Sonntag, 17. März 2024

keine Opfer mehr

Predigt am Sonntag Judika, 17. März 2024, über Gen 22,1-14:


TRIGGERWARNUNG:


Die Geschichte von der Opferung Isaaks ist eine Missbrauchsgeschichte.

Wer Erfahrungen von Missbrauch oder sexueller Gewalt machen musste,

sollte diese Predigt nicht lesen:

Sie könnte traumatische Erinnerungen wachrufen.



Gott stellte Abraham auf die Probe. Er rief ihn: Abraham!

Der antwortete: Ja?

Gott sagte: Nimm mit dir deinen einzigen Sohn, den du lieb hast,

Isaak, und reise unverzüglich in das Land Moria.

Dort sollst du ein Brandopfer auf einem bestimmten Berg darbringen,

den ich dir nennen werde.

Abraham stand früh am Morgen auf, sattelte seinen Esel

und holte seine beiden Knechte und seinen Sohn Isaak.

Er spaltete Holz zum Brandopfer, brach auf

und reiste zu dem Ort, den Gott ihm genannt hatte.

Als Abraham am dritten Tag Ausschau hielt

und den Ort in der Ferne sah,

sprach er zu seinen Knechten: Bleibt ihr hier mit dem Esel.

Ich und der Junge wollen dort hin gehen, Gott verehren

und dann zu euch zurückkehren.

Abraham nahm das Holz zum Brandopfer

und legte es auf Isaak, seinen Sohn.

Er nahm in seine Hand das Feuer und das Messer,

und beide gingen einträchtig nebeneinander.

Da sprach Isaak zu Abraham, seinem Vater: Du, Papa!

Und er sagte: Ja, mein Sohn?

Isaak sagte: Da sind Feuer und Holz,

aber wo ist das Schaf zum Brandopfer?

Abraham sprach:

Gott wird sich ein Schaf zum Brandopfer ersehen, mein Sohn.

Und beide gingen einträchtig nebeneinander.

Schließlich kamen sie zu dem Ort, den Gott ihm genannt hatte.

Dort baute Abraham den Altar und schichtete Holz darauf.

Dann fesselte er Isaak, seinen Sohn,

und legte ihn auf das Holz auf dem Altar.

Abraham erhob seine Hand gegen seinen Sohn:

Er zog das Messer, um seinen Sohn zu schlachten.

Da rief ihn der Bote des Herrn vom Himmel herab:

Abraham, Abraham!

Und er sprach: Ja?

Der Bote sprach:

Erhebe deine Hand nicht gegen den Jungen und tu ihm nichts!

Denn jetzt erkenne ich, dass du gottesfürchtig bist

und mir deinen einzigen Sohn nicht vorenthalten hast.

Da blickte Abraham auf, und sieh da: ein zweiter Widder

hatte sich mit seinen Hörnern im Gestrüpp verfangen.

Da ging Abraham und fing den Widder

und opferte ihn zum Brandopfer anstelle seines Sohnes.

Und Abraham nannte diesen Ort: „Der Herr sieht”,

daher wird er bis heute „der Herr sieht” genannt.


I

Liebe Schwestern und Brüder,


bevor wir darüber nachdenken können,

was diese Geschichte bedeuten könnte und sagen will,

muss uns zunächst die Ungeheuerlichkeit bewusst werden,

die hier erzählt wird:


Ein Vater versucht, seinen Sohn zu töten.


Seinen Sohn, den er angeblich lieb hat und der ihm vertraut;

der ohne Argwohn mit ihm geht,

obwohl er spürt, dass etwas nicht stimmt.

Und dem dann, als sein Vater ihn fesselt, schlagartig bewusst wird:

Dieser Mann ist ganz anders als der Vater, den er kannte und liebte,

dem er vertraute und von dem er dachte, er liebe ihn auch.

Diesem Mann ist er jetzt schutzlos ausgeliefert.


Wir müssen uns diese Ungeheuerlichkeit zumuten,

damit wir nicht über das, was Abraham seinem Sohn antut,

hinwegsehen, weil es ja nur ein Test war;

weil Isaak nicht wirklich getötet werden sollte

und weil es der Geschichte nicht um die Tötung eines Menschen,

sondern um den Glauben geht.


Denn dieses darüber Hinwegsehen,

das Übersehen des Opfers und seines Leides

und die Verharmlosung des Täters und seiner Tat:

Das ist ein Mechanismus, mit dem immer schon

Verbrechen zugunsten eines größeren Gutes verharmlost wurden,

auch und gerade in der Kirche.

Ein Mechanismus, durch den auch die Täter,

die Kinder, Jugendliche oder von ihnen Abhängige

sexuell missbrauchten oder ihnen Gewalt antaten,

viel zu lange davongekommen sind.


Diese Geschichte wird uns am Sonntag Judika zugemutet.

Iudica me, schaffe mir Recht,

ist der Ruf eines, der zum Opfer geworden ist.

Heute wollen wir uns zumuten,

die Opfer und ihre Leiden wahrzunehmen.

Auch der Tod Jesu am Kreuz:

der Tod eines Friedfertigen und Unschuldigen,

den die Wut seiner Mitmenschen ans Kreuz schlug,

ist eine Ungeheuerlichkeit und eine Zumutung.


Der Unterschied zur Opferung Isaaks besteht darin,

dass Jesus diese Gewalt nicht von seinem Vater erlebte,

den er liebte und dem er vertraute,

sondern von seinen Mitmenschen.

Er wurde nicht gezwungen, den Weg ans Kreuz zu gehen,

sondern opfert sich aus freien Stücken

und in vollem Bewusstsein dessen, was ihn erwartete.


II

Die Zumutung der Geschichte von der Opferung Isaaks

ist eine dreifache:


Die erste Zumutung ist die Tat selbst:

dass ein Vater versucht, seinen Sohn zu töten -

und es beinahe getan hätte,

wäre ihm der Engel nicht in den Arm gefallen -,

und dass er diese Tat vorsätzlich und hinterhältig plant und begeht.


Abraham handelt vorsätzlich,

weil die Reise zu dem Berg, wo das Opfer stattfinden soll,

drei Tage lang dauert.

Drei lange Tage hat Abraham Zeit,

sich seine geplante Tat und ihre Folgen durch den Kopf gehen zu lassen -

und bleibt trotzdem dabei.


Abraham handelt hinterhältig,

weil er heimlich in aller Frühe mit seinen beiden Knechten

und seinem Sohn aufbricht, ohne irgendjemandem Bescheid zu sagen.

