Samstag, 23. April 2011

Wer sind die Wichtigsten in der Kirche?

Predigt am Ostersonntag, 24. April 2011 über Matthäus 28,1-10:

Als aber der Sabbat vorüber war und der erste Tag der Woche anbrach, kamen Maria von Magdala und die andere Maria, um nach dem Grab zu sehen. Und siehe, es geschah ein großes Erdbeben. Denn der Engel des Herrn kam vom Himmel herab, trat hinzu und wälzte den Stein weg und setzte sich darauf. Seine Gestalt war wie der Blitz und sein Gewand weiß wie der Schnee. Die Wachen aber erschraken aus Furcht vor ihm und wurden, als wären sie tot.
Aber der Engel sprach zu den Frauen: Fürchtet euch nicht! Ich weiß, dass ihr Jesus, den Gekreuzigten, sucht. Er ist nicht hier; er ist auferstanden, wie er gesagt hat. Kommt her und seht die Stätte, wo er gelegen hat; und geht eilends hin und sagt seinen Jüngern, dass er auferstanden ist von den Toten. Und siehe, er wird vor euch hingehen nach Galiläa; dort werdet ihr ihn sehen. Siehe, ich habe es euch gesagt. Und sie gingen eilends weg vom Grab mit Furcht und großer Freude und liefen, um es seinen Jüngern zu verkündigen.
Und siehe, da begegnete ihnen Jesus und sprach: Seid gegrüßt! Und sie traten zu ihm und umfassten seine Füße und fielen vor ihm nieder. Da sprach Jesus zu ihnen: Fürchtet euch nicht! Geht hin und verkündigt es meinen Brüdern, dass sie nach Galiläa gehen: Dort werden sie mich sehen.


Liebe Gemeinde,

wer, würden Sie sagen, sind - abgesehen von Gott Vater, Jesus und dem Heiligen Geist - die Wichtigsten in der Kirche?

Katholiken haben es da einfach: Der nächste nach Gott ist der Papst. Dann kommen die Kardinäle, Erzbischöfe und Bischöfe. Irgendwo in dieser Hierarchie reihen sich noch andere Posten ein: Generalvikare, Äbte und wie die Ämter sonst noch benannt sein mögen.
Die Evangelische Kirche hat da nicht so viel zu bieten: Jede Landeskirche hat ihren Landesbischof, dann gibt es im Hannöverschen noch die Landessuperintendenten, dann kommen die Pröpste, die in Hannover "Superintendent" heißen. Das war's.

Diese wichtigen Posten in der katholischen Kirche haben Männer inne. Das ist nicht weiter verwunderlich, denn Frauen sind zum Priesteramt nicht zugelassen, und das Priestertum ist die Voraussetzung für's Amt.
Aber auch in der Evangelischen Kirche sind die meisten Amtsträger Männer. Auch wenn die Hannoversche Landeskirche mit Margot Käßmann eine Bischöfin hatte und die Mitteldeutsche Kirche jetzt auch von einer Bischöfin geleitet wird; auch wenn vier der dreizehn Braunschweiger Propsteien von Pröpstinnen geleitet werden - Männer sind auf den Leitungsposten auch der Evangelischen Kirche in der Überzahl.

Wer sind die Wichtigsten in der Kirche?
Sind es die Amtsträger, die mit den großen silbernen Kreuzen auf der Brust?
Oder sind es die, die vor Ort ihren Mann - pardon, in aller Regel: ihre Frau stehen? Sind es die zahllosen, namenlosen kirchlichen Mitarbeiterinnen, die ohne Bezahlung - und oft auch ohne Anerkennung und Dank - dafür sorgen, dass der Laden läuft?
Kirche ist ja nicht da, wo Herren in Talaren amtieren.

Kirche ist da, wo eine Gemeinde sich versammelt und gemeinsam Gottesdienst feiert. Und damit eine Gemeinde sich versammeln kann, muss eine Kirche gereinigt, hergerichtet, geschmückt werden. Frauenarbeit. Die wenigsten Gemeinden haben wie wir einen hauptamtlichen Kirchenvogt, der sich verlässlich darum kümmert. In den meisten Gemeinden, auch in unserem Gemeindeteil Gliesmarode, gibt es keine ganzen Stellen für Küster mehr, sondern nur noch ein paar Stunden. Stunden, die von Frauen übernommen werden, die verlässlich - oft über Jahre und Jahrzehnte - dafür sorgen, dass am Sonntag Gottesdienst gefeiert werden kann.

Was hat das mit Ostern, was hat das mit der Auferstehung zu tun?

Bevor ich auf diese Frage antworte, kurz noch eine andere Frage:
Wer hat bei Ihnen die Ostervorbereitungen übernommen?
Wer hat das Haus für die Ostertage geputzt,
wer hat für das leckere Essen heute Mittag eingekauft und es vorbereitet?
Wer hat für Osterschmuck gesorgt, für kleine Überraschungen, für Osterzopf und Osterbrot?
Auch in unseren Familien ist es noch oft so, dass all diese Dinge von Frauen übernommen werden. Frauen halten auch zuhause den Laden am laufen.

So, und jetzt komme ich zur Antwort auf die Frage, was all das mit Auferstehung und Ostern zu tun hat.

Sie haben zwei biblische Texte über das selbe Geschehen, die Auferstehung Jesu, gehört. In der Epistel aus dem 1.Korintherbrief (1.Kor 15,1-11) berichtet Paulus von den Gewährsmännern der Auferstehung: Kephas (ein anderer Name für den Jünger Petrus), die zwölf Jünger, dann 500 Brüder auf einmal, dann Jakobus, alle Apostel auf einmal, und schließlich Paulus selbst. Sie alle haben den Auferstandenen gesehen, sie alle sind Zeugen der Auferstehung. Gewährsmänner - Frauen tauchen da nicht auf.

Aber im Evangelium.
Da ist von zwei Marias die Rede, die nach dem Grab Jesu sehen wollen und einen Engel treffen, der ihnen die Botschaft von der Auferstehung übermittelt. Dann treffen sie sogar Jesus selbst.
Sie sind die ersten, die Jesus gesehen haben.
Warum stehen sie nicht in der Liste des Paulus?
Warum erinnern wir uns nicht an sie als erste Zeuginnen der Auferstehung?
Warum ist aus ihnen in der jungen Kirche nichts geworden - Apostelinnen, Theologinnen wie Paulus, Kirchenleiterinnen wie Petrus, auf den sich das Papsttum zurückführt?

Ich weiß es nicht.
Es gibt nirgendwo eine Erklärung dafür.
Aber die katholische Kirche führt das Fehlen der Frauen in Ämtern der noch jungen Kirche bis heute als Argument dafür an, dass Frauen keine Ämter in der Kirche übernehmen dürfen. Jesus hatte keine Jüngerinnen, also dürfen Frauen auch nicht Priester werden.

Und dann hören wir heute von zwei Frauen, die sich als erste zum Grab trauen; die offensichtlich Jesus so gern hatten, dass sie sein Grab nochmal besuchen, und die deshalb als erste die Botschaft von der Auferstehung hören.
Von einem Engel persönlich.
Und was gibt ihnen der Engel für einen Auftrag? "Geht und sagt seinen Jüngern ..."
Sie sollen Botinnen, auf griechisch: Apostel, der Auferstehung sein.
Und dann treffen sie Jesus persönlich - was für ein Wunder, was für eine Freude! Jesus gibt ihnen den selben Auftrag: "Geht und verkündigt es meinen Brüdern ..."
Auch Jesus macht die beiden Frauen zu Apostelinnen, wie Paulus oder Kephas einer war.

Die Frauen sind hingegangen.
Sie haben ihren Auftrag ausgeführt.
Sonst wären wir heute vielleicht nicht hier.
Sonst gäbe es vielleicht keine christliche Kirche, hätten sie die Botschaft der Auferstehung für sich behalten.
Die Jünger wären dann womöglich traurig zuhause gesessen, während Jesus in Galiläa vergeblich auf sie gewartet hätte ...
Nein, diese Vorstellung geht dann doch zu weit.

