Samstag, 29. Dezember 2018

Lesestärke

Predigt am Neujahrstag, 1.1.2019, über Josua 1,1-9:

Nachdem Mose, der Knecht Gottes, gestorben war,
sprach Gott zu Josua, dem Sohn Nuns, dem Diener Moses:
Mein Knecht Mose ist gestorben.
Nun mache dich auf, den Jordan zu überqueren, du und dieses ganze Volk,
in das Land, das ich euch, den Kindern Israels, gab.
Jeden Ort, auf den eure Füße treten, habe ich euch gegeben, wie ich Mose gesagt hatte.
Von der Wüste und vom Libanon bis zum großen Fluss, dem Euphrat,
das ganze Land der Hetiter, und bis zum großen Meer im Westen sei euer Gebiet.
Niemand wird dir standhalten dein Leben lang.
Wie ich mit Mose war, werde ich mit dir sein.
Ich werde dich weder verlassen noch im Stich lassen.
Sei fest und stark, denn dir ist das Volk als Erbe übergeben
und das Land, das ich ihren Vätern schwor zu geben.
Sei nur sehr fest und stark, dass du darauf achtest,
nach allen Weisungen zu handeln, die ich Mose, meinem Knecht, gebot.
Weiche nicht von ihnen ab, weder zur Rechten, noch zur Linken,
dann wirst du erfolgreich sein, wohin du auch gehst.
Entferne das Torabuch nicht von deinem Mund,
sondern lies murmelnd darin Tag und Nacht,
damit du darauf achtest, alles zu tun, was darin geschrieben steht.
Denn dann wird dein Vorhaben Erfolg haben, dann wird es dir gelingen.
Habe ich dir nicht geboten, fest und stark zu sein?
Fürchte dich nicht und sei nicht mutlos.
Denn mit dir ist der Herr, dein Gott, wohin du auch gehst.


Liebe Schwestern und Brüder,

dreimal ermahnt Gott Josua dazu, „fest und stark“ zu sein.
Was man dreimal wiederholt, muss wirklich wichtig sein.
Warum ist es so wichtig, fest und stark zu sein?
Ist das so ein Männderding,
weil Männer doch nicht weinen
und man als echter Kerl keine Schwäche zeigt?

I. „Du musst jetzt sehr stark sein!“
Mit solchen Worten wird man auf eine schlimme Nachricht vorbereitet.
Man hält sich jetzt besser fest, oder setzt sich lieber hin.
Man macht sich jetzt besser auf das Schlimmste gefasst,
damit man nicht gleich losheult.
Stark sein bedeutet, seine Gefühle,
sein Getroffen- oder Verletztsein,
seine Hilflosigkeit oder seine Verzweiflung nicht zu zeigen.
Sondern seinen Mann zu stehen
und dem Schicksal die Stirn zu bieten wie ein echter Kerl.
Schwäche, Hilflosigkeit sind da nicht vorgesehen
und auch nicht erwünscht.

Das ist aber nicht die Stärke, die Gott von Josua fordert.
Gott erwartet überhaupt keine Stärke von Josua,
die man gemeinhin mit Männlichkeit in Verbindung bringt.
Es ist fast das Gegenteil:
Gott erwartet von Josua, dass er - - - liest.
Und zwar in der Tora, also in dem, was wir als das „Alte Testament“ kennen.
Besser gesagt: In den fünf Büchern Mose.

Es kann nicht schaden, wenn Josua als Nachfolger des Mose nachliest,
was Mose aufgeschrieben hat.
Da wird sich der eine oder andere wertvolle Hinweis finden lassen.
Allerdings gab es zu der Zeit, in der das Buch Josua spielt, die Tora noch gar nicht.
Eine spätere Zeit legt Josua das Torabuch in die Hand,
das er noch gar nicht kennen konnte - die Leser des Josuabuches aber sehr wohl.
Die Geschichte Josuas ist also kein Bericht, wie es damals zuging,
als Israel vom gelobten Land Besitz ergriff.
Es ist eine Geschichte, die sich an uns, ihre Leserinnen und Leser, wendet.

II. „Sei fest und stark“. Diese Mahnung ist also an uns gerichtet.
Wir hatten schon gesehen, dass damit nicht unsere Qualitäten gemeint sind,
Schicksalsschläge oder schlechte Nachrichten mannhaft zu ertragen.
Die Stärke, die hier gefordert wird, hat mit dem Lesen zu tun.
Nun gibt es zwar eine Leseschwäche,
aber von einer Lesestärke spricht man gemeinhin nicht.
Was könnte da gemeint sein?

Der erste Psalm fällt einem ein.
Darin wird der gelobt, der „Freude hat am Gesetz des Herrn
und sinnt über seinem Gesetz Tag und Nacht“.
Was Martin Luther mit „sinnen“ übersetzte,
ist das halblaute, murmelnde Lesen, von dem auch hier die Rede ist.
Und das „Gesetz des Herrn“ ist natürlich das Torabuch.
In dem soll man Tag und Nacht murmelnd lesen,
sie also Wort für Wort, Satz für Satz studieren und verinnerlichen.
Dazu sind Festigkeit und Stärke nötig.
Vielleicht, damit man beim Lesen nicht einschläft?
Denn so spannend manche Geschichten der Tora sind,
andere Texte sind furchtbar eintönig und langweilig.
Will Gott also, dass man sich am Riemen reißt;
diszipliniert, regelmäßig und intensiv in der Tora liest?

III. Der Auftrag, das Volk Israel ins gelobte Land zu führen,
ist sehr anspruchsvoll und nicht ungefährlich.
Mose hatte seine liebe Mühe mit dem Volk,
und es ging oft über seine Kräfte, mit dessen Launen
und dessen Heimweh nach den Fleischtöpfen Ägyptens umzugehen.
Josua wird mit seiner Beauftragung aber nicht ins kalte Wasser geworfen.
Gott sichert ihm umfassende Unterstützung zu:
„Niemand wird dir standhalten dein Leben lang.
Wie ich mich Mose war, werde ich mit dir sein.“
Gott macht aus Josua eine Art Bulldozer,
der jedes Hindernis aus dem Weg räumen kann,
ja, vor dem die Hindernisse praktisch aus dem Weg springen,
sobald er sich ihnen nur nähert.

