Sonntag, 14. Juli 2024

Kinder und Erwachsene

Predigt am 7. Sonntag nach Trinitatis, 14.7.2024, über Exodus 16,2-3.11-18

Die ganze Gemeinde der Kinder Israel murrte gegen Mose und Aaron in der Wüste. Sie klagten: „Wären wir doch in Ägypten durch die Hand des Herrn gestorben, als wir beim Fleischtopf saßen und Brot die Fülle hatten. Denn ihr habt uns in diese Wüste geführt, damit diese ganze Gemeinde vor Hunger stirbt.”
Gott sagte zu Mose: „Ich habe das Murren der Kinder Israel gehört. Sage ihnen: Gegen Abend werdet ihr Fleisch essen, und am Morgen wird Brot euch sättigen. Dann werdet ihr erkennen, dass ich, der Herr, euer Gott bin.”
Am Abend stiegen Wachteln auf und bedeckten den Lagerplatz. Am Morgen entstand eine Tauschicht rings um den Lagerplatz. Und als sich die Tauschicht hob, sieh da, auf dem Wüstenboden war ein feines Knistern, eine dünne Reifschicht auf der Erde. Das sahen die Kinder Israel, und einer fragte den anderen: „Man hu?”, denn sie wussten nicht, was es war. Mose erklärte ihnen: „Das ist das Brot, das der Herr euch gibt. Und das ordnet er an: Jeder von euch sammle, so viel er isst. Ein Getreidemaß pro Kopf soll jeder sammeln, nach der Anzahl der Leute in seinem Zelt.
So machten es die Kinder Israel. Als sie sammelten, kam hier viel zusammen und da wenig. Aber als sie nachmaßen mit dem Getreidemaß, hatte nicht Überfluss, wer viel gesammelt hatte, und wer wenig zusammengebracht hatte, litt keinen Mangel. Jeder hatte so viel gesammelt, wie seine Familie aß.

Liebe Schwestern und Brüder,

wenn es nächste Woche in den Urlaub geht, liegen in vielen Familien die Nerven wieder blank. Kommt wieder das Quengeln vom Rücksitz: „Sind wir bald da? Mir ist langweilig! Ich hab Hunger! Ich muss mal. Können wir nicht mal anhalten?” „Quengeln” beschreibt lautmalerisch sehr treffend, wie sich Ungeduld, Unzufriedenheit und Langeweile anhören. Im „Quengeln” kommt auch das Gezerre an den Nerven zum Ausdruck, die immer weiter angespannt und strapaziert werden.

Dabei kann man als Fahrerin oder Fahrer nichts dafür, dass die Fahrt so lange dauert, dass es im Auto so eng und heiß ist, man im Stau steht, oder der nächste Rastplatz noch 70 km entfernt ist. Kinder sehen das nicht ein, auch nach der x-ten Reise nicht. Sie sehen noch nicht, dass diese Strapazen auf dem Weg zum Urlaubsziel am Ende mit der Schönheit des Ortes belohnt werden. Sie sehen nicht ein, dass Mutter oder Vater die falschen Adressaten für ihren Frust sind. Sie lassen ihren Unmut an den Eltern aus und machen sie verantwortlich.

Auch das Murren, das die Kinder Israel von sich geben, ist ein lautmalerisches Wort. Es entsteht aus dem Gemurmel, wenn Leute die Köpfe zusammenstecken. Das Gemurmel wird zu einem Murren, wenn sie merken: Wir sind nicht allein mit unserer Unzufriedenheit.  Irgendwann ist das Murren nicht mehr zu überhören. Die vielen Stimmen schwellen zu einem lauten Brausen an. Die vielen Unzufriedenen zeigen sich und bieten ihren Anführern die Stirn.

Dabei haben Mose und Aaron sich den Weg durch die Wüste nicht ausgesucht. Von Ägypten ins gelobte Land, nach Israel, führt der Weg nun einmal durch diese lebensfeindliche Gegend. Doch die Kinder Israel, gerade erst der Sklaverei entronnen, gerade erst einem Staat entkommen, der ihre Kinder ermordete, sehen nicht ein, für den Weg in die Freiheit Strapazen zu erdulden. Sie sehen nicht, dass Mose und Aaron die falschen Adressaten für ihren Frust sind. Sie lassen ihren Unmut an ihnen aus, machen sie verantwortlich.

In ihrer Unzufriedenheit verklären sie die Vergangenheit: „Wir hatten es doch eigentlich gut in Ägypten. Fleisch und Brot gab es reichlich, während uns hier in der Wüste ständig der Magen knurrt.” Die momentanen Schwierigkeiten lassen sie vergessen, warum sie Ägypten Hals über Kopf verlassen  mussten. Mit der Verklärung der Vergangenheit verdüstert sich die Gegenwart. Statt sich über die Freiheit zu freuen, die sie erlangt hatten und auf das Ziel, dem sie entgegengehen - einem Leben in Freiheit und Selbstbestimmung in einem Land, wo Milch und Honig fließen -, fürchten sie jetzt sogar um ihr Leben. Als hätte Moses aus Böswilligkeit gehandelt, als er sie aus dem Sklavenhaus befreite: „Ihr habt uns in diese Wüste geführt,  damit diese ganze Gemeinde vor Hunger stirbt.”

Solches Murren ist uns vertraut. Wir waren ja selbst einmal Kinder; wir haben oder hatten kleine Kinder, die uns mit ihrem Quengeln auf die Nerven gingen. Wir kennen auch heute solche Unzufriedenheit, und wir erleben, wie sie sich in zunehmendem Maße in unserer Gesellschaft ausbreitet.

So viele Gründe gibt es, unzufrieden zu sein. Eine sich rasend schnell verändernde Welt. Naturkatastrophen und beinahe täglich neue Herausforderungen, mit denen man sich konfrontiert sieht, lassen sehnsuchtsvoll zurückblicken in eine verklärte Vergangenheit, als das Leben noch nicht so  unübersichtlich und kompliziert war; als man sich noch nicht mit Fremden auseinandersetzen musste; als klare Verhältnisse herrschten in Familie und Gesellschaft; als man noch guten Gewissens mit Heizöl und Gas heizen konnte und einem niemand schief ansah, wenn man sich nicht politisch korrekt äußerte.