Warum halte ich mich als Pfarrer überhaupt so bei den Frauen auf? 
Ich bin ein Mann, mich geht's nichts an und kann mir auch egal sein.

Es ist mir aber nicht gleichgültig.
Weil es ungerecht ist.
Und weil diese Ungerechtigkeit bis heute fortdauert.
Jesus aber ist nicht für eine Kirche gestorben, in der die Frauen die Arbeit tun, und die Männer die Leitungsjobs innehaben.

Jesus ist auferstanden. In diesem Wort "auferstehen" steckt im Deutschen wie im griechischen Original das Wort "aufstehen" - im Griechischen ist es sogar dasselbe. Jeder Morgen ist für uns auch eine kleine Auferstehung, nachdem wir uns in der Nacht der Ohnmacht und Bewusstlosigkeit des Schlafes anvertraut haben. Manchmal wird einem bewusst, dass man sich aus der Hand gibt, wenn man einschläft: Dann, wenn man sich fragt, ob man am nächsten Morgen wieder aufwachen wird.

Auch wer ausrutscht und hinfällt, steht wieder auf.
Das Aufstehen nach einem Fall, der Neuanfang nach dem Ende einer Beziehung, die Vergebung nach einem schweren Fehler, der neue Arbeitsplatz, nachdem man arbeitslos war, ein Neubeginn nach einem Scheitern kann auch als Auferstehung empfunden und erlebt werden.
"Auferstanden aus Ruinen", so begann die Becher-Hymne, die ehemalige Nationalhymne der DDR, deren Text man bald nicht mehr singen durfte, weil im Wort "Auferstehung" auch das Wort "Aufstand" mitschwang, das die Oberen gar nicht gern hörten.

Auferstehung ist nicht nur etwas, das uns nach unserem Tod erwartet. Weil Jesus auferstanden ist und weil uns die Auferstehung erwartet, deshalb können wir auch aus den vielen kleinen Toden im Leben auferstehen - aus dem Schlaf, dem Bruder des Todes. Aus dem Tod einer Beziehung, aus dem toten Winkel, in den wir gestellt wurden oder uns selbst gestellt haben, und aus dem uns niemand erlösen will.

Jesus hat das getan, Menschen aus dem toten Winkel geholt:
indem er sich beim Zöllner Zachäus zum Essen einlud, indem er mit Prostituierten, Kollaborateuren, Kranken oder aus der Gemeinde Ausgeschlossenen sprach und aß und so die zu seinen Freunden machte, die die Gesellschaft seiner Zeit ins Abseits verbannt hatte.
Jesus hat diesen Menschen ermöglicht, wieder aufzustehen, ihr Haupt zu erheben und sich nicht mehr schämen zu müssen. Er hat ihnen Mut gemacht, ihren Platz in der Gemeinde einzunehmen und zu behaupten.

Deshalb ist, wenn wir an die Auferstehung glauben, enorm wichtig, wer bei uns in der Kirche die Arbeit macht und wer bei uns Gemeinden und Kirche leitet - und wie das geschieht.
Wenn wir dabei nach dem Willen Jesu fragen, dann müssen wir uns immer wieder bücken - nicht vor Scham oder ehrfürchtiger Scheu. Sondern um zu denen zu gelangen, die unter uns sind. Denn diese Letzten werden die Ersten sein.
Und weil sie es sein werden, haben sie schon jetzt einen Platz in unserer Mitte verdient.

Für eine Kirche, die an die Auferstehung glaubt und aus der Auferstehung lebt, muss es die größte Sorge sein, dass sie niemanden klein macht, niemanden zurücksetzt, sondern allen die gleichen Rechte und Chancen gibt. Davon sind wir in unserer Kirche noch weit entfernt.

Ostern erinnert uns daran, dass die Auferstehung nicht erst nach dem Tod kommt, sondern das wir schon jetzt aufstehen können.
Aufstehen aus ungerechten Verhältnissen.
Aufstehen aus Schuld und Scham.
Aufstehen aus Irrtum und Niederlage
in ein neues Leben.
Amen.

Freitag, 22. April 2011

fair play

Predigt am Karfreitag, 22. April 2011 über Lukas 23,33-49:

Als sie an den Ort kamen, der Schädelstätte genannt wird, kreuzigten sie ihn und die Verbrecher, den einen zur Rechten, den anderen zur Linken. Und Jesus sprach: Vater, vergib ihnen! Denn sie wissen nicht, was sie tun. Sie aber teilten seine Kleider unter sich und warfen das Los darüber.
Und das Volk stand dabei und sah zu. Und auch die vornehmen Leute spotteten: Andere hat er gerettet, er rette jetzt sich selbst, wenn er doch der Gesalbte Gottes ist, der Auserwählte. Und auch die Soldaten machten sich lustig über ihn; sie traten vor ihn hin, reichten ihm Essig und sagten: Wenn du der König der Juden bist, dann rette dich selbst! Es war auch eine Inschrift über ihm angebracht: Dies ist der König der Juden. Einer aber von den Verbrechern, die am Kreuz hingen, verhöhnte ihn und sagte: Bist du nicht der Gesalbte? Rette dich und uns! Da fuhr ihn der andere an und hielt ihm entgegen: Fürchtest du Gott nicht einmal jetzt, da du vom gleichen Urteil betroffen bist? Wir allerdings sind es zu Recht, denn wir empfangen, was unsere Taten verdienen; dieser aber hat nichts Unrechtes getan. Und er sagte: Jesus, denk an mich, wenn du in dein Reich kommst. Und er sagte zu ihm: Amen, ich sage dir: Heute noch wirst du mit mir im Paradies sein.

Und es war schon um die sechste Stunde, und eine Finsternis kam über das ganze Land bis zur neunten Stunde, und die Sonne verfinsterte sich; und der Vorhang im Tempel riss mitten entzwei. Und Jesus rief mit lauter Stimme: Vater, in deine Hände lege ich meinen Geist. Mit diesen Worten verschied er. Als aber der Hauptmann sah, was da geschah, pries er Gott und sagte: Dieser Mensch war tatsächlich ein Gerechter! Und alle, die sich zu diesem Schauspiel zusammengefunden und gesehen hatten, was da geschah, schlugen sich an die Brust und gingen nach Hause.
Alle aber, die ihn kannten, standen in einiger Entfernung, auch die Frauen, die ihm aus Galiläa gefolgt waren, und sahen alles.


Liebe Gemeinde,

„hilf dir selbst, dann hilft dir Gott!”
Eine Redewendung, die zu den Ratschlägen gehört,
die man Kindern mit auf den Weg gibt.
Sie haben sie vielleicht auch schon mal gehört,
diese Redewendung, oder selbst weitergegeben.

„Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott!”
Diese Aufforderung, nicht auf ein Wunder,
nicht auf göttlichen Beistand zu warten,
sondern die Dinge selbst in die Hand zu nehmen, ist uralt.
Schon die alten Griechen kannten und beherzigten sie.

Bei genauerer Betrachtung ist es ein sehr pragmatischer Ratschlag:
Wer auch sonst sollte einem helfen?
Die Erfahrung lehrt: Mit Wundern,
mit Gottes rettendem Eingriff gar kann man nicht rechnen.
Und auch auf die Mitmenschen ist selten Verlass,
oft nicht einmal auf die eigene Familie.
Am besten fährt, wer sich auf sich selbst verlässt
und seine Angelegenheiten selbst in die Hand nimmt.
Der ist erfolgreich, dem gelingt, was er sich vornimmt,
so dass Außenstehende zu dem Schluss kommen:
Wer sich selbst hilft, der erfährt auch Gottes Beistand
- „hilf dir selbst, dann hilft dir Gott!”