Am allerwenigsten Sara, seiner Frau, der Mutter seines Sohnes.

Weil er die beiden Knechte außer Sicht- und Hörweite zurücklässt,

damit sie nicht Zeugen seines Verbrechens werden können.

Und weil er seinem Sohn,

als er ihn nach dem offensichtlichen Fehlen des Opfertiers fragt,

eine ausweichende Antwort gibt.


Nun könnte man einwenden,

dass man unsere heutigen Maßstäbe nicht

an diese uralte Geschichte anlegen kann.

In der Bronzezeit dachte man anders über Gewalt,

über die Macht eines Vaters und über ein Menschenleben als heute.

Aber die Bibel lässt an keiner Stelle erkennen,

dass sie die Tötung eines Menschen als Kavaliersdelikt betrachtet.

Und Abrahams Heimlichtuerei deutet darauf hin,

dass ihm selbst das Unrechte seiner Tat bewusst war.


Die zweite Zumutung ist der Missbrauch des Vertrauens.


Wir denken bei dem Wort Missbrauch

an sexuellen Missbrauch und an die Missbrauchsfälle,

die in der Kirche bekannt geworden sind.

In einer Institution, die vom Vertrauen ihrer Mitglieder lebt

und eine Kultur des Vertrauens, der Nähe und der Offenheit pflegt,

wiegt ein solcher Vertrauensmissbrauch besonders schwer.


Die Taten konnten ja nur begangen werden,

weil die Opfer ihren Peinigern vertraut hatten.

Nur so hatten die sich ihren Opfern überhaupt nähern können.

Darum ist es so wichtig,

dass wir in der Kirche aufmerksam sind und bleiben:

Unsere Gemeinden, Gruppen und Einrichtungen

bieten ein ideales Umfeld für Täter,

die das Vertrauen von Menschen missbrauchen wollen.


Abraham missbraucht das Vertrauen seines Sohnes.

Ich frage mich, wie es nach der glücklichen Rettung Isaaks

mit Vater und Sohn weitergegangen ist:

Ob sie auf dem Rückweg ebenso einträchtig nebeneinander hergingen

wie auf dem Hinweg,

oder ob Isaaks Vertrauen in seinen Vater

nicht grundlegend erschüttert wurde.


Die dritte Zumutung ist das Abstreiten der Verantwortung.


Abraham, so scheint die Geschichte zu sagen,

war ja eigentlich gar nicht der Täter.

Er handelte nur auf Geheiß, in gutem Glauben.

Eigentlich ist Gott schuld; er hatte von Abraham verlangt,

seinen Sohn für ihn zu töten.


Hat er das?


„Gott stellte Abraham auf die Probe.”

Mit diesem Satz beginnt die Erzählung.

Die Probe besteht darin, dass Abraham mit Isaak

zu einem bestimmten Berg reisen

und dort ein Opfer darbringen soll.

Keine Rede davon, dass Isaak geopfert werden soll.


Nun könnte man sagen: Das versteht sich doch von selbst.

Das ist doch die Probe, worin sollte sie sonst bestehen?

Dafür spricht, dass Abraham nach der Tat gelobt wird:

„Jetzt erkenne ich, dass du gottesfürchtig bist

und mir deinen einzigen Sohn nicht vorenthalten hast.”

Und dass anschließend ein Opfertier bereit gestellt wird,

von dem es im hebräischen Text heißt, es sei ein „zweiter Widder”,

sodass man folgern muss, Isaak wäre der erste gewesen.


Aber muss man nicht erwarten,

dass ein so ungewöhnlicher und außerordentlicher Befehl wie der,

seinen eigenen Sohn zu töten, auch ausgesprochen wird?

Isaak ist Saras und Abrahams Wunschkind,

das sie im hohen Alter durch ein Wunder noch bekamen.

Aus ihm soll einmal das Volk Gottes entstehen.

Wenn dieser so wichtige Mensch geopfert werden soll,

müsste das doch ausdrücklich gesagt werden.


Könnte es sich nicht auch um ein Missverständnis

oder um Fanatismus von Seiten Abrahams handeln?

Schließlich haben sich Kreuzritter und Djihadisten,

Terroristen und Attentäter zu allen Zeiten auf Gott berufen,

der ihnen angeblich ihre schrecklichen Taten befohlen hätte.

Und zu allen Zeiten gab und gibt es Gläubige,

die meinen, Gott verlange Opfer von ihnen.

Darum saßen einige der ersten Christen jahrelang auf Säulen

oder zogen sich in die völlige Einsamkeit der Wüste zurück.

Darum wurden Frauen, Männer und Kinder zu Märtyrern.

Darum fügten Gläubige sich Schmerzen zu,

indem sie sich geißelten, sich kratzige Unterwäsche anzogen

oder sich Steine in die Schuhe legten.


Die Antwort auf die Frage,

ob es tatsächlich Gottes Wille war,

dass Abraham seinen Sohn tötet -

bzw. ihn glauben ließ, er würde es tun -,

oder ob das Abrahams eigener Entschluss war,

lässt sich nicht eindeutig beantworten.

Allerdings war es, Befehl hin oder her, Abrahams Entscheidung,

seinen Sohn zu opfern.


Gab Gott überhaupt den Befehl?

Wir können es nicht wissen,

wie wir auch nicht genau wissen können, was Gottes Wille ist.

Oder, besser gesagt: Gottes Wille ist nicht eindeutig.

Es gibt einen Spielraum der Auslegung,

und ich glaube fast, das ist von Gott so gewollt.

Ich glaube, dieser Spielraum: Das ist die Probe,

auf die Gott Abraham stellt.


Wenn man annehmen würde,

Gott hätte Abraham eindeutig befohlen, seinen Sohn zu opfern,

würde die Probe darin bestehen,

dass Gott wissen will, wen Abraham lieber hat:

Gott, oder seinen Sohn Isaak.

Abgesehen davon, wie absurd und kindisch diese Probe wäre:

Gott selbst hatte Sara und Abraham dieses Kind geschenkt.

Gott selbst hatte ein Interesse daran,

dass die Geschichte des Glaubens,

die er mit Abraham begonnen hatte,

weitergeht über viele Generationen, bis zu uns heute.

Mit dem Tod Isaaks wäre sie geendet, ehe sie begonnen hätte.


In unserem Text heißt es nur,

dass Abraham Gott seinen Sohn Isaak nicht vorenthalten sollte.

Ich verstehe das so: Gott wollte ihn kennen lernen.