Es fällt auf, dass diese Bulldozerhaftigkeit keine Eigenschaft Josuas ist.
Josua ist nicht besonders breit gebaut und verfügt auch nicht über Superkräfte.
Er bringt nichts Bulldozerhaftes mit.
Dass ihm trotzdem niemand standhalten kann, das kommt von Gott.
Gott ist es, der für ihn alle Hindernisse aus dem Weg räumt.

Man könnte also meinen, das Torastudium sei der Preis für diesen Service:
Solange Josua sich mit Gottes Weisung beschäftigt,
wird Gott ihm den Weg ebnen.
Aber was wäre das für ein komischer Handel!
Sollte Gott so eitel sein, dass man sich Tag und Nacht mit ihm beschäftigen soll?
Etwa wie ein schlechter Autor, dessen Bücher langweilig sind
und der darum jedem Geld zahlt, der ihn trotzdem liest?

Da wir, die Leserinnen und Leser des Josuabuches, die Angesprochenen sind,
kann es um eine solche Belohnung nicht gehen.
Wir machen ja auch nicht die Erfahrung,
dass uns Hindernisse aus dem Weg geräumt werden.
Eher hat man im Gegenteil manchmal das Gefühl,
dass einem Knüppel zwischen die Beine geworfen werden.

IV. „Fürchte dich nicht und sei nicht mutlos.
Denn mit dir ist der Herr, dein Gott, wohin du auch gehst.“
Gott geht mit uns mit.
Wie macht er das?

Der Vorteil eines Buches ist es,
dass man es überall mit hinnehmen kann -
ins Bett, aufs Sofa, in den Urlaub.
Ein Buch kann zum ständigen Begleiter werden.
Je besser man es kennt, desto selbstverständlicher geht es mit einem durchs Leben.
Das merkt man an den Gedichtzeilen, die einem manchmal unvermittelt einfallen.
Oder an Bibelstellen.

Gott geht in seinem Wort, der Bibel, mit uns durchs Leben.
Im Wort der Bibel sind wir mit Gott verbunden,
stehen wir mit ihm in Kontakt,
sind wir mit ihm im Gespräch.
Dadurch gelingt unser Leben.
Nicht so, dass alle Wünsche in Erfüllung gehen,
alle Vorhaben gelingen,
dass wir niemals krank oder unglücklich oder traurig sind.
Sondern so, dass wir trotz aller Fehler, Irrtümer und Verletzungen wissen:
Gott liebt uns.
Gott steht auf unserer Seite.
Gott lässt unser Leben gelingen
und gibt ihm ein gutes Ende -
auch, wenn wir nicht sehen können,
wie es weitergehen soll.

V, Festigkeit und Stärke haben nichts mit Muskelkraft,
nichts mit Willen oder Disziplin zu tun.
Sie bestehen vielmehr im Festhalten an Gottes Wort -
im wörtlichen Sinn:
Dass man darin Halt sucht.
Und im übertragenen Sinn:
Dass man Gott bei seiner Zusage behaftet,
mit uns zu sein, wohin wir auch gehen.
Und sich dabei nicht irre machen lässt
von den Unbilden des Lebens,
vom Gerede der anderen,
von den Heimsuchungen des Schicksals.
Das klingt schwerer, als es ist.
Denn wie alle unsere Kräfte und Fähigkeiten
fließen uns auch Festigkeit und Stärke von Gott zu, aus seinem Wort,
wenn wir darüber nachsinnen am Tag oder in der Nacht.

Das Bild vom Rauch

Predigt am Altjahrsabend, 31.12.2018, über Jesaja 51,4-6:

Gott spricht:
Hört auf mich, mein Volk!
Passt auf, meine Leute!
Denn Weisung geht von mir aus
und mein Rechtsspruch erleuchtet die Völker im Nu.
Meine Gerechtigkeit ist nah.
Meine Hilfe kommt.
Meine Macht wird die Völker versöhnen.
Auf mich hoffen die fernen Länder.
Sie warten auf meine Macht.
Schaut hinauf zum Himmel
und blickt hinab auf die Erde.
Denn der Himmel zerflattert wie Rauch
und die Erde zerfasert wie Kleidung,
und ihre Bewohner werden auf die selbe Weise sterben.
Aber meine Hilfe bleibt ewig
und meine Heilstaten nehmen kein Ende.


Liebe Schwestern und Brüder,

wieder ist ein Jahr vorüber.
Die Zeit vergeht, und mit ihr die Dinge,
die uns umgeben und mit denen wir täglich umgehen.
Das Geschirr ist hier und da angeschlagen;
manche Tasse hat einen Riss oder ging zu Bruch;
vom Service fehlt das eine oder andere Teil.
Die Kleidung nutzt sich ab, bekommt Löcher, wird fadenscheinig.
Manches Kleidungsstück ist über die Feiertage plötzlich zu eng geworden.

Auch an uns geht die Zeit nicht spurlos vorüber.
Auch wir haben so manche Delle abbekommen,
sind hier und da angeschlagen,
und unsere Seele oder unsere Nerven sind an manchen Stellen
arg durchgescheuert.

Das Bild vom Rauch, der verweht;
von der Kleidung, die irgendwann abgelegt wird,
weil sie aufgetragen wurde,
ist ein Symbol für die Vergänglichkeit alles dessen,
was uns lieb ist.
Ein Symbol der Vergänglichkeit auch unseres Lebens.

Wenn Jesaja die Bilder vom Rauch und der abgetragenen Kleidung benutzt,
geht es ihm nicht um die Vergänglichkeit.
Wenn er davon spricht, dass der Himmel wie Rauch zerflattert,
denkt man vielmehr an das Kohlendioxid,
das für die Klimaerwärmung verantwortlich ist;
an die Fluorchlorkohlenwasserstoffe,
die die Ozonschicht zerstören;
an die Auto- und Industrieabgase, die den Himmel verfinstern
und für den Smog in den Städten verantwortlich sind.

Wenn Jesaja die Erde mit einem abgelegten Kleidungsstück vergleicht,
das sich in seine Bestandteile aufgelöst hat,
denkt man daran, wie wir Wasser, Erde und Luft
abnutzen, verdrecken und verschwenden -
bis man nichts mehr flicken oder reparieren kann.

Erschreckend ist dann seine Schlussfolgerung:
„Die Bewohner der Erde werden auf die selbe Weise sterben“.
Wir gehen an dem zugrunde, was wir an Abgasen in unsere Atmosphäre blasen.
Was wir der Erde antun, fällt auf uns zurück.
Schon jetzt essen wir in winzigen Mengen das Plastik,
das wir achtlos in die Umwelt „entsorgt“ hatten.

Wer sich über dieses „Wir“, die Vereinnahmung, ärgert,
weil er von jeher den Müll ordentlich getrennt hat,
kann daran die Schicksalsgemeinschaft erkennen,
die wir als Menschheit bilden.
Das Leid und Elend der Menschen in anderen Teilen der Welt
kann uns nicht gleichgültig sein,
weil auch ihr Müll und ihre Umweltverschmutzung uns betrifft.

Die Menschen der sogenannten „Dritten Welt“ fangen gerade erst an,
die Umwelt so zu verschmutzen, wie wir es seit Jahrzehnten tun.
Stellen Sie sich vor, was mit unserer Erde passieren würde,
wenn eine Milliarde Chinesen und eine Milliarde Inder beschließen würden,
genauso viel Wasser zu verbrauchen,
genauso viel Kohlendioxid in die Luft zu pusten, wie wir es tun!

Darum ruft Gott dazu auf, hinzuhören und hinzusehen.
Auf seinen Rat zu hören und seine Gerechtigkeit anzuerkennen.
Gottes Gerechtigkeit bedeutet: Gleiches Recht für alle.
Gleiches Recht für alle heißt auch,
das gleiche Recht, die Umwelt zu verschmutzen, das wir uns herausnehmen.
Wenn wir nicht wollen, dass andere in derselben Weise die Natur ausbeuten,
die Umwelt zerstören und verschmutzen, wie wir es so lange getan haben,
müssen wir umdenken
und mit gutem Beispiel vorangehen.

Wenn das Klima sich weiter erwärmt,
wird es zu Kriegen um Wasser und Nahrung kommen.
Wenn der Meeresspiegel weiter steigt,
werden noch mehr Menschen ihre Heimat verlassen,
weil sie sie verloren haben, und zu uns kommen.
Wenn wir keinen Krieg wollen,
müssen wir Gottes Weisungen beachten,
die uns lehren, wie man teilen,
wie man zusammenrücken und zusammen leben kann.

Es muss mit uns dahin kommen,
dass wir Gottes Weisungen nicht als Gesetze auffassen,
die man nach Möglichkeit umgeht.
Sondern dass wir entdecken,
dass Gottes Weisung seine Hilfe für uns ist,
seine Heilstat, mit der er unser Leben ermöglicht und erhält.

Darum kann man nur bitten.
Denn dass wir Menschen endlich zur Einsicht kommen,
ist auch im neuen Jahr nicht zu erwarten.
Wir haben bereits zu viel Zeit, zu viele Gelegenheiten verstreichen lassen.
So, wie wir nun einmal sind,
werden wir auch in Zukunft die Hände in den Schoß legen,
solange uns das Wasser nicht bis zum Hals steht.

Gott aber kann uns zur Einsicht bringen.
Gott kann uns seine Gebote ins Herz schreiben.
Gott kann uns von seiner Weisung durchdrungen sein lassen.

Gott darum zu bitten,
könnte ein guter Vorsatz für das kommende Jahr sein.

Sonntag, 23. Dezember 2018

To begin at the beginning

Predigt am 1. Weihnachtstag, 25.12.2018, über Johannes 1,1-5.9-14.16-18

Liebe Schwestern und Brüder,

mit dem Anfang fängt es an.
In einer sternklaren Nacht.
Es ist kalt und ganz still.
Da, am Rand des Ortes, steht ein Stall.
In diesem Stall, bei Ochs und Esel, wird ein Kind geboren.
Es liegt auf Heu und Stroh in einer Futterkrippe.
Die Eltern sind einfache Leute.

Wenn erzählt wird,
dass das Wort Fleisch wurde,
stellt man sich eine Winternacht vor.
Eine verschneite Landschaft,
vom Mondlicht verklärt.
Darin ein malerischer, warmer Stall
mit freundlichen Tieren und redlichen Hirten.

Zur Fleischwerdung des Wortes gehören aber auch
Kälte, Armut und volle Windeln,
Gestank der Tiere, Blut und Tränen
und „die bittere Scham,
nicht allein zu sein,
die dem Armen eigen ist“.

Oder muss man weiter zurückgehen?
Wann beginnt menschliches Leben?
Mit der Geburt? Oder schon mit der Zeugung?
Beginnt die Geschichte also mit der Verkündigung des Engels an Maria?
Beginnt sie mit Johannes dem Täufer,
dem Vorläufer und Wegbereiter?
Oder muss man, wie das Johannesevangelium es tut,
noch weiter zurückgehen?
In die Ewigkeit vor aller Zeit,
als es  nur Gott gab
und das Wort.

Ein Wort steht am Anfang einer Erzählung.
Wird es ausgesprochen, wird es zur Tat.
Wird erst Licht, dann Leben.
Mit dem einen Wort beginnt eine Erzählung,
die man bis heute erzählt:
Die Geschichte Gottes mit uns Menschen.
Wir werden hineinerzählt in diese Erzählung.
Wir sind mit ihr verwoben,
sind ein Teil von ihr.
So kommen wir in Berühung mit dem Wort, das Fleisch wurde.

Wenn wir uns berühren, spüren wir,
wie das ist, ein Mensch zu sein.
Können wir empfinden, was er empfand,
als Maria Magdalena seine Füße mit ihren Tränen wusch,
sie küsste und salbte;
als sie ihn schlugen, ihn anspuckten,
ihm die Dornenkrone in die Haare drückten;
als sie den Nagel durch seine Hand ins Holz trieben.

Verwickelt in seine Geschichte, fühlen wir mit ihm.
Wer mit dem am Kreuz Leidenden mitfühlt,
den berührt auch das Leid der Mitmenschen.
Sie alle sind in seine Geschichte verwoben.
Mit ihnen allen sind wir in eine Erzählung verknüpft.
Darum begegnet er uns in allen Menschen wieder,
die unsere Schwestern und Brüder sind,
weil er unser Bruder wurde.

Oder sind wir zu weit zurück gegangen,
liegt der Anfang viel weiter vorn?
Nicht in der Ewigkeit vor aller Zeit,
nicht in einer Futterkrippe in einem Stall vor 2000 Jahren,
sondern heute und hier?
Aber wie kann das sein?
Wie wird das Wort unter uns lebendig,
so dass wir uns als Geschwister unseres Bruders Jesus erkennen?