„Hilf dir selbst” oder „rette dich selbst”
- mit dieser Aufforderung lästern die Vornehmen, die Soldaten
und sogar einer der mit ihm Gekreuzigten Jesus.
Sie lästern ihn, weil sie nicht glauben, ja, weil sie davon überzeugt sind,
dass er keine andere Macht und Fähigkeit hat als jeder andere Mensch auch.
So hängt er am Kreuz, machtlos,
jeder Möglichkeit des Schutzes und der Gegenwehr beraubt.
An Händen und Füßen angenagelt
- diese Art zu sterben ist nicht nur wegen der bestialischen Schmerzen grausam,
sondern auch, weil sie den Menschen völlig preis gibt.
An Händen und Füßen fixiert, kann sich ein Mensch nicht mehr wehren
und sich nicht einmal mehr schützen.

Wenn etwas auf uns zugeflogen kommt
- eine Hand, ein Stein, oder auch nur ein Zweig -
reißen wir reflexartig den Arm zur Abwehr nach oben.
Jesus kann nicht einmal eine Fliege vertreiben
und auch sein Gesicht nicht mehr mit den Händen bedecken.
Er ist völlig preisgegeben dem Schmerz, dem Spott
und den schamlosen, neugierigen Blicken.

„Bist du der Christus, dann rette dich und uns”,
so lästert ihn einer der Schächer am Kreuz.
Sein Lästern ist wohlfeil, wie das der Soldaten und der Vornehmen der Stadt,
weil er ganz genau weiß, dass Jesus sich nicht wehren kann.
Und deshalb ist völlig klar, dass er nicht der Christus
und auch nicht der König der Juden ist.
Denn der Christus, ein König, wäre niemals in diese schmähliche Lage gekommen.
Und selbst wenn - aus welchem unerfindlichen Grund auch immer
- er sich ans Kreuz hätte schlagen lassen:
Es wäre ihm ein Leichtes, sich zu retten.

Denn was Könige und Obere auszeichnet, ist:
sie denken zuerst an sich - und sorgen zuerst für sich.
Sonst wären sie ja nicht da, wo sie jetzt stehen.
Ohne Ellenbogen, ohne Rücksichtslosigkeit,
ohne ein hohes Maß an Egoismus wären sie nicht dort oben angekommen.
Ein König findet immer einen Ausweg.
Und wenn alle anderen zugrunde gehen - er bleibt obenauf.
Das war schon immer so, und das wird auch so bleiben.

Jesus ist auch oben angekommen.
Aber sein Oben ist ein ganz Unten.
Dem Gespött, dem Schmerz, dem qualvollen Tod preisgegeben
hängt er am Kreuz.
Er ist ganz offenbar gescheitert,
dieser Weltverbesserer, dieser Träumer, dieser Idealist:
„Andere hat er gerettet, er rette jetzt sich selbst,
wenn er doch der Gesalbte Gottes ist”
,
lästern die Führungskräfte, die Entscheidungsträger, die Macher.
Und fühlen sich damit zugleich in ihrer Überzeugung bestätigt,
die sie dahin gebracht hat,
wo sie jetzt stehen:
Wer an andere denkt und nicht an sich, der verliert.
Und das war auch immer schon so.

Es war immer schon so, dass jemand,
der mit offenen Karten spielt, verliert,
weil seine Mitspieler es nicht tun.
Sie halten ihr Blatt schön bedeckt
und stechen ihn bei nächster Gelegenheit gnadenlos aus.

Es war immer schon so, dass jemand für’s Fair Play gelobt wird,
aber insgeheim belächelt: Er wird nichts gewinnen,
weil alle anderen ihre Verbindungen und Netzwerke,
ihr Vitamin B, ihre Kenntnisse der Schlupflöcher und Sonderwege ausnutzen,
um ihr Ziel, ihren Vorteil zu erreichen.

Es war immer schon so, dass Fähigkeiten und Gaben,
Wissen und Erfahrung, die jemand anderen zur Verfügung stellt,
gern angenommen werden
- um mit dieser Hilfe an ihm vorbeizuziehen
und sich seinen eigenen Vorteil zu sichern.

Es war immer schon so - und ist so selbstverständlich,
dass wir von Politikern und Führungspersönlichkeiten
gar nichts anderes mehr erwarten
- ja, geradezu erstaunt sind, wenn jemand anders handelt,
auf andere, faire Weise an sein Amt, an die Macht gekommen ist.

Jesus hat Anderes verkörpert und gelebt:
Wahrhaftigkeit. Gerechtigkeit. Fairness. Hilfsbereitschaft.

Er wollte, dass die Menschen an das Glück glauben,
das darin liegt, sich zu verschenken
- nicht an den Besitz.
Dass sie an die Größe glauben,
die darin liegt, bei der Wahrheit zu bleiben
- nicht an Macht und Ruhm.
Er wollte, dass sie an die Macht glauben,
die im Verzicht auf Gewalt und Gegenwehr,
im Verzicht auf die Anwendung von Vorteil und Stärke liegt
- und nicht die Interessen mit allen Mitteln und um jeden Preis durchsetzen.
Jesus wollte, dass die Menschen an die Liebe glauben.
Und die Menschen?

Sie haben sich gern von ihm helfen und heilen lassen.
Haben ihm zugejubelt, als er in Jerusalem einzog.
Aber als sie merkten, wie einfach es war,
ihn zu überwinden, ihn zu quälen und zu töten, da taten sie auch das.
Er wehrte sich nicht einmal.

Und mit Christus am Kreuz starb auch
der Glaube an das Gute im Menschen,
starb die Hoffnung dass der Mensch mehr und größeres wollen könnte
als den eigenen Vorteil,
starb die Liebe, die Menschen dazu bewegt,
über den eigenen Schatten zu springen,
einen Schritt auf den Mitmenschen zuzugehen,
von sich selbst abzusehen.

Aber Jesus blieb sich treu bis zuletzt.
Er bat für die, die ihm die tödlichen Qualen bereiteten, um Vergebung.
Und er versprach dem Schächer, der ihn darum bat, an ihn zu denken
- und der der einzige war, der an ihn glaubte -:
„Heute noch wirst du mit mir im Paradies sein.”

Und am Ende ist es ein nichtgläubiger Hauptmann, ein römischer Zenturio,
der erkennt und versteht, um was es Jesus ging,
und wofür er mit seinem Leben einstand:
„Dieser Mensch war tatsächlich ein Gerechter!”

Ein Gerechter sein, ein guter Mensch:
Das war es, was Jesus sein wollte,
neben der Tatsache, dass er Gottes Sohn war
- aber das konnte der Zenturio nicht wissen und nicht erkennen.
Dass Jesus Gottes Sohn ist, erkennt man nur im Glauben.

Dass Jesus ein Gerechter, ein guter Mensch war,
das zu erkennen brauchte es keinen Glauben,
das konnte auch ein römischer Zenturio sehen.
Denn das ist es, was in jeder und jedem von uns schlummert.
Jeder Mensch hat das Potenzial dazu, ein gerechter und guter Mensch zu sein.
Dabei geht es nicht in erster Linie um Moral
- ein guter Mensch ist nicht automatisch einer,
der sich immer und überall gut benimmt.

Sondern der ist ein guter Mensch,
der im entscheidenden Moment das Rechte tut.
Der, wenn er sich an den Schätzen der Erde bedient,
darauf achtet, dass der ärmere Mitmensch genauso viel bekommt wie er.
Der seine Überlegenheit, sein Wissen, sein Können nicht ausnutzt,
um andere zu übervorteilen und sich mehr zu verschaffen, als ihm zusteht.
Der fair spielt - und das heißt:
Dem anderen eine faire Chance gibt
und ihm nicht einfach davonrennt, weil er nun einmal schneller rennen kann.

Schon als Kinder haben wir gelernt,
dass zu einem guten Spiel gehört,
dass alle mitspielen,
dass jeder mitspielen darf
und alle sich an die Spielregeln halten.
Wie schnell wir, wenn wir erst einmal Erwachsen geworden sind,
vergessen, was doch jedes Kind weiß!

