Freitag, 23. April 2021

Gott suchen

Predigt für den Sonntag Jubilate, 25. März 2021, über Apostelgeschichte 17,22-34
Gott wollte, dass die Menschen nach ihm suchen -
ob sie ihn vielleicht spüren und entdecken können.
Denn keinem von uns ist er fern.
(Apostelgeschichte 17,27)

Verstecken ist ein beliebtes Kinderspiel – jede und jeder von uns kennt es. Zum Verstecken gehören zwei: Eine, die sich versteckt, und einer, der sucht. Der Sucher ist am wichtigsten – ohne Suche macht das Verstecken keinen Spaß –, aber niemand möchte gerne Sucher sein.
Das erlebte auch der Enkel des Rabbi Baruch, der mit einem Freund Verstecken spielte. Er hatte ein gutes Versteck gefunden und wartete, dass sein Freund ihn suchte. Als er lange gewartet hatte, kam er aus seinem Versteck. Aber der Freund war nirgends zu sehen. Da merkte er, dass der ihn gar nicht gesucht hatte. Darüber musste er weinen und lief weinend zu seinem Großvater. Als der Rabbi den Grund für den Kummer seines Enkels hörte, stiegen ihm Tränen in die Augen, und er rief: So spricht Gott auch: Ich verberge mich, aber keiner will mich suchen.
(Nach: Martin Buber, Die Erzählungen der Chassidim, Zürich, 11. Auflage 1990, 191)

Gott verbirgt sich. Diese Erfahrung hat jede und jeder schon einmal gemacht. Manchmal ist Gott so sehr verborgen, dass man unsicher wird, ob er überhaupt da ist und sich für mich und mein Leben interessiert. Wie es scheint, ist Gott nicht deshalb verborgen, weil er „im Himmel” für uns unsichtbar wäre. Sondern Gott verbirgt sich vor uns, damit wir ihn suchen sollen. Aber warum sollten wir ihn suchen? Wir sind doch getauft, wir gehören zur Gemeinde, wir stehen in einer Beziehung mit Gott – müsste er da nicht immer bei uns sein?

Eine Beziehung entsteht, wenn zwei Menschen sich suchen und finden. Und sie lebt davon, dass man einander immer wieder sucht. Die Partnerin, der Partner ist kein Möbelstück, das immer zur Verfügung steht – er, sie hat die selben Bedürfnisse nach Nähe und Trost, aber auch nach Alleinsein, wie ich, und will immer wieder gesucht und gefunden werden. Auch ich möchte ja spüren, dass ich der oder dem Anderen wichtig bin.
So ist es auch mit unserer Beziehung zu Gott. Manchmal haben wir Gott gesucht, und manchmal hat Gott uns gefunden. Durch die Suche nach Gott entsteht unsere Gottesbeziehung, und durch die Suche bleibt sie lebendig.

Wenn Gott sich verbirgt, ist das also kein Akt der Willkür, keine Strafe, kein Liebesentzug. Wenn Gott sich verbirgt, haben wir aufgehört, Gott zu suchen. Unsere Beziehung zu Gott hat sich verändert. Wir sind innerlich auf Distanz zu ihm gegangen. Vielleicht, weil wir meinen, Gott etwas schuldig zu sein, oder ihm nicht unter die Augen treten zu können, wenn wir nicht so sind, wie Gott uns will. Die Bibel nennt das „Sünde”. Aber sie spricht auch von „Vergebung”: Dass Gott uns annimmt, wie wir sind. Uns unsere Fehler nicht nachträgt, wenn wir sie bereuen. Uns nicht festlegt auf das, was wir waren, sondern neugierig ist auf das, was wir sein können.