Die Erzählung beginnt mit dem Ende.
Der, von dem die Rede ist,
das Wort, das vor aller Zeit war
und in einem Stall Fleisch wurde,
ist der am Kreuz Gestorbene und nach drei Tagen Auferstandene.
Am Anfang war die Auferstehung.
Wär er nicht erstanden,
so hätte es keinen Anfang gegeben,
der des Erzählens wert gewesen wäre.

Die Erzählung hat einen Anfang,
weil er auferstanden ist und lebt.
Dadurch schließt sich der Kreis,
kehrt von der Auferstehung zurück
zum Wort, das vor aller Zeit war.
Und von dort zurück zu uns,
die wir dieses Wort hören
und in seine Geschichte verwickelt werden,
uns in sie verwickeln lassen.

Mit der Auferstehung schließt sich der Kreis.
Dadurch ist es eine Erzählung voller Anfänge,
voller Möglichkeiten:
eine Geschichte der Fülle.
Aus dieser Fülle schöpfen wir Gnade um Gnade.
Wenn wir uns an das Wort halten,
schöpfen wir für uns
jeden Tag, jede Stunde, jeden Augenblick
einen neuen Anfang.
Wir halten am Wort fest
und machen es so zum Anfang einer neuen Geschichte.
Unsere Geschichte, Teil der großen Erzählung,
in die wir verwoben sind.

Das Wort hat die Macht dazu,
einen neuen Anfang zu schaffen.
Die Macht des Wortes kommt aus der Auferstehung,
die das Wort ins Recht setzt und es bekräftigt.

Die Geschichte des Wortes, das Fleisch wurde,
wird von ihrem Ende her erzählt:
Von der leiblichen Auferstehung.
In diese Geschichte sind wir verwickelt.
Darum hat auch unser Leben ein Happy End.
Darum muss man auch die Geschichte unseres Lebens
von ihrem Ende her erzählen:
Von der Auferstehung.

Das Leben bei Gott, das uns erwartet,
bestimmt über unser jetziges Leben.
Weil die Geschichte unseres Lebens gut ausgeht,
brauchen wir keine Angst zu haben.
So schwer das Leben manchmal ist,
so bitter, so erbärmlich, so schmerzhaft:
Es gibt ein Happy End.

Der Gestank voller Windeln,
die Armut eines Stalles,
der Spott, die Schläge,
die Dornen und das Kreuz
bestimmen nicht darüber,
wer Jesus für uns ist.
Sie bestimmen auch nicht über unser Leben.

Unser Leben fängt gerade erst an.
Heute morgen, als wir aufgestanden sind,
sind wir von der Auferstehung hergekommen.
Jetzt gehen wir auf sie zu.
Unser Leben schwingt in einem großen Kreis,
der von der Schöpfung bis in die Ewigkeit reicht.
Es hat Anteil an beiden:
Am Anfang vor aller Zeit
und am Ende, das ein neuer Anfang sein wird.

Freitag, 21. Dezember 2018

Enttäuschte Erwartungen

Predigt am Heiligen Abend, 24.12.2018, über Jesaja 9,1-6


Liebe Schwestern und Brüder,

das Kind berechtigt zu den schönsten Erwartungen.
Wenn ein Kind zur Welt kommt,
erhalten die Erwartungen der Eltern,
ihre Hoffnungen und Wünsche Gestalt und Form.
Das, was sie selbst vermissten, soll ihr Kind bekommen.
Was sie selbst gern tun oder werden wollten,
soll ihr Kind tun und werden.
„Unser Kind soll es einmal besser haben.“
„Unser Kind soll etwas aus sich machen können.“

Das Kind spürt diese Erwartungen.
Sobald es verstehen kann, hört es, was von ihm erwartet wird.
Es richtet sich danach - mehr oder weniger.
Irgendwann entdeckt es, dass es selbst etwas will.
Es entdeckt, dass sein Wollen sich von dem der Eltern manchmal unterscheidet.
Diese Entdeckung ist aufregend - und verwirrend.
Was soll es tun?
Wenn es tut, was es will, wird es die Eltern vielleicht enttäuschen.
Wenn es nicht tut, was es will, wird es vielleicht unglücklich sein.

„Das Volk, das im Finstern wandelt, sieht ein großes Licht,
und über denen, die da wohnen im finstern Lande, scheint es hell.
Du weckst lauten Jubel, du machst groß die Freude.
Vor dir freut man sich, wie man sich freut in der Ernte,
wie man fröhlich ist, wenn man Beute austeilt.
Denn du hast ihr drückendes Joch,
die Jochstange auf ihrer Schulter und den Stecken ihres Treibers
zerbrochen wie am Midianstag.
Denn jeder Stiefel, der mit Gedröhn dahergeht,
und jeder Mantel, durch Blut geschleift,
wird verbrannt und vom Feuer verzehrt.
Denn uns ist ein Kind geboren, ein Sohn ist uns gegeben,
und die Herrschaft ruht auf seiner Schulter;
und er heißt Wunderrat, Gottheld,
Ewigvater, Friedefürst;
 auf dass seine Herrschaft groß werde
und des Friedens kein Ende
auf dem Thron Davids und in seinem Königreich,
dass er's stärke und stütze durch Recht und Gerechtigkeit
von nun an bis in Ewigkeit.
Solches wird tun der Eifer des Herrn Zebaoth.“

Das Kind berechtigt zu den schönsten Erwartungen.
In dem kleinen Baby, das da in der Krippe liegt,
nehmen Erwartungen von Menschen über Jahrhunderte und Jahrtausende
Gestalt und Form an:
dass Finsternis besiegt und vertrieben wird;
dass Unterdrückung und Ungerechtigkeit beendet
und die Unterdrücker bestraft werden;
dass es keine Gewalt, keine Kriege mehr gibt.

Das göttliche Kind ist für diese Aufgabe bestens ausgerüstet:
Niemand ist so weise wie er.
Niemand ist so begabt wie er.
Niemand hat solche Autorität.
Er wird Frieden bringen.
Er ist nicht, wie die Messiasse, Führer und großen Männer vor und nach ihm,
auf Macht und Herrschaft für sich aus.
Er will Gottes Reich aufrichten.

Er tut das auf seine eigene, ganz spezielle Art und Weise.
Eine Art und Weise, die enttäuschen muss.
Es scheint, als wolle der längst Erwachsene
die Schwäche und Hilflosigkeit des Krippenkindes nicht ablegen.
Statt ein Mann zu sein, lässt er sich herumschubsen und schlagen.
Er scheint zu naiv, zu unbeholfen
für die Klaviatur der Beziehungen und politischen Schachzüge,
zu dickköpfig für Kompromisse.
Er begegnet Menschen vorurteilsfrei, offen und freundlich,
wie es nur Kinder tun.
Sein Blick erfüllt sie mit Liebe und Hoffnung,
seine Berührung heilt.

Jesus ist als Erwachsener das Kind in der Krippe geblieben.
Damit enttäuschte er alle, die auf einen Führer warten:
einen, der alles ins Lot bringen
und ihnen erlauben würde, wieder Kind sein zu können,
weil er sich kümmert und alles wieder gut macht.

Jesus ist das Kind in der Krippe geblieben.
Damit ist er erwachsener als alle Erwachsenen.
Er allein wagte es, nicht auf die eigene Kraft zu vertrauen,
sondern darauf, dass Gottes Liebe sich stärker erweisen wird
als alle Wut und Grausamkeit der Menschen.
Er hielt dieses Vertrauen auch dann durch,
als Menschen ihre Wut und Grausamkeit an ihm ausließen.
Er allein widerstand der Versuchung, die Macht zu ergreifen
und die Welt nach seinen Vorstellungen zu gestalten.
Er allein blieb seinen Worten treu
und stand zu dem, was er gepredigt hatte,
bis zum bitteren Ende.


Das Kind in der Krippe berechtigt zu den schönsten Erwartungen.
Darum kehren wir alle Jahre wieder zu diesem Kind an die Krippe zurück.
Tauchen ein in seinen Blick, der uns mit uns selbst versöhnt.
Mit unseren unerfüllten Hoffnungen, Wünschen und Sehnsüchten.
Mit den enttäuschten Erwartungen.
Lassen uns erfüllen vom Leuchten seines Angesichtes,
erfüllen mit Freude und Glück.
Lassen uns erinnern an unsere Kindheit.
An die Kindheit unserer Kinder,
die mit einem Blick unser Herz schmelzen,
uns ein Lächeln aufs Gesicht zaubern konnten.

Das Kind in der Krippe bringt uns und der Welt den Frieden.,
Und den Segen der Weihnacht, der uns heute erfüllt
und uns trägt durch das kommende Jahr.

Samstag, 8. Dezember 2018

Fata Morgana

Predigt am 2. Advent, 9. Dezember 2018, über Jesaja 35:

Wüste und Steppe erblühen.
Die Steppe bricht auf und blüht
wie der Affodil. Sie grünt und grünt, und bricht auf.
Das ist wie ein Jauchzen, ein Freudenschrei.
Sie hat die Herrlichkeit des Libanon,
die Pracht von Karmel und Saron.
Wir sehen die Herrlichkeit des Herrn,
die Pracht unseres Gottes.

Macht fest die kraftlosen Hände!
Macht die wackligen Knie stark!
Sagt dem klopfenden Herzen:
sei stark! Hab keine Angst!
Da kommt die Rache eures Gottes,
die Vergeltung Gottes.
Er kommt, und mit ihm eure Rettung.
Dann werden die Augen der Blinden geöffnet
und die Ohren der Tauben aufgetan.
Dann springt ein Lahmer wie ein Widder,
und die stumme Zunge jubelt.
Denn Wasser brechen in der Wüste hervor
und Bäche in der Steppe.
Die Fata Morgana ist dann tatsächlich ein Sumpf,
und das dürstende Land eine Wasserquelle.
Im Revier der Schakale kann man lagern.
Gras wächst dort wie Schilfrohr und Papyrus.
Dort wird eine Straße sein und ein Weg,
den man „heiliger Weg” nennen wird.
Kein Unreiner wird ihn betreten,
er geht seinen eigenen Weg;
Dummköpfe werden nicht auf ihm umherirren.
Es wird dort keine Löwen geben,
kein Raubtier lässt man auf ihm gehen,
es wird dort nicht zu finden sein,
sondern dort gehen die Erlösten.

Die Erlösten des Herrn werden zurückkehren
und jubelnd nach Zion kommen.
Ewige Freude wird über ihnen sein.
Freude und Fröhlichkeit stellen sich ein,
aber Kummer und Seufzen fliehen.


Liebe Schwestern und Brüder,

es gibt kaum etwas Schöneres, als im Garten zu arbeiten:
Zu sehen, wie etwas wächst, was vorher nur ein winziges Samenkorn war.
Oder mitten unter dem Unkraut eine kleine Blüte zu entdecken -
ein Gänseblümchen, ein Veilchen oder eine seltene Pflanze:
das sind besondere Glücksmomente!
Der vergangene Sommer hat das Gärtnern nicht leicht gemacht.
Bei der Trockenheit musste man ordentlich gießen,
wenn überhaupt etwas wachsen sollte.
Sogar das Unkraut hatte es schwer.
Mit den Erfahrungen des vergangenen Sommers
kann man die Visionen Jesajas von einer blühenden, wasserreichen Wüste
viel besser verstehen und teilen.
Man stelle sich vor, man müsste in einer Gegend leben,
wo es immer so trocken ist wie in diesem Sommer!

I. Aus der Wüste wird ein blühender Garten.
Diese Vision haben Menschen zu allen Zeiten gehabt.
Sie war ihr Antrieb, Wälder abzuholzen, Boden urbar zu machen.
Denn Wüsten sind nicht nur die Gegenden, in denen es kein Wasser gibt.
„Wüstungen” nannte man von ihren Bewohnern aufgegebene Siedlungen,
die sich die Natur zurückgeholt hatte.
Eine „Wüstenei” ist eine unwirtliche, unbewohnbare Gegend.
Und aus den Großstädten kennt man die „Betonwüsten”,
in denen kaum etwas Grünes zu finden ist.

Die ersten Menschen, die hier Bäume fällten und Gärten anlegten,
machten eine unwirtliche Gegend urbar und für Menschen bewohnbar.
Sie gestalteten die Landschaft, wie wir das bis heute
im Kleinen unserer Gärten und im Großen tun.
Sie legten die Wege an, auf denen wir heute noch gehen oder fahren.
Seitdem hat sich viel verändert.
Heute würde man z.B. einen Urwald, wie ihn die ersten Siedler vorfanden,
nicht mehr als „Wüstenei” bezeichnen und abholzen.
Man würde ihn vielmehr unter Naturschutz stellen.