Denn mit ihm sollte die Geschichte ja weitergehen.

Darum musste der Tag kommen,

an dem Isaak mit Gott in Beziehung tritt.

In der Bronzezeit geschah das durch ein Opfer.

Von Noahs Opfer nach der Sintflut heißt es ganz sinnlich:

„Gott roch den lieblichen Geruch.”


„Du hast mir deinen einzigen Sohn nicht vorenthalten.”

Um dieses Lob von Gott zu bekommen,

hätte Abraham seinen Sohn nicht fesseln

und in Todesangst versetzen müssen.

Es hätte gereicht, wenn er mit ihm zusammen

ein Opfer dargebracht hätte.

Ein Opfertier, das zeigt die Geschichte,

hätte sich dafür gefunden.


III

Hat Abraham also den Test nicht bestanden?

Als Gott den „lieblichen Geruch” von Noahs Opfer riecht,

schwört er sich:

„Ich will hinfort die Erde nicht mehr verfluchen um der Menschen willen;

denn das Dichten und Trachten des menschlichen Herzens

ist böse von Jugend auf.”

Abraham, der Stammvater des Glaubens

für Juden, Christen und Muslime, war auch nur ein Mensch.

Er ging davon aus, dass Gott das Opfer seines Sohnes von ihm verlangte.

Dass aber Abraham so dachte heißt nicht,

dass Gott dieses Opfer gefordert hätte.


Vielleicht darf man das Opfer,

das Jesus mit seinem Kreuzestod gebracht hat,

auch so verstehen: Er wollte damit Opfer überflüssig machen.

Jesus wollte, dass wir aufhören, andere zu Opfern zu machen

und uns selbst aufzuopfern,

indem er sich für uns opferte:

Ein Opfer, das wir nicht überbieten können.

Er ließ sich aus Liebe zu uns ans Kreuz schlagen,

um uns zu zeigen, dass Gott keine Opfer von uns verlangt,

sondern uns so sehr liebt, dass er seinen einzigen Sohn hergab,

damit wir alle durch den Glauben an ihn erlöst werden.


Erlöst von unseren düsteren Phantasien über einen Gott,

der Menschen zu Opfern macht.

Erlöst von Erfahrungen der Gewalt, des Missbrauchs, der Demütigung.

Erlöst dazu, neue und andere Erfahrungen mit Gott

und mit unseren Mitmenschen zu machen.

Sonntag, 10. März 2024

Das Leben bewahren

Predigt am Sonntag Lätare, 10. März 2024, über Lukas 22,54-62:

Die Tempelwache nahm Jesus fest, führte ihn ab

und brachte ihn in das Haus des Hohenpriesters.

Petrus aber folgte ihnen mit einigem Abstand.

Als sie mitten auf dem Hof ein Feuer anzündeten

und sich zusammensetzten, setzte Petrus sich unter sie.

Da sah ihn eine Magd im Licht des Feuers sitzen,

musterte ihn und sagte: Und der da war auch bei ihm.

Er aber leugnete: Frau, ich kenne ihn gar nicht!

Kurz darauf sah ihn ein anderer und sagte:

Du gehörst auch zu denen!

Petrus aber sagte: Mann, ich doch nicht!

Und als etwa eine Stunde vergangen war,

behauptete ein anderer steif und fest:

Wahrhaftig, auch der da war bei ihm,

und er ist ja auch ein Galiläer!

Da sprach Petrus: Mann, keine Ahnung, was du meinst.

Und sofort, während er noch redete, krähte der Hahn.

Da wandte sich der Herr um und sah Petrus an.

Und Petrus dachte an das Wort des Herrn,

wie er zu ihm sagte: Bevor heute der Hahn kräht,

wirst du mich dreimal verleugnen.

Und er ging hinaus und weinte bitterlich.



Liebe Schwestern und Brüder,


„da wandte sich der Herr um und sah Petrus an.”


Petrus sieht Jesus in diesem Moment zum letzten Mal.

Sie tauschen einen letzten Blick, bei dem beide wissen,

dass sie einander so nicht wieder ansehen werden.

Der Freund sieht den Freund an,

der versprach, mit ihm ins Gefängnis und in den Tod zu gehen.

Der Meister sieht den Schüler an,

den er aus dem Wasser zog,

als er seinem Glauben plötzlich nicht mehr traute.

Der Sohn Gottes sieht Petrus an, den Fels,

auf dem er seine Kirche gründen wollte

und dem er die Schlüssel des Himmelreiches gab.


Was für ein Blick wird das gewesen sein?

Bekannt ist diese Geschichte als „Verleugnung des Petrus”.

Wie sieht man jemanden an, der einen verleugnet,

der einen nicht kennen will, wenn es darauf ankommt,

sich zu ihm zu bekennen?


Wer sieht Petrus in diesem Moment an,

da sich ihre Blicke ein letztes Mal treffen?

Ist es der Sohn Gottes, dem gegenüber Petrus bekennt:

„Herr, geh weg von mir! Ich bin ein sündiger Mensch!”?

Ist es der Meister, der seinem Schüler prophezeit,

dass er ihn noch am selben Tag verraten würde?

Oder ist es der Freund, der von seinem Freund Abschied nimmt?


Es war sehr mutig von Petrus, Jesus so weit zu folgen.

Und sehr leichtsinnig.

Petrus folgte einer bewaffneten Schar, die Jesus verhaftet hatte.

Er setzte sich sogar mitten unter sie.

Dabei wusste er, dass man ihn als einen seiner Jünger erkennen

und dass seine galiläische Herkunft ihn verraten musste.


Immer wieder gibt es Menschen,

die aus ihrer Überzeugung heraus

mutig und leichtsinnig zugleich handeln.


Alexei Navalny kehrte nach Russland zurück,

obwohl dort ein Giftgasanschlag auf ihn verübt worden war.

Er wurde deswegen in Deutschland behandelt,

er hätte hier bleiben können.

Es war vorhersehbar, dass er verhaftet werden würde,

sobald er wieder russischen Boden betrat.

Er musste damit rechnen,

dass man erneut versuchen würde, ihn zu ermorden.

Dass es tatsächlich geschah: Dass Alexei Navalny

unter ungeklärten Umständen in der Haft ums Leben kam,

hat - so schrecklich es war - niemanden überrascht.


Der Theologe und Mitverschwörer des 20. Juli,

Dietrich Bonhoeffer, reiste noch im Jahr 1942

in die Schweiz, nach Norwegen und Schweden.

Er hätte dort bleiben können, in Sicherheit.

