Freitag, 26. Dezember 2014

Aufmerksamkeit

Predigt am Altjahrsabend, 31.12.2014, über Lukas 12,35-40:

Jesus spricht: Lasst eure Hüfte gegürtet und eure Lampen brennen. Und seid wie Leute, die ihren Chef erwarten, wenn er von der Feier zurückkommt, damit sie ihm sofort öffnen, wenn er kommt und klopft. Glückwunsch jenen Angestellten, die der Chef wachend findet, wenn er kommt. Wirklich, ich sage euch: Er wird sich schürzen und sie zu Tisch bitten, herbeikommen und sie bedienen. Und wenn er um Mitternacht oder früh um drei kommt und sie so findet, Glückwunsch! Werdet euch aber bewusst: Hätte der Hausherr gewusst, zu welcher Stunde der Dieb kommt, hätte er den Einbruch in sein Haus verhindert. Macht auch ihr euch bereit, denn der Hausherr kommt zu einer Stunde, zu der ihr es nicht erwartet.
(Eigene Übersetzung)


Liebe Schwestern und Brüder,

wenn ich als Jugendlicher spät nachts nach Hause kam, weil wir nach dem Training noch in der Kneipe waren, weil ich mich bei Freunden festgequatscht oder die Veranstaltung in der Schule wieder einmal länger gedauert hatte, dann hörte ich jedes Mal, wenn ich möglichst leise die knarzende Holztreppe zum Schlafzimmer hochstieg, meine Mutter verschlafen meinen Namen rufen. Ganz gleich, zu welcher Zeit ich nach Haus kam, wie leise ich die Treppe hochschlich: Meine Mutter hörte mich. Sie konnte offenbar erst dann schlafen, wenn sie mich sicher zuhause wusste.
Damals belächelte ich ihre unnötige Sorge. Heute, wo ich selbst Vater bin, geht es mir genauso wie ihr.
Um Menschen, die man liebt, sorgt man sich und kann oft nicht schlafen, wenn sie nachts noch unterwegs sind.

Wenn Jesus von einem Chef erzählt, auf den seine Angestellten warten, bis er von der Feier nach Haus kommt, geht es nicht um ein Liebesverhältnis. Die Angestellten warten ja nicht auf ihren Chef, weil sie ihn so furchtbar lieb haben, sondern weil sie es müssen. Sie werden dafür bezahlt, es ist ihr Job. Wir denken dabei vielleicht an Fernsehserien wie Downton Abbey, wo Butler diskret ihrer Herrschaft aufwarten.
Aber der Chef, von dem Jesus erzählt, verhält sich eigenartig. Er scheint es nicht als selbstverständlich anzusehen, dass man ihn erwartet, sondern als etwas ganz Außergewöhnliches. Deshalb tauscht er mit denen, die auf ihn gewartet haben, die Rollen und macht sich selbst zum Diener, der seinen Angestellten das Essen bereitet, es ihnen serviert und sie dabei auch noch bedient. Was für ein eigenartiger Chef - kaum vorstellbar, dass es so etwas geben sollte. Warum erzählt Jesus von einem solchen Chef? Und was hat diese Geschichte mit dem Jahreswechsel zu tun, den wir heute begehen?

Silvester ist ein eigenartiges Datum: Einmal im Jahr wird ein Tag festgesetzt, an dem das alte Jahr endet und das, was es brachte und ausmachte, endgültig vorüber ist. Und ein neues Jahr beginnt, das wie ein leeres, unbeschriebenes Blatt vor uns liegt. Es ist, als würde eine Seite eines Buches umgeschlagen, oder als würde man über eine Schwelle von einem Zimmer in ein anderes gehen, in dem man nie zuvor gewesen ist.
Aber die Zeit ist nicht so, dass man sie umklappen könnte wie eine Buchseite, dass man einen Zeitraum verlässt und in einen neuen hinübergeht wie über eine Schwelle. Wir tun so, als wäre die Zeit in solche Zeiträume eingeteilt, in Minuten, Stunden, Tage und Jahre. Tatsächlich aber ist die Zeit ein Fluss, ist ohne Anfang und Ende - jedenfalls für die Spanne unseres Lebens. Wir heben willkürlich besondere Momente in diesem eintönigen Fluss der Zeit heraus, als würden wir Stöckchen in den Fluss werfen, denen wir zusehen, wie sie langsam davongetragen werden, bis sie den Blicken entschwinden.
Die Zeit ist ein Fluss und sie ist im Fluss, aber mit einer solchen Vorstellung lässt es sich nicht leben. Man braucht eine Zeiteinteilung, man braucht besondere Höhepunkte im Fluss der Zeit - Weihnachten, Geburtstage, Jubiläen, Jahreswechsel. An solchen Höhepunkten scheint die Zeit angehalten. Man blickt zurück, man blickt voraus, als stünde man auf einem Berg, von dem aus man den Fluss der Zeit überschauen kann.
Es ist gut, dass unser Leben solche Höhepunkte hat. Dass wir hin und wieder auf einen Berg steigen können, um den Fluss der Zeit zu überblicken. Nur auf diese Höhepunkte hin zu leben ist aber auch ziemlich einseitig. Vor allem verpasst man dabei viel zu viel. Von der Höhe der Berge übersieht man nämlich allzu leicht, wie viel Schönes die Ebene zu bieten hat. Der Alltag hat viel gemein mit einem gleichförmig und träge dahinströmenden Fluss. Und doch hält er an jedem Tag besondere Momente für uns bereit - Momente, die es manchmal durchaus mit den Höhepunkten im Jahr aufnehmen können.

Zu diesen besonderen Momenten gehören Begegnungen mit anderen Menschen - mit Familienmitgliedern, Freunden, Nachbarn oder gänzlich Fremden, denen wir zum ersten Mal begegnen, oder auch nur dieses eine Mal. Wie würden wir uns aufregen, wie lange im Voraus würden wir uns vorbereiten, wenn wir die Bundeskanzlerin treffen könnten, den Papst, Pep Guardiola oder Helene Fischer - um nur ein paar Berühmtheiten zu nennen. Was würden wir dafür tun, wenn wir einmal dem Menschen begegnen könnten, den wir so sehr verehren und bewundern. Wir würden diese Begegnung niemals vergessen, noch unseren Enkeln würden wir davon erzählen!
Sind denn aber unsere Eltern, unsere Kinder, unsere Nachbarn keine besonderen Menschen? Hätten sie es nicht auch verdient, dass man sich auf sie freut, dass man aufgeregt ist, wenn man ihnen begegnet? Wir haben uns daran gewöhnt, dass unsere Partnerin, unser Partner, dass unsere Kinder, unsere Eltern, unsere Nachbarn immer da sind. Wir haben uns so sehr daran gewöhnt, dass wir sie manchmal wie Möbelstücke behandeln; Inventar, das eben zu unserem Haushalt gehört. So sind wir nun einmal. Wir können nicht jeden Tag, jeden Augenblick diese Anspannung, diese Energie aufbringen, die wir einem ganz besonderen Menschen schenken würden.
Aber an und zu könnten wir es schon. Ab und zu könnten wir uns daran erinnern, dass es nicht selbstverständlich, sondern ein großes Glück ist, dass wir diese Partnerin, diesen Partner haben. Diese Eltern, diese Kinder, diese Nachbarinnen und Nachbarn. Ab und zu könnten wir ihnen das ruhig mal zeigen.

Als Christen glauben wir, dass Jesus uns in unseren Mitmenschen begegnet. Hier, im Gottesdienst, wenn wir als Gemeinde der Leib Christi sind. Beim Abendmahl, wenn Christus uns in Brot und Wein ganz nahe ist, mitten unter uns im Kreis vor dem Altar.
Christus begegnet uns auch in Menschen. Im wildfremden Menschen, den wir auf der Straße treffen. Den wir im Krankenhaus besuchen. Dem wir durch eine Spende helfen. Dem wir in einer schwierigen Lage beistehen. Den wir durch ein Lächeln, ein freundliches Wort aufmuntern. Dem wir sagen und zeigen, dass er bei uns willkommen ist. Denn Jesus sagt: “Was ihr einer oder einem meiner geringsten Schwestern und Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.”
An Weihnachten haben wir gehört und gesehen, was Jesus damit meint: das schutz- und hilflose Kind in der Krippe unterscheidet sich in nichts von den Neugeborenen überall auf der Welt. Es unterscheidet sich in nichts von dem Säugling, der wir einmal waren, und auch nicht vom Säugling, der im Gazastreifen geboren wird oder in Tel Aviv, im Asylbewerberheim, im Schaustellerwagen oder im Meininger Krankenhaus. Sie alle, wir alle sind Kinder Gottes, Gottes Kinder. Sie alle, wir alle verdienen Liebe, Respekt und Mitmenschlichkeit.

So kommt Jesus, das Kind in der Krippe, nicht nur an Weihnachten zu uns, nicht nur hier und jetzt, im Gottesdienst. Sondern auch und gerade dann, wenn wir es am wenigsten erwarten. Wenn wir nicht darauf eingestellt sind, wenn es ungelegen kommt, wenn es gerade gar nicht passt. Wir sind zu beglückwünschen, wenn wir in einem solchen Moment nicht auf dem Schlauch stehen, sondern die Gelegenheit erkennen und sie ergreifen. Die Gelegenheit, der Partnerin oder dem Partner, dem Kind, den Eltern, der Nachbarin oder der gänzlich Fremden zu zeigen, dass wir auf sie gewartet, dass wir sie erwartet haben. Wir sind zu beglückwünschen, weil diese Menschen uns ebenso beschenken werden wie der eigenartige Chef, von dem Jesus erzählt. Wohl nicht unbedingt mit einem Essen, bei dem sie uns bedienen. Eher mit etwas, das mindestens genauso schön ist und genauso gut tut: einem Lächeln.

Heute ist Silvester. Ein Höhepunkt im Jahr, an dem wir zurückblicken auf Gelungenes und auf verpasste Gelegenheiten. An dem wir gute Vorsätze fassen für's neue Jahr und manches anders oder besser machen wollen. Wie wäre es, wenn wir uns die Geschichte, die Jesus erzählt, zum Vorsatz für das kommende Jahr nähmen? Wie wäre es, wenn wir unsere Aufmerksamkeit, unsere Herzlichkeit, unsere Freundlichkeit nicht nur zu besonderen Anlässen an besondere Menschen verschenkten, sondern freigiebiger damit wären und sie auch im Alltag großzügig verteilten? Wir würden, ohne es zu wissen, Jesus eine große Freude machen. Und wir würden uns damit eine Freude machen. Denn das Lächeln, die Liebe, die Menschlichkeit und Freundlichkeit, die wir schenken, erhalten wir doppelt und dreifach zurück.

Amen.


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Die Predigt zum folgenden Neujahrstag steht (in etwas putzigem Layout) bei den GPI: