Sonntag, 24. November 2024

was man unter Tränen sät

Predigt am Ewigkeitssonntag, 24.11.2024, über Psalm 126:

Als der Herr Zion wiederherstellte,
waren wir wie Träumende.
Damals erfüllte Lachen unseren Mund,
und Jubel unsere Zunge.
Damals sagte man bei den Völkern:
„Der Herr hat Großes für sie getan.”

Der Herr hatte Großes für uns getan,
und wir waren fröhlich.

Herr, stelle uns doch wieder her,
wie die Bäche in der Wüste wiederkehren.
Die mit Tränen säen, werden mit Jubel ernten.
Weinend geht man, trägt den Beutel mit Saatgut.
Jubelnd kommt man zurück, bringt seine Garben.

Liebe Schwestern und Brüder,

es gibt manche Texte in der Bibel,
die kennt man in- und auswendig:
Die Weihnachtsgeschichte, den 23. Psalm, die 10 Gebote.
Wir haben Martin Luthers Übersetzung im Ohr
und stutzen, wenn wir eine andere Übersetzung hören:
Das klingt nicht „richtig”,
das ist für uns nicht die Weihnachtsgeschichte.

So geht es den meisten wohl auch mit dem 126. Psalm:
Der Wortlaut ist uns vertraut.
Und auch, wer ihn nicht im Ohr hat, stutzt,
wenn der Psalm ganz anders klingt als gewohnt.

Wenn Texte so alte Bekannte sind,
erwartet man keine Überraschungen mehr von ihnen.
Da ist nichts, was man nicht schon wüsste.
Das ist schade; dadurch übersieht man möglicherweise etwas.
Darum möchte ich mit Ihnen heute den 126. Psalm
in einer eigenen Übersetzung betrachten.
Wir wollen sehen, ob wir dadurch den Psalm anders, neu hören.

Als der Herr Zion wiederherstellte,
waren wir wie Träumende.

Ein großer Unterschied zu Luthers Übersetzung.
Dort heißt es: „Wenn der Herr die Gefangenen Zions erlösen wird.”
Aber das Wort, das Luther mit „erlösen” übersetzt,
steht in der Vergangenheit. Die Erlösung steht nicht aus,
sie ist schon passiert, man blickt auf sie zurück.

Es sind auch nicht Gefangene, die erlöst werden.
Vielmehr wird mit dem Wort, das Luther mit „Gefangene” wiedergibt,
bezeichnet, dass sich etwas geändert hatte -
und zwar so, dass es wieder so wurde, wie es einmal war.

In diesem einen Vers sind Vorentscheidungen getroffen
über die Entstehungszeit des Psalms und die Situation, die er voraussetzt:

Folgt man Luthers Übersetzung, ist er im Babylonischen Exil entstanden:
Die in Babylon Gefangenen träumen von ihrer Rückkehr nach Israel.
Damit wäre der Psalm um 587 vor Christus gedichtet worden,
nach der Zerstörung Jerusalems.

In der Vergangenheitsform blickt der Vers nicht voraus, sondern zurück:
Die Gefangenschaft ist vorüber, die Exilierten heimgekehrt.
538 erließ Kyrus ein Edikt, das den Exilierten die Rückkehr gestattete.
520 wurden die Stadtmauer, der Tempel in Jerusalem wieder aufgebaut.
Zion, der Tempelberg, war wiederhergestellt.
Damit wäre der Psalm zwei oder drei Generationen später entstanden;
nicht im babylonischen Exil, sondern in Israel.

Damals erfüllte Lachen unseren Mund,
und Jubel unsere Zunge.

Auch hier wird zurückgeblickt und nicht, wie bei Luther,
auf eine Zukunft gehofft, in der man wieder fröhlich werden wird.
Aber in diesem Fall macht es keinen Unterschied:
Ob man zurückblickt oder vorausschaut,
in der Gegenwart gibt es jedenfalls nichts zu Lachen.

Allerdings ist es ein größerer Schritt,
sich in düsteren Zeiten eine lichte Zukunft vorzustellen,
als sich an bessere Zeiten zu erinnern,
die man selbst schon erlebt hat
und an die man jetzt wehmütig zurückdenkt.

Damals sagte man bei den Völkern:
„Der Herr hat Großes für sie getan.”

Die Rückkehr der Exilierten nach Jerusalem,
der Wiederaufbau des Tempels
wurden durchaus von den Nachbarn registriert -
allerdings nicht wohlwollend und anerkennend, sondern mit Sorge,
dass ihnen da wieder ein Konkurrent ersteht.

Der Psalm sieht die Sache ein wenig anders:
das, was Gott getan hat - oder, in Luthers Übersetzung, tun wird -
ist so groß, dass es nicht unbemerkt bleibt
und sogar denen imponiert, die nicht an den Gott Israels glauben.

Der Herr hatte Großes für uns getan,
und wir waren fröhlich.

Der Psalm blickt nicht nur auf die Zeit zurück,
in der der Tempel wiederhergestellt wurde,
auch auf die Fröhlichkeit und Unbeschwertheit,
die diese Zeit ausmachte - zumindest in der Rückschau.

Die Erinnerung verharmlost und verschönert die Vergangenheit.
Sie blendet aus, was nicht schön war,
das Unangenehme, das Beschwerliche, die Lasten und Leiden.
Rückblickend wirkt alles heller, leichter, schöner,
vor allem, wenn die Gegenwart beschwerlich ist.

Aber natürlich war früher nicht alles besser.
Wenn man ehrlich mit sich selbst ist,
sieht man neben der scheinbar unbeschwerten Kinderzeit,
den fröhlichen Spielen mit den Freundinnen und Freunden
auch die Angst der Kriegs- und die Entbehrungen der Nachkriegsjahre.
Man erinnert sich an Willkür und Strenge der Lehrer,
Unverständnis und Lieblosigkeit mancher Älterer,
die eine:n wünschen ließen,
man möge möglichst schnell erwachsen werden.

Trotzdem gab es natürlich Gutes,
gab es Dinge, für die man dankbar sein kann -
und die gilt es, wahrzunehmen und festzuhalten.
Das Leben ist nie nur gut oder schlecht.
Es ist wichtig, auch in schweren Zeiten das Gute nicht zu übersehen.
Dabei kann die Dankbarkeit helfen,
die das Schöne, das Gute, das man erlebt hat, festhält
und so den Blick schärft für das Gute, das einem
auch und gerade in dunklen Zeiten begegnet.