Statt dessen kehrte er nach Deutschland zurück,

wo er verhaftet, in Berlin-Tegel inhaftiert

und in den letzten Wochen des Krieges

im KZ Flossenbürg ermordet wurde.


Sie - und viele andere - riskierten ihr Leben, um Zeugen zu sein.

Zeugen für uns, die Nachgeborenen.

Sie bezeugen die Gewalt,

unter der sie gelebt und gelitten haben

und der sie schließlich erlegen sind.

Sie bezeugen aber auch, welche Angst die Gewalthaber

vor der Wahrheit haben, vor der Weigerung und dem Widerspruch.

Vor allem bezeugen sie eine Wahrheit, einen Glauben,

für den sie bereit sind, ihr Leben zu riskieren,

weil die Wahrheit, der Glaube größer sind als sie.


Man nannte solche Leute früher Märtyrer.

Das griechische Wort Mártyr oder Mártys heißt „Zeuge”.

Im Zuge der Christenverfolgungen wurde das Wort „Zeuge”

zu einem Titel: Ein Märtyrer, das war ein „Blutzeuge”,

der sich von Löwen im Zirkus zerfleischen ließ,

um seinem Glauben an Gott treu zu bleiben.

Für seinen Glauben stand er notfalls mit seinem Leben ein.

Über den Gräbern dieser Märtyrer wurden Kirchen errichtet;

ihre sterblichen Überreste als Reliquien verehrt

und sie selbst zu Heiligen erklärt,

die nach ihrem Tod bei Gott für die Gläubigen eintraten

und deren Leben ihnen ein Beispiel geben sollte.


Dietrich Bonhoeffer ist für uns Protestanten

zu einer Art Heiligem geworden -

auch wenn wir natürlich keine Heiligenverehrung mehr betreiben.

Wir haben ihn nicht vergessen,

während die Namen anderer Theologen seiner Zeit

nur noch Fachleuten geläufig sind.

Er ist für uns bis heute ein Beispiel für Standhaftigkeit

und den Mut, „dem Rad in die Speichen zu fallen”;

wir singen sein Lied „Von guten Mächten” mit derselben Inbrunst,

mit der er es im Gefängnis niederschrieb.


Auch Alexei Navalny wird man noch kennen,

wenn der Name Vladimir Putins längst vergessen ist.

Sein leichtsinniger Mut, nach Russland zurückzukehren,

inspiriert viele, weiterhin Widerstand zu leisten:

„Er hatte keine Angst, darum haben wir auch keine”, sagen sie.


Auch Petrus kennt sozusagen jedes Kind,

obwohl er nicht in diese Reihe passt.

Denn er wurde in dieser Geschichte nicht zum Märtyrer.

Petrus bleibt nicht an der Seite Jesu,

wie er es versprochen hat.

Er riskiert fast alles, um ihm zu folgen,

doch vor dem letzten Schritt scheut er zurück:

mit ihm zusammen zu sterben.


Das nimmt man ihm übel.

Seine Verleugnung war keine Ruhmestat -

wie Petrus überhaupt eher jemand ist,

für den man sich fremdschämen muss.

Doch es gibt auch eine andere Möglichkeit,

Petrus’ Handeln zu sehen und zu verstehen.

Betrachtet man sein Handeln aus einem anderen Blickwinkel,

wird aus der Prophezeiung Jesu:

„Bevor heute der Hahn kräht,

wirst du mich dreimal verleugnen”,

quasi ein Befehl.


Die Perspektive, die ich einnehmen möchte,

beschreibt Bertolt Brecht in einer seiner

„Geschichten vom Herrn Keuner”:


„Als Herr K., der Denkende,

sich in einem Saal vor vielen gegen die Gewalt aussprach,

merkte er, wie die Leute vor ihm zurückwichen

und weggingen. Er blickte sich um

und sah hinter sich stehen - die Gewalt.

„Was sagtest du?” fragte ihn die Gewalt.

„Ich sprach mich für die Gewalt aus”, antwortete Herr Keuner.

Als Herr Keuner weggegangen war,

fragten ihn seine Schüler nach seinem Rückgrat.

Herr Keuner antwortete:

„Ich habe kein Rückgrat zum Zerschlagen.

Gerade ich muss länger leben als die Gewalt.”


Von den Märtyrern, die ihr Leben für ihren Glauben,

für die Wahrheit opferten, spricht man bis heute.

Man kennt ihre Namen, während die Namen derer,

die überlebten, weil sie nicht so standhaft waren, vergessen sind.

Aber wären alle Märtyrer gewesen,

wer hätte den Glauben weitergegeben?

Wer hätte die Kinder getauft und gelehrt,

wer hätte Gottesdienst gefeiert?


Wir bewundern den Mut der Märtyrer

und schämen uns heimlich dafür,

dass wir wahrscheinlich nicht so handeln würden wie sie,

weil wir, wie Petrus, den letzten Schritt nicht gehen wollen.

Doch dieser letzte Schritt ist uns nicht bestimmt.

Jesus ist ihn gegangen, damit wir ihn nicht gehen müssen.

Wir müssen nicht wie Jesus sein -

wir können nicht wie Jesus sein.

Unsere Aufgabe ist es nicht,

unseren Glauben mit dem Opfer unseres Lebens zu bezeugen.


Hinter dem Entschluss eines Dietrich Bonhoeffer

oder eines Alexei Navalny,

sein Leben aufs Spiel zu setzen,

steckt auch ein wenig die Überzeugung,

dass es ohne ihn nicht gehen würde,

dass es allein auf ihn ankäme.

Es steckt die - sehr männliche - Vorstellung vom Helden dahinter,

die erstrebenswerter und ruhmreicher erscheint

als die weibliche Carearbeit,

die das Leben behütet und sorgt, dass es weitergeht.


So sehr die Märtyrer für ihren Glauben

bewundert und verehrt wurden,

ist eine solche Haltung eigentlich kein Zeichen von Glauben.

Der Glaube verlässt sich auf Gott

und vertraut darauf, dass Gott handeln wird.

Das entbindet uns nicht, selbst tätig zu werden.

Aber unser Tun ist nicht entscheidend,

mit uns steht und fällt der Glaube nicht.


Auch aus der Antwort,

die Bertolt Brecht Herrn Keuner in den Mund legt,

spricht die Überzeugung, unentbehrlich zu sein:

„Ich habe kein Rückgrat zum Zerschlagen.

Gerade ich muss länger leben als die Gewalt.”

Trotzdem muss man fragen,

ob der Sache nicht besser gedient ist,

wenn der am Leben bleibt, der sie vertritt,

als wenn er dafür sein Leben opfert.

Ob es nicht auch eine Verpflichtung denen gegenüber gibt,

von denen man geliebt wird und die einen brauchen:

Dietrich Bonhoeffer war verlobt;

Alexei Navalny hatte eine Ehefrau und eine Mutter.

Und ob die Sorge um das Leben und seine Weitergabe

nicht mindestens ebenso wichtig und ehrenhaft ist

wie der Kampf um die gute und gerechte Sache.


Darum kann man die Prophezeiung Jesu:

„Bevor heute der Hahn kräht,

wirst du mich dreimal verleugnen”

auch als die Aufforderung verstehen, sein Leben zu retten.

Petrus wird als Zeuge noch gebraucht:

Nach den Frauen am Grab

ist er der erste Zeuge der Auferstehung.

Petrus muss sein Leben retten,

um Zeuge des Lebens zu sein.


Ein letztes Mal sieht Jesus Petrus an.

In seinem Blick liegt kein Tadel, keine Trauer, kein Zorn.

Auch kein Triumph, dass er recht behalten hat.

Jesus sieht Petrus an, wie ein Freund den Freund ansieht:

voller Liebe und Zuneigung.


Petrus weint vielleicht, weil er sich schämt.

Aber vor allem weint er, weil ihm bewusst wird,

dass er Jesus auf diesem Weg nicht mehr folgen kann,

weil er ihm nicht bestimmt ist

und weil sein Tod sinnlos wäre.

Er weint, weil er seinen Freund verliert

und noch nicht weiß, dass er ihn wiedersehen wird.


Heute, am Sonntag Lätare,

sehen wir hinter dem Tod am Kreuz,

auf den wir in diesen Wochen zugehen,

das neue Leben aufblitzen, das auch uns verheißen ist.

Als Christinnen und Christen stehen wir auf der Seite des Lebens,

nicht auf der des Todes.

Wir sind verantwortlich, es zu behüten und zu bewahren -

alles Leben auf dieser Erde,

das Leben unserer Mitmenschen

und auch unser eigenes.

Sonntag, 3. März 2024

Christus te absolvit

Predigt am Sonntag Okuli, 3.3.2024, über 1.Petrus 1,13-21:

Darum hofft zuversichtlich auf die Gnade,

die euch zuteil wurde durch die Offenbarung Jesu Christi.

Bereitet euch besonnen auf sein Kommen vor.

Gleicht euch nicht euren früheren Leidenschaften an,

als ihr noch unwissend wart.

Vielmehr werdet in eurem ganzen Wandel heilig,

gehorsamen Kindern gleich,

wie der heilig ist, der euch berufen hat.

Deshalb steht geschrieben (Leviticus 11,44f):


„Ihr sollt heilig sein, weil ich heilig bin.”


Und wenn ihr euch auf den Vater beruft,

der unparteiisch richtet nach dem, was ein jeder tut,

dann führt euer Leben achtsam,

während ihr in der Fremde seid.

Ihr wisst, dass ihr nicht durch Vergängliches,

mit Silber oder Gold, losgekauft wurdet

aus eurem nichtigen Lebenswandel,

den ihr von euren Vorfahren übernommen habt,

sondern durch das wertvolle Blut Christi.

Er war wie ein tadelloses, makelloses Opferlamm;

schon vor der Grundlegung der Welt dazu bestimmt.

Am Ende der Zeit ist er schließlich um euretwillen erschienen,

die ihr durch ihn an Gott glaubt.

Gott hat ihn von den Toten auferweckt

und ihm Herrlichkeit verliehen,

damit euer Vertrauen und eure Hoffnung sich auf Gott richten.



Liebe S. und B.,


wenn die Zeitläufte unsicher sind und unberechenbar,

wie wir es gerade erleben,

legt man sein Vermögen, wenn man welches hat,

am besten in Gold an.

Nicht, um damit zu spekulieren.

Sondern um damit seinen Besitz zu sichern

und ihn durch unsichere Zeiten hindurch zu retten.


Spareinlagen eignen sich dafür nicht,

denn die Währung schwankt im Wert,

und eine Inflation kann Ersparnisse

quasi über Nacht vernichten.

Immobilien sind auch nicht ideal,

um darin sein Geld in Krisenzeiten sicher zu parken,

denn auch sie schwanken im Wert,

und ein Krieg oder eine Naturkatastrophe

können sie ebenfalls über Nacht total zerstören.

Nur Gold behält seinen Glanz und seinen Reiz, was auch passiert,

und damit seinen Wert.

Wie kann der 1.Petrusbrief da vom „vergänglichen Gold” reden?


Er meint sicher nicht das Gold selbst;

als Edelmetall ist es das Sinnbild für Unvergänglichkeit.

Sondern das, was man mit dem Gold verbindet:

Vermögen. Reichtum. Geld wie Heu.

Früher war Geld so gut wie Gold,

denn sein Wert war durch Goldreserven abgesichert.

Ein Geldschein galt als Wechsel,

den man theoretisch beim Staat

zu seinem Gegenwert in Gold einlösen konnte.

Virtuelles Gold, sozusagen.

Der Händler akzeptierte das wertlose Papier,

weil der Staat es mit seinen Goldreserven deckte.


So wirtschaften wir im Prinzip seit der Antike,

also: schon immer.

Geld hat sich als Zahlungsmittel bewährt,

auch wenn es jetzt noch virtueller wird:

Denn jetzt nehmen wir nicht einmal mehr

ein Stück Papier in die Hand,

sondern halten nur noch unser Smartphone

oder unsere EC-Karte an ein Lesegerät.


Natürlich kann man für Geld nicht alles kaufen.

Glück zum Beispiel kann man nicht kaufen.

Zwar können neue Schuhe glücklich machen,

ein neues Fahrrad, Auto oder Motorrad; das Smartphone,

das man sich zum Geburtstag gewünscht hat.

Aber dieser kurze Glücksrausch hält keinen Vergleich

mit dem wahren Glück stand.

Das wahre Glück erlebt man in Momenten,

in denen es nicht um Dinge geht, die man kaufen kann.

Diese Momente sind für Geld nicht zu haben,

und manch eine, manch einer

würde alles Gold der Welt dafür geben,

solches Glück einmal erleben zu dürfen.


Zu den Dingen, die man für Geld nicht kaufen kann,

gehört auch die Liebe als Zuneigung, als gegenseitiges Vertrauen,

als ein Angenommensein so, wie man ist.


Und dazu gehört auch die Vergebung und ihr Gegenüber, die Reue.

Reue auf Seiten der Täter, Trost und Heilung auf Seiten der Opfer.


Glück, Liebe, Vergebung und Reue kann man nicht kaufen.

Darum ist das Blut Christi viel wertvoller als Silber und Gold.

Das Blut Christ: Es steht sinnbildlich für seinen Tod am Kreuz,

mit dem er alle Schuld auf sich nahm:

das, was wir anderen angetan haben und das,

was andere uns antaten.

Jesus nahm es auf sich, um es zu verwandeln:

Die schmerzhafte, beschämende, todbringende Tat in Leben.

Leben, das sich Schritt für Schritt von dieser Tat befreien kann.

Was geschah, macht eine, macht einen nicht mehr zum Opfer,

sondern wird zu etwas, das man überwindet,

weil Jesus es schon für uns überwunden hat.


Die schmerzhafte, beschämende, todbringende Tat

verhaftet uns auch nicht mehr darauf,

dass wir Täterinnen oder Täter sind.

Sie wird zu etwas, das man überwinden kann,

wenn man die Vergebung annimmt, die Jesus anbietet,

indem man bereut, was man getan hat.


Das wertvolle Blut Christi, das Vergebung schenkt,

hat uns - mit den Worten des 1.Petrusbriefes - losgekauft.

Doch da ist niemand, der den Kaufpreis kassiert hat.

Es sei denn, man will sich die Zeit als Käufer vorstellen,

die den Preis für unsere Schuld entgegennimmt.


Denn Jesus hat uns Zukunft erkauft.

Sein Tod am Kreuz ermöglicht es,

dass die Vergangenheit keinen Schatten mehr

auf unsere Gegenwart zu werfen braucht.

Das, was wir erlitten und das, was wir anderen antaten,

muss uns und unser Leben nicht mehr bestimmen

in der Weise, dass wir für immer davon gezeichnet sind.


Eine Narbe bleibt von einer Verletzung

und erinnert daran, dass man sich einmal sehr weh getan hat.

Aber weil da jetzt eine Narbe ist,

kann man dieses Körperteil wieder gebrauchen.

Vielleicht nicht in derselben Weise wie früher.

Aber doch viel mehr als damals,

als man verletzt wurde.

Und vielleicht mit der Zeit ja auch immer besser.

Nicht, weil die Zeit alle Wunden heilt - das tut sie nicht.

Sondern weil wir mehr und mehr

davon leben können, dass Jesus alles Leid auf sich nahm -

das, was uns angetan wurde

und das, was wir anderen antaten.


So verändert der Tod Jesu am Kreuz unser Leben.

Sein Blut, das ist sozusagen die virtuelle Währung,

mit der uns Jesus unsere Zukunft erkauft.

Man kann verstehen, warum im Mittelalter

so viele Menschen in den Schweriner Dom gepilgert sind,

um die Blutreliquie zu sehen,

und dafür viel Geld bezahlten.

Angesichts des Blutes Jesu

hatte das Geld hatte keine Bedeutung für sie.

Wer glauben kann, dass Jesus auch sein und ihr Leid,

auch seine und ihre Schuld auf sich genommen hat,

gewinnt damit mehr, als man für Geld kaufen kann:

gewinnt die Zukunft.


Das war den Pilgern, die den Dom besuchten,

vielleicht so nicht bewusst.

Und die Zeitläufte waren auch nicht so,

dass sie einfach alles stehn und liegen lassen konnten,

um in den Süden zu trampen

und dort ein neues Leben anzufangen.

Sie brauchten es auch nicht.

Ich denke, dass diese Pilgerinnen und Pilger

trotzdem verwandelt aus dem Dom ins Freie traten.

Mit einem Leuchten im Gesicht.

Sie waren der Vergebung begegnet.

Sie hatten mit eigenen Augen gesehen und im Herzen gespürt,

was der Priester ihnen nach der Beichte zugesprochen hatte:

„Ego te absolvo” - ich spreche dich frei von deinen Sünden.


In dem Augenblick vor der Reliquie des Heiligen Blutes

hatten sie diese Worte aus dem Mund Christi selbst vernommen:

„Ego te absolvo” - ich spreche dich frei, ledig und los.

Und konnten es glauben und für sich gelten lassen.


Wir haben diese Reliquie nicht mehr.

Sie ist bekanntermaßen nach der Reformation zerschlagen worden.

Dabei stellte sich heraus, es war gar kein echter Blutstropfen,

nur ein bisschen roter Farbstoff, virtuelles Blut,

eingeschlossen in einem Stein.

Aber es hatte ja auch gar nicht die Reliquie gewirkt -

auch wenn die Menschen sich das damals so vorstellten.

Sondern, wie Martin Luther klarstellte,

der Glaube hatte das vollbracht.

Der Glaube, der vor dieser Reliquie zur Gewissheit wurde:

Gott hat mir vergeben.


Darum brauchen wir die Reliquie nicht mehr.

Sie war die virtuelle Version des Blutes Christi,

das wiederum virtuell für seinen Tod am Kreuz steht,

auf den allein es ankommt.


Die Reliquie brauchen wir nicht mehr,

aber wir brauchen das Wort:

Die Zusage, dass wir nicht Opfer bleiben müssen;

nicht auf unser Tätersein festgeschrieben werden,

wenn wir unsere Tat bereuen.


Der 1.Petrusbrief sagt uns dieses Wort,

sagt uns die Freiheit von Leid und Schuld zu,

wenn auch verklausuliert und durch die Blume.

Er bezeichnet uns mit einer Eigenschaft,

die uns in den Einflussbereich Gottes versetzt:

Wir sind Heilige.


Wir sind Heilige, weil wir von dem und durch den leben,

der heilig ist und uns heiligt durch seine Vergebung.

Als Heilige können wir von jetzt an

ein heiligenmäßiges Leben führen.


Wir müssen es aber nicht.

Wir befinden uns ja die ganze Zeit im Einflussbereich Gottes,

in seiner Sphäre der Heiligkeit.

Hier finden wir Vergebung, wenn wir sie suchen.

Hier finden wir Mut und Kraft für einen neuen Anfang.

„Darum hofft zuversichtlich auf die Gnade,

die euch zuteil wurde durch die Offenbarung Jesu Christi.”

Sonntag, 18. Februar 2024

Versuchungen

Predigt am Sonntag Invokavit, 18. Februar 2024, über Matthäus 4,1-11


Liebe Schwestern und Brüder,


Versuchungen sind etwas Alltägliches.

Allzuoft erliegen wir ihnen.

Zum Beispiel, gerade in der Fastenzeit,

der zartesten Versuchung, seit es Schokolade gibt.

Wir werden rückfällig, wenn ein Sofa hinter uns steht.

Der Schlummertaste auf dem Handy,

den Neuigkeiten auf Facebook,

den kleinen Filmchen auf TikTok oder Instagram

können wir nicht widerstehen.

Wir prokrastinieren - schieben unliebsame Pflichten

oder dringende Aufgaben vor uns her,

indem wir Zeit auf dem Handy vertun - Sie kennen das.


Smartphones, so scheint es, machen es besonders schwer,

der Versuchung zu widerstehen:

Durch das Handy liegt sie nur einen Handgriff,

ein Wischen des Fingers entfernt.

Aber das ist ein Irrtum:

Der innere Schweinehund hat schon immer

jede Gelegenheit ergriffen, die sich ihm bot,

lange vor der Erfindung des Smartphones.


Versuchungen sind etwas Alltägliches.

Und sie sind lebenswichtig.

Denn wir lernen durch sie.

„Probieren geht über studieren”,

„man kann’s ja mal probieren”,

„ein Versuch schadet nicht” -

in solchen Redewendungen zeigt sich,

wie sehr die Versuchung zum Versuch Teil unseres Lebens ist.

Wer ihr nicht nachgibt, kann nichts lernen,

kann keine Erfahrungen machen.


Natürlich hätte man sich im Nachhinein

manche Erfahrung gern erspart.

Und doch muss man am eigenen Leibe erleben,

wovor Eltern und Ältere warnten.

Bevor man die Erfahrung tatsächlich machte,

erschien sie zu verlockend und ganz harmlos.

Hinterher ist man klüger

und hat hoffentlich daraus gelernt.


Von anderer Art sind die Versuchungen,

die Jesus bestehen muss.

Weder sind es Ablenkungen,

noch kann er daraus etwas lernen.

Eher das Gegenteil ist der Fall:

Diese Versuchungen sind ein Test,

wie man in der Schule mit einen Test nachweisen muss,

dass man den Stoff gelernt und verstanden hat,

oder wie erst die Fahrprüfung entscheidet,

ob man ein Auto fahren darf.


Jesus muss sich einer Überprüfung seines Glaubens unterziehen.

Dazu muss er drei Proben bestehen:

Als erstes soll er seinen Glauben demonstrieren.

Er soll zeigen, dass er Glauben besitzt, und wie viel Glauben er hat.

In der zweiten Prüfung soll Jesus seinen Glauben rechtfertigen

angesichts des eklatanten Widerspruchs,

der zwischen den Glaubensaussagen der Bibel

und unserer alltäglichen Wirklichkeit besteht.

Die letzte Prüfung soll dann erweisen,

ob Jesus bereit ist, seinen Glauben zugunsten der Macht zu verleugnen.


Auf den ersten Blick scheint es,

das sind Proben, die nur von Jesus verlangt werden können,

weil er der Sohn Gottes ist.

Darum bekommt er auch einen ganz besonders fiesen Prüfer, den Teufel.

Aber tatsächlich sind diesen Versuchungen, die Jesus bestehen muss,

alle ausgesetzt, die an Gott glauben.

Offenbar kann der Glaube auch beim Sohn Gottes in Gefahr geraten.

Darin ist er, wie es in der Epistel heißt, „versucht wie wir.”


An den Proben, denen Jesus sich stellen muss,

erkennen wir, wo unser Glaube herausgefordert wird.

Und die Antworten, die Jesus seinem Prüfer gibt,

können uns zeigen, wo unser Glaube festen Grund finden kann.


Beginnen wir also mit der ersten Prüfung:

„Wenn du der Sohn Gottes bist,

befiehl, dass diese Steine Brot werden sollen.”


Was der Teufel von Jesus verlangt, ist ein Wunder.

Ein Wunder, das die Naturgesetzte aus den Angeln hebt.

Das Wunder gehört irgendwie zum Glauben dazu.

Wir wissen zwar, dass Wunder nicht möglich sind.

Aber irgendwo in uns gibt es einen Rest von Aberglauben,

der sich diesem Wissen widersetzt.

Vielleicht gibt es ja doch Wunder.

Die Welt ist so groß und bunt,

wir wissen so wenig,

es könnte doch sein, dass da noch etwas anderes ist.

Da ist es doch nicht verkehrt,

dreimal auf Holz zu klopfen, um Leitern einen Bogen zu machen

oder seinen Teller leer zu essen, damit morgen die Sonne scheint.

Vielleicht hilft es ja, vor der Klassenarbeit zu beten,

um eine schlechte Zensur zu verhindern.

Vielleicht rechnet Gott einem das Gute an,

das man getan hat - oder zumindest tun wollte -,

und man kann von ihm einen Gefallen einfordern,

weil man etwas gut hat bei ihm.


Die stille Hoffnung auf ein Wunder,

darauf, dass es für mich eine Ausnahme von der Regel gibt,

ist eine Seite des Aberglaubens.

Die andere Seite ist das Gefühl, seinen Glauben

darstellen und rechtfertigen zu müssen.

Es reicht nicht, im stillen Kämmerlein zu beten;

man sollte seinen Glauben öffentlich zeigen,

damit andere sehen, dass man gläubig ist.

Als Pastor sollte ich deshalb vielleicht ein Kreuz tragen,

ein Kollarhemd oder einen Lutherrock,

damit man sieht, dass ich ein geistliches Amt bekleide.


Hinter der Versuchung, seinen Glauben derart zur Schau zu stellen,

steht die Angst, der eigene Glaube könnte nicht genügen;

er könnte zu klein sein, er könnte nicht ausreichen.

Jesus begegnet dieser Angst mit dem Hinweis auf das Wort Gottes.

Dieser Hinweis besagt:

Nicht ich bin es, der oder die glaubt.

Glaube ist keine persönliche Leistung,

keine Fähigkeit, die man erwerben, üben und steigern kann.

Glaube kommt von Gott, durch sein Wort.

Jede und jeder bekommt den Glauben von Gott geschenkt;

niemand bekommt zu wenig, niemand mehr als die anderen.

Ein Pastor hat nicht mehr Glauben als eine Konfirmandin,

eine regelmäßige Kirchgängerin nicht mehr als ein Weihnachtschrist.


