Predigt am Ewigkeitssonntag, 24.11.2024, über Psalm 126:
Als der Herr Zion wiederherstellte,
waren wir wie Träumende.
Damals erfüllte Lachen unseren Mund,
und Jubel unsere Zunge.
Damals sagte man bei den Völkern:
„Der Herr hat Großes für sie getan.”
Der Herr hatte Großes für uns getan,
und wir waren fröhlich.
Herr, stelle uns doch wieder her,
wie die Bäche in der Wüste wiederkehren.
Die mit Tränen säen, werden mit Jubel ernten.
Weinend geht man, trägt den Beutel mit Saatgut.
Jubelnd kommt man zurück, bringt seine Garben.
Liebe Schwestern und Brüder,
es gibt manche Texte in der Bibel,
die kennt man in- und auswendig:
Die Weihnachtsgeschichte, den 23. Psalm, die 10 Gebote.
Wir haben Martin Luthers Übersetzung im Ohr
und stutzen, wenn wir eine andere Übersetzung hören:
Das klingt nicht „richtig”,
das ist für uns nicht die Weihnachtsgeschichte.
So geht es den meisten wohl auch mit dem 126. Psalm:
Der Wortlaut ist uns vertraut.
Und auch, wer ihn nicht im Ohr hat, stutzt,
wenn der Psalm ganz anders klingt als gewohnt.
Wenn Texte so alte Bekannte sind,
erwartet man keine Überraschungen mehr von ihnen.
Da ist nichts, was man nicht schon wüsste.
Das ist schade; dadurch übersieht man möglicherweise etwas.
Darum möchte ich mit Ihnen heute den 126. Psalm
in einer eigenen Übersetzung betrachten.
Wir wollen sehen, ob wir dadurch den Psalm anders, neu hören.
Ein großer Unterschied zu Luthers Übersetzung.
Dort heißt es: „Wenn der Herr die Gefangenen Zions erlösen wird.”
Aber das Wort, das Luther mit „erlösen” übersetzt,
steht in der Vergangenheit. Die Erlösung steht nicht aus,
sie ist schon passiert, man blickt auf sie zurück.
Es sind auch nicht Gefangene, die erlöst werden.
Vielmehr wird mit dem Wort, das Luther mit „Gefangene” wiedergibt,
bezeichnet, dass sich etwas geändert hatte -
und zwar so, dass es wieder so wurde, wie es einmal war.
In diesem einen Vers sind Vorentscheidungen getroffen
über die Entstehungszeit des Psalms und die Situation, die er voraussetzt:
Folgt man Luthers Übersetzung, ist er im Babylonischen Exil entstanden:
Die in Babylon Gefangenen träumen von ihrer Rückkehr nach Israel.
Damit wäre der Psalm um 587 vor Christus gedichtet worden,
nach der Zerstörung Jerusalems.
In der Vergangenheitsform blickt der Vers nicht voraus, sondern zurück:
Die Gefangenschaft ist vorüber, die Exilierten heimgekehrt.
538 erließ Kyrus ein Edikt, das den Exilierten die Rückkehr gestattete.
520 wurden die Stadtmauer, der Tempel in Jerusalem wieder aufgebaut.
Zion, der Tempelberg, war wiederhergestellt.
Damit wäre der Psalm zwei oder drei Generationen später entstanden;
nicht im babylonischen Exil, sondern in Israel.
Auch hier wird zurückgeblickt und nicht, wie bei Luther,
auf eine Zukunft gehofft, in der man wieder fröhlich werden wird.
Aber in diesem Fall macht es keinen Unterschied:
Ob man zurückblickt oder vorausschaut,
in der Gegenwart gibt es jedenfalls nichts zu Lachen.
Allerdings ist es ein größerer Schritt,
sich in düsteren Zeiten eine lichte Zukunft vorzustellen,
als sich an bessere Zeiten zu erinnern,
die man selbst schon erlebt hat
und an die man jetzt wehmütig zurückdenkt.
Die Rückkehr der Exilierten nach Jerusalem,
der Wiederaufbau des Tempels
wurden durchaus von den Nachbarn registriert -
allerdings nicht wohlwollend und anerkennend, sondern mit Sorge,
dass ihnen da wieder ein Konkurrent ersteht.
Der Psalm sieht die Sache ein wenig anders:
das, was Gott getan hat - oder, in Luthers Übersetzung, tun wird -
ist so groß, dass es nicht unbemerkt bleibt
und sogar denen imponiert, die nicht an den Gott Israels glauben.
Der Psalm blickt nicht nur auf die Zeit zurück,
in der der Tempel wiederhergestellt wurde,
auch auf die Fröhlichkeit und Unbeschwertheit,
die diese Zeit ausmachte - zumindest in der Rückschau.
Die Erinnerung verharmlost und verschönert die Vergangenheit.
Sie blendet aus, was nicht schön war,
das Unangenehme, das Beschwerliche, die Lasten und Leiden.
Rückblickend wirkt alles heller, leichter, schöner,
vor allem, wenn die Gegenwart beschwerlich ist.
Aber natürlich war früher nicht alles besser.
Wenn man ehrlich mit sich selbst ist,
sieht man neben der scheinbar unbeschwerten Kinderzeit,
den fröhlichen Spielen mit den Freundinnen und Freunden
auch die Angst der Kriegs- und die Entbehrungen der Nachkriegsjahre.
Man erinnert sich an Willkür und Strenge der Lehrer,
Unverständnis und Lieblosigkeit mancher Älterer,
die eine:n wünschen ließen,
man möge möglichst schnell erwachsen werden.
Trotzdem gab es natürlich Gutes,
gab es Dinge, für die man dankbar sein kann -
und die gilt es, wahrzunehmen und festzuhalten.
Das Leben ist nie nur gut oder schlecht.
Es ist wichtig, auch in schweren Zeiten das Gute nicht zu übersehen.
Dabei kann die Dankbarkeit helfen,
die das Schöne, das Gute, das man erlebt hat, festhält
und so den Blick schärft für das Gute, das einem
auch und gerade in dunklen Zeiten begegnet.
Die Bäche in der Wüste sind ein treffendes Bild
für den Wunsch nach Wiederherstellung der ursprünglichen Verhältnisse.
Wenn es lange nicht geregnet hat, sind die Trockentäler,
Wadis genannt, nicht als Bach- oder Flussläufe zu erkennen.
Wenn aber einmal Regen fällt, füllen sie sich schnell mit Wasser
und es scheint für eine Weile, als sei da immer schon ein Fluss gewesen.
„Stelle uns wieder her” - es geht wohl um mehr
als nur den Wiederaufbau von Stadt und Tempel.
Die Traumata, die die Exilierten erlitten hatten -
die Zerstörung von Stadt und Tempel,
der Verlust von Haus und Hof,
von Besitztümern und liebevollen Erinnerungen,
die Verschleppung in ein fremdes Land -
diese Traumata brauchen Zeit, um zu heilen.
Die mit Tränen säen, werden mit Jubel ernten.
Um Traumata, um Schicksalsschläge, um Leid zu heilen,
muss man sich ihnen stellen und sie bearbeiten.
Und das heißt in erster Linie: Trauern.
Margarete und Alexander Mitscherlich haben 1967
das Buch „Die Unfähigkeit zu trauern” veröffentlicht.
Diese Unfähigkeit zu trauern ist das Dilemma des Umgangs
mit unserer Vergangenheit - bis heute.
Die unmenschlichen Grausamkeiten,
die während des sog. „Dritten Reiches” begangen wurden,
waren so verstörend, so unvorstellbar,
dass man sie nicht wahrnehmen, nicht wahrhaben konnte.
Sie wurden verdrängt.
Verdrängt wurden die eigenen schlimmen Taten,
das eigene Mitläufertum, der eigene Fanatismus.
Am Ende waren es „die Nazis” gewesen -
aber die Deutschen hatten sich nichts zu schulden kommen lassen.
Verdrängte Trauer, verdrängte Traumata aber kehren wieder.
Mitunter erst in der nächsten oder übernächsten Generation.
Was Eltern oder Großeltern nicht wahrhaben,
sich nicht eingestehen, nicht beweinen konnten,
das bricht sich bei Kindern oder Enkeln Bahn und belastet sie.
Darum denken wir heute noch einmal an unsere Gestorbenen:
Um sie zu ehren und auch, um der Trauer um sie Raum zu geben.
Trauer und Tränen, so schmerzhaft und quälend sie sind, heilen
und bereiten den Boden für neue Beziehungen -
auch zu den Menschen, von denen wir Abschied nehmen mussten.
Das ist jetzt vielleicht ein ungewohnter Gedanke:
Es sind nicht unsere Tränen, die wir aussäen,
auch wenn in manchen Liedern von „Tränensaat” die Rede ist.
Das Saatgut, das wir im Beutel tragen,
sind unsere schlimmen Erfahrungen. Unser Leid.
Die Schmerzen, die wir erlitten und die Schmerzen,
die wir anderen zugefügt haben.
Wenn wir sie unter Tränen aussäen,
verlieren sie ihre Gewalt über uns.
Sie bestimmen nicht mehr, wer, was und wie wir sind.
Sie verwandeln sich und werden,
so unglaublich das erscheinen mag,
zu Früchten unseres Lebens, die wir einfahren.
Der 126. Psalm ermutigt zum Trauern, zum Weinen.
Er verspricht nicht, dass dadurch alles wieder so wird wie früher.
Das ist unser Wunsch, aber der kann sich nicht erfüllen:
Was beweint und betrauert wurde, verwandelt sich.
Es wird anders als früher, vielleicht sogar besser,
auf jeden Fall nicht schlechter.
Trauer ist der erste Schritt zurück ins Leben.
Die Saat dessen, worüber wir traurig sind,
wird aufgehen und uns verwandeln,
und wir werden eine reiche Ernte einfahren.