Herr, stelle uns doch wieder her,
wie die Bäche in der Wüste wiederkehren.

Die Bäche in der Wüste sind ein treffendes Bild
für den Wunsch nach Wiederherstellung der ursprünglichen Verhältnisse.
Wenn es lange nicht geregnet hat, sind die Trockentäler,
Wadis genannt, nicht als Bach- oder Flussläufe zu erkennen.
Wenn aber einmal Regen fällt, füllen sie sich schnell mit Wasser
und es scheint für eine Weile, als sei da immer schon ein Fluss gewesen.

„Stelle uns wieder her” - es geht wohl um mehr
als nur den Wiederaufbau von Stadt und Tempel.
Die Traumata, die die Exilierten erlitten hatten -
die Zerstörung von Stadt und Tempel,
der Verlust von Haus und Hof,
von Besitztümern und liebevollen Erinnerungen,
die Verschleppung in ein fremdes Land -
diese Traumata brauchen Zeit, um zu heilen.

Die mit Tränen säen, werden mit Jubel ernten.

Um Traumata, um Schicksalsschläge, um Leid zu heilen,
muss man sich ihnen stellen und sie bearbeiten.
Und das heißt in erster Linie: Trauern.
Margarete und Alexander Mitscherlich haben 1967
das Buch „Die Unfähigkeit zu trauern” veröffentlicht.
Diese Unfähigkeit zu trauern ist das Dilemma des Umgangs
mit unserer Vergangenheit - bis heute.

Die unmenschlichen Grausamkeiten,
die während des sog. „Dritten Reiches” begangen wurden,
waren so verstörend, so unvorstellbar,
dass man sie nicht wahrnehmen, nicht wahrhaben konnte.
Sie wurden verdrängt.
Verdrängt wurden die eigenen schlimmen Taten,
das eigene Mitläufertum, der eigene Fanatismus.
Am Ende waren es „die Nazis” gewesen -
aber die Deutschen hatten sich nichts zu schulden kommen lassen.

Verdrängte Trauer, verdrängte Traumata aber kehren wieder.
Mitunter erst in der nächsten oder übernächsten Generation.
Was Eltern oder Großeltern nicht wahrhaben,
sich nicht eingestehen, nicht beweinen konnten,
das bricht sich bei Kindern oder Enkeln Bahn und belastet sie.

Darum denken wir heute noch einmal an unsere Gestorbenen:
Um sie zu ehren und auch, um der Trauer um sie Raum zu geben.
Trauer und Tränen, so schmerzhaft und quälend sie sind, heilen
und bereiten den Boden für neue Beziehungen -
auch zu den Menschen, von denen wir Abschied nehmen mussten.

Weinend geht man, trägt den Beutel mit Saatgut.
Jubelnd kommt man zurück, bringt seine Garben.

Das ist jetzt vielleicht ein ungewohnter Gedanke:
Es sind nicht unsere Tränen, die wir aussäen,
auch wenn in manchen Liedern von „Tränensaat” die Rede ist.
Das Saatgut, das wir im Beutel tragen,
sind unsere schlimmen Erfahrungen. Unser Leid.
Die Schmerzen, die wir erlitten und die Schmerzen,
die wir anderen zugefügt haben.

Wenn wir sie unter Tränen aussäen,
verlieren sie ihre Gewalt über uns.
Sie bestimmen nicht mehr, wer, was und wie wir sind.
Sie verwandeln sich und werden,
so unglaublich das erscheinen mag,
zu Früchten unseres Lebens, die wir einfahren.

Der 126. Psalm ermutigt zum Trauern, zum Weinen.
Er verspricht nicht, dass dadurch alles wieder so wird wie früher.
Das ist unser Wunsch, aber der kann sich nicht erfüllen:
Was beweint und betrauert wurde, verwandelt sich.
Es wird anders als früher, vielleicht sogar besser,
auf jeden Fall nicht schlechter.

Trauer ist der erste Schritt zurück ins Leben.
Die Saat dessen, worüber wir traurig sind,
wird aufgehen und uns verwandeln,
und wir werden eine reiche Ernte einfahren. 

Mittwoch, 20. November 2024

enttäuschte Erwartungen

Ansprache am Buss- und Bettag, 20.11.2024, über Lukas 13,6-9:

Jesus erzählte dieses Gleichnis:
Da besaß jemand einen Feigenbaum, der war in seinem Weinberg gepflanzt worden. Und er ging, nach Früchten zu suchen, fand aber keine. Er sagte zum Winzer: Jetzt sind es schon drei Jahre, dass ich an diesem Feigenbaum nach Früchten suche, aber keine finde. Darum hau ihn ab; wozu soll er noch den Boden auslaugen? Der antwortet: Herr, lass ihn noch dies Jahr, bis ich die Erde um ihn gelockert und Mist gestreut habe. Wenn er dann im kommenden Jahr Frucht trägt, ist es gut; andernfalls hau ihn ab.

Liebe Schwestern und Brüder,

der Feigenbaum steht im Mittelpunkt des Gleichnisses, bekommt alle Aufmerksamkeit, obwohl er sie nicht verdient hat: Er tut ja nicht, was man von ihm erwartet und wofür er einst gepflanzt wurde. Für den Besitzer des Weinbergs ist er eine einzige Enttäuschung. Jahr für Jahr hoffte er auf Feigen, aber da waren keine. Seine Geduld mit dem Feigenbaum ist jetzt zu Ende.
Er könnte ihn einfach sich selbst überlassen und es aufgeben, Früchte von ihm zu erwarten. Aber der Feigenbaum verbraucht die Nährstoffe im Boden, die dann den Reben fehlen; darum muss er weg. Ein Feigenbaum, der nicht trägt, hat in seinem Weinberg nichts zu suchen. Er befiehlt dem Winzer, ihn abzuhacken.
Aus wirtschaftlicher Perspektive ist das vernünftig. Es ist vernünftig, keine Arbeit, keine Mittel mehr an etwas zu verschwenden, das keinen Ertrag bringt.
Wenn vom Abhacken die Rede ist, erinnert das aber auch an die Bußpredigt Johannes des Täufers  (Lukas 3,9): „Es ist schon die Axt den Bäumen an die Wurzel gelegt; jeder Baum, der nicht gute Frucht bringt, wird abgehauen und ins Feuer geworfen.”
Jesus erzählt das Gleichnis nicht, um uns etwas über Ackerbau beizubringen, sondern über unseren Glauben. Mit der Bußpredigt Johannes des Täufers im Ohr, denken wir beim Feigenbaum an uns und fragen uns, ob der Weinbergbesitzer wohl mit uns zufrieden wäre.
Wie der Weinbergbesitzer erwarten kann, dass sein Feigenbaum Früchte trägt, und wie es wirtschaftlich vernünftig ist, den Feigenbaum abzuhacken, wenn er es nicht tut, so ist auch Gott enttäuscht, wenn Menschen keine Früchte bringen - und das hat Konsequenzen.
Aber nicht nur Gott ist enttäuscht. Auch wir erleben, dass unsere Erwartungen enttäuscht werden - von der Partnerin, dem Partner, von den Kindern, den Eltern, von Freundinnen oder Freunden, vom Arbeitgeber, den Kolleginnen und Kollegen oder den Angestellten, von der Regierung, den Politikerinnen und Politikern.
Wie der Weinbergbesitzer meint man, im Recht zu sein, zu recht erwarten zu dürfen, was einem zusteht. Wenn die Enttäuschung zu groß wird, wenn man, wie der Weinbergbesitzer,  mehrmals vergeblich gewartet hat - - - holt man nicht gleich die Axt, aber macht doch einen Schnitt: Man geht auf Distanz, wendet sich ab, man beendet die Beziehung und trennt sich.
Diese Erfahrungen, diesen Umgang mit Enttäuschungen finden wir im Gleichnis wieder. Wir meinen, Gott sei so, wie dort der Weinbergbesitzer beschrieben wird: Gott wird ebenso unzufrieden mit uns sein, wenn wir seine Erwartungen an uns enttäuschen, und dann droht uns vielleicht ein ähnliches Schicksal wie dem Feigenbaum.
Doch das Schicksal das Feigenbaums ist noch nicht besiegelt! Da ist ja noch der Winzer, der sich für den Feigenbaum stark macht. Der Winzer setzt sich für den Feigenbaum ein und will ihn auf keinen Fall abhacken. Es ist nicht schwer zu erraten, wer mit dem Winzer gemeint sein könnte: Es ist der, der das Gleichnis erzählt, Jesus.
Die Beschreibung des Weinbergbesitzers entspricht unseren Erfahrungen, entspricht dem, was wir für recht und billig halten. Der Winzer widerspricht ihm, widerspricht unserem Bild von Gott und setzt diesem Bild etwas entgegen. Der Weinbergbesitzer im Gleichnis ist nicht so, wie Gott ist, sondern so, wie wir uns Gott vorstellen. Eine Vorstellung, die nicht im Einklang steht mit Gottes Liebe zu uns, wie Jesus sie verkündet und verkörpert hat.
Wir hätten uns das denken, wir hätten das wissen können. Bei Jeremia heißt es (Jer 29,11): „Ich weiß wohl, was ich für Gedanken über euch habe, spricht Gott: Gedanken des Friedens und nicht des Leides, dass ich euch gebe Zukunft und Hoffnung.”
Unser Gott ist keiner, der das Beil schwingt. Unser Gott will, dass wir leben. Wir leben nicht nur für uns selbst. Wir leben in Verbindung und in Gemeinschaft mit anderen. Unsere Erwartungen an andere zerstören diese Gemeinschaft. Das heißt nicht, dass unsere Erwartungen nicht berechtigt wären. Aber der Widerspruch des Winzers zeigt uns, dass es Geduld braucht. Und ein Entgegenkommen, das der anderen, dem anderen die Möglichkeit gibt, die in ihn, in sie gesetzten Erwartungen zu erfüllen.
Der Winzer bereitet den Boden dafür, er sorgt dafür, dass die Voraussetzungen gegeben sind. Bevor er etwas vom Feigenbaum erwartet, tut er etwas für ihn. So ist unser Verhältnis zu Gott: Gott ist in Jesus Christus in Vorleistung gegangen. Sein Sohn ist der Winzer, der in unserem Leben den Boden bereitet und die Voraussetzungen erfüllt, dass wir Früchte bringen können.
Diese Früchte wachsen und reifen, ohne dass Gott uns Druck machen, uns drohen müsste. Sie wachsen und reifen auch, ohne dass wir uns Druck machen, uns anstrengen, uns fürchten oder uns schlecht  fühlen müssten. Sie wachsen und reifen von selbst, weil Christus sie in uns bewirkt. Wenn wir darauf vertrauen können, werden wir die Früchte sehen.

Sonntag, 10. November 2024

sich sammeln

Fenster „Lichtbogen“, eines von vier von Günter Uecker gestalteten Fenstern im Schweriner Dom. Zu sehen ist das Fenster im nördlichen Querhaus.


Predigt am Drittletzten Sonntag des Kirchenjahres, 10. November 2024, über Micha 4,1-5

Liebe Schwestern und Brüder,

zwei Männer sitzen in einer Gefängniszelle. Einer von ihnen ein Ausländer, noch nicht lange im Land. Er zeichnet ein Fenster an die Wand und fragt dann seinen Zellennachbarn: „Sagt man: Du guckst IN das Fenster, oder sagt man: Du guckst AUS das Fenster?” Der andere entgegnet: „In diesem Fall sagt man: Du guckst AUF das Fenster.”

Fenster lassen Licht herein, und sie lassen unsere Blicke schweifen. Kirchenfenster sind anders: Hinaus blicken kann man nicht; dazu sind sie zu hoch. Sie sind auch nicht wirklich durchsichtig; was draußen ist, erkennt man im besten Fall verschwommen.

Kirchenfenster sind anders: Sie geben selbst etwas zu sehen. Dadurch ziehen sie Blicke auf sich; sie sammeln, fokussieren unseren Blick. Man guckt tatsächlich AUF das Fenster, nicht AUS dem Fenster.

Indem die Fenster der Kirche selbst etwas zu sehen geben, werden wir gewahr, dass es ein Innen gibt und ein Außen. Das, was draußen ist, bleibt außen vor; auf das, was innen ist, kommt es an. Die Fenster trennen das Innen vom Außen, wie eine Membran.

Durch diese Membran wird die Kirche zu einer Zelle. Keine Gefängnis-, sondern sozusagen eine negative Zelle: Das Gute ist drinnen, das Böse bleibt draußen. Hier ist ein Raum, der die Welt, die uns bedrängt, aussperrt und uns die Weite des Himmels eröffnet. Wenn wir ihn betreten, lassen wir die Welt hinter uns. Wir sammeln uns zu einer Gemeinde, konzentrieren uns auf Gottes Wort.

Auch das Wort gibt uns etwas zu sehen: Das berühmte Bild vom Schwert, das zu einer Pflugschar geschmiedet wird. Symbol der kirchlichen Friedensbewegung, das auch hier im Dom zu entdecken ist.

Mindestens ebenso schön ist noch ein anderes Bild, das Micha beschreibt: Dass „jeder unter seinem Weinstock und Feigenbaum wohnen wird, und niemand wird sie schrecken.” Gegenüber von Lied Nr. 58, auf Seite 120 im Gesangbuch, finden Sie eine Zeichnung von Marc Chagall, die das zeigt.

Chagall hat allerdings nicht diese Bibelstelle illustriert; dargestellt ist Noah unterm Regenbogen. Der Regenbogen - auch ein Bild der Bibel. Und das Symbol einer Bewegung für Toleranz und Vielfalt, an dem sich Gleichgesinnte erkennen, wie früher an dem Aufnäher „Schwerter zu Pflugscharen.”

In der Bibel bekräftigt der Regenbogen Gottes Versprechen: „Solange die Erde steht, sollen nicht aufhören Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht.” Dieser Bogen aus Licht ist auch hier im Dom zu entdecken; inzwischen sind es vier Bögen auf vier Fenstern in den beiden Querhäusern, die Günter Uecker gestaltet hat.

Die Bilder der Bibel, die Bilder Michas sind Zukunftsbilder, ja, mehr noch: Das, was Micha beschreibt, geschieht „in den letzten Tagen”. Mit den letzten Tagen ist das Ende der Zukunft erreicht. Denn dass ALLE Menschen in Frieden leben, dass JEDE und JEDER ohne Angst unterm Weinstock und Feigenbaum wohnen kann, wird niemand jemals erleben. Das kann nur Gott bewirken, in den letzten Tagen dieser Welt.

Francis Fukuyama, ein amerikanischer Politikwissenschaftler, schrieb 1989 einen Aufsatz mit dem Titel: „Das Ende der Geschichte”, der 1992 als Buch erschien.  Darin vertrat er die Auffassung, dass die Zeit der totalitären Systeme, des Faschismus und des Kommunismus, vorbei sei; die liberale Demokratie habe endgültig gesiegt.

Im Freudentaumel der Maueröffnung konnte und wollte man das gerne glauben. Doch die Geschichte widerlegte Francis Fukuyama, und das viel schneller als gedacht.

Heute geschieht, was Viele sich lange nicht vorstellen konnten:
- Mitten in Europa wird ein Angriffskrieg geführt.
- Faschismus, Rassismus, Nationalismus kamen aus dem Abfallhaufen der Geschichte, in dem man sie begraben glaubte, und wurden salonfähig.
- In den USA wurde ein Mann zum Präsidenten gewählt, der all das NICHT ist und verkörpert, was man gemeinhin als Voraussetzung für die Führung eines Landes ansieht, noch dazu eines so mächtigen und einflussreichen.
- Und dann ist da noch der Klimawandel …

Auch das alles könnte man für Vorzeichen ansehen, dass die Geschichte an ihr Ende gekommen ist. Ein Ende mit Schrecken; nicht eines, wie Micha es uns vor Augen malt. Doch dagegen steht Gottes  Verheißung an die Menschheit, der Bogen aus Licht, den er in die Wolken stellt, dass es kein Ende der Geschichte geben wird.

Wir schreiben Geschichte, und wir schreiben Geschichte weiter. Dafür ziehen wir uns für Augenblicke in den Raum der Kirche zurück, um uns zu sammeln. Wie das Licht, das von draußen kommt, durch die Kirchenfenster gefiltert und fokussiert wird, filtern die Worte der Bibel unsere Wirklichkeit und fokussieren unseren Blick auf das, worauf es jetzt ankommt. Dadurch erkennen wir, wo unsere Wirklichkeit Gottes Willen widerspricht.

Die Worte der Bibel geben uns auch Bilder für eine Zukunft, die wir nicht herbeiführen und schaffen können. Die aber trotzdem Ziele sind, für die es sich zu leben, zu arbeiten und zu streiten lohnt.

Die Kirche ist keine Zelle, in die wir uns vor der bösen Welt verstecken. Sie ist ein Raum, der uns unsere Welt mit Gottes Augen sehen lässt. Wir erkennen, wie schlimm - und wie schön sie ist. Wir erkennen, was im Argen liegt - und was wir tun können. Wir erkennen, was unsere Welt ist - und was sie sein könnte.

Die Kirche ist ein Raum, der uns mit Kraft, mit Energie erfüllt, damit wir diese unsere Welt aushalten und gestalten können. Mit Kraft und Energie erfüllt uns das Abendmahl, erfüllt uns, dass wir eine Gemeinde sind - dass wir so viele sind.

Mit Kraft und Energie erfüllen uns die Bilder der Bibel, die Verheißungen Gottes, von denen sie erzählt. Erfüllt und das Licht, das uns einhüllt, wenn wir vor den Kirchenfenstern stehen, und das, was uns diese Fenster zu sehen geben. Erfüllen uns die Musik, die Lieder, in die wir einstimmen, wie das nun folgende Lied Nr. 426: Es wird sein in den letzten Tagen.

Sonntag, 3. November 2024

Untertan und Mitbürger

Predigt am 23. Sonntag nach Trinitatis, 3.11.2024, über Römer 13,1-7:

Jedermann soll sich der Obrigkeit unterordnen, die über ihn gesetzt ist. Denn es gibt keine Obrigkeit, die nicht von Gott eingesetzt ist. Wer sich daher der Obrigkeit widersetzt, widersetzt sich Gottes Gebot; wer so etwas tut, wird sein Urteil empfangen. Die Behörden sind ja nicht dazu da, die Guten  einzuschüchtern, sondern die Schlechten. Willst du die Obrigkeit nicht fürchten müssen? Tue Gutes, und du wirst Lob von ihr empfangen. Zu deinem Besten wird sie von Gott in Dienst genommen. Hüte dich aber, wenn du Schlechtes tust! Sie trägt das Schwert nicht umsonst. Als Gottes Magd straft sie den, der Schlechtes tut. Darum muss man sich ihr unterordnen - nicht allein der Strafe wegen, sondern weil man einsieht, dass es notwendig ist. Deswegen zahlt ihr ja auch Steuern. Die Obrigkeit ist Gottes Magd, auf diesen Dienst ständig bedacht. Erfüllt gegenüber jedem eure Pflicht: Leistet Abgaben, wem Abgaben zustehen, Zoll, wem Zoll zusteht, erweist Respekt, wem Respekt, und Ehre, wem Ehre gebührt.

Liebe Schwestern und Brüder,

ungewöhnliche Töne schlägt Paulus hier an: „Jedermann soll sich der Obrigkeit unterordnen!” Ungewöhnlich ist diese Forderung, weil Paulus sonst nur von der „herrlichen Freiheit der Kinder Gottes” (Röm 8,21) spricht. „Wo der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit“, schreibt er (2.Kor 3,17), und vor allem: „Zur Freiheit hat euch Christus befreit! So steht nun fest und lasst euch nicht wieder das Joch der Knechtschaft auferlegen!” (Gal 5,1). Wie passen die Freiheit eines Christenmenschen, die Paulus ansagt, und die Unterordnung unter die Obrigkeit zusammen?

Unterordnung kommt bei Paulus sonst nur noch zweimal vor. Einmal schreibt er, dass sich die Gemeinde in Korinth einem Kirchenältesten, dem Stephanas, unterordnen soll - im Grunde bestellt er ihn damit zum Gemeindeleiter (1.Kor 16,16). Und dann gibt es noch diese andere Stelle (1.Kor 14,34), an der mindestens genauso Anstoß genommen wurde und wird wie an unserem Predigttext: „Die Frauen sollen schweigen in der Gemeindeversammlung, denn es ist ihnen nicht gestattet zu reden, sondern sie sollen sich unterordnen, wie auch das Gesetz sagt.” 

Die Stelle im „Gesetz” - gemeint ist die Torah, die 5 Bücher Mose -, an die Paulus denkt, ist die Verfluchung nach dem Sündenfall: Die ersten Menschen, Adam und Eva, aßen, von der Schlange verführt, die verbotene Frucht vom Baum der Erkenntnis. Gott vertreibt sie deswegen aus dem Paradies und verflucht die Schlange, Eva und Adam. Zu Eva sagt er: „»Jedes Mal, wenn du schwanger bist, wirst du große Mühen haben. Unter Schmerzen wirst du Kinder zur Welt bringen. Es wird dich zu deinem Mann hinziehen, aber er wird über dich bestimmen.«”

Mit dieser Bibelstelle wird bis heute von sehr vielen Christen die angeblich gottgewollte Unterordnung der Frau begründet. Weil vom Sündenfall ganz zu Anfang der Bibel erzählt wird, unmittelbar nach der Schöpfungsgeschichte, spricht man dabei von „Schöpfungsordnung”. Damit will man suggerieren, Gott habe den Menschen bereits mit unterschiedlichen Rechten geschaffen; die Unterordnung der Frau unter den Mann gehöre von Anfang an zum Schöpfungsplan Gottes.

Die Geschichte vom Sündenfall sagt etwas anderes: Sie erklärt die Lasten und Beschwernisse des Lebens damit, dass der Mensch aus dem Paradies vertrieben wurde. Für die Frau folgen daraus Belastung durch die Schwangerschaft, Schmerzen bei der Geburt und - in einer Gesellschaft, in der die Männer die Macht haben - Übermacht des Mannes. Doch diese Lasten sind nicht gottgewollt, sind keine Strafen, sondern die Folge aus dem Verlust des Paradieses. Das heißt, man kann sie ändern, ohne damit gegen Gottes Gebot und Willen zu verstoßen.

Auch die Unterordnung unter die Obrigkeit scheint von Gott gewollt zu sein: „Es gibt keine Obrigkeit, die nicht von Gott eingesetzt ist”, schreibt Paulus. „Wer sich daher der Obrigkeit widersetzt, widersetzt sich Gottes Gebot.” 
Die Obrigkeit, das waren zur Zeit des Paulus die römischen Kaiser. Sie herrschten allein und konnten über Tod und Leben jeder und jedes Einzelnen ihrer Untertanen entscheiden. Der Staat, der in unserer Demokratie die Summe aller Bürgerinnen und Bürger ist, bestand nur aus einer Person: Dem Kaiser, später dem Monarchen. Sodass der „Sonnenkönig” Ludwig XIV. sagen konnte: „L'État, c'est moi” - der Staat bin ich.

Königinnen und Könige herrschten nicht nur, weil sie die Herrschaft an sich gerissen hatten, sie mit Gewalt gegen Konkurrenten und gegen ihr Volk verteidigten und an ihre Nachkommen weiter vererbten. Sie herrschten „von Gottes Gnaden” - und beriefen sich dabei auf diese Stelle im Römerbrief, in der Paulus erklärt, die Obrigkeit sei von Gott eingesetzt.

Aber so hatte Paulus es nicht gemeint. Man kann fragen, warum Paulus sich überhaupt veranlasst sah, diese Passage in seinen Römerbrief aufzunehmen. Denn im Grunde ist die Mahnung, sich dem Staat unterzuordnen, überflüssig - man hatte im römischen Reich ohnehin keine andere Wahl.
Diese Mahnung hat auch wenig mit dem Glauben zu tun. Den Christinnen und Christen ging es nicht darum, den Staat zu verändern oder gar den Herrscher zu stürzen. Sie wussten, dass das Reich Gottes nicht von dieser Welt ist. Sie erwarteten die Umkehr der Verhältnisse von Gott.

Man könnte sich vorstellen, dass Paulus, der im Gefängnis saß, so schrieb, weil er wusste, dass sein Brief von den Behörden gelesen werden würde. Er wollte sich damit vielleicht als „staatstragend” präsentieren, die Behörden beruhigen, die die Christen misstrauisch beobachteten und als potenzielle Unruhestifter und Aufrührer ansahen.

Aber wer genau hinsieht erkennt, dass Paulus nicht so staatstragend ist, wie es scheint. Er betont, dass die Obrigkeit von Gott eingesetzt ist. Das bedeutet, dass die Obrigkeit noch jemanden über sich hat - Gott -,dem sie Rechenschaft schuldig ist. Paulus nennt sie „Gottes Magd” - das stutzt einen absolutistischen Herrscher wie Ludwig XIV, der sich mit dem Zentralgestirn, der Sonne, verglich, auf das menschliche Maß zurück.
Die Obrigkeit ist von Gott eingesetzt, um zu dienen. Wenn sie das nicht mehr tut, hat sie ihre Legitimation verloren.

Das hinderte manche Könige nicht daran, „ich dien” als ihr Motto zu wählen - und dann doch nur auf den eigenen Vorteil bedacht zu sein.
Oder Friedrich den Großen, sich als „ersten Diener des Staates” zu bezeichnen - und dann doch blutige Kriege zu führen.
Es verhinderte auch nicht das schreckliche Missverständnis, der Staat sei ein Wert an sich, der über dem Wert eines Menschenlebens stehe, weshalb Millionen „für Volk und Vaterland” in den Tod geschickt wurden.

Zu Paulus’ Zeiten gab es eine Obrigkeit und Untertanen, die dieser Obrigkeit auf Gedeih und Verderb ausgeliefert waren. So war es im Kaiserreich, und so ist es heute noch in Diktaturen. Aber bei uns ist es zum Glück nicht mehr so. Der Staat ist nicht unser Gegner, wie er es für Paulus war, denn wir sind ein Teil von ihm. In unserer Demokratie sind wir nicht Untertanen; wir gestalten unser Zusammenleben mit.

Als Christinnen und Christen kommt uns dabei eine wichtige Rolle zu: Ernst Wolfgang Böckenförde prägte den Satz: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.” Was ein Staat nicht hervorbringen kann, ist Sinn, sind Wertmaßstäbe und Überzeugungen, die das Fundament für das staatliche Handeln bilden.

Der erste Artikel des Grundgesetzes, das in diesem Jahr 75 Jahre alt geworden ist, „Die Würde des Menschen ist unantastbar”, hat seine Wurzeln im jüdischen und christlichen Glauben.
So betont Jürgen Habermas, dass die Ideen von Freiheit, von einem solidarischem Zusammenleben, von Menschenrechten und Demokratie ein Erbe der jüdischen und der christlichen Ethik sind. 

Unser Staat braucht uns Christinnen und Christen als Gewissen und Korrektiv, die ihn an das Gebot der Nächstenliebe, an den Schutz von Fremden und Benachteiligten und an seine Verantwortung für unsere Umwelt erinnern.

Das Kirchenasyl erinnert daran, dass Flüchtlinge nicht als „Fälle” abgefertigt werden dürfen, weil zu jeder Flucht ein persönliches Schicksal gehört.
Die Friedensdekade erinnert daran, im Streben nach einem gerechten Frieden und nach einem Ende der Gewalt, der Hochrüstung und der Waffen nicht nachzulassen - auch und gerade dann, wenn die Chancen dafür heute so schlecht stehen wie lange nicht.
Der Kirchentag schafft bundesweite Aufmerksamkeit für wichtige Fragen und Themen, die sonst nicht gehört werden würden.

Jesus hat uns zugesagt, dass wir Salz der Erde sind und Licht der Welt. Als Christinnen und Christen sind wir die wichtige Würze und manchmal auch das Salz in den Wunden unseres Staates. Wir lassen unser Licht leuchten, damit Menschen gesehen werden, die man sonst übersieht, und ihren Anliegen Gehör schenkt. So gestalten wir unser Gemeinwesen mit zu einer Demokratie, in der jede und jeder in Freiheit leben kann.

Sonntag, 27. Oktober 2024

Treue

Predigt am 22. Sonntag nach Trinitatis, 27.10.2024, über Micha 6,1-8:

Hört doch, was Gott sagt:
Los, streite mit den Bergen
und lass die Hügel deine Stimme hören!

Hört, ihr Berge, wie Gott wettert,
hört hin, Grundfesten der Erde!
Denn Gott streitet sich mit seinem Volk,
mit Israel liegt er im Clinch:

Mein Volk, was habe ich dir getan?
Womit habe ich dich ermüdet? Antworte mir!
Weil ich dich aus Ägypten heraufführte,
dich aus dem Sklavenhaus befreite?
Weil ich Mose, Aaron und Mirjam vor dir hersandte?
Mein Volk, erinnere dich doch daran,
was Balak, der Königs Moabs, vorhatte
und was ihm Bileam, der Sohn Beors, antwortete,
was zwischen Schittim und Gilgal geschah,
damit du die gerechten Taten Gottes erkennst.

Womit soll ich Gott gegenübertreten,
mich Gott in der Höhe beugen?
Soll ich ihm gegenübertreten mit Brandopfern von einjährigen Stieren?
Gefallen Gott tausende Widder,
unermessliche Ströme von Öl?
Soll ich meinen Erstgeborenen für meine Auflehnung geben,
meine Leibesfrucht als Sühne meiner Verfehlung?

Es wurde dir gesagt, Mensch, was gut ist und was Gott von dir fordert,
nämlich: Gerechtigkeit zu üben, Liebe zur Treue,
und demütig mit deinem Gott zu gehen.


Liebe Schwestern und Brüder,

in jeder Freundschaft, jeder Beziehung gibt es mal Streit,
aus den unterschiedlichsten Ursachen und Gründen.
Eine Freundschaft, eine Beziehung hält das aus -
manche finden sogar, so ein Streit gäbe ihr erst die richtige Würze.

Bei einem Streitpunkt aber wird es gefährlich.
Wenn es um Loyalität geht, um Treue:
Die Freundin, den Freund zu verraten,
den Partner, die Partnerin zu hintergehen
bedeutet in aller Regel das Ende der Beziehung -
oder zumindest eine handfeste Krise, die alles infrage stellt,
was zwischen Zweien bisher als selbstverständlich erschien.

Mit dem heutigen Predigttext werden wir Zeug:innen
einer solchen Krise zwischen Gott und seinem Volk Israel.
An vielen anderen Stellen der Bibel
begegnet uns diese Wut Gottes auf sein Volk, das ihm untreu geworden ist.

Die Beziehung Gottes zu seinem Volk ist wie eine Liebesbeziehung.
Darum hat das Hohelied Salomos, in dem die Schönheit der Liebenden,
die Sehnsucht, und die Freuden der Liebe besungen werden, einen Platz in der Bibel gefunden:
Weil die Liebe Gottes zu seinen Menschen genauso tief und intensiv ist
wie die von Zweien, die sich lieben.

Gott tritt dabei nicht in Konkurrenz zu unseren Partner:innen.
Wenn man den Zölibat, wenn man freiwillige Enthaltsamkeit so versteht,
dass man sich zwischen Gott und dem Menschen, den man liebt, entscheiden muss,
hat man den Glauben missverstanden.

Wir können ja auch unsere Partner:in und zugleich unsere Eltern lieben,
unsere Geschwister und unsere Kinder.
Wir können eine beste Freundin, einen besten Freund haben,
dem wir auf andere Weise vertrauen, Anderes anvertrauen
als unserer Partnerin, unserem Partner, und ihr, ihm trotzdem treu sein.

Die Liebe zu den Kindern, zu den Eltern oder Geschwistern,
die große Nähe zu Freundin oder Freund
sind in der Regel kein Problem für eine Beziehung.
Untreue schon.
Warum ist da so ein gewaltiger Unterschied -
und warum macht Gott da einen so großen Unterschied?

Es muss wohl das Vertrauen sein, das mit der Treue einhergeht:
Das Vertrauen, dass ich mit meiner Partnerin, meinem Partner
gemeinsam auf dem Weg bin - dass er, sie „mit mir geht”,
wie man früher gesagt hat.

Dabei handelt es nicht nur um gegenseitige Begleitung,
nicht nur darum, dass man im Leben nicht allein unterwegs ist.
Uns begleiten auf den Stationen unseres Lebens unterschiedliche Menschen,
Eltern, Freundinnen und Freunde, die Kinder, die Enkel,
aber nur eine, nur einer geht den ganzen Lebensweg mit uns.

Eine:r, mit der, mit dem wir alles teilen: Geld und Besitz, Freude und Leid.
Eine:r, der, dem wir alles sagen und dem wir vertrauen können.
Eine:r, der, dem wir alles, geben: Nähe, Liebe, Verständnis, Rückhalt und Treue.

Statt Treue könnte man auch sagen: Solidarität, oder: Loyalität.
Treue bedeutet: ich habe mich für meine:n Partner:in entschieden.
Ich habe eine Wahl getroffen mit allen Konsequenzen, die das hat -
z.B. die Einschränkungen zu akzeptieren,
die der Beruf oder ein Handicap des anderen mit sich bringt;
die Sorge um die Kinder oder die alten Eltern,
den häuslichen Alltag miteinander zu teilen;
die selben Werte, die gleichen Ziele zu haben;
einander nicht im Stich zu lassen.

Solche Treue erwartet auch Gott von seinen Menschen.
Sie sollen sich für Gott entscheiden.
Sie sollen die Konsequenzen dieser Entscheidung tragen
und Gott zum Leitstern ihres Lebens machen.
Das bedeutet: keine Werte haben, die Gottes Geboten widersprechen.
Oder, in der Sprache der Bibel: keine anderen Götter haben.

Der wichtigste dieser anderen Götter ist der Mammon, das Geld.
Dem Geld ist alles heilig, alles ist dem Geld geweiht:
Es gibt nichts, das man nicht kaufen könnte,
nichts, das nicht käuflich wäre - es kommt nur auf die Summe an.

Geld ist nicht wirklich ein Gott - so würde es die Bibel nennen,
und so nennt es Jesus: „Mammon”.
Geld hat keinen eigenen Willen, hat keine Macht außer der, die wir dem Geld geben.
Aber wir verhalten uns dem Geld gegenüber wie einem Gott:
Wir verehren es. Wir geben ihm Macht über uns.
Wir lassen zu, dass es unser Leben bestimmt.
Wir richten uns nach den Maßstäben des Geldes.

Gott will, dass wir uns zwischen ihm und dem Geld entscheiden.
Das heißt nicht, auf Geld zu verzichten oder in Armut zu leben.
Aber es bedeutet, die Maßstäbe des Geldes nicht zu übernehmen,
das alles nach seinem Preis, seinem Wert, seinem Ertrag taxiert.
Das Lebewesen wie Gegenstände in wertvoll und wertlos einteilt.
Das Lebewesen wie Gegenstände besitzen und über sie verfügen will.

Was kann man tun, wenn man seine Untreue bereut,
wenn man die Beziehung, die man durch Untreue zerstört hat, wieder herstellen möchte?
Das Volk Gottes überlegt sich, es mit Geschenken wieder gut zu machen:
Wertvolle Rinder und tausende Widder sollen geschlachtet,
Unmengen von Öl vergossen werden,
damit Gott sieht, wie ernst es seinem Volk mit seiner Beziehung zu Gott ist, wie sehr es Gott liebt.

Doch solche Verschwendung macht nichts wieder gut.
Sie bewegt sich immer noch im Rahmen der Beziehung zum Mammon.
Dem vergötterten Geld würde man damit dienen,
indem man möglichst viel konsumiert - je mehr, desto besser.
Aber die Maßstäbe Gottes sind nicht die Maßstäbe des Geldes:
„Es wurde dir gesagt, Mensch, was gut ist und was Gott von dir fordert,
nämlich: Gerechtigkeit zu üben, Liebe zur Treue,
und demütig mit deinem Gott zu gehen.”

Treue kann man sich nicht erkaufen, weder durch Geschenke, noch durch Opfer.
Treue erweist sich durch das Verhalten.
Dieses Verhalten wird dadurch begründet,
dass die Beziehung zur/zum Anderen für mich wertvoll ist -
wertvoller als alles, was dieser Beziehung Konkurrenz machen könnte.

Wenn mir die Beziehung am Herzen liegt,
werde ich sie nicht um des eigenen Vorteils willen aufs Spiel setzen,
sondern danach suchen, was für Beide gut ist.
Das gilt nicht nur für eine Partnerschaft.
Es gilt überall, wo es auf Solidarität, auf Loyalität ankommt.

Und es gilt auch für unsere Beziehung zu Gott.
Für unsere Beziehung zu Gott ist Gerechtigkeit ausschlaggebend.
Eine Gerechtigkeit, die nicht nur darum sorgt,
dass ich zu meinem Recht komme,
dass ich nicht weniger habe als andere,
nicht weniger gesehen, geachtet, geliebt werde als andere.

Die Gerechtigkeit, die Gott fordert, ist eine Lebenshaltung, die von Fairness geprägt ist.
Fairness bedeutet, dass ich einen Vorteil nicht ausnutze,
Schwächere nicht übervorteile, sondern auf sie Rücksicht nehme, und mich an die Regeln halte.
Fair play - das möchte Gott von uns,
und darunter kann man auch die Gebote zusammenfassen.

