Freitag, 3. August 2012

Unsere Berufung

Predigt am 9.Sonntag nach Trinitatis, 5.8.2012, über Jeremia 1,4-10:


Und Gottes Wort geschah zu mir:
Ich kannte dich, ehe ich dich im Mutterleibe bereitete, und sonderte dich aus, ehe du von der Mutter geboren wurdest, und bestellte dich zum Propheten für die Völker.
Ich aber sprach: Ach, Gott, ich tauge nicht zu predigen; denn ich bin zu jung.
Gott sprach aber zu mir: Sage nicht: »Ich bin zu jung«, sondern du sollst gehen, wohin ich dich sende, und predigen alles, was ich dir gebiete. Fürchte dich nicht vor ihnen; denn ich bin bei dir und will dich erretten, spricht Gott.
Und Gott streckte seine Hand aus und rührte meinen Mund an und sprach zu mir: Siehe, ich lege meine Worte in deinen Mund. Siehe, ich setze dich heute über Völker und Königreiche, dass du ausreißen und einreißen, zerstören und verderben sollst und bauen und pflanzen.
(Luther 1984)

I
Liebe Gemeinde,
was ist aus den Plänen Ihrer Jugendzeit geworden?
Erinnern Sie sich noch, was Sie werden und machen und bewegen wollten?
Schon an meiner Frage merken Sie, worauf ich hinaus will:
Ich nehme an, dass viele Ihrer hochfliegenden Träume und Ideen sich nicht verwirklicht haben.
Natürlich kommt es immer auf die Art der Pläne an:
Wer sich vorgenommen hat, ein gutes Einkommen, ein Haus, eine Familie zu haben,
der wird aller Wahrscheinlich­keit nach sein Ziel erreicht haben 
- aber es gibt auch genug Beispiele von Menschen,
die selbst dieses vergleichsweise bescheidene Ziel nicht erreichten.
Wenn dagegen das Ziel war, eine erfolgreiche Künstlerin zu werden, 
bei Olympia eine Goldmedaille zu gewinnen oder die Welt zu umsegeln,
dann könnte es mit der Verwirklichung schon schwieriger werden.
Obwohl es auch da, wie immer, Ausnahmen gibt.
James Joyce zum Beispiel war, bevor er auch nur eine Zeile veröffentlicht hatte, 
fest davon überzeugt, ein großer Schriftsteller zu sein - und das ist er ja auch geworden 
(jedenfalls in den Augen derer, die ihn lesen).
Und auch Bert Brecht hat schon nach seinen ersten Erfolgen mit der "Dreigroschenoper" erklärt, 
er sei ein "Klassiker", also Goethe und Schiller gleich zu stellen.
Was er ja schließlich auch erreicht hat.

Jede und jeder von uns hat wohl einmal davon geträumt, 
etwas Großes zu tun oder zu erleben.
Jeder und jede wollte irgendwann mal jemand Besonderes sein, 
sich in die Geschichtsbücher einschreiben, die Welt verändern.
Das gehört zum Prozess des Erwachsenwerdens dazu.
Und ebenso gehört die Enttäuschung dazu, 
von der Bert Brecht seine Mutter Courage in ihrem "Lied von der Großen Kapitulation" singen lässt:

Viele sah ich schon den Himmel stürmen
Und kein Stern war ihnen groß und weit genug.

(Der Tüchtige schafft es, wo ein Wille ist, ist ein Weg,
wir werden den Laden schon schmeißen.)

Doch sie fühlten bald beim Berg-auf-Berge-Türmen
Wie doch schwer man schon an einem Strohhut trug.

(Man muss sich nach der Decke strecken.)

Und vom Dach der Star
Pfeift: wart paar Jahr!
Und sie marschieren in der Kapell
Im Gleichschritt, langsam oder schnell
Und blasen ihren kleinen Ton:
Jetzt kommt er schon ... [1]

Brecht spricht von der "Großen Kapitulation".
Und so wie die Mutter Courage kapituliert fast jeder Mensch 
im Laufe seines Lebens vor den Umständen.
Mal ist es eine kleine, mal eine große Kapitulation.
Man wird nicht Entdecker, Künstlerin oder Abenteurer, 
sondern doch Verwaltungsangestellte, Fahlehrer,
Hausmann oder Lehrerin.
Manchmal träumt man wehmütig davon,
was gewesen wäre, wenn ...,
beneidet die Abenteurer und Wissenschaftler,
die es geschafft haben,
und manchmal hadert man sogar mit seinem Schicksal.
Und jedes Mal bleibt ein leicht bitterer Nachgeschmack zurück: 
Hätte man doch den Mut gehabt ... aber man hatte ihn nicht.