Aber auch das ist ja eine Weise, die Landschaft zu gestalten.
Jede Generation prägt dem Land ihren Stempel auf.
Legt Gärten an oder lässt sie verwildern.
Pflanzt Bäume oder holzt Wälder ab, um die Fläche zu asphaltieren.
Auch die Graffiti, mit denen Jugendliche die Betonwüsten erblühen lassen,
sind eine Form, die Umwelt zu gestalten.

II. Bei den Graffiti wird auch deutlich:
Die Art der Gestaltung ist nicht jedermanns Geschmack.
Für die einen sind die Graffiti eine willkommene Auflockerung des tristen Betongraus,
für manche sind sie sogar Kunst;
für die anderen sind sie schlicht Sachbeschädigung.
Gerade im öffentlichen Raum prallen unterschiedliche Interessen
und Geschmäcker hart aufeinander.
Schlimm ist es z.B., wenn etwas, das mit großem Einsatz und Aufwand gestaltet wurde,
von anderen mutwillig zerstört oder zugemüllt wird.
Die das tun, sind die Löwen und Raubtiere, von denen Jesaja spricht.

Physiker erklären den Prozess der Zerstörung und Verwahrlosung, das Chaos,
mit der Zunahme der Unordnung.
Sie ist eine Naturgewalt, wie man in jedem Haushalt feststellen kann.
Die Ordnung ist eine Art, unsere Umwelt zu gestalten.
Doch es gibt eine Menge Leute, die diese Ordnung stören oder sogar zerstören.
Nicht, um die Dinge nach ihrer Weise zu ordnen -
das gibt es auch, z.B. beim Streit darüber, wie die Spülmaschine einzuräumen ist.
Sondern aus Freude am Chaos, am Urwald, an der Wüste.
Bei Jesaja sind das die Dummköpfe, die sich nicht an den Weg halten,
sondern kreuz und quer über die Beete laufen.

III. Es gibt Menschen, die Freude daran haben, etwas zu gestalten -
eine Wüste zum Blühen bringen,
oder eine schmuddelige Ecke zu einem Ort machen, an dem man sich gern aufhält.
Und dann gibt es Menschen, die haben Freude am Zerstören.
Die reißen die Blumen wieder aus,
die verteilen ihren Müll, die latschen alles kaputt.
Dagegen kommt kein Gärtner an.
Die Hände werden kraftlos - es hat ja doch keinen Sinn,
wieder und wieder gegen das Chaos und die Chaoten anzuarbeiten.
Sie sind am Ende stärker.
Davon kann man zittrige Knie bekommen.
Es tut dem Herzen weh, wenn man sein Bemühen so mit Füßen getreten sieht.

Aber bevor man mit dem Finger auf „die Chaoten” zeigt,
die „immer alles” kaputt machen,
sollte man einen Moment innehalten.
Man selbst war - oder ist - nämlich nicht besser.
Es gehört zum Prozess des Erwachsenwerdens,
Dinge anders zu machen als die Vorfahren.
Um etwas anders machen zu können, muss man das Bestehende verändern
oder es sogar zerstören.
Soll der Urwald zu Acker werden, wird der Urwald zerstört.
Soll der Acker verwildern, wird der Acker zerstört.
Ein Teil unseres Lebens besteht darin, dass wir zerstören -
oder zumindest stark verändern -, was unsere Vorfahren aufgebaut haben.

IV. Das passiert nicht nur mit Gärten, Häuser oder öffentlichen Plätzen.
Das passiert auch in Familien, im Gemeinwesen, in der Kirchengemeinde.
Erinnern Sie sich daran, mit wem Sie einmal befreundet waren -
und es heute nicht mehr sind.
Denken Sie an die Liebsten, die Sie sitzen gelassen haben,
oder von denen Sie sitzen gelassen wurden,
bis Sie den Menschen fanden, mit dem Sie heute zusammen sind.
Es gibt Streit in der Familie,
sodass Verwandte oder sogar Geschwister nicht mehr miteinander sprechen.
Es gibt Gruppen, Parteiungen im Gemeinwesen, in der Kirchengemeinde.
Auch in der Familie, im Dorf, in der Gemeinde gibt es Menschen,
die das Zusammenleben gestalten wollen,
und es gibt Chaoten, die es kaputt machen.
Manchmal ist man das eine, manchmal das andere.

Wenn man der Chaot ist, ist man taub und blind für die Bemühungen der anderen.
Man sieht nicht den gedeckten Tisch, die liebevolle Geste,
sieht nicht die Mühe und Arbeit, die sich der andere gemacht hat.

Wenn man der Chaot ist, ist man stumm wie ein Fisch,
wenn es darum geht, sich zu entschuldigen
oder sich zu bedanken.

Wenn man der Chaot ist, ist man manchmal ein Raubtier,
das anderen weh tut, sie verletzt.

V. Wie kommt man aus diesem Dilemma heraus,
dass man manchmal der ist, der etwas aufbaut,
und manchmal der Chaot, der alles wieder einreißt?
Kann man denn überhaupt diesem Dilemma entkommen,
wenn zum Gestalten gehört,
dass man Bestehendes zerstört oder zumindest stark verändert?

Die Vision Jesajas spricht nicht von Menschen,
sondern von Gott als dem Gestalter - dem „Schöpfer”, sagen wir auch.
Gott ist es, der die Wüste erblühen lässt.
Wenn wir Gott spielen, wenn wir Schöpfer sein wollen,
geraten wir in das Dilemma,
dass wir etwas zerstören müssen, wenn wir etwas erschaffen wollen.
Wir geraten in das Dilemma,
dass wir - bei allem guten Willen - manchmal Chaoten sind,
die kaputt machen, was ein anderer geschaffen hat,
oder dass wir jemanden verletzen.

Gott kann uns aus diesem Dilemma befreien.
Gott kann uns helfen, keine Chaoten zu sein,
indem er uns die Augen öffnet für die Schönheit der Welt;
die Ohren öffnet für die Wahrheit seines Wortes.
Indem er uns den Mund öffnet,
mit dem wir unsere Schuld bekennen und um Vergebung bitten,
aber auch „Danke” sagen
und unser Glück herausschreien oder -singen können.

VI. Bleibt zum Schluss die Frage,
wie das gehen soll, wenn wir Gott nirgends am Werke sehen?
Wie können wir sicher sein, dass das Flimmern am Horizont tatsächlich eine Wasserfläche ist
und nicht das Hitzeflimmern der Fata Morgana?

Es ist eine Frage des Blickwinkels.
Es geht darum, etwas sehen zu lernen, was man normalerweise nicht sieht.
Das kann man nicht lernen.
Wir wissen ja nicht, worauf wir achten sollen -
wie sollten wir es entdecken?
Das ist wie beim Sternenhimmel:
Ohne fremde Hilfe entdeckt man den „kleinen Wagen” nicht.
Aber wenn man ihn einmal gezeigt bekam, findet man ihn immer wieder.

Wer zeigt uns den anderen Blick,
mit dem wir erkennen, was man normalerweise nicht sieht?
Die Art und Weise, wie man diesen anderen Blick erlernt, ist das Gebet.
In der Haltung des Bittstellers,
der nicht schon alles weiß, sondern auf der Suche ist,
kann Gott uns helfen, neu und anders zu sehen.
Wer um den neuen Blickwinkel, die neue Perspektive bittet,
hat sie bereits eingenommen;
der beginnt bereits, die Dinge anders, neu zu betrachten.

VII. Advent - Neuanfang.
Etwas ist im Kommen.
Jemand ist im Kommen.
Jemand, der Taube hörend, Blinde sehend,
Lahme gehend und Stumme sprechend gemacht hat.
Jemand, der eine neue Sicht gebracht hat.
Der auch unsere Perspektive verändert.

Gehen wir ihm entgegen
durch die Wüste, die unsere Welt, unser Leben manchmal ist.
Wir werden keine blühenden Landschaften finden.
Aber wir werden entdecken, dass die Wüste sich verändert.
Im dürren Land beginnt Wasser zu fließen.
Und das ist keine Fata Morgana.
Das ist Advent.

Samstag, 1. Dezember 2018

Umstände machen

Predigt am 1.Advent über Matthäus 21,1-11
„Sechs waren geladen,
zwölf sind gekommen.
Tu Wasser zur Suppe,
heiß alle willkommen!”

Liebe Schwestern und Brüder,

„unverhofft kommt oft”.
Wenn unerwarteter Besuch kommt,
muss man improvisieren:
die Wohnung schnell etwas aufräumen;
aus Resten oder Konserven etwas zu Essen zaubern;
ein Bett für den Gast herrichten.

Bringt das Kind eine Freundin oder einen Freund mit nach Hause,
macht es nichts, wenn die Wohnung nicht aufgeräumt ist.
Beim Essen stellt man ohne weiteres einen Teller dazu,
wenn sich die Kinder nicht selbst versorgen,
aus dem Kühlschrank oder dem Fach mit den Chips und den Süßigkeiten.
Und wenn die Freundin übernachten will, ist das auch kein Problem.

Bei Erwachsenen ist es nicht so unkompliziert.
Man kann nicht einfach einen Freund, eine Freundin besuchen,
man muss sich vorher anmelden.
Wenn man es nicht tut, einfach so hereinschneit,
können sich peinliche Situationen ergeben.
Der Gastgeber fühlt sich zu wortreichen Erklärungen genötigt,
warum die Wohnung nicht aufgeräumt ist,
warum nichts Richtiges zu Essen im Haus ist,
warum eine Übernachtung eigentlich ungelegen kommt.

Als Gast ist einem so etwas unangenehm.
Man möchte nicht ungelegen kommen,
man möchte nicht zur Last fallen.
Man möchte nicht das Gefühl haben,
die Freude über den Besuch, über das Wiedersehen wird verdrängt
durch die Umstände, die man dem Gastgeber damit macht.

I. Jesus kommt unangemeldet nach Jerusalem.
Er hat seinen Besuch auch nicht vorbereitet.
Aber er hat sich offenbar vorher überlegt,
wie er in Jerusalem einziehen will: Als König.
Das ist sehr leichtsinnig von ihm -
schließlich sind die Römer die Herren,
und die könnten keinen Spaß verstehen,
wenn sich jemand die Königswürde anmaßt.

Da haben sie von Jesus nichts zu befürchten:
Er strebt keine politische Herrschaft an.
Er hat keine Armee, keine Waffen.
Er kommt arm und friedfertig.
Jesus will ein Zeichen setzen.
Sein Einzug in die Hauptstadt ist symbolisch zu verstehen.

Jesus zieht als Messias in Jerusalem ein.
Der Messias, auf Griechisch: Christus,
wird von den Propheten des Alten Testaments angekündigt,
unter anderem auch von Sacharja.
Wenn er kommt, bricht das Reich Gottes an,
ein Reich des Friedens und der Gerechtigkeit,
dessen Zentrum der Tempel in Jerusalem bildet,
wie es einst bei König David war.
Mit seinem Einzug bringt Jesus zwei Dinge zum Ausdruck:
Ich bin der Messias und
das Reich Gottes ist angebrochen.

Um als Messias einzuziehen,
braucht Jesus eine Eselin mit einem Fohlen, wie es Sacharja prophezeit.
Daran werden die Menschen erkennen, dass er der Messias ist -
oder dass er zumindest so angesehen werden will.
Das ist nämlich nicht so eindeutig.
Denn auf die Frage, wer Jesus ist,
lautet die Antwort nicht: Der Messias,
sondern: „der Prophet aus Nazareth”.

Jesus braucht einen Esel, und die Jünger „besorgen” einen.
Zur Zeit Jesu waren Esel so häufig wie heute die Autos.
Es ist also kein Problem für seine Jünger,
sich an der nächsten Ecke eine Eselin „auszuborgen” -
man sagt auch „klauen” dazu.
Wir jedenfalls wären wohl nicht einverstanden,
wenn sich jemand unser Auto nehmen würde
mit der lapidaren Begründung „der Herr braucht es”.

II. Jesus hat keinen Respekt vor fremdem Eigentum.
Direkt nach dem Einzug in Jerusalem geht er in den Tempel
und wirft die Tische der Geldwechsler und Händler um.
Auch eine symbolische Handlung, wie sein Einzug.
Seinen Jüngern erlaubt er, Getreide zu stehlen - und das auch noch am Sabbat.
Und er rät ihnen:
„wenn jemand mit dir rechten will und dir deinen Rock nehmen,
dem lass auch den Mantel.”
Seine Einstellung zum Besitz fasst er zusammen in dem Satz:
„sorgt nicht für morgen, denn der morgige Tag wird für das Seine sorgen”.

Wenn man sich Jesus so ansieht, muss man wohl sagen:
Jesus war der erste Hippie.
Ohne Respekt vor Besitz und Obrigkeit lebte er in den Tag hinein.
Er gab nichts auf Anstand und Ansehen,
sondern befreundete sich mit moralisch fragwürdigen Personen,
mit denen ein anständiger Bürger nicht verkehrte.
Wahrscheinlich hatte Jesus auch lange Haare;
Jesuslatschen sowieso.

Und wie Hippies so sind, macht auch Jesus keine Pläne.
Er ist „spontan”; er improvisiert.
Als er eine große Veranstaltung mitten in der Wüste durchführt,
zu der tausende von Leuten kommen,
hat er nicht einmal daran gedacht,
wie diese Menschenmassen versorgt werden sollen
(an Toiletten natürlich erst recht nicht).
Am Ende stellt sich heraus, dass nicht mehr als 5 Brote und 2 Fische da sind.
Aber, eigenartig: die reichen, dass alle satt werden.

III. Jesus, der Hippie - das soll ein König sein?
Wie kann jemand, der sich nicht an Regeln hält, König sein wollen?
Ob König oder Bundeskanzlerin:
Wer einem Gemeinwesen, einem Staat vorsteht, muss sich an die Regeln halten -
verkörpert geradezu die Regeln, die gelten sollen.
Was Jesus verkörpert, ist Regellosigkeit, Anarchie.
Andererseits macht er die Regeln so groß,
dass man sie nicht mehr erfüllen kann:
„Ihr habt gehört, dass gesagt ist:
‚Du sollst nicht ehebrechen.’
Ich aber sage euch: Wer eine Frau ansieht, sie zu begehren,
(oder einen Mann, ihn zu begehren),
der hat schon mit ihr (oder ihm) die Ehe gebrochen in seinem Herzen.”
Ehebruch durch Hinsehen - damit übertreibt es Jesus endgültig.
Aber vielleicht gehört das ja zu seinem geheimen Plan:
Wer die Gesetze so verschärft, dass man sie nicht mehr erfüllen kann,
tut faktisch dasselbe, als hielte er sich nicht mehr an die Gesetze.

Nein, das stimmt so nicht.
Es ist wahr, Jesus bricht Regeln,
er tut es absichtlich und mit Vorsatz.
Zugleich aber gilt für ihn eine äußerst strenge Regel.
So streng, dass er für diese Regel sogar den Tod auf sich nimmt.
Eine Regel, die ihn dazu zwingt, die anderen Regeln zu brechen.
Diese strenge Regel ist die Liebe.
Die Liebe zu jedem Menschen in der Form der Nächstenliebe.
Die Nächstenliebe ist für Jesus die oberste Regel,
die unter allen Umständen befolgt und eingehalten werden muss.
Darum heilt er Menschen am Sabbat:
Weil sie Hilfe brauchen
und nicht auch nur einen weiteren Tag darauf warten sollen.
Darum lässt er zu, dass seine Jünger Getreide stehlen:
Weil sie hungrig sind.

IV. Nächstenliebe ist ein ehrenhaftes Motiv.
Aber dazu muss man doch nicht so provozieren!
Man kann ordentlich und mit Anstand seinen Nächsten lieben,
ohne Tische im Tempel umzuwerfen,
ohne sich mit der Obrigkeit anzulegen,
ohne Menschen vor den Kopf zu stoßen.

Nein. Ich fürchte, wer Nächstenliebe wirklich ernst nimmt,
wird immer anecken, unbequem sein und andere provozieren.
Denn die Nächstenliebe deckt Lieblosigkeit auf,
Unmenschlichkeit, Herzenskälte und Egoismus.
Und weil man gegen Nächstenliebe nichts sagen kann,
werden die Lieblosen, Unmenschlichen,
die Herzenskalten und Egoisten maßlos provoziert,
wenn jemand Nächstenliebe praktiziert.
Anders kann ich die maßlose Wut,
den unbändigen Hass nicht verstehen,
die der Satz „Wir schaffen das” ausgelöst hat.

Denn wir schaffen das ja tatsächlich.
Es ist überhaupt kein Problem für unser reiches Land,
die Flüchtlinge aufzunehmen und unterzubringen.
Es ist nicht eine Frage, ob wir das können, sondern ob wir das wollen.
Ich habe den Eindruck: Viele wollen es nicht.
Viele wollen Menschen in Not nicht aufnehmen,
wollen nicht gastfreundlich sein.
Warum wollen sie das nicht?

V. Jeder Besuch macht Umstände.
Man muss vorher aufräumen.
Man muss einkaufen und sich Zeit nehmen.
Man muss seinen gewohnten Tagesablauf unterbrechen.
Die Fernsehserie oder die Sportschau, die man immer schaut,
kann man nicht sehen;
das Computerspiel, auf das man sich gefreut hat,
kann man nicht spielen.
Schlimm.
Schlimme Einschränkungen sind das!
Und dann muss man sich ja auch noch unterhalten.
Man muss irgendwas unternehmen,
dabei säße man viel lieber allein auf dem Sofa.

Gastfreundschaft ist anstrengend,
weil sie gewohnte Abläufe unterbricht,
Veränderungen ins Leben bringt,
zum Improvisieren zwingt.

Jesus unterbricht die Lethargie der gewohnten Abläufe.
Er sabotiert den Bürokratismus,
der immer neue Ausreden für die Nächstenliebe erfindet.
Er macht Umstände, kommt ungelegen und ist unbequem.

Darum ist die Adventszeit eine Bußzeit.
Wir haben das vergessen.
Für viele von uns ist die Adventszeit ein Vorspiel
zum großen Konsumfest Weihnachten.
Da zeigen wir wieder durch die Massen an Geld, die wir ausgeben,
wie verlogen unser „Wir schaffen das nicht,
wir haben ja selbst nicht genug” ist.

Der Advent erinnert uns an die Nächstenliebe,
für die Jesus sein Leben gab.
Wir müssen nicht unser Leben geben.
Aber vielleicht machen wir einmal eine Tür mehr auf
als nur die Türchen am Adventskalender.

Amen.