Dann möchte Gott, dass wir Treue lieben - mit anderen Worten:
Dass uns an unseren Beziehungen etwas liegt.
Der Sinn des Lebens besteht nicht darin, sich selbst zu verwirklichen,
so viel wie möglich für sich herauszuholen.
Der Sinn des Lebens ist Beziehung - zu Gott, zu den Mitmenschen, zu Gottes Schöpfung.

Und das Dritte: demütig gehen mit deinem Gott.
Gemeint ist der Lebensweg, weshalb Luther übersetzt: „wandeln”.
Demütig gehen heißt nicht, dass wir uns klein machen sollen, weil Gott so groß ist.
Wir müssen uns nicht ständig zurücknehmen, ständig verzichten.
Wir dürfen strahlen, stolz sein, Erfolg haben und gewinnen.

Demut meint, dass wir uns in unserer Beziehung zu Gott an seinen Werten orientieren sollen
und nicht meinen sollen, Gott müsse sich nach uns richten.
Wir sollen uns an Gottes Werten orientieren, weil Gott in Vorleistung gegangen ist:
Er hat seine unerschütterliche Liebe, seine Treue zu uns bereits gezeigt:

Gott liebt uns so sehr, jede und jeden Einzelnen von uns.
Wie sehr, das hat sein Sohn Jesus Christus mit seinem Leben bewiesen.
Gott liebt alle Menschen auf dieser Welt in der selben Weise.
Gott ist so groß, dass in seinem Herzen Alle Platz haben,
ohne dass auch nur eine oder einer weniger geliebt wird als die anderen.

Die Liebe ist der entscheidende Wert, den Gott mit uns teilen möchte.
Unsere Beziehung zu Gott hängt daran,
dass die Liebe das Wichtigste auch in unserem Leben ist.
Dass wir sie nicht um eines vermeintlichen Vorteils willen verraten
und Gott dadurch untreu werden.

Gott hat sich seine Treue zu uns bewahrt,
und er ist dabei bis zum Äußersten gegangen:
Sein Sohn hat für unsere Beziehung zu Gott den Tod auf sich genommen.
Der Vorschuss an Vertrauen, den Gott dadurch gewonnen hat,
ermutigt uns dazu, uns auf die Beziehung mit Gott einzulassen,
uns ganz auf Gott zu verlassen.
Gott ist treu. Er wird uns niemals im Stich lassen.

Sonntag, 20. Oktober 2024

Feindesliebe

Predigt am 21. Sonntag nach Trinitatis, 20.10.2024, über Matthäus 5,38-48

Liebe Schwestern und Brüder,

das Gebot der Feindesliebe gehört zu den zentralen christlichen Texten.
Für manche ist es ein Eckstein,
ein Fundament und Kennzeichen ihres Glaubens.

Für andere ein Stein des Anstoßes:
- Die Feinde unbedingt zu lieben,
das liegt quer zu den Kriegen und der Gewalt in der Welt,
die viele erleben und erleiden.
- Liegt quer zu der Notwendigkeit eines Staates,
seine Bürger:innen zu beschützen,
und sich gegen äußere und innere Feinde zu wehren.
- Liegt quer auch zu unserem Miteinander,
wo wir gerade an diesem Gebot immer wieder scheitern.

So wird das Gebot der Feindesliebe zum Prüfstein,
wie glaubwürdig unser Glaube ist.

Ich möchte Ihnen heute das Gebot der Feindesliebe als Edelstein vorstellen,
als Tüpfelchen auf dem I des Glaubens.
Ein Edelstein, der unserem Glauben Schönheit verleiht,
ihm sozusagen die Krone aufsetzt.

Doch damit man die Feindesliebe als Edelstein erkennen kann,
muss man erst einige Missverständnisse und Irrtümer davon abschälen,
um zum Kern vorzudringen.

„Liebt eure Feinde und bittet für die, die euch verfolgen.”
Das ist zunächst einmal eine Zumutung.
Sie wäre es nicht, wenn „Feind” ein abstrakter Begriff wäre,
der keinen bestimmten Menschen meint.

Solche imaginären Feinde könnte man lieben,
weil auch die Feindesliebe im Ungefähren bleibt,
ohne direktes Gegenüber, an dem sie sich bewähren müsste.

Die Zumutung, die die Feindesliebe darstellt, liegt darin,
dass Jesus verlangt, den konkreten Feind zu lieben:
Den Menschen, der mich hasst, der mir Böses will und tut,
der mich am liebsten tot sähe oder mir das Leben nehmen will.
Den Menschen, der grausam und bösartig zu mir ist.
Wenn Jesus verlangt, dass wir solche Menschen lieben sollen,
verlangt er etwas Unmögliches.
Denn wie sollte man jemanden lieben können,
dem man nicht vergeben kann, was er einem angetan hat?

Feindesliebe ist ein Ding der Unmöglichkeit.
Darum kann man sie nicht zum Programm erheben
oder sie gar anderen vorschreiben.
Allenfalls können Einzelne sie für sich entdecken und wagen.

Feindesliebe ist auch deshalb ein Ding der Unmöglichkeit,
weil wir nicht nur für uns selbst verantwortlich sind,
sondern auch für unsere Familien und unsere Mitmenschen,
die wir vor feindlicher Gewalt und Bosheit beschützen müssen.

Die Feindesliebe ist eins der zentralen Gebote des Glaubens.
Jesus selbst hat bei seiner Kreuzigung für seine Peiniger gebetet:
„Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.”
Zugleich ist es unmöglich, dieses Gebot zu erfüllen.
Wie kommt man aus diesem Dilemma heraus?

Ein Ausweg war und ist es, zu leugnen, dass es überhaupt Feinde gibt.
„Alle Menschen werden Brüder”, heißt es in Schillers „Ode an die Freude”.
Als Kinder Gottes sind wir alle Schwestern und Brüder.
Geschwister müssen sich doch irgendwie vertragen.
In einer Familie kann doch niemand so schlecht,
so bösartig, so gemein sein, dass ich sie oder ihn
als „Feind” ansehen und ansprechen muss.

Leider zeigt das Leben immer wieder,
dass der Glaube an das Gute im Menschen die Menschen nicht gut macht.
Und dass es tatsächlich böse, ja, bösartige Menschen gibt.

Einen anderen Ausweg zeigt der Satz auf, mit dem Jesus schließt:
„Darum sollt ihr vollkommen sein,
wie euer Vater im Himmel vollkommen ist.”
Wenn man diesen Satz nicht auf sich bezieht,
sondern auf wenige, ganz bestