bezeichnen würden. Auch wir haben Positionen, die wir nicht aufgeben wollen, nicht aufgeben können. Wir sehen uns im Recht und andere im Unrecht. Wir haben Ängste und Vorurteile, die wir aus eigener Kraft nicht überwinden können - gerade, weil wir davon überzeugt sind, dass sie zu recht bestehen.

Wenn aus einem Saulus ein Paulus wird, wenn ein Hananias zu seinem Feind geht und ihm die Hände auflegt, ist ein Wunder geschehen. Ein Wunder ist es, weil wir diesen Sinneswandel nicht selbst bewerkstelligen können. Wir können nur darum beten, nur darauf vertrauen, dass Gott verhärtete Positionen löst und den Mut schenkt, auf Gegner:innen zuzugehen.

Was uns dabei helfen kann, ist das Mitleid: „Ich will ihm zeigen, wie viel er leiden muss”. Mit diesem Satz erkennt Hananias, dass auch Saulus ein Mensch ist und sich in der gleichen Situation befindet wie er.

Wenn auch wir im Gegner, hinter den wutverzerrten Gesichtern, dem Schnauben der Eiferer und Fanatiker den Menschen erkennen, werden wir fähig zum Mitleid. Fähig, für diese Menschen zu beten und mit Gottes Hilfe sogar auf sie zuzugehen. Doch zuerst muss Gottes Geist uns unsere eigene Verblendung, unsere eigene Fixierung auf Positionen, Meinungen und Vorurteile vor Augen geführt haben.

Saulus wie Hananias haben das Wunder erlebt, dass Jesus in ihr Leben eingegriffen und sie verändert hat. Mögen wir den Mut finden, auch für uns um dieses Wunder zu bitten, und mögen wir es erleben.

Amen.