Doch es gibt keinen Weg zurück. Die Kinder Israels, die von den Fleischtöpfen Ägyptens träumen, wissen genau, dass sie nicht umkehren können. Ihnen wird in diesem Moment nur bewusst, was sie für ihre Freiheit aufgegeben haben: Verhältnisse, die unerträglich waren, aber vertraut. Man konnte sich, wenn man klug war oder Glück hatte, damit arrangieren. Alles hatte seinen Platz und seine festen Zeiten und man wusste, welche Wege man gehen musste, um sein Ziel zu erreichen. Die neue Freiheit dagegen bringt ihnen eine ungewisse Zukunft.

Es gibt keinen Weg zurück. Die Kinder im engen und heißen Auto sehnen sich zurück nach Hause, in ihre vertraute Umgebung, zu ihrem Spielzeug. Wie schön der Urlaub wird, können oder wollen sie sich nicht vorstellen. Erst recht nicht, wie traurig sie sein werden, wenn es am Ende des Urlaubs wieder nach Hause geht.

Es ist wohl gerade dieses Wissen, dass es kein Zurück gibt, das zu Unzufriedenheit, zu Quengeln und Murren führt. Das Murren sucht sich ein Ziel: für die Kinder im Auto sind es die Eltern; für die Kinder Israels sind es Mose und Aaron; für uns heute sind es die Politikerinnen und Politiker. 

Die Unzufriedenheit richtet sich gegen die Verantwortlichen. Weil sie Verantwortung übernommen haben, sollen sie auch für das verantwortlich sein, wofür sie gar nichts können und was nicht in ihrer Macht steht. Bei Mose und Aaron die geografischen Gegebenheiten; bei Eltern die Dauer und die Umstände der Reise; bei Politikerinnen und Politikern die Lage der Welt, die gewaltigen Umwälzungen durch die Klimaerwärmung, die Kriege in Europa und im Nahen Osten und die wirtschaftlichen und sozialen Probleme, die durch Konflikte in der Welt entstehen, wie der drohende Handelskrieg mit China oder die Flüchtlingsstöme aus den Kriegs-, Krisen- und Katastrophengebieten dieser Erde.

Es sind Veränderungen, die uns alle herausfordern und oft genug überfordern. Die Zukunft erscheint ungewiss, sogar düster. Man kann sich nicht vorstellen, dass und wie es einmal wieder besser werden soll. Solche Situationen sind unglaublich schwer auszuhalten. Denken Sie nur an die Autofahrt mit den Kindern: Irgendwann reißen die Nerven, die das Quengeln immer weiter angespannt hat.

Diese Spannung sucht sich ein Ventil: Man schreit die Kinder an, den Partner oder die Partnerin. Wenn eine Autofahrt, die doch nur Stunden dauert, schon so unter Druck setzen kann, dass man einander weh tut: Wieviel mehr eine so unübersichtliche, aufgeladene, gefährliche Lage, in der sich unsere Welt befindet. Auch hier entlädt sich die Spannung, sucht sich ein Ventil, sucht nach Verantwortlichen oder Sündenböcken.

In der Geschichte greift Gott ein, als die Situation eskaliert. Gott übernimmt Verantwortung. Er hilft Mose und Aaron aus der Bredouille, lässt Wachteln und Manna regnen, damit die Kinder Israels ihren Hunger stillen können. Das Murren verstummt. Es herrscht wieder Ruhe. Doch die Ruhe ist nur von kurzer Dauer. Schon bald wird es neuen Unmut geben: Es fehlt an Wasser in der Wüste. Auf Dauer ist die Wachtel-Manna-Diät eintönig und langweilig. Und wieder fängt das Volk an zu murren.

Das göttliche Eingreifen hat an der Sache nichts geändert. Es wird so lange nichts ändern, wie die Kinder Israels sich wie Kinder verhalten, das heißt: keine Verantwortung für sich und ihre Lage  übernehmen. Auch, und gerade, wenn sie an ihrer Lage nichts ändern können. Solange sie die Verantwortung ihren Anführern zuschieben, werden sie Mose und Aaron für alle Schwierigkeiten die Schuld geben. Sie kommen gar nicht auf die Idee, zu überlegen, ob und wie sie ihre Lage verbessern, wie sie mit der Situation anders umgehen könnten. Sie kommen auch nicht auf die Idee, sich zu fragen, welchen Anteil sie an dieser Lage haben und ob sich womöglich etwas änderte, wenn sie sich änderten.

Gott übernimmt Verantwortung - und gibt sie an die Kinder Israels zurück. Doch zunächst wirkt Gott ein weiteres Wunder. Dieses Wunder ist wohl noch größer, als es die Speisung mit Manna und Wachteln war. Es ist das Wunder der gerechten Verteilung des Essens. Obwohl alle unterschiedlich viel vom Manna sammeln - einige scheffeln, so viel sie können, andere scheinen bald die Lust zu verlieren, die kleinen Körnchen aus dem Sand zu klauben - am Ende haben alle so viel, wie sie zum Leben brauchen. Nicht gleich viel - die eine braucht mehr, der andere braucht weniger -, aber so viel, wie jede und jeder nötig hat.

Als ich ein Kind war, tat ich mir immer zu viel Essen auf den Teller. Ich hatte Angst, dass ich zu kurz komme und dass am Ende nicht genug für mich übrig bleiben würde. Ich habe es nie geschafft, meinen Teller leer zu essen. Meine Oma schimpfte mit mir und zwang mich, sitzen zu bleiben, obwohl ich keinen Bissen mehr herunterbrachte. Wir saßen beide am Küchentisch, ich vor meinem halb vollen Teller, meine Oma mit vorwurfsvollem Blick mir gegenüber, bis meine Oma meinte, nun sei es genug.

Ein Kind kann noch nicht einschätzen, wie viel es braucht, um satt zu werden. Eine Erwachsene, ein Erwachsener schon. Es ist ein Zeichen des Erwachsenseins, wenn man sich seinen Teller nicht mehr vollschaufeln muss und die Menge abschätzen kann, damit es für alle reicht.