II
Bei Jeremia erleben wir das Gegenteil.
Hier hat einer alle Chancen, seine Träume zu verwirklichen.
Jeremia hat das ganz große Los gezogen:
Von Gott persönlich berufen zum Propheten für die Völker, 
ausgesondert von Mutterleib an - aber wie reagiert er? 
Jeremia lehnt das große Los ab!
Náar anochi sagt er, ich bin noch zu jung.
Statt jugendlichem Rebellenmut – Ängstlichkeit.
Als ahnte Jeremia schon, worauf dieser Auftrag hinauslaufen würde. 
Als ahnte er, dass er sich unbeliebt machen wird,
dass er verfolgt, verprügelt, eingesperrt werden wird,
wenn er den Menschen seiner Zeit tatsächlich Gottes Wort verkündet 
- sie aus ihrer Zufriedenheit, aus ihrem Arrangement mit den Verhältnissen reißt.
Sie an ihre Träume von früher erinnert.
Dieser Schuh ist ihm zu groß.
Náar anochi - ich bin noch zu jung, sagt er.
Aber Gott geht auf seinen Einwand gar nicht ein,
sondern setzt sogar noch eins oben drauf:
Gott beauftragt Jeremia,
dass du ausreißen und einreißen,
zerstören und verderben sollst und bauen und pflanzen.

Jeremia hat keine Chance, sich gegen die Beauftragung durch Gott zu wehren
(und wenn er's versuchte: die Geschichte des Propheten Jona zeigt, wohin das führt)
- er muss tun, wozu Gott ihn bestimmt.
Jahre später, nach den Erfahrungen von Widerspruch, Inhaftierung und Schlägen, wird er klagen:
Gott, du hast mich überredet und ich ließ mich betören.
Du bist mir zu stark gewesen und hast mich überwältigt.
(Jeremia 20,7)

III
Gott, du hast mich überredet und ich ließ mich betören.
Du bist mir zu stark gewesen und hast mich überwältigt.
Aus diesen Worten Jeremias spricht einer,
den sein Auftrag überfordert hat.
Schon bei seiner Berufung hat er geahnt,
dass das zu viel für ihn werden würde - aber das half nichts.

So etwas wie Jeremia haben auch wir schon erlebt.
Immer wieder im Leben gibt es Momente,
in denen wir überfordert sind;
gibt es Aufträge, die uns zu viel werden.
Ebenso wie Jeremia seufzt man dann,
ohne doch etwas daran ändern zu können.
Und oft geht es uns auch dabei ebenso wie Jeremia:
Wir haben uns diesen Auftrag nicht ausgesucht.
Er ist uns ebenso zugefallen wie ihm.
Zum Beispiel der Auftrag, ein Kind aufzuziehen und zu erziehen.
Natürlich könnten Sie jetzt einwenden,
dass man gewusst habe, was man da tat.
Aber hat man es tatsächlich gewusst?
Hat man die vielen durchwachten Nächte geahnt, die Sorgen und Ängste?
Man hat sie ebenso wenig geahnt
wie das Glück, die Freude und die Liebe,
die man durch ein Kind erlebt.

"Wir müssen vor Hoffnung verrückt sein",
singt der Liedermacher Wolf Biermann sein Töchterchen an:
"Wir müssen vor Hoffnung verrückt sein,
Marie, du dunkle Sonne,
dass wir dich warfen in diese Welt ..." [2]

Wir müssen vor Hoffnung verrückt sein ...
- das beschreibt die Art,
wie man zu solchen überfordernden Aufträge kommt:
Man überlegt sich nicht vorher, was einen da erwartet, 
sondern lässt sich leichtsinnig darauf ein.
Auf ein Kind.
Auf die Pflege der kranken Eltern.
Auf die Hilfe für einen Freund.
Auf die Unterstützung eines Menschen.
Auf die Liebe zu einem Partner.
Man übernimmt Verantwortung für einen anderen Menschen, 
ohne sich lange Gedanken über die Folgen zu machen,
weil man vor Hoffnung verrückt ist:
weil das Herz es einem befiehlt.
Und ebenso unerbittlich wie Gott den Jeremia
entlässt auch das Herz den Menschen nicht aus seiner Verantwortung.

IV
Die Enttäuschung darüber, dass sich die Pläne und Träume der Jugendzeit nicht verwirklichten,
geht von der irrigen Annahme aus, das Leben sei planbar, und wir hätten es in der Hand.
Redensarten wir die von Brecht zitierten
(Der Tüchtige schafft es, wo ein Wille ist, ist ein Weg,
wir werden den Laden schon schmeißen),
aber auch die Legende des Aufstiegs vom Tellerwäscher zum Millionär,
die Behauptung, jeder sei seines Glückes Schmied,
nähren diesen Irrtum.
Denn immer wieder stößt uns das Leben schmerzhaft mit der Nase auf die Tatsache, 
dass wir unser Leben nicht in der Hand haben – eher hat das Leben uns in der Hand.

Auch Jeremia hat es nicht in der Hand,
seinen Auftrag als Prophet auszuführen
- dazu ist dieser Auftrag einfach zu groß.
Aber er muss es ja auch nicht aus eigener Kraft schaffen:
"du sollst gehen, wohin ich dich sende,
und predigen alles, was ich dir gebiete.
Fürchte dich nicht vor ihnen;
denn ich bin bei dir und will dich erretten".
Gott, der Auftraggeber,
gibt Jeremia auch alles mit, seinen Auftrag auszuführen.
Ja, es ist geradezu die Bedingung,
dass Jeremia noch "náar" ist, noch zu klein.
Denn es soll ja allein durch Gottes Kraft geschehen.

V
Wir sind nicht Jeremia.
Aber auch wir sind, quasi von Mutterleib an, berufen.
Gott hat uns durch die Taufe berufen,
seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu sein.
Wie Jeremia schickt er auch uns aus, in dieser Welt
- "zu gehen, wohin ich dich sende, und predigen alles, was ich dir gebiete."
Und uns nicht zu fürchten.

Wir können nicht alle Propheten und Prediger werden.
Wir können nicht alles stehen und liegen lassen
wie die Jünger Jesu, und nur noch unserem Glauben leben.
Der Weg in die Zurückgezogenheit der Klöster ist ein Weg aus der Welt 
- es ist ein Ausweg, eine Flucht,
aber nicht der Königsweg.
Der Königsweg verläuft mitten durch diese Welt,
mitten durch Überforderung und Irrtümer.
Und mitten durch den Alltag des Berufs- und Familienlebens.

Auch wir sind Berufene.
Von Gott dazu berufen, eine Mutter oder ein Vater zu sein. 
Ein Freund, eine Freundin.
Ein Sohn, eine Tochter.
Eine Liebste oder ein Liebster.
Das ist unser Amt,
und meistens haben wir mehrere Ämter auf einmal.
Das ist nicht leicht, oft genug seufzen wir, wie Jeremia.
Dann sagt uns Gott, dass wir uns nicht fürchten sollen.
Weil er doch bei uns ist.
Weil es nicht unser Vermögen, unsere Kraft und unsere Fähigkeiten sind, 
an denen das Gelingen hängt, sondern allein Gottes.

VI
Und die Träume von damals?
Sie mögen Träume bleiben.
Träume, die wir - vielleicht ein bisschen wehmütig - belächeln.
Auf die wir aber vielleicht auch stolz sind
- stolz, dass wir sie noch immer haben.
Denn das Größte haben wir bereits erreicht:
Wir sind von Gott Berufene!
Von Gott außerordentlich wert geachtet und geliebt.
Und mit seinem Geist beschenkt,
so dass wir uns vor nichts zu fürchten brauchen.
Amen.




[1] Bertolt Brecht, Die Gedichte von Bertolt Brecht in einem Band, Frankfurt (Suhrkamp), 6. Aufl. 1990, S. 1192.
[2] Wolf Biermann, Alle Lieder, Köln (Kiepenheuer & Witsch), 1991, S. 356