Die zweite Probe lautet:

„Wenn du der Sohn Gottes bist,

spring vom Dach des Tempels!”


Der Glaube sieht sich von der Wirklichkeit herausgefordert.

Skeptiker und Gegnerinnen des Glaubens verlangen Beweise,

dass es Gott wirklich gibt.

Der Sprung von der Tempelzinne wäre ein Beweis,

der jeden Zweifler zum Schweigen brächte.

Und, wenn wir ehrlich sind,

manchmal hätten wir auch gern so einen Beweis.

Nämlich dann, wenn wir nicht erleben,

was der Psalm verspricht:

„Gott hat seinen Engeln befohlen,

dass sie dich behüten auf allen deinen Wegen.”

Wo sind sie, die Engel, wenn man sie braucht?

Diese Frage lässt sich noch steigern:

Warum passiert das ausgerechnet mir?

Warum lässt Gott das zu?


Die Versuchung besteht darin,

auf diese Frage eine Antwort zu geben.

Wer es versucht, maßt sich an zu wissen, was allein Gott weiß -

oder es sogar besser zu wissen als Gott.

Man darf - man muss sogar manchmal -

Gott dieses WARUM ins Gesicht schleudern.

Dann kann man die Erfahrung machen,

dass Gott den Schmerz, den Zorn aushält,

der ihm entgegen geschleudert wird.

Gott lässt uns nicht fallen, wenn wir auf ihn wütend sind,

wenn wir nach dem Warum fragen.

Gott teilt unsere Wut über die Ungerechtigkeit des Lebens und der Welt,

über die Gemeinheit und Bosheit unserer Mitmenschen.

Gott begegnet unserem Schmerz mit Mitgefühl,

unserem Zorn mit Liebe.

Und gibt trotzdem keine Antwort auf unsere Frage nach dem Warum.


Es gibt eine Grenze zwischen Gott und Mensch,

zwischen Schöpfer und Geschöpf.

Manchmal ist es kaum auszuhalten,

dass wir nur kleine Partikel im Strom des Lebens sind

und nicht Gebieter über das Leben.

Wenn Jesus sagt: „Du sollst Gott nicht versuchen”, ist das kein Trost.

Sondern ein Hinweis auf die Grenze,

die uns gezogen ist und die wir so gern überschreiten würden.

Wir wären manchmal gern mehr, als wir sind.

Wir würden manchmal gern Gott spielen.

Wir stellen Gott auf die Probe mit unserem Warum.

Aber Gott lässt sich nicht provozieren.

Gott hält uns stand.

Liebevoll, freundlich, aber unerbittlich

weist er uns unseren Platz im Leben:

als Geschöpfe, nicht als Schöpfer.


„Das will ich dir alles geben,

wenn du mich anbetest.”


Die dritte und größte Versuchung für den Glauben ist die Macht.

Auch Macht ist etwas Notwendiges und Alltägliches.

Sie ist überall, wir alle üben sie täglich über einander aus.

Dieser Gottesdienst zum Beispiel zwingt Sie dazu,

auf Ihrem Platz zu sitzen und mir zuzuhören.

Sie haben sich dem freiwillig unterworfen,

trotzdem ist es ein Zwang,

den der Ablauf des Gottesdienstes erfordert.

Sie ordnen sich dem Gottesdienst unter -

und ich tue es auch.

Auch ich bin gezwungen, der Liturgie zu folgen

und das zu tun, was Sie von mir als Pastor erwarten.


Neben dieser Macht, die unser Miteinander bestimmt,

gibt es die Macht, die jemand ergreift,

um über andere zu herrschen

und seinen oder ihren Willen durchzusetzen.

Es ist die Macht der Eltern, der Lehrerinnen und Lehrer,

die für Kinder Verantwortung übernehmen,

bis sie selbst entscheiden können.

Es ist die Macht der Ärztin, die eine Operation durchführt,

oder der Polizei, die Ordnung und Sicherheit gewährleistet.


Macht kann auch missbraucht werden.

Dazu missbraucht, sich über andere zu erheben,

sich an anderen zu bereichern,

sie auszunutzen oder zu quälen.

Diesem Machtmissbrauch steht der Glaube entgegen.

Der Glaube fragt nach Gottes Willen

und unterwirft sich damit Gottes Macht,

der uns nicht ausnutzen und nicht schaden will,

sondern Gutes für uns und alle Menschen im Sinn hat.

Darum antwortet Jesus:

„Du sollst Gott allein anbeten und dienen.”


In diesem Satz ist zusammengefasst, was Glauben bedeutet

und worin ein Leben im Glauben besteht:

Gott Herr sein lassen.

Wenn Sie jetzt denken: Nichts leichter als das!,

denken Sie bitte noch einmal nach.

Nichts ist schwerer, als sich fremder Macht zu unterwerfen.

Denn damit gibt man ja seine Freiheit auf.

Wir wissen noch, wie es als Kind war

und warum wir unbedingt erwachsen werden wollten.


Wenn wir Gott nicht nur „Vater” nennen,

sondern auch akzeptieren, dass wir seine Kinder sind

und Gott wie ein guter Vater, eine gute Mutter für uns ist,

dann bedeutet das:

wir sind als Erwachsene wieder Kinder geworden.

Gottes Kinder.

Der Theologe Friedrich Schleiermacher hat diese Einsicht

das „Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit” genannt.

Dieses Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit von Gott,

das ist der Glaube.

In dieser schlechthinnigen Abhängigkeit liegt,

so wiedersinnig das klingt, uns´ere Freiheit begründet.

Denn Gott macht uns ja nicht zu Sklaven,

sondern befreit uns von allem,

was Macht über uns beansprucht.

Wir werden frei, selbst zu entscheiden;

wir sind frei, auch Nein zu sagen.


Versuchungen sind etwas Alltägliches.

Auch der Glaube lebt von Versuch und Irrtum.

Nie sind wir wirklich frei von Aberglauben.

Nie können wir uns darauf beschränken,

dass Gott Gott ist und wir „nur” Menschen sind.

Und nie können wir Gott wirklich Herr sein lassen.


Gott erwartet nichts anderes von uns.

Gott weiß ja, wie wir sind, und dass wir nicht anders können.

Seine Geduld mit uns speist sich aus seiner Liebe zu uns,

und die ist unergründlich und unerschöpflich.

Wenn wir diese Geduld Gottes erfahren, glauben wir.

Dann gelingt es uns, Gott Herr sein zu lassen.

Dann sind wir frei.