Die Spiele der Großen, die funktionieren nicht nach diesen Regeln.
Die machen niemandem Spaß - außer den Gewinnern.
Bei denen darf auch nicht jeder mitspielen,
und es haben auch nicht alle die gleichen Chancen.

Jesus war davon überzeugt: Wenn einer sich an die Regeln hält und fair spielt,
wenn einer gerecht ist und gut, dann verändert er die Welt.
Für diese Überzeugung ist er auf brutale und grausame Weise gestorben.
Und hat gerade durch seinen schrecklichen Tod
den Glauben an Gerechtigkeit und Güte tief in unsere Herzen eingepflanzt.
„Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist” - wir wissen es genau.
Aber weil wir nicht verlieren, weil wir nicht als Dumme da stehen wollen,
darum halten wir uns nicht an die Regeln,
sondern gehen den Weg der Gier, der Ellenbogen, des Eigennutzes,
den jeder geht.

Jesus hat uns mit seinem Tod am Kreuz die Angst vor dem Verlieren genommen.
Auch wenn die Alltagswelt um uns herum,
die Welt der Wirtschaft und der Politik,
nach anderen Regeln funktioniert als die, die er gelehrt hat
und die jedes Kind beherrscht:
Nach seinen Regeln sollen wir leben und handeln.
Seine Regeln fragen nicht zuerst nach dem, was gut für uns,
sondern nach dem, was gut für alle ist
und was das Gute und die Gerechtigkeit fördert.
Was das ist und wie das geht, weiß jedes Kind.
Darauf zu vertrauen und uns daran zu halten, müssen wir erst mühsam lernen.

Wenn wir es wagen und versuchen, ist Jesus nicht umsonst gestorben.
Amen.

Sonntag, 17. April 2011

konservieren

Predigt am 6. Sonntag der Passionszeit, Palmarum, 17. April 2011 über Markus 14,3-9:

Jesus war in Betanien im Hause Simons des Aussätzigen und saß zu Tisch, da kam eine Frau, die hatte ein Glas mit unverfälschtem und kostbarem Nardenöl, und sie zerbrach das Glas und goss es auf sein Haupt. Da wurden einige unwillig und sprachen untereinander: Was soll diese Vergeudung des Salböls? Man hätte dieses Öl für mehr als dreihundert Silbergroschen verkaufen können und das Geld den Armen geben. Und sie fuhren sie an.
Jesus aber sprach: Lasst sie in Frieden! Was betrübt ihr sie? Sie hat ein gutes Werk an mir getan. Denn ihr habt allezeit Arme bei euch, und wenn ihr wollt, könnt ihr ihnen Gutes tun; mich aber habt ihr nicht allezeit. Sie hat getan, was sie konnte; sie hat meinen Leib im Voraus gesalbt für mein Begräbnis. Wahrlich, ich sage euch: Wo das Evangelium gepredigt wird in aller Welt, da wird man auch das sagen zu ihrem Gedächtnis, was sie jetzt getan hat.


Liebe Gemeinde,

I
essen Sie gern Konserven?
Wobei, heute müsste man wohl fragen: Essen Sie gern Tiefkühlkost? Die Konservenfabriken, die Braunschweig bekannt gemacht haben und vielen Menschen Arbeit „in der Konserve” gaben, sind längst geschlossen. Nur die „Brunsviga” erinnert noch an alte, längst vergangene Zeiten.

Die Konserve, mehr noch als heute die Tiefkühlkost, steht für Dauer, für Haltbarkeit.
Viele wagemutige Expeditionen wären ohne Konserven nicht denkbar gewesen, und auch die Astronauten kommen nicht ohne sie aus - auch wenn sie keine Blechdosen mit ins All nehmen.

Die Konserve steht für Dauer, deshalb hat man immer ein paar Dosen Erbsen und Möhren, ein paar Gläser Rotkohl und Sauerkraut auf Vorrat, ein paar Pizzen und Fischstäbchen im Gefrierfach. Im Notfall, oder wenn man keine Zeit oder keine Lust zum Kochen hat, wärmt man eben schnell eine Konserve auf.

Aber wirklich lecker ist das nicht. An ein selbst gemachtes Essen mit frischen Zutaten reicht die Konserve nicht heran.
Mit zum ersten, was Astronauten nach ihrer Landung tun, gehört der Biss in einen Apfel.

Und trotzdem konservieren wir gern, um nicht zu sagen: zwanghaft. Wer einen Garten hat, kocht ein - grüne Bohnen, Birnen, Süß- und Sauerkirschen; kocht Marmelade. Friert Himbeeren ein. Warum macht man sich eigentlich die viele Arbeit, wenn es die Sachen so günstig im Supermarkt zu kaufen gibt?
Neben dem Selbstgemachten, das ich so würzen kann, wie es mir am besten schmeckt, und von dem ich weiß, was drin ist, liegt der Reiz des Konservierens auch am Festhalten. Ein Festhalten dessen, was man an Arbeit in seinen Garten gesteckt hat.
Ein Festhalten auch der Sonne, des Duftes, der Schönheit der Früchte, des Genusses, den der Aufenthalt im Garten bereitet hat. All das möchte man konservieren, und wenn man so ein Glas Selbstgemachtes öffnet, ist die Erinnerung an den Sommer für einen Moment wieder da.

Wir konservieren gern, manchmal fast zwanghaft. Nicht nur Obst und Gemüse: Wir möchten auch die schönen Momente unseres Lebens, die flüchtigen Augenblicke festhalten. Keine Taufe, kein Geburtstag, keine Hochzeit, an der nicht fotografiert und gefilmt wird. Warum?

II
Von einem flüchtigen Augenblick im wahrsten Sinne des Wortes erzählt das Evangelium des heutigen Sonntags.
Die namenlose Frau in Bethanien zerbricht ein Glas Parfum und gießt es Jesus über die Haare. Sie produziert eine Duftwolke, eine Duftexplosion geradezu, die eine kurze Zeit anhält und dann verfliegt. Eine dramatische Inszenierung, dieses Zerbrechen des Flacons, das Ausgießen des duftenden Parfums. Eine Performance, würde man heute sagen. Diese Frau will mit ihrer Handlung etwas zum Ausdruck bringen, das man mit Worten nicht ausdrücken kann. Es besteht ein Zusammenhang zwischen ihrer Namenlosigkeit und ihrer stummen Inszenierung.

Die Zeugen dieses Geschehens aber, sicherlich Menschen, die Jesus gut kannten, die sich auskannten und wussten, wer er war und wofür er stand, die kritisieren ihre Tat: Was für eine Verschwendung!
Ein Flacon mit 30 ml des berühmten Parfums Chanel No. 5 kostet 245,- Euro. 30 ml - das ist aber ziemlich mickrig. Ein Wasserglas voll sollte es schon sein. Das wären 150 ml, 1.225,- Euro wert. Was für ein Duft, wenn ein Glas voll Parfum ausgegossen würde!
Eine schöne Summe Geldes aber auch, mit der man Menschen helfen könnte.

Das Geld, diese 300 Silbergroschen - damals waren das 10 Monatsgehälter -, ist sozusagen die Konserve. Man kann damit über einen langen Zeitraum Menschen Gutes tun. Die namenlose Frau aber verpulvert alles auf ein Mal, für einen dramatischen Moment, der vefliegt wie der Duft, und von dem niemand etwas hat.

Jesus aber verteidigt ihr Tun, verteidigt diesen verschwenderische Moment. Auch er ist nur für einen Augenblick da: „Arme habt ihr allezeit bei euch, mich aber habt ihr nicht allezeit.”
Der einmalige, flüchtige Augenblick und das Dasein Jesu haben etwas gemeinsam.

III
Alle Kunst hat ein Problem: Sie ist wahnsinnig teuer - und es kommt nichts dabei heraus.
Wenn ich aber die schönen Beeren einkoche oder daraus Marmelade koche, habe ich doppelte Freude: Einmal, wenn sie am Strauch wachsen und reifen, rot in der Sonne glänzen und duften. Und dann, wenn ich das Glas öffne und die Marmelade genieße.