Vielleicht gehen wir auch innerlich auf Distanz zu Gott, weil uns Böses widerfährt. Wenn man Kummer hat, wenn man leidet, erwartet man, dass sich jemand um mich kümmert. Gerade dann ist von Gott wenig zu spüren. Gott scheint sehr fern zu sein. In solchen Situationen sieht man gar nicht ein, dass man Gott suchen soll – er soll mich suchen, soll mich trösten. Aber Gott hat uns gar nicht im Stich gelassen, er ist ganz nah. Keiner und keinem von uns ist Gott fern, besonders nicht, wenn wir Schweres ertragen müssen. Aber wenn wir uns wegdrehen, wenn wir die Beziehung zu Gott verweigern, weil wir meinen, Gott habe sich von uns abgewandt, können wir das nicht spüren. Auch und gerade wenn uns Schweres widerfährt, suchen wir Gott – und entdecken, dass er an unserer Seite steht.

Freitag, 16. April 2021

Soll ich meines Bruders Hüter sein?

Predigt am Sonntag Miserikordias Domini, 18. April 2021, über Ezechiel 34,1-16:
Gott spricht: Ich suche meine Schafe und kümmere mich um sie. (Ezechiel 34,11)

Eine beruhigende Zusage: Gott selbst kümmert sich um seine Schafe! Da möchte man gern sein Schäflein sein. Hirte zu sein ist aber eigentlich gar nicht Gottes Aufgabe. Gott springt nur als Hirte ein, weil die eigentlichen Hirten ihrer Aufgabe nicht nachkamen. Sie kümmerten sich nicht um Kranke und Verletzte, sie suchten nicht das verlorene Schaf, sie beschützten die Herde nicht vor wilden Tieren. Und nicht nur das, sie bedienten sich selbst großzügig aus der Herde, schoren und aßen die Schafe, die sie beschützen sollten. Die Hirten haben die ihnen anvertrauten Schäflein nicht behütet. Die Geschichte von Kain und Abel kommt einem in den Sinn. Nachdem Kain seinen Bruder erschlagen hat, fragt Gott: „Wo ist dein Bruder Abel?” Kain antwortet: „Ich weiß nicht; soll ich meines Bruders Hüter sein?” (1.Mose 4,9).

„Soll ich meines Bruder Hüter sein?” Kains Frage ist auch unsere: Was sind wir denn, Schafe - oder Hüter? Wenn man nach einer Antwort auf diese Frage sucht, fällt zunächst auf, dass das Bild vom Hirten zwei Seiten hat: Der Hirte kümmert sich zwar um seine Schafe, verteidigt sie gegen wilde Tiere, sucht Weideplätze, pflegt Kranke – aber nicht als Selbstzweck, sondern weil die Schafe geschoren, verkauft oder geschlachtet werden sollen. Ein Hirte handelt am Ende gegen die Schafe. Da möchte man kein Schaf sein, sondern doch lieber ein*e Hirt*in.

Jesus sagt von sich im Evangelium: „Ich bin der gute Hirte” (Johannes 10,11). Ein guter Hirte ist er, weil er nicht reißaus nimmt, wenn der Wolf kommt, sondern gegen ihn kämpft. Ein guter Hirte ist er vor allem, weil er sogar sein Leben für uns opfert. Darin unterscheidet er sich vom herkömmlichen Hirten, der im Zweifel eher ein Schaf opfert als sich selbst. Er unterscheidet sich auch dadurch, dass nicht am Ende die Schafe geschlachtet werden, sondern dass er sein Leben für die Schafe gibt. Aber auch Jesus hütet uns nicht als Selbstzweck, ohne dass er etwas von uns will. Er will uns nicht verkaufen oder gar schlachten, und er will uns auch nicht an die Wolle. Aber er will, dass wir nach seinem Vorbild handeln und selbst zu Hirtinnen und Hirten werden.

Durch sein Opfer, seinen Tod am Kreuz, ist Jesus unser Hirte geworden. Durch seine Auferstehung hat er uns zu Hirtinnen und Hirten gemacht. Denn nun ist er als Hirte immer bei uns, und nichts kann uns von ihm trennen. Unser Hirte geht ständig an unserer Seite. Darum müssen wir uns um uns selbst keine Sorgen mehr machen, können Hüter*innen unserer Schwestern und Brüder sein. Weil der gute Hirte Jesus für uns da ist, können wir für andere da sein.

„Soll ich meines Bruders Hüter sein?” Eigentlich ist das keine Frage. Gott hat uns zu Hüter*innen unserer Schwestern und Brüder gemacht. Er wurde unser Hirte, damit wir uns nicht mehr um uns selbst kümmern müssen. Keine Angst haben müssen, zu kurz zu kommen, leer auszugehen, verloren zu gehen oder allein zurück zu bleiben. Dadurch haben wir einen großen Freiraum, einen Spielraum gewonnen. Die bösen Hirten, über die Gott im Ezechielbuch sein Donnerwetter hereinbrechen lässt, haben diesen Spielraum allein für sich genutzt. Ihnen waren die Schafe, die keinen Hirten hatten, gleichgültig. Wir können unschwer eine Parallele zu unserer heutigen Zeit ziehen. Sind uns unsere Mitmenschen gleichgültig, oder nehmen wir Anteil an ihrem Schicksal, ihrem Leid – und fühlen wir uns dafür verantwortlich, dass es ihnen besser geht? Wir nehmen Anteil am Tod von Prinz Philipp, am Leben der Stars und der Prominenten – interessiert uns auch das Leben unserer Nachbarin, des Flüchtlings, der Mitmenschen, die sich, wie wir, vor einer Infektion durch das Corona-Virus schützen müssen?

Gott ist unser Hirte. Damit schenkt er uns einen großen Freiraum – wie wir ihn nutzen, ist allein unsere Entscheidung. Aber wir werden der Frage Gottes nicht ausweichen können: Wo ist dein Bruder, wo ist deine Schwester? Was werden wir ihm antworten?

Samstag, 10. April 2021

Ein Picknick am Strand

Predigt für den Sonntag Quasimodogeniti, 11. April 2021, über Johannes 21,1-14

Wie wird man satt? Eine Frage, die wir uns - Gott sei Dank! - nicht stellen müssen. Für manche, die den Zweiten Weltkrieg miterlebten - vor allem für die, die geflohen oder aus ihrer Heimat vertrieben worden sind - war es während der Flucht und in den ersten Jahren nach dem Krieg eine sehr bedrängende Frage.
Wie wird man satt? Diese Frage wird heute noch gestellt. In vielen Teilen der Welt ist sie die drängendste Frage überhaupt. Auch wenn wir uns diese Frage nicht stellen müssen: Wir sind auch hungrig. Wenn der Hunger nach Brot gestillt ist, wenn die grundlegenden Bedürfnisse nach Wärme, Obdach, Sicherheit und Lebensunterhalt erfüllt sind, spürt man den anderen, den Lebenshunger. Er zeigt sich auf unterschiedliche Weise, als Hunger nach Anerkennung, nach Erfolg, nach Respekt, nach Liebe, nach Nähe, nach einem Sinn im Leben. Und er schmerzt ebenso wie der Hunger nach Brot, nur ist er viel schwerer zu stillen.

Jesus, der Auferstandene, dem seine Jünger am See Genezaret begegnen, hat Hunger: „Ihr habt nicht zufällig etwas zu essen?”, fragt er sie. Die Jünger, die ihn nicht erkennen, verneinen. Darum schickt sie Jesus zum Fischen hinaus, und als sie einen wunderbaren Fang tun, wird ihnen bewusst, wer sie da zum Fischen geschickt hat. Mit dem zum Bersten vollen Netz kommen sie zum Strand - und finden ein Feuer vor, auf dem Fische brutzeln und Brot röstet. Jesus war also gar nicht hungrig. Es war nur ein Test, wie bei der Speisung der 5.000, als Jesus seine Jünger fragte: „Wo kaufen wir Brot, damit diese zu Essen haben?” (Johannes 6,5). Und wie damals, geht es auch hier, am Strand, um das Wunder, dass der Lebenshunger gestillt wird.

Der Hunger nach Brot ist schnell gestillt, wenn es nur gelingt, Brot zu beschaffen. Wie man den Lebenshunger stillt - den Hunger nach Liebe, nach Respekt, nach Sinn - kann einem niemand sagen. „Verschaff dir Respekt!”, „Verliebe dich!”, „Such dir eine Aufgabe!” sind Ratschläge, die man dann hören kann. Aber sie helfen nicht. Wie soll man sich verlieben, wenn man nicht die* Richtige* findet oder sich selbst nicht lieben kann? Wie soll man Respekt erfahren, wenn man sich selbst für wertlos hält, oder wenn andere eine* wegen einer Äußerlichkeit wie der Hautfarbe oder der Herkunft ablehnen? Manche Menschen greifen beim Versuch, den Lebenshunger zu stillen, zu verzweifelten Mitteln - zu Alkohol oder Drogen, zu Gewalt gegen sich selbst oder andere. Aber damit stillen sie den Lebenshunger nicht, sie betäuben ihn nur.

Jesus macht einen Test mit seinen Jüngern, um ihnen zu zeigen, worin zukünftig ihre Aufgabe besteht, wenn er nicht mehr da ist: Sie sollen Menschen satt machen. Darum gibt er ihnen erst einmal zu essen, bei einem Picknick am Strand. Der Lebenshunger, der so schwer zu stillen ist: Jesus kann ihn stillen. Er stillt ihn mit seinem Wort, mit dem Brot des Lebens und mit seiner Gegenwart. Aber wie sollen die Jünger den Lebenshunger stillen? Indem sie das Wort weitersagen. Indem sie das Brot des Lebens austeilen. Und indem sie einen Raum schaffen, in dem man Jesus begegnen kann. Dieser Raum ist die Gemeinde. In der Gemeinde erlebt man, wenn es gut geht, dass man willkommen und angenommen ist. In der Gemeinde kann man, wenn es gut geht, erfahren, dass man gebraucht wird; dass man Gaben besitzt und diese auch einsetzen darf. Aber selbst, wenn es nicht gut geht - weil wir alle nur Menschen sind, und weil es in der christlichen Gemeinde nicht weniger „menschelt” als überall sonst auch - begegnet uns doch Jesus, wenn zwei oder drei sich in seinem Namen versammeln. Diese Begegnung ist sozusagen der erste Bissen, der den Lebenshunger stillen kann - wie damals, beim Strandpicknick am See Genezaret.

Samstag, 3. April 2021

Enttäuschung überwinden

Predigt am Ostersonntag, 4. April 2021, über Markus 16,8

Zum zweiten Mal ist das Osterfest still und verhalten. Keine fröhlichen Osterlieder, die den Tod auslachen: „Halleluja-ha-ha”, sondern nur die Musik der Orgel - aber immerhin die Musik der Orgel, und keine erdrückende Stille!

Zu Hause kein voll besetzter Esstisch, kein Treffen der Familie, kein Besuch von Verwandten oder Freunden, nur Telefonate mit Kindern, Patenkindern oder Enkeln, die man schon viel zu lange nicht mehr gesehen hat.

Auch das allererste Ostern war kein Freudenfest. Furcht herrschte da, statt Freude über die Botschaft der Auferstehung. „Die Frauen sagten niemandem etwas, denn sie fürchteten sich”. Wenn es dabei geblieben wäre, würden wir heute kein Ostern feiern. 

Irgendwann fassten sich die Frauen, die am leeren Grab gewesen waren, ein Herz und erzählten die unglaubliche Nachricht weiter: Christus ist auferstanden!

Für die, die es miterlebt hatten, die Christus am Kreuz hatten sterben sehen, eine tatsächlich unglaubliche Botschaft. „Jesus ist tot, wie sollte er noch fliehn?“ Auch deshalb war die Botschaft seiner Auferstehung so unglaublich, weil seine Jünger*innen nicht darauf eingestellt waren. Das hatten sie nicht erwartet. Sie hatten zwar erkannt, dass Jesus der damals schon lange ersehnte Messias war. Sie sahen, dass das Reich Gottes nahe herbeigekommen war, weil Blinde sehen, Lahme wieder gehen konnten und Armen das Evangelium verkündigt wurde. Doch der Tod Jesu am Kreuz stellte all das infrage. Also war er doch nicht der Messias, also war das Reich Gottes doch noch nicht gekommen. Mit dieser Enttäuschung hatten die Jünger*innen am Ostermorgen zu kämpfen, zusammen mit ihrer Trauer über den Tod des Freundes, Lehrers und Vorbildes.

Wir kennen solche Trauer, solche Enttäuschung. Wir erleben sie in diesen Tagen, wo die Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie unser gewohntes Leben zum Stillstand gebracht haben.Wir befinden uns in einem Zustand, der der Grabesruhe gleicht: Noch ist nicht zu sehen, wann es wieder so werden wird wie früher. Für uns ist eigentlich noch gar nicht Ostern.

Als es für die Jünger*innen Ostern wurde, ging es für sie nicht so weiter wie zuvor. Damit es für sie Ostern werden konnte, mussten sie erst einmal erkennen, dass sich etwas, und was sich geändert hatte. Sie mussten im auferstandenen Christus den Jesus, den sie kannten, überhaupt erst wiedererkennen. Sie mussten erkennen, dass er trotzdem der Messias war, obwohl er den Menschen in die Hände gefallen und von ihnen ans Kreuz geschlagen worden war. 

Ja, dass ihn das erst zum Messias, zum Christus, machte, dass er seinen Mund nicht auftat, sich nicht wehrte, sondern litt wie ein Schaf, das zur Schlachtbank geführt wird. Sie mussten erst erkennen, dass dadurch tatsächlich das Reich Gottes angebrochen war, dass einer alles auf sich nahm, was uns von Gott trennt, damit wir Frieden mit Gott hätten und durch seine Wunden geheilt sind. 

Es dauerte, bis die Frauen das erkannten und es den Jüngern erklären konnten. Und es dauerte, bis die Jünger es verstanden hatten und zu Pfingsten die Gute Nachricht aller Welt mitteilten.

Auch für uns wird es heute vielleicht noch nicht Ostern werden. Es wird dauern, bis unsere Illusionen über das Leben, die durch die Pandemie zerstört wurden, wirklich verflogen sind. Bis aus Resignation und Ernüchterung neuer Lebensmut, neue Hoffnung werden. Helfen kann uns dabei die Erkenntnis, dass Jesus so ganz anders war, als seine Jünger*innen dachten. dass er ganz anders ist, als auch wir denken, weil er uns in Hoffnungslosigkeit, in Ohnmacht und Resignation und sogar mitten im Tod mit dem Leben überrascht.

Donnerstag, 1. April 2021

Sich im Kreuz spiegeln

 Predigt am Karfreitag, 2. April 2021, Jesaja 52,13-53,12

„Wir sahen ihn, aber da war keine Gestalt, die uns gefallen hätte.” (Jesaja 53,2)

Kruzifix aus Afrika aus Ebenholz.

An der Wand neben meinem Schreibtisch hängt ein Kruzifix. Ich habe es von meinem Gemeindepastor geerbt. Es stammt aus Afrika, ist aus Ebenholz geschnitzt, und am Kreuz hängt - - - ein Afrikaner. Aber Jesus war doch kein Afrikaner! Nein, er war aber auch kein hellhäutiger Europäer, wie er auf unseren Kruzifixen und den Öldrucken der Jahrhundertwende erscheint. Jesus war wahrscheinlich, nein, er war sicher nicht so, wie wir ihn uns vorstellen. Und es ist noch die Frage, ob wir Jesus gemocht hätten, wenn wir ihm zu Lebzeiten begegnet wären. Ob er uns gefallen, vor allem: ob uns gefallen hätte, was er uns gesagt hätte.

Denn am Karfreitag geht es nicht um Jesus, so unübersehbar das Kreuz, so nahe uns sein Leiden und Sterben gerade heute sind. Am Karfreitag geht es um uns. Und zwar nicht um unsere Betroffenheit von diesem so überaus schmerzvollen und grausamen Sterben, nicht um unser Mitgefühl und Mit-Leiden mit Jesus. Was uns am Karfreitag betrifft und was uns betroffen machen sollte, ist, warum Jesus am Kreuz stirbt: Unseretwegen.

Jesus stirbt am Kreuz, um alles auf sich zu nehmen, was uns von Gott trennt. Er stirbt um unserer Schuld willen. Er stirbt unseren Tod, sofern der Tod eine Strafe ist. Jesus stirbt, damit wir das Leben haben. So, wie sich zu allen Zeiten jemand opferte, um einen anderen aus Lebensgefahr zu retten. Theodor Fontane hat einem solchen Menschen mit dem Gedicht „John Maynard” ein Denkmal gesetzt.

Auch das Kreuz ist ein Denkmal, das uns stets daran erinnert, dass Jesus sich für uns geopfert hat. Es fordert uns auf: Denk mal nach, bevor du handelst! Zwar hat uns Jesus durch sein Opfer einen Neuanfang geschenkt, den wir nicht nur einmal, sondern jederzeit wagen können. Wir dürfen Fehler machen, und trotzdem wird uns vergeben. Wir dürfen sogar den selben Fehler wiederholen, sogar siebzig mal sieben mal, trotzdem vergibt uns Gott. Aber dieses Opfer, das uns den Neuanfang schenkt, hat seinen Preis. Den Preis, dass Jesus sich in unser Leben einmischt. Weil er sich für uns opferte, will er auch wissen, wofür. Ihm gegenüber müssen wir unsere Fehler eingestehen, ihm müssen wir uns stellen. So wird sein Kreuz zu einem Denkmal, das uns immer wieder zum Nachdenken bringt über das, was wir taten. Das ist nicht angenehm. Wer will schon sein Handeln rechtfertigen müssen? Wenn es schon eine Frage ist, ob Jesus uns gefallen hätte, wenn wir ihm begegnet wären: das gefällt uns sicher nicht, dass wir ihm über unser Leben Rede und Antwort stehen müssen!

Aber auch da kennen wir Jesus wahrscheinlich, nein, ganz sicher schlecht. Jesus ist kein gestrenger Richter, der mit kritischem Blick jede unserer Handlungen beurteilt und missbilligt, wenn wir uns auch nur den kleinsten Fehler erlauben. Jesus hat ein so großes und weites Herz, dass nichts, was wir tun könnten, uns von seiner Liebe und Zuneigung trennen kann. Das ist schier unglaublich und nahezu unvollstellbar. Denn wir wissen, wie leicht man andere kränken und verletzen kann – wir wissen, wie leicht wir zu kränken und zu verletzen sind. Und wie unglaublich schwer es uns fällt, eine solche Kränkung oder Verletzung zu verzeihen. Es ist kaum zu glauben, dass es bei Gott anders sein sollte. Es ist kaum zu glauben, dass Jesus derart großherzig sein sollte, über unsere Fehler und Unzulänglichkeiten hinweg auf uns zu sehen und uns zu vergeben, was wir uns oft selbst nicht vergeben können. Wenn es uns aber gelingt, das Unglaubliche zu glauben, verwandelt sich das Kreuz von einem Denkmal unserer Schuld zu einem Spiegel. Einem Spiegel, in dem wir uns als Gottes geliebte Kinder erblicken können. Darum hängt an meinem Kruzifix aus Afrika ein Afrikaner, darum stellen die Kruzifixe in unseren Kirchen Europäer dar: Damit wir uns in ihnen spiegeln und erkennen, dass wir Gottes über alles geliebte Kinder sind. Wir – und alle Menschen.