Das Wunder der gerechten Verteilung am Ende der Geschichte weist in eine Richtung, die wir einschlagen können: Wir könnten uns wie Erwachsene verhalten. Erwachsene, die Mengen oder eine Situation einschätzen können. Die wissen, dass eine Autofahrt nun einmal dauert, dass ein Stau zwar ärgerlich, aber eben auch oft unvermeidlich ist. Die wissen, dass Probleme sich nicht dadurch lösen, dass man trotzig mit dem Fuß aufstampft und die gelernt haben, dass es auf gesellschaftliche Fragen keine einfachen Antworten gibt.

Auch Erwachsene können nicht jede Situation verändern, nicht aus jeder Lage das Beste machen. Auch sie müssen oft aushalten, dass es keine Lösung gibt. Doch ihre Erfahrung und ihr Wissen ermöglichen ihnen, über die Misere hinaus zu sehen, sich eine Zukunft vorzustellen und zu überlegen, wo und wie sie selbst etwas dazu beitragen könnten.

Gott führt seine Kinder durch die Wüste, damit sie erwachsen werden. Der Weg ist das Ziel. Ein Weg, bei dem die Rückkehr verschlossen, die Zukunft verheißungsvoll, aber noch offen ist. Vier Bücher der Bibel, die Bücher Exodus, Leviticus, Numeri und Deuteronomium - oder das 2., 3., 4. und 5. Buch Mose - handeln von diesem Weg, auf dem die Kinder Israels erwachsen werden. Murren gehört dazu, die Gebote und der Glaube, der in ihnen wächst.

Der Glaube an Gott macht nicht hilflos und klein, nicht abhängig und ohnmächtig. Der Glaube an Gott stärkt das Vertrauen, dass man etwas bewirken und verändern kann. Er stärkt unser Vertrauen auf das Eingreifen Gottes. Auf das Wunder, dass wir uns mit Gottes Hilfe ändern, dass unsere Mitmenschen sich verändern können. Das Wunder, dass - auch, wenn wir es immer wieder anders erleben - Menschen in der Lage sind, sich nur so viel zu nehmen, wie sie brauchen, damit auch die anderen leben können und genug zum Leben haben. 

Sonntag, 30. Juni 2024

Paradoxa

Predigt am 5. Sonntag nach Trinitatis, 30. Juni 2024, über 2.Korinther 12,9+10:

Predigt am 5. Sonntag nach Trinitatis, 30. Juni 2024, über 2.Korinther 12,9+10:


Christus sagte mir:

Dir soll meine Gnade genügen,

denn die Kraft vollendet sich in Schwachheit.

Darum gefallen mir Schwachheit, Misshandlung, Zwang,

Verfolgung, oder dass ich in der Klemme stecke,

wenn es für Christus ist.

Denn wenn ich schwach bin, bin ich stark.


Liebe Schwestern und Brüder,


Glauben ist nicht Wissen, sagt man. Das stimmt natürlich.

Wenn ich glaube, dass Spanien heute Abend gegen Georgien gewinnt,

hat das einige Wahrscheinlichkeit für sich.

Aber wissen kann man es erst, wenn das Spiel abgepfiffen wurde.

Mein Glauben ist ein Vermuten,

eine mehr oder weniger gut begründete Annahme.

Ob ich glaubwürdig bin, hängt unter anderem davon ab,

wie oft ich mit meinen Vermutungen richtig liege.

Wer mich kennt, weiß, dass ich keine Ahnung von Fußball habe

und wird deshalb meinem Glauben nicht trauen,

jedenfalls, was das Spiel heute Abend betrifft.


Auch der Glaube an Gott ist kein Wissen.

Der Glaube an Gott hat aber auch nichts zu tun

mit dem alltäglichen Glauben, das ein Vermuten ist.

Diese Unterscheidungen zwischen Glaube und Wissen,

zischen Glaube und Vermutung werden oft verwischt.

Wenn es im Glaubensbekenntnis heißt:

„Ich glaube an Gott, den Schöpfer des Himmels und der Erde”,

dann steht dieser Glaubenssatz nicht im Widerspruch

zu unserem heutigen Wissen.

Wer Gott als Schöpfer bekennt,

ist nicht automatisch davon überzeugt,

dass die Welt in sechs Tagen entstand,

oder dass sie erst 5784 Jahre alt ist,

wie es der jüdische Kalender errechnet.


Glaube ist auch kein Vermuten,

mit dem man manchmal richtig liegt und manchmal nicht.

„Ich glaube an Gott” bedeutet nicht,

dass ich vermute, dass es Gott gibt.

Ich weiß, dass es Gott gibt.

Wäre Glauben dasselbe wie Vermuten,

würde man auf eine Bestätigung warten, dass es Gott tatsächlich gibt.

Diese Bestätigung erhält man nicht.

Man kann Gott nicht sehen, messen oder beweisen.

Das ist das stärkste Argument derer,

die den Glauben an Gott für Unsinn halten.

Dabei haben sie gar nicht begriffen, was Glauben tatsächlich ist.


Glauben an Gott ist etwas anderes als Vermuten oder Wissen.

Es ist eine besondere Fähigkeit, die alle Menschen besitzen,

so wie jeder Mensch zu Mitgefühl oder Liebe fähig ist.

Sie ist nur bei jeder und jedem unterschiedlich ausgeprägt,

und manche haben sie noch nicht für sich entdeckt.


Will man von dieser Fähigkeit sprechen,

und will man dabei vermeiden,

sie mit Wissen oder Vermuten zu verwechseln,

kann man einen Trick anwenden: Das Parádoxon.

Ein Parádoxon ist eine Aussage, die keinen Sinn ergibt,

wenn man sie auf herkömmliche Weise zu verstehen versucht.

Paulus ist geradezu ein Meister der Parádoxa.

Ständig benutzt er solche widersinnigen Aussagen,

um den Leserinnen und Lesern seiner Briefe deutlich zu machen,

was der Glaube an Christus bedeutet, und was nicht.


Auch der Gemeinde in Korinth schreibt er allein im heutigen Abschnitt

drei paradoxe, widersinnige Sätze.

Der erste lautet: „Die Kraft vollendet sich in Schwachheit”,

der zweite: „Mir gefallen Schwachheit, Misshandlung, Zwang, Verfolgung”

und der dritte: ”Wenn ich schwach bin, bin ich stark.”


I

Der Widerspruch des ersten Satzes,

„die Kraft vollendet sich in Schwachheit” sticht sofort ins Auge.

Kraft und Schwachheit bilden einen Gegensatz,

eins schließt das andere aus.

Entweder ist man stark, oder man ist schwach; beides geht nicht -

jedenfalls nicht in derselben Disziplin.


Im Sport geht es darum, die Kraft zu steigern, immer besser zu werden:

schneller, höher, weiter ist das Motto.

Bis zu einem gewissen Punkt macht das Spaß.

Aber irgendwann wird es eine Quälerei.

Ist schneller, höher, weiter zum Selbstzweck geworden,

geht die Freude am Sport verloren.

Man kann sich nur noch freuen, wenn man gewinnt,

freut sich nicht mehr am Spiel, an der Bewegung an sich.


Damit Sport Freude macht, muss man Schwäche zulassen.

Schwäche in dem Sinne, dass man darauf verzichtet

den Sieg um jedem Preis und mit allen Mitteln zu erringen.

So können die Freude an der Bewegung, am Können, am Miteinander

im Mittelpunkt stehen, und der Sieg ist nicht mehr die Hauptsache.


So verstehe ich Paulus’ Satz: „Die Kraft vollendet sich in Schwachheit”.

Auf den Glauben angewandt bedeutet er:

Glaube ist kein Leistungssport.

Im Mittelalter versuchten manche Gläubige, besonders Mönche und Nonnen,

auf groteske Weise, Höchstleistungen im Glauben zu vollbringen.

Sie fasteten, beteten oder wachten bis zum Umfallen.

Von Franz von Assisi wird erzählt, er habe mit einem Leprakranken

aus einer Schüssel gegessen, um sich selbst dafür zu bestrafen,

dass er sich vor dessen blutigen Händen geekelt hatte.

Andere taten sich körperliche Qualen an,

legten sich Steinchen in die Schuhe, schlugen sich mit Geißeln

und hielten das für einen Ausdruck besonderer Frömmigkeit.


Etwas von dieser Haltung steckt auch ins uns,

wenn wir ein schlechtes Gewissen bekommen,

dass wir nicht oft genug in die Kirche gegangen sind,

nicht oft genug gebetet oder in der Bibel gelesen haben,

nicht genug gespendet oder uns engagiert haben.


Glaube soll kein schlechtes Gewissen machen,

Glaube soll befreien und Freude machen.

Damit er das tun kann, muss man sich eingestehen,

dass man manchmal keine Lust auf Kirche hat,

und dass das in Ordnung ist.


II

Der zweite, widersprüchliche Satz von Paulus lautet:

„Mir gefallen Schwachheit, Misshandlung, Zwang, Verfolgung.”

Bei diesem Satz ist die Paradoxie noch offensichtlicher als beim ersten:

Wie kann einem Misshandlung, Zwang, Verfolgung gefallen?

Wer daran Freude hat, der ist doch nicht normal!?


Natürlich hat auch Paulus keine Freude daran,

wenn ihm weh getan wird oder er Angst ausstehen muss.

Warum sagt er es dann so,

dass man ihn missverstehen muss?


Wenn ich als Kind krank war, war es für mich das schönste,

dass ich im Bett liegen bleiben durfte

und meine Mutter mir neben der bitteren Medizin

leckeres Essen ans Bett brachte oder mir eine Geschichte vorlas.


Als Kind fällt es einem noch leicht, sich verwöhnen zu lassen.

Manche Erwachsenen behalten diese Fähigkeit ihr Leben lang -

man wirft ihnen wahlweise Faulheit vor, oder beneidet sie darum.

Vielen aber fällt es schwer, sich helfen zu lassen oder gar um Hilfe zu bitten,

weil sie das als Schwäche empfinden.


Wenn aber Glaube bedeutet, mit Gott in Kontakt zu kommen,

Gott zu begegnen, dann geht das nur dadurch,

dass man sich von Gott helfen lässt,

indem man sich eingesteht, dass man schwach ist und Hilfe braucht.

Darum gefällt Paulus Schwachheit: dadurch erfährt er Gottes Hilfe,

dadurch kommt ihm Christus nahe.

Diese Erfahrung kann er nicht machen, wenn er sich selbst hilft,

oder wenn er niemals Angst, Leid, Not erfährt.


Das bedeutet nicht, dass man Schlimmes erleben muss,

um die Erfahrung der Nähe Gottes zu machen -

wie auch ich nicht erst krank werden musste,

damit meine Mutter mir eine Geschichte vorlas

oder mir etwas Leckeres zu essen machte.


Es bedeutet, dass wir gerade in Situationen,

in denen wir uns schwach und hilflos fühlen,

die Erfahrung machen können, dass Gott uns nahe ist.

Glaube ist nicht nur etwas für schöne, unbeschwerte Tage,

sondern auch und gerade für die trüben Tage, die uns nicht gefallen.


III

Das dritte Parádoxon lautet: ”Wenn ich schwach bin, bin ich stark.”

Inzwischen ist klar, dass es sich dabei nicht um körperliche Stärke handelt.

Man kann, wie gesagt, nicht zugleich körperlich stark und schwach sein.

Aber es gibt ja noch andere Arten von Stärke:


Man spricht von starken Nerven,

wenn jemand auch in unübersichtlichen, anstrengenden oder

herausfordernden Situationen ruhig bleiben kann.


Man spricht von Charakterstärke,

wenn jemand seine Haltung bewahrt

und seine Meinung nicht der jeweils vorherrschenden anpasst,

auch wenn er oder sie dadurch Nachteile erfährt.


So bewundert man auch die Glaubensstärke bei jemandem,

die bei Leid oder Krankheit nicht mit Gott hadert,

sondern im Glauben Trost und Halt findet.


Solch innere Stärke ist eine Fähigkeit, die man trainieren kann,

wie man seine Muskeln trainiert.

Man kann sogar den Glauben trainieren,

indem man immer wieder das Gespräch, die Begegnung mit Gott sucht

und, wie es im ersten Psalm heißt, über Gottes Wort nachdenkt,

wann immer sich dazu eine Gelegenheit ergibt.


Solches Glaubenstraining schützt nicht vor Enttäuschung,

es schützt nicht vor Zweifel oder dem Gefühl,

von Gott vergessen oder im Stich gelassen worden zu sein.

Im Gegenteil: Damit der Glaube Halt geben und trösten kann,

muss man auch diese Erfahrungen gemacht haben.

Man lernt zu ertragen, dass der eigene Glauben schwach ist

oder vielleicht sogar abhanden gekommen scheint.


Das Glaubenstraining hilft dabei,

das Gespräch mit Gott wieder aufzunehmen.

Dabei kann man die Erfahrung machen:

Gott hat niemals den Hörer aufgelegt,

Gott hat die ganze Zeit am anderen Ende des Hörers gewartet,

dass wir wieder ans Telefon gehen.


Auch hier gibt es ein Parádoxon:

Wenn wir die Verbindung niemals abbrechen,

wenn wir nie vom Telefon weggehen,

können wir nicht die Erfahrung machen,

dass Gott die ganze Zeit in der Leitung war.

Unsere Schwäche gereicht uns nicht zum Nachteil,

sondern ermöglicht uns erst die Erfahrung des Glaubens:

Die Schwäche macht uns stark.


IV

Was will Paulus den Korinthern, was will er uns über den Glauben sagen?

Ich denke, zuallererst will er Mut machen zu scheitern.

Wenn man die Angst vor dem Scheitern,

die Angst vor dem Verlust des Glaubens verliert,

wird Glaube wieder das, was er sein soll:

eine wohltuende Erfahrung, die glücklich, frei und selbstbewusst macht.


Paulus will auch Mut machen, sich den Glauben schenken zu lassen.

Nicht dem Glauben hinterherjagen,

sondern warten, dass der Glaube zu einem kommt.

Manchmal braucht man eine Pause vom Gottesdienst, von der Kirche.

Manchmal sagt einem das alles nichts mehr,

fehlt die innere Beteiligung.

Das ist menschlich. Nur keine Panik.

Der Glaube kommt zurück, wenn man am wenigsten damit rechnet.


Glaube ist eine Kraft, die jede und jeder besitzt

und die man sich doch nicht selbst erschließen kann.

Sie fällt einem zu, wenn man sich dafür öffnet, das heißt: wenn man schwach ist,

nicht auf die eigene Kraft, die eigene Leistung allein vertraut.

Die Kraft des Glaubens fällt einem zu,

weil Gott uns seine Gnade schenkt.

Gottes Gnade schenkt uns den Glauben -

diese besondere, einzigartige Kraft,

die uns in Gottes Nähe führt

und durch die Gott uns nahe kommt.


Darum bekennen wir Gott als Schöpfer.

Gott weckt in uns die schöpferische Kraft des Glaubens,

die uns stark macht, wenn wir schwach sind

und durch die unsere Schwäche zur Stärke wird.

Montag, 24. Juni 2024

ich muss abnehmen

Ansprache am Johannistag, 24.6.2024, über Johannes 3,22-30


Liebe Schwestern und Brüder,


ich muss abnehmen - das schießt einem manchmal durch den Kopf,

wenn man an sich hinunter auf die Anzeige der Waage blickt.

„Ich muss abnehmen”, denkt man. 

Aber dann locken der leckere Nachtisch,

dies eine, kleine Stückchen Schokolade zwischendurch, 

die paar Chips vor dem Fernseher.

Und beim nächsten Mal auf der Waage

ist der blöde Zeiger schon wieder ein Stück nach rechts gerückt.


„Er muss wachsen, ich aber muss abnehmen.”

Johannes muss auch abnehmen,

obwohl er bei seiner kargen Diät von Heuschrecken und Honig

nichts ansetzen konnte.

Was bei Johannes schwindet, ist denn auch nicht der Bauch,

der ohnehin nicht vorhanden war, sondern der Einfluss.

Johannes hatte mit seiner Botschaft von der Umkehr

viele Menschen erreicht,

hatte Jünger um sich geschart

und war so etwas wie eine Berühmtheit geworden.

Selbst König Herodes kannte und fürchtete ihn,

weil Johannes öffentlich dessen liederliches Leben angeprangert hatte:

Herodes lebte mit der Frau seines Bruders zusammen.

Aber seit er Jesus getauft hatte,

war der in den Mittelpunkt des Interesses gerückt,

während Johannes’ Einfluss geschwunden war.


Johannes ist nicht traurig darüber,

er ist nicht neidisch auf Jesus’ Erfolg.

Er war der Vorläufer, der Wegbereiter.

Seine Arbeit ist getan, mission accomplished.

Jetzt übernimmt der Sohn Gottes.


Es ist alles andere als selbstverständlich,

dass jemand, der selbst etwas darstellt,

der wichtig und bedeutend ist,

sich mit der Position am Rand zufrieden gibt

und sich über den Erfolg des anderen von Herzen freut.


Auch in unserer Gemeinde sind meist nur wenige zu sehen,

während viele am Rand oder im Hintergrund dafür arbeiten,

dass alles läuft und gut gelingt.

Viele, die im Leben etwas geleistet haben oder noch leisten,

die Verantwortung trugen, wichtige Leute waren oder sind,

die man kennt und auf der Straße grüßt,

übernehmen in der Gemeinde ganz selbstverständlich Aufgaben,

für die sie selten gewürdigt werden und ein Dankeschön erhalten.

Aufgaben, die man oft nicht sieht, nur deren Ergebnisse,

und bei denen Sie meist nicht sichtbar sind.

Doch ohne Sie, ohne die vielen Johannas und Johannesse,

gäbe es die Domgemeinde nicht, würde hier nichts stattfinden,

wäre der Dom nicht ein so einladend offenes Haus, wie er es ist.


Sie tun das nicht für uns, die vorne stehen und zu sehen sind.

Denn wir sind ja nicht Jesus.

Auch wir, die Lektorinnen und Lektoren, 

Kantor, Gemeindepädagoge und Pastor,

auch wir sind Johannas und Johannesse, die auf Jesus weisen,

von ihm erzählen mit Worten und Musik, um ihn groß zu machen.

Gemeinsam mit Ihnen arbeiten wir daran, dass die Gemeinde wachsen 

und die Freude am Glauben zunehmen kann.

Die einen sozusagen vor der Kamera, und die anderen dahinter.


Bei aller Bescheidenheit, bei allem auf-Jesus-Weisen

darf man auch selbst im Rampenlicht stehen

und das Lob, den Beifall genießen, 

wenn man seine Sache gut gemacht hat.

So haben die Konfirmandinnen und Konfirmanden

bei ihrer Vorstellung und ihrer Konfirmation

zu recht viel Aufmerksamkeit und Lob bekommen,

weil sie ihre Sache sehr, sehr gut gemacht haben.

Das hat der Sache Jesu keinen Abbruch getan.

Im Gegenteil: Gerade sie haben mit ihrem Auftreten -

im biblischen Sprachgebrauch würde man sagen: mit ihrem Zeugnis - 

noch einmal ganz andere Menschen erreicht

und Menschen noch einmal ganz anders erreicht,

als z.B. ich das mit meiner Predigt kann.


Darum ist es mir so wichtig,

dass Sie alle zu sehen sind, wenigstens ab und zu.

Ich weiß, dass das vielen von Ihnen unangenehm ist.

Man möchte nicht im Licht der Öffentlichkeit stehen,

man möchte vielleicht auch nicht als unbescheiden gelten.

Trotzdem ist es so wichtig, dass Sie zu sehen sind:

Jede und jeder von Ihnen weist auf seine und ihre Weise auf Jesus.

Auf eine Weise, die einzigartig ist

und die Menschen anspricht, die anders 

und von anderen nicht angesprochen werden.

Ganz abgesehen davon darf man sich auch mal loben lassen

und stolz sein auf das, was man geleistet hat.


Ich habe keine Sorge, dass Sie dabei übermütig

oder gar eingebildet werden könnten.

Denn in diesem Satz des Johannes:

„Er muss wachsen, ich aber muss abnehmen”

steckt noch etwas anderes.

Darin steckt, dass durch den Glauben

Christus immer mehr in uns Raum gewinnt.

Christus wächst in uns,

während wir selbst kleiner werden.

Nicht in dem Sinn, dass wir unwichtig sind,

oder dass wir uns nicht zeigen,

uns über eine gute Leistung freuen dürfen.


Siegmund Freud hat den Satz geprägt:

„Wo Es war, soll Ich werden”.

Er meint damit, dass durch die analytische Arbeit

Unbewusstes bewusst gemacht werden soll.

Man ist dann nicht mehr seinen Stimmungen, 

seinen Gefühlen - dem Es - ausgeliefert.

Man kann entscheiden, ob man Zorn oder Trauer

ausleben will oder, weil man weiß, woher sie kommen,

sie wahrnimmt und beiseite legt.

Aus dem unbewussten Es wird das bewusste Ich.


Paulus schrieb, lange vor Freud:

„Nun lebe nicht mehr ich, sondern Christus lebt in mir”.

Er meint damit etwas ähnliches wie Freud.

Wenn Christus in uns wächst,

werden unsere Entscheidungen immer mehr von Gottes Liebe bestimmt, 

die Christus lebte und verkörperte.

Wenn Christus in uns wächst,

werden Nächsten -, Gottes- und Selbstliebe eine Einheit.

Sie machen sich nicht Konkurrenz, sie ergänzen einander

und gehen ineinander über.

Auf diese Weise wird unser Ich kleiner,

ohne zu verschwinden, und Christus wird groß in uns.


Und weil Christus in uns wächst und groß wird,

darum sind wir alle seine Botschafterinnen und Botschafter.

Wir alle erzählen von ihm auf unsere besondere, einzigartige Weise,

mit Musik, mit Worten, mit Blumen,

durch den Kaffee, den wir für andere kochen,

die Würstchen, die wir grillen.

Indem wir den Dom öffnen und ihn Leuten erklären,

die wissen wollen, was das für ein Gebäude ist.

Sie alle, wir alle tun eine unschätzbare, unbezahlbare

und so wichtige Arbeit als Johannas und Johannesse.


Heute, am Johannistag, soll Ihnen das einmal bewusst werden.

Wenigsten heute sollen Sie stolz auf sich sein,

auf das, was Sie leisten und der Domgemeinde von sich geben.

Und ich will Ihnen heute dafür Danke sagen:

Danke im Namen des Kirchengemeinderates.

Danke im Namen der unzähligen Menschen,

die den Dom besuchen, die Konzerte und Gottesdienste.

Wie schön, dass es Sie gibt,

dass Sie Ihr Herz an die Domgemeinde verloren haben

und dass Sie auf Ihre ganz besondere Art

Botschafterinnen und Botschafter der Liebe Gottes sind!

Sonntag, 23. Juni 2024

alles auf eine Karte gesetzt

Predigt am 4. Sonntag nach Trinitatis, 23.6.2024, über 1.Samuel 24,1-20:

David hielt sich in den Bergfestungen von En-Gedi vor König Saul versteckt.
Da wurde Saul gemeldet: David ist in der Wüste En-Gedi.
Daraufhin verpflichtete Saul 3.000 junge Männer aus ganz Israel
und zog aus, David und seine Männer ausfindig zu machen.
Als Saul an einen steinernen Pferch am Weg kam, war da eine Höhle.
In die ging Saul hinein, um sich zu erleichtern.
David und seine Männer aber hielten sich im hinteren Teil der Höhle auf.
Die Männer sagten zu David: Heute ist der Tag, von dem Gott sagte:
Ich liefere dir deinen Feind aus. Nun tu mit ihm, was dir am besten erscheint.
David erhob sich und schnitt vorsichtig einen Zipfel von Sauls Hemd ab.
Danach klopfte sein Herz, weil er einen Zipfel von Sauls Hemd abgeschnitten hatte.
Dann sagte er zu seinen Männern: Gott behüte, dass ich so etwas tue
und erhebe meine Hand gegen meinen Herrn, den Gesalbten Gottes.
Denn er ist doch der Gesalbte Gottes!
Und er befahl seinen Männern, wegzutreten
und ließ nicht zu, dass sie sich gegen Saul erhoben.

Saul verließ die Höhle und ging seines Weges.
Kurz darauf stand David auf, trat aus der Höhle und rief Saul hinterher:
Mein Herr König!
Als Saul sich umdrehte,
neigte David sein Gesicht zur Erde und warf sich vor ihm nieder.
Dann sprach er zu Saul:
Warum hörst du auf die Leute, die behaupten: David plant Unheil gegen dich!
Siehe da, heute siehst du mit eigenen Augen,
dass Gott dich in dieser Höhle mir ausgeliefert hat.
Man riet mir, dich totzuschlagen; das hättest du verdient.
Aber ich sagte: Ich werde meine Hand nicht gegen meinen Herrn erheben,
denn er ist der Gesalbte Gottes.
Sieh her, mein Vater! Sieh doch den Zipfel deines Hemdes in meiner Hand!
Sieh, ich schnitt diesen Zipfel von deinem Hemd ab, ohne dich zu töten.
Sehe und erkenne, dass ich weder Böses im Sinn habe,
noch mich gegen dich auflehne, noch habe ich mich an dir vergangen.
Du aber stellst meiner Seele nach, sie mir zu nehmen.
Gott möge richten zwischen mir und dir,
Gott möge mich an dir rächen, aber meine Hand wird nicht gegen dich sein.
Wie das alte Sprichwort sagt:
„Verbrechen geschehen durch Verbrecher”,
aber meine Hand wird nicht gegen dich sein.
Wem jagt der König Israels nach? Wen verfolgst du?
Einen toten Hund, einen einzigen Floh.
Aber Gott soll Richter sein, und richten zwischen mir und dir.
Er wird die Beweise sichern und meinen Prozess führen
und mir aus deiner Hand zum Recht verhelfen.

Nachdem David diese Worte zu Saul gesprochen hatte, sagte Saul:
Ist das die Stimme meines Sohnes David? Und Saul begann laut zu weinen.
Er sprach zu David: Du bist gerechter als ich.
Denn du hast mir Gutes erwieseń, ich aber habe es dir mit Bösem vergolten.
Du hast mir gerade berichtet, was du mir Gutes tatest,  als Gott mich dir auslieferte.
Du hast mich nicht umgebracht.
Wer trifft auf seinen Feind und sorgt, dass es ihm gut geht?
Vergelt’s Gott für das Gute, das du heute für mich getan hast!


Liebe Schwestern und Brüder,

diese Geschichte von David und Saul ist so spannend wie einer der Italo-Western von Sergio Leone, die regelmäßig im Fernsehen wiederholt werden: „Spiel mir das Lied vom Tod”, „Zwei glorreiche Halunken” oder „Für eine Handvoll Dollar”. Auch hier geht es um Leben und Tod, auch hier steht für einen Augenblick auf Messers Schneide, ob die Sache für den Guten böse oder gut ausgeht.

Die Landschaft dieser Italo-Western, die überwiegend in Spanien gedreht wurden, liefert die Kulisse für unsere Geschichte: So können wir uns die Wüste En-Gedi und die Berge vorstellen, in denen sie spielt. Und wie in Sergio Leones Western gibt es auch hier, trotz aller Spannung und trotz allen Ernstes, eine Spur von Humor: Es ist eine anrüchige Geschichte, im wahrsten Sinne des Wortes.

König Saul war in eine äußerst missliche Lage geraten. Als er dringend mal musste, betrat er ausgerechnet die Höhle, in der sich David mit seinen Kumpanen versteckt hielt. Er ging allein hinein, natürlich, und war dadurch völlig ungeschützt. Man kann sich kaum eine unglücklichere Situation vorstellen als die, in der Saul sich befand. Zum Glück wusste er es da noch nicht.

Aber auch David saß in der Klemme. Nie schwebte er in größerer Gefahr, entdeckt zu werden, als in diesem Moment in der Höhle. Ein Mucks, und es wäre mit ihm vorbei gewesen. Saul hätte sofort um Hilfe gerufen. Draußen warteten 3.000 Bewaffnete, die seit Monaten nach ihm gejagt hatten; er wäre niemals entkommen.

David war früher einmal von Saul als Musiktherapeut engagiert worden. Durch sein Harfenspiel und seinen Gesang sollte er die Schwermut vertreiben, die ihn oft befiel. Saul wusste nicht, dass er sich mit David seinen Rivalen ins Haus geholt hatte. Der Prophet Samuel, der Saul zum König gesalbt hatte, wodurch er der Messias wurde, der Gesalbte Gottes, hatte inzwischen David zu seinem Nachfolger gemacht. Auch David war ein Gesalbter Gottes; er war es nur noch nicht offiziell.

Im Laufe der Zeit wurde Saul misstrauisch. Er spürte, dass David sein Rivale war. Irgendwann wurde es ihm zur Gewissheit. Er entschloss sich, David aus dem Weg zu räumen. David musste den Palast fluchtartig verlassen. Sein Freund, Sauls Sohn Jonathan, hatte ihm vor den Plänen seines Vaters gewarnt und ihm bei seiner Flucht geholfen. David wurde Anführer einer Gruppe von Banditen. Er beraubte und tötete die Philister, die mit den Israeliten im selben Land wohnten. Dadurch machte er sich einen Namen und baute seine Beliebtheit im Volk aus. Zugleich war er selbst ein Gejagter, immer auf der Flucht, damit Saul und seine Soldaten ihn nicht erwischten.

Saul verfolgte David erbarmungslos. Wo David mit seiner Bande zuschlug, schickte er Soldaten hin, aber sie kamen immer zu spät. Er hatte auch Späher beauftragt, nach ihm zu fahnden. Die neueste Nachricht war vielversprechend: David hatte sich in die Wüste En-Gedi zurückgezogen. Jetzt hatte er ihn. Dort saß er in der Falle.

David sah Saul von den Bergen aus  mit seinem riesigen Heer heranrücken. Ein Kampf war aussichtslos. Hundert Soldaten Sauls gegen einen von seinen Männern. David konnte nur hoffen, dass Saul ihn nicht entdeckte. So versteckte er sich mit seiner Bande in einer Höhle.

Nun, in dieser Höhle in der Wüste En-Gedi, war König Saul David ausgeliefert, ohne es zu ahnen. Für David war es die Gelegenheit, seinen Verfolger auszuschalten und den Thron an sich zu reißen. Die 3.000 Mann draußen hätten ihn als neuen König akzeptiert, wenn er mit dem Kopf Sauls in der Hand vor die Höhle getreten wäre.

Aber David hatte offenbar Skrupel, Saul zu töten. Die Anrede, die sie füreinander haben, „mein Vater” - „mein Sohn” beweist, dass sie sich einmal sehr nahe gestanden hatten. Von dieser Nähe war noch etwas da. David brachte es nicht über sich, Saul hinterrücks zu ermorden.

So war auch David in gewisser Weise seinen Männern ausgeliefert. Sie akzeptierten ihn nur so lange als Anführer, wie er sich als stark und überlegen erwies. Sobald er Schwäche zeigte, würde ein anderer seinen Platz einnehmen. 
Sie spüren, dass David zögert und zwingen ihm zum Handeln: „Heute ist der Tag, von dem Gott sagte: Ich liefere dir deinen Feind aus. Nun tu mit ihm, was dir am besten erscheint”.

Man kann sich ihre finsteren Mienen, ihre kalten, erbarmungslosen Augen vorstellen, wie sie David mustern. Es kann keinen Zweifel geben, was sie von ihm erwarten. David bleibt nichts anderes übrig, als sein Messer zu zücken und sich von hinten an Saul heranzuschleihen.

Doch er sticht nicht zu. Mit scharfer Klinge, klopfendem Herzen und Schweißperlen auf seiner Stirn schneidet er einen Streifen von Sauls Hemd ab. Damit kehrt er zu seinen Männern zurück. David hat die Mutprobe bestanden. Er hat sich als Anführer bewährt, auch wenn seine Bande mit dem Ergebnis nicht zufrieden sein kann.

David hat nun ein Faustpfand in der Hand, mit dem er einen sicheren Abzug für sich und seine Männer aushandeln will: Das Stück Stoff, das er von Sauls Hemd abschnitt. Nun kommt es zum eigentlichen Showdown: David tritt aus der Höhle und ruft seinen Feind beim Namen.

Im Western würden nun beide Gegner einander umkreisen, sich unablässig in die Augen starren, die Hand über dem Griff des Colts, bis einer von beiden es nicht mehr aushält, seinen Colt zieht - aber da hat der andere schon abgedrückt.

David macht das Gegenteil: Er blickt Saul nicht an, sondern wirft sich zu Boden, liefert sich ihm aus. Saul wird von dieser Begegnung kalt erwischt und ist erst einmal sprachlos - die Gelegenheit für David, seine Sache vorzubringen.

Er nimmt kein Blatt vor den Mund. Hatte er sich eben noch demütig gezeigt, wirken seine Worte jetzt wie Ohrfeigen. Aber so sicher er sich ist, im Recht zu sein, David pokert hoch. Wenn Saul ihn wirklich tot sehen will, dann hat jetzt seine Stunde geschlagen.

Aber auch Saul kann David nicht töten. Auch ihn übermannt die Erinnerung an bessere Tage, ihm kommen sogar die Tränen. Und er gesteht David gegenüber ein, im Unrecht zu sein und ihm Unrecht getan zu haben.

Wie kommt es zu dieser Wendung der Geschichte? Wie konnte David dieses Risiko eingehen, sich mit seinem Stückchen Stoff in der Hand Saul bedingungslos auszuliefern, und warum ergreift Saul nicht die Gelegenheit, seinen Rivalen endlich ein für allemal auszuschalten?

Im Western wäre jetzt von Fairness die Rede. Wie David vor seinen Männern das Gesicht wahren musste, um weiter ihr Anführer bleiben zu können, so ist Saul vor seinen 3.000 Soldaten Fairness David gegenüber schuldig. David im Zweikampf zu töten, das wäre fair gewesen. Aber wenn er ihn jetzt, wo er wehrlos vor ihm steht, erschlägt, hat er seinen Anspruch, König zu sein, verspielt. So wäre es im Western.


In der Bibel heißt es nicht Fairness, sondern Gerechtigkeit. Gerechtigkeit bedeutet nicht so sehr,  dass alle das gleiche bekommen. Gerechtigkeit bedeutet, einen Vorteil nicht auszunutzen, den man seinem Gegner gegenüber hat. Auf diese Gerechtigkeit verlässt sich David, als er sich Saul ausliefert, und er wird nicht enttäuscht. Weil David sich Saul gegenüber fair verhiellt, kann er darauf vertrauen, auch von ihm fair behandelt zu werden.


Dieses Vertrauen auf faires Verhalten wäre heute leichtsinnig. In unserem Alltag ist Fairness selten, sonst müsste sie nicht immer wieder eingefordert werden. Dass es Leute gibt, die sich unfair verhalten,  ist nun einmal leider der Lauf der Welt: Es gibt gute Menschen, die fair spielen, handeln oder kämpfen, und es gibt böse, die es nicht tun. Aber seit längerer Zeit hat eine beunruhigende Entwicklung dazu geführt, dass Fairness nicht mehr als erstrebenswert gilt. Wer fair ist, ist dumm, und wer nicht jede Chance ausnutzt, die sich ihm bietet, und seinen Erfolg mit allen Mitteln und ohne Skrupel sucht, ist ein Verlierer und hat es nicht besser verdient.

Wie kommt es, dass David sich darauf verlassen kann, dass Saul sich fair verhalten wird? Wie kommt es, dass Saul sich an die ungeschriebene Regel der Fairness hält?

Es ist die Ehrfurcht, der Respekt vor Gott, die Saul empfindet und die David bei ihm voraussetzen kann. Wer anerkennt, dass Gott über einem steht, wird sich fair verhalten. Nicht aus Angst, dass Gott straft, wenn man es nicht tut. Sondern weil das Gottes Wille ist: Gerechtigkeit.

In den Western Sergio Leones ist immer sofort klar, wer der Gute ist: Es ist der, der fair kämpft und sich für Gerechtigkeit einsetzt. Mit dem bösen, dem finsteren Fiesling, hat man keine Sympathie.

Es ist diese Sympathie für die Gerechtigkeit, die Sehnsucht nach Fairness, die Gott in uns wecken will. Damit Menschen sich darauf verlassen können, dass wir ihre Notlage nicht ausnutzen, und damit auch wir ein faires Verhalten erwarten können. Nur so ist Zusammenleben möglich, ohne dass ein Mensch dem anderen zum Wolf wird, ohne dass das Leben ein einziger Kampf ums Überleben ist.

Übrigens steckt in „Fairness” das Wort „fair”, schön. Ein Leben, in dem es gerecht zugeht, in dem man sich auf faires Verhalten verlassen kann ist einfach viel schöner als eines, in dem jede und jeder nur auf den eigenen Vorteil bedacht ist.