Eine Theateraufführung, ein Konzert, ein Besuch in der Galerie sind schnell vorbei.
Wie viel Geld haben sie verschlungen! Wie viel Arbeit steckt z.B. in einer Operninszenierung! Ein ganzes Heer von Musikern, Sängerinnen und Sängern, Masken- und Bühnenbildnern, Licht- und Tontechnikern arbeitet und probt wochen- und monatelang für die zwei Stunden der Premiere. Es ist eigentlich genau so wie das Zerbechen des Parfumflacons: Für einen schwelgerischen, verschwenderischen Moment wird ein Vermögen ausgegeben.

Und was nimmt man als Zuschauer davon mit? Ein Programm, das man sich für 2,- Euro kaufen musste. Die Eintrittskarte als Erinnerung. Weiter bleibt --- nichts?

Nein, weiter bleibt nichts. Jedenfalls nichts, was man wiegen oder messen, was man in ein Album kleben oder ablegen könnte.
Aber wenn wir Menschen auch schon seit der Steinzeit Sammler und Jäger sind - wir sind, was wir sind, nicht durch das, was wir gesammelt und erbeutet haben. Was wir sind, lässt sich nicht konservieren.

IV
Ein Theaterstück, ein Konzert, ein Bild hat uns, wenn es gut ging, berührt, bewegt, traurig oder fröhlich gemacht. Dabei ist über das, was man mit Worten sagen kann, hinaus etwas mit uns geschehen, das wir im ersten Moment gar nicht begreifen. Es hat sich etwas bewegt in uns, etwas ist anders geworden, als es vorher war. Vielleicht nur so viel, wie das Licht im Zimmer anders wird, wenn die Wolken vor die Sonne ziehen, wie sich die Schatten im Tagesverlauf ändern. Und doch ist etwas anders geworden. Wir haben es nicht gewollt, und wir haben es nicht gemacht. Es ist geschehen, einfach so, weil uns etwas berührte. Wir wissen nicht, ist das gut, ist das schlecht. Wir fragen auch nicht danach. Es ist einfach so. Punkt.

So ist es auch mit dem Glauben. Dass Jesus uns einleuchtet, dass er für uns da ist, dass er bei uns ist so, wie die Armen alle Tage bei uns sind (wir sehen sie nur nicht, oder wollen sie nicht sehen): Das können wir nicht machen. Das können wir nicht logisch ableiten, das kann uns niemand erklären. Das können wir nicht lernen, in der Schule nicht, und nicht im Konfirmandenunterricht. Es geschieht, einfach so. Punkt.
Es geschieht in einem Moment wie dem, in dem eine namenlose Frau einen Flacon mit kostbarem Parfum zerbricht. Es geschieht z.B. beim Abendmahl. Im besonderen Licht, in der besonderen Stille eines Kirchraums. Beim Hören der h-Moll-Messe. Aber auch beim Singen eines Liedes aus dem Gesangbuch, einer Musik. Im Satz einer Predigt, in einer Zeile eines Gebetes, einem Wort aus der Bibel.

V
„Wo das Evangelium gepredigt wird in aller Welt,
da wird man auch das sagen zu ihrem Gedächtnis,
was sie jetzt getan hat.”

Die namenlose Frau ist berühmt. Bekannter als John Lennon, Justin Bieber, Abba, Angela Merkel oder Heidi Klum. Millionen, nein: Milliarden Menschen kennen oder kannten sie, von der niemand weiß, wer sie war, wie sie hieß, wie sie ausgesehen hat.
Milliarden Menschen kennen sie, weil der Heilige Geist milliardenfach sein Parfum über unser Haupt ausgegossen hat, und uns für einen winzigen Moment, einen Augenblick nur, den Duft der Auferstehung hat riechen lassen.
Seitdem wollen wir ihn immer wieder riechen, diesen Duft.
Seitdem ist uns der Moment heilig: Der Moment, der unser Leben verändern kann.

Wir können nichts festhalten im Leben - eine Binsenweisheit. Und dennoch konservieren wir auf Schritt und Tritt, klammern uns an Dinge, die wir wie Treibgut aus dem Strom der Zeit fischen, weil sie uns Halt versprechen. Statt den Moment zu genießen, wollen wir ihn festhalten - und wundern uns beim Betrachten der Fotos, beim Ansehen der Filme, dass es so banal war, so schlicht, so wenig aufregend und bewegend. Bilder, CDs und DVDs können nicht ersetzen, was wir erleben.
Statt uns bewegen, an- oder aufregen zu lassen, waren wir zu beschäftigt, zu sammeln und zu jagen.

Es erfordert ein bisschen Mut, sich auf den Moment einzulassen. Denn wer weiß, was da mit mir geschieht. Wer weiß, wie und wohin Gottes Geist mich bewegt - vielleicht will ich da gar nicht hin?
Und doch liegt alle Schönheit, alles Glück, aller Sinn in diesem Moment beschlossen.
Man kann sie nicht konservieren, die Schönheit, das Glück, den Sinn.
Man muss sie erleben, jetzt.
Um Hoffnung zu haben, um glauben zu können, muss man ihn immer wieder in die Nase bekommen, diesen unvergleichlichen Duft:
Den Duft der Auferstehung.

Amen.

Freitag, 8. April 2011

wenn der Vater mit dem Sohne

Predigt am Sonntag Judika, 10. April 2011 über 1.Mose 22,1-13:

Nach diesen Begebenheiten stellte Gott Abraham auf die Probe. Er sprach zu ihm: Abraham! Er sprach: Hier bin ich. Und er sprach: Nimm deinen Sohn, deinen Einzigen, den du lieb hast, Isaak, und geh in das Land Morija und bring ihn dort als Brandopfer dar auf einem der Berge, den ich dir nennen werde. Am andern Morgen früh sattelte Abraham seinen Esel und nahm mit sich seine beiden Knechte und seinen Sohn Isaak. Er spaltete Holz für das Brandopfer, machte sich auf und ging an die Stätte, die Gott ihm genannt hatte. Am dritten Tag blickte Abraham auf und sah die Stätte von ferne. Da sprach Abraham zu seinen Knechten: Bleibt ihr hier mit dem Esel, ich aber und der Knabe, wir wollen dorthin gehen, und wenn wir angebetet haben, wollen wir zu euch zurückkommen. Dann nahm Abraham das Holz für das Brandopfer und lud es seinem Sohn Isaak auf. Er selbst nahm das Feuer und das Messer in die Hand. So gingen die beiden miteinander. Da sprach Isaak zu seinem Vater Abraham: Vater! Er sprach: Hier bin ich, mein Sohn. Er sprach: Sieh, hier ist das Feuer und das Holz. Wo aber ist das Lamm für das Brandopfer? Abraham sprach: Gott selbst wird sich das Lamm für das Brandopfer ausersehen, mein Sohn. So gingen die beiden miteinander. Und sie kamen an die Stätte, die Gott ihm genannt hatte, und Abraham baute dort den Altar und schichtete das Holz auf. Dann fesselte er seinen Sohn Isaak und legte ihn auf den Altar, oben auf das Holz. Und Abraham streckte seine Hand aus und ergriff das Messer, um seinen Sohn zu schlachten. Da rief ihm der Bote des Herrn vom Himmel her zu und sprach: Abraham, Abraham! Er sprach: Hier bin ich. Er sprach: Strecke deine Hand nicht aus gegen den Knaben und tu ihm nichts, denn nun weiss ich, dass du gottesfürchtig bist, da du mir deinen Sohn, deinen Einzigen, nicht vorenthalten hast. Und Abraham blickte auf und sah hin, sieh, ein Widder hatte sich hinter ihm mit seinen Hörnern im Gestrüpp verfangen. Da ging Abraham hin, nahm den Widder und brachte ihn als Brandopfer dar an Stelle seines Sohns.


Liebe Gemeinde,

Vater und Sohn - ein besonderes Gespann, auf einem gemeinsamen Ausflug zumal.
Der Traum wohl eines jeden Sohnes ist es, einmal mit seinem Vater allein loszuziehen, eine Reise zu machen, ein Abenteuer und diese besondere Gemeinschaft zu erleben, wie sie nur Väter mit ihren Söhnen teilen - und Mütter mit ihren Töchtern. Filme und Geschichten nähren diesen Traum: "Wenn der Vater mit dem Sohne" - ein Film mit Heinz Rühmann.
"Feuerschuh und Windsandale" oder "Als Vaters Bart noch rot war" sind solche Vater-Sohn-Geschichten, die Väter und Söhne zum Träumen bringen.

Auch der heutige Predigttext handelt vom Ausflug eines Vaters mit seinem Sohn.
Aber aus dem Traum von besonderer Zweisamkeit zwischen Vater und Sohn wird ein Alptraum: Der Versuch des Vaters, seinen einzigen Sohn umzubringen.

Wie ist es dazu gekommen?
Wie konnte es überhaupt so weit kommen, dass die vertrauensvolle Nähe von Vater und Sohn in das blanke Entsetzen umschlug?

I
Es ist schwer, die Geschichte von der Opferung Isaaks wirklich an sich heranzulassen.
Zu extrem ist, was da vor sich geht.
In heutiger Zeit würde ein Vater, der seinen Sohn umzubringen versucht,
weil er eine Stimme gehört hat, die ihm den Auftrag dazu gab,
in eine geschlossene Anstalt gesperrt und medikamentös behandelt werden,
um seine Familie und die Öffentlichkeit vor ihm zu schützen.
Man hat davon gehört oder gelesen.
Es ist vorgekommen, dass Väter ihre Söhne getötet haben, aus welchen Motiven auch immer.
Aber man bucht das unter "Einzelfall", unter "Horrorgeschichte" ab.
Normal ist das nicht, und mit unserem Alltag hat es nichts zu tun.
Und so gerät auch die Geschichte von der Opferung Isaaks
auf den Speicher der "alten Geschichten",
die man hin und wieder mit einem gewissen Grusel zur Kenntnis nimmt,
die aber uns Heutigen nichts mehr zu sagen haben.

Doch die Bibel ist Gottes Wort, das uns anredet
nicht nur in den Sprüchen und Texten, die uns gefallen,
die wir uns aussuchen und für passend und zeitgemäß halten.
Möglicherweise gehen wir Geschichten wie der heutigen aus dem Wege,
weil wir instinktiv fühlen, dass sie Schrecken bereithält,
denen wir uns nicht aussetzen, und Fragen stellt, denen wir uns nicht stellen wollen.
Ich möchte Sie heute bitten, sich diesen Schrecken und diesen Fragen: dieser Geschichte zu stellen, weil ich glaube, nein: weil ich davon überzeugt bin, dass wir den Schrecken begegnen müssen,
um nicht von ihnen überwunden zu werden, wenn sie uns unverhofft treffen.
"Erschrick nicht vor ihnen, damit ich dich nicht vor ihnen erschrecke", mahnt Gott Jeremia (Jeremia 1,17).
Mit dieser väterlichen Mahnung Gottes sind wir wieder bei unserer Geschichte.

II
Ein Vater und ein Sohn.
Nicht irgendein Vater, und nicht irgendein Sohn.
Abraham, der Vater des Glaubens.
Verehrt von Juden, Muslimen und Christen gleichermaßen,
und von allen dreien als Glaubensvater angesehen.
Und Isaak, Sohn der Verheißung:
"Siehst du die Sterne am Himmel?" fragt Gott Abraham.
"So zahlreich sollen deine Nachkommen sein" (1.Mose 15,5).
Danach wird Sara und Abraham ein Sohn geschenkt,
als sie längst jede Hoffnung auf ein Kind aufgegeben hatten;
als es lächerlich erschien, dass sie noch ein Kind würden haben können.
Daher heißt er auch Isaak, auf hebräisch Jizchak, Gelächter.
Diese Hoffnung soll, kaum hat sie Gestalt gewonnen,
auf dem Berg Morija schon wieder zunichte werden.
Ein anderer Jizchak kommt einem da in den Sinn,
Jizchak Rabin, der israelische Ministerpräsident,
der die Hoffnung auf einen Frieden zwischen Israelis und Palästinensern verkörperte
und der ermodet wurde, bevor die Hoffnung richtig Gestalt annehmen konnte.

In dieser Geschichte, die wie einer der Träume von Vätern und Söhnen anfängt,
geht es um die Zerstörung von Träumen.
Um den Alptraum, der wir Menschen auch sein können, einer für den anderen.
Es geht um Väter und Mütter, die sich durch Alkohol oder Drogen
bis zur Unkenntlichkeit verändern.
Die Kochlöffel oder Kleiderbügel auf dem Rücken ihrer Kinder zerdreschen.
Die Kleinkinder schütteln, bis sie sterben, ihnen nichts mehr zu essen geben.
Oder sie erniedrigen, sie mit Schweigen oder Nichtachtung strafen,
mit kleinen Sticheleien und perfiden Bemerkungen quälen.

Und es geht nicht nur um die grausigen Extreme:
Es geht um den Alptraum, den auch wir in uns tragen, jede und jeder von uns.
Um die Hand, die uns ausrutscht,
um die Hassgefühle, die wir manchmal empfinden,
um unsere Fähigkeit und latente Bereitschaft, einem anderen Gewalt anzutun,
körperliche oder seelische, selbst unserem eigenen Kind.
Wir alle tragen sie in uns, die Gewalt. Manchmal bricht sie aus uns heraus.

III
Die Ausbrüche der Gewalt, des Hasses oder der Wut kommen plötzlich über einen Menschen.
Ehe man sich's versieht, ist das schlimme Wort aus dem Mund, ist die Hand ausgerutscht.
Man hat das nicht gewollt.
Hinterher tut es einem leid, möchte man es am liebsten ungeschehen machen.

Aber bei unserer Geschichte ist nicht die Rede von einer Handlung im Affekt.
Gott stellt Abraham auf die Probe, heißt es am Anfang der Geschichte.
Er befiehlt ihm, seinen Sohn zu töten.
Wenn wir davon ausgehen, dass Abraham nicht psychisch krank war,
kommen wir nicht darum herum, dass Gott selbst der Vaters des Gedankens war.
Gott, den wir als "Vater" anreden, den wir uns als "lieben Gott" denken,
Gott spielt mit einem Menschen und mit einem Menschenleben.

Das ist eine ganz schreckliche, unerträgliche Vorstellung.
Das kann Gott nicht tun.
Deshalb springen Verteidiger des Glaubens sofort für Gott in die Bresche
und erklären, warum das alles einen höheren und guten Sinn hat.
Sie meinen, Gott gegen Missverständnisse verteidigen zu müssen
- - - der sie doch nicht darum gebeten hat.
In unserer Geschichte aber ist eines ganz klar:
Es ist Gott, der Abraham auf die Probe stellt.

Ist das wirklich ein so undenkbarer Gedanke:
dass eine höhere Macht Menschen dazu zwingt, etwas Unmenschliches zu tun?
Es ist noch gar nicht so lange her,
da haben unsere Großväter oder deren Nachbarn, haben Lehrer und Polizisten,
Soldaten und Postboten und auch Pastoren Menschen zu "Untermenschen" erklärt,
nur weil sie Juden waren.
Wurden Menschen gezwungen, auf Knien mit Zahnbürsten den Gehweg zu schrubben;
man durfte ihnen ungestraft jede Gemeinheit antun, sie demütigen und verächtlich machen.
Man durfte sie sogar ungestraft töten, foltern, quälen
- vom gerade geborenen Kind bis zum uralten Greis.
Man durfte - man "musste" das tun, weil der "Führer" es wollte,
weil eine höhere Macht es geboten hatte,
weil es um etwas "Höheres" und "Größeres" ging, um das "Blut", die "Rasse" ...

Wir alle haben Bilder des Grauens gesehen, das man dem jüdischen Volk angetan hat.
Sie tun weh, diese Bilder, sie sind schrecklich, man will das nicht sehen.
Man will nicht wissen, wozu Menschen fähig waren,
Menschen wie Sie und ich, unbescholtene, brave, friedfertige Bürger und Bürgerinnen.
Man will es nicht wissen, weil es nicht vorbei ist.
Es ist nie vorbei.
Menschen sind immer und jederzeit dazu fähig,
anderen Menschen alles nur erdenkliche Schreckliche anzutun.
Man muss nur die Nachrichten anschalten oder die Zeitung lesen,
um es täglich aufs Neue bestätigt zu bekommen.
Und wer weiß, vielleicht wären auch wir in anderen Verhältnissen, unter anderen Umständen
dazu fähig und bereit ...

IV
"Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn".
Der, der zu seiner Schöpfung und zu den Menschen, die er gemacht hatte, sagte:
„Siehe, es war sehr gut!“,
der liefert seinen einzigen, geliebten Sohn Jesus, seinen Jehoschua, den Menschen aus,
die ihn ans Kreuz nageln.
Auch das ist Gottes Wille, und es ist kein Spiel, das im letzten Moment abgebrochen wird,
sondern blutiger Ernst bis zum bitteren Ende.

Und auch hier springen die Verteidiger des Glaubens wieder Gott bei, um zu erklären,
Cur Deus homo, warum es gut und nötig und richtig war,
dass Gott seinen Sohn ans Kreuz nageln und dort sterben ließ;
um den höheren Sinn, das große Ganze aufzuzeigen;
um womöglich noch aus der schwärzesten Todesstunde auf Golgatha
ein wenig Romantik zu pressen.

Gott aber entzieht sich jeder Erklärung und jeder Vernunft,
so dass Jesus selbst am Kreuz schreit: „Eli, eli, lama asabthani?“
- mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?
Kein Theaterdonner, sondern die pure Verzweiflung.

Gott hat seinen Sohn am Kreuz sterben lassen,
wie er Abraham dazu brachte, seinen Sohn umzubringen.
Wenn wir uns einen Augenblick davon zurückhalten, einen tieferen Sinn dafür zu suchen,
die Heilsgeschichte zu bemühen und Gott zu entschuldigen,
dann fällt uns vielleicht auf, dass Gott das Schreckliche tut - - - damit wir es nicht tun müssen.

Gott tut tatsächlich das Unfassbare und Undenkbare:
Gott sieht zu, wie sein eigener Sohn qualvoll stirbt,
damit wir uns nicht auf die Seite Gottes, sondern auf die Seite - - - seines Sohnes schlagen,
uns von seinem Leid ergriefen lassen
und für ihn Partei nehmen gegen seinen grausamen Vater,
der ihn am Kreuz verlassen hat.
Und so Mitgefühl lernen nicht mit Gott, sondern mit dem Menschen Jesus
- und in ihm mit jedem Menschen.
Erfüllt von diesem Mitgefühl, wird uns kein menschliches Leid mehr kalt lassen.
Erfüllt von diesem Mitgefühl, werden wir nie mehr an höhere Werte und Zwecke glauben.
Das wird uns tatsächlich schützen vor dem Hass, der Wut und der Gewalt:
Wir werden um der Leiden Jesu willen nie wieder einem Menschen Leid zufügen wollen.

Dann werden wir auch verstehen, was Auferstehung bedeutet,
und dass in Christus die Liebe auferstanden ist.
Die Liebe, die Gott ist, der liebende Gott, zu dem wir "Vater" sagen.

Amen.

Samstag, 2. April 2011

Kannibalismus

Predigt am Sonntag Lätare, 3.4.2011, über Johannes 6,55-65: 

Jesus sprach: Mein Fleisch ist wahre Speise, und mein Blut ist wahrer Trank. 
Wer mein Fleisch isst und mein Blut trinkt, bleibt in mir und ich in ihm. 
Wie mich der lebendige Vater gesandt hat und ich durch den Vater lebe, 
so wird auch durch mich leben, wer mich isst. 
Dies ist das Brot, das vom Himmel herabgekommen ist. 
Und mit diesem Brot ist es nicht wie mit dem, 
das die Väter gegessen haben und gestorben sind; 
wer dieses Brot isst, wird in Ewigkeit leben. 

Das sagte er in der Synagoge, als er in Kafarnaum lehrte. 
 Viele nun von seinen Jüngern, die das hörten, sagten: 
Dieses Wort ist unerträglich, wer kann sich das anhören? 

Weil aber Jesus sehr wohl wusste, dass seine Jünger darüber murrten, 
sagte er zu ihnen: 
Daran nehmt ihr Anstoss? 
Was aber, wenn ihr den Menschensohn hinaufgehen seht, 
dorthin, wo er vorher war? 
Der Geist ist es, der lebendig macht, das Fleisch vermag nichts. 
Die Worte, die ich zu euch geredet habe, sind Geist und sind Leben. 
Doch es sind einige unter euch, die nicht glauben. 
Jesus wusste nämlich von Anfang an, 
welche es waren, die nicht glaubten, 
und wer es war, der ihn ausliefern sollte. 
Und er sprach: Darum habe ich euch gesagt: 
Niemand kann zu mir kommen, dem es nicht vom Vater gegeben ist. 


Liebe Gemeinde, 

„Jesus sprach: Mein Fleisch ist wahre Speise, 
und mein Blut ist wahrer Trank. 
Wer mein Fleisch isst und mein Blut trinkt, 
bleibt in mir und ich in ihm. 
Viele von seinen Jüngern, die das hörten, sagten: 
Dieses Wort ist unerträglich, wer kann sich das anhören?” 

Ja, wer kann sich das anhören? 
Das Fleisch eines Menschen essen, Menschenblut trinken 
- eine zu recht unerträgliche Vorstellung! 
Kannibalismus, das Schlachten und Essen der eigenen Artgenossen, 
ist zum Glück noch eines der wenigen Tabus, das zu brechen unvorstellbar ist. 
Davon lebt die Spannung und der Horror in Filmen wie „das Schweigen der Lämmer”. 
 Kannibalismus - unerträgliche Vorstellung 
oder Relikt aus düsteren, unzivilisierten Gesellschaften. 
Unerträglich, wenn man es sich vorstellen soll.

Und trotzdem kommt Kannibalismus auch in unserem Alltag vor. 
Ich meine den symbolischen Kannibalismus, 
der sich in Aussprüchen zeigt wie „Ich habe dich zum Fressen gern” 
oder „sich nach jemandem verzehren”. 
 Das ist natürlich nicht wörtlich gemeint. 
Wer so etwas gesagt bekommt, muss nicht befürchten, 
demnächst Besuch von Hannibal Lector zu bekommen. 
 Im Gegenteil: eine romantische Vorstellung, dass sich jemand nach mir verzehrt! 
Wenn man dadurch Pfunde verlieren könnte, 
wir hätten wohl eine neue Blüte der Romantik zu erwarten ... 
Ebenso ist es eine durchaus lustvolle Vorstellung, 
von jemandem, der einen „zum Fressen gern” hat, liebevoll angeknabbert zu werden ... 
solange er oder sie nicht tatsächlich zubeißt! 

 Der symbolische Kannibalismus kann aber auch bedrohlich werden. 
Dann nämlich, wenn man feststellt, 
dass man von der Arbeit aufgefressen wird. 
„Die Arbeit frisst mich auf” - wer zu diesem Schluss kommt, 
fühlt sich durch die Arbeit in seiner Gesundheit, seinem Wohlbefinden bedroht. 
Solche Phasen erleben viele im Laufe ihrer Berufstätigkeit. 
Manche Menschen aber werden tatsächlich von ihrer Arbeit aufgefressen 
- oder den Folgen ihrer Arbeit. 
Ich denke an die sog. „Liquidatoren” von Tschernobyl, 
die bei den Arbeiten zur Versiegelung des explodierten Kernreaktors schwer verstrahlt wurden 
und an den Folgen starben. 
Ich denke an die Arbeiter in Fukushima, 
die beim Versuch, radioaktiv verseuchtes Wasser abzupumpen, 
Verbrennungen an den Füßen erlitten 
- und womöglich weitere Folgen der Verstrahlung erleiden werden. 
Ich denke aber auch an die Soldaten, 
die in Afghanistan in Sprengfallen oder Hinterhalten verletzt werden oder ums Leben kommen, 
denke an die Arbeiter in den chinesischen Kohlegruben, 
die in den unsicheren Stollen täglich ihr Leben riskieren - und verlieren. 
Menschen, die ihr Leben opfern, oder deren Leben geopfert wird. 
Menschen, die von ihrer Arbeit verzehrt werden. 

Hat das etwas mit Kannibalismus zu tun? 
Die Menschen kommen ums Leben, aber sie werden ja nicht aufgegessen. 
Ihr Körper dient zwar nicht als Nahrung, aber, bildlich gesprochen, werden sie dennoch verzehrt. 
Wenn Menschen geopfert werden - oder sich opfern müssen, 
hängt etwas von ihrem Blut an dem, wofür sie sich geopfert haben. 
An chinesischer Kohle klebt das Blut der Bergarbeiter; 
im Golfkrieg lautete der Ruf der Kriegsgegner: Kein Blut für Öl! 
Menschenleben werden verzehrt, verbraucht, geopfert, 
um die Energieversorgung, den Zugang zu Rohstoffen, 
um Handelswege oder Wirtschaftsinteressen zu sichern. 
Und da wir alle in unserem wirtschaftlich so erfolgreichen Land davon profitieren, 
dass indische Kinder unseren Computerschrott entsorgen, 
Chinesinnen unsere Kleidung, iPhones und IKEA-Möbel für einen Hungerlohn produzieren 
und die für unsere Wirtschaft so wichtigen Rohstoffe 
ohne große Rücksichtnahme auf die Umwelt 
und die Auswirkungen auf die Bevölkerung 
aus der afrikanischen Erde geschürft werden, 
klebt an all diesen Dingen ein Tropfen Blut der Menschen, 
die dafür geopfert wurden.

„Jesus sprach: Mein Fleisch ist wahre Speise, 
und mein Blut ist wahrer Trank. 
Wer mein Fleisch isst und mein Blut trinkt, 
bleibt in mir und ich in ihm.” 
 Auch am Abendmahlsbrot klebt Blut, 
und der (Wein) Traubensaft beim Abendmahl ist das Blut Jesu selbst. 
Es ist Blut eines Menschen, der geopfert wurde, 
der einen erbärmlichen und qualvollen Tod starb am Kreuz. 
Jesus wurde geopfert, aber er opferte sich freiwillig. 
Sein Blut klebt nicht als Fluch an Brot und Wein, 
nicht als Mahnung und Erinnerung an eine Schuld. 

Im Gegenteil: 
Jesus hat das Brot, das lebenswichtig, das ein Lebensmittel für uns ist, 
durch sein Blut zum Lebensspender gemacht: 
 Es gibt ewiges Leben. 
Jesus hat den (Wein) Traubensaft, der ein Genussmittel ist, Geselligkeit und Freude schafft, 
durch sein Blut zum Grund unseres Glücks gemacht: 
 Er bedeutet Vergebung und Neubeginn. 

Am Brot und (Wein) Traubensaft beim Abendmahl klebt kein Blut, sondern Leben. 
Jesus gibt dieses Leben - Jesus gibt sich selbst -,
wenn wir vom Brot essen und aus dem Kelch trinken. 
 Aber muss das denn sein? 
Reicht es nicht aus, ein Brot auf den Altar zu legen 
und ein Glas Wein dazuzustellen, 
um auf dieses Symbol hinzuweisen? 
Warum müssen wir denn auch noch davon essen und trinken? 

Wir essen und trinken, damit das Leben für uns Wirklichkeit wird. 
Sie können einem Kind hundertmal sagen, 
dass Messer, Gabel, Schere, Licht gefährlich sind. 
Solange es das nicht am eigenen Leibe gespürt hat, 
wird es das nicht verinnerlichen. 

Ebenso ist es mit der Liebe: 
Man muss wenigstens einmal im Leben verliebt gewesen sein, 
um zu ermessen, was Liebe ist und bedeutet 
- allein davon zu reden oder zu lesen, 
kann niemals einen Eindruck davon vermitteln, 
welche Macht die Liebe hat, 
und welche Macht sie ist. 

Wir essen den Leib Christi und werden gewiss, 
dass auch uns ewiges Leben erwartet. 
Wir trinken das Blut Christi und wissen, 
dass Gott uns vergibt und uns jetzt einen neuen Anfang ermöglicht.

Unsere Gesellschaft opfert Menschen - wir opfern Menschen. 
Wir leben notwendigerweise auf Kosten anderer. 
Unsere Freiheit und unser Wohlstand sind nicht möglich 
ohne den Mangel, den Verzicht, die Entbehrung, die andere dafür erleiden. 
Die Reichtümer unserer Erde sind nicht so groß, 
dass für alle beliebig viel da wäre, 
sondern wenn einer mehr davon haben will, 
muss der andere sie hergeben. 
Wenn das Opfern von Menschen aufhören soll, 
werden wir alle nicht so viel besitzen können, wie wir wollen; 
werden wir alle bereit sein müssen, uns einzuschränken, zu verzichten. 

Es ist nicht anzunehmen, dass wir dazu in der Lage sind. 
Jesus hat sich geopfert und uns damit Leben und Glück in grenzenloser Fülle geschenkt. 
Man kann seine Gaben, das Brot des Lebens und den Kelch der Vergebung, 
niemals aufbrauchen oder ausschöpfen. 
Bei jeder Abendmahlsfeier findet eine wunderbare Brotvermehrung statt; 
aus ein paar Brocken wird Nahrung im Überfluss für alle. 

Jesus hat sich geopfert, damit wir satt werden an dem, 
was wir zum Leben wirklich brauchen: 
echtes Leben, das von Leid, Schmerz und Tod nicht vernichtet werden kann, 
das ewige Leben. 
Und Vergebung, die uns aufrechten Hauptes durchs Leben gehen lässt, 
uns ermöglicht, Erfahrungen zu sammeln, Fehler zu machen 
- und jederzeit mit uns und unseren Mitmenschen neu anzufangen. 

Weil Jesus uns echtes Leben gibt, 
können wir von dem abgeben, was nicht lebenswichtig ist. 
Was wir so dringend zu brauchen meinen, 
was aber, wenn wir’s uns recht überlegen, 
überhaupt nicht wichtig ist: Geld. Besitz. Erdbeeren und Spargel im Dezember. 
Freie Fahrt für freie Bürger, und einen Zweitwagen dazu. 
Strom ohne Ende, Wasser nicht nur für Dusche und Klo, 
sondern auch für Pool und Rasen. 
Treibstoff aus Nahrungsmitteln, 
Fleisch und Brot, Eier und Milch zu Schleuderpreisen. 
All das brauchen wir nicht wirklich dringend. 
Wir könnten uns da einschränken, wenn wir wollten, könnten verzichten 
- und würden es womöglich nicht einmal bedauern. 
Wir könnten viel mehr abgeben, 
viel mehr mit anderen teilen, 
ohne wirklich Wichtiges zu verlieren: 
 Das, was unser Leben glücklich und lebenswert macht. 
Im Gegenteil: Das gäbe es dabei zu gewinnen. 
 Dann könnte der sprichwörtliche Kannibalismus auf unserer schönen Erde, 
das Opfern und geopfert Werden, 
tatsächlich eines Tages beendet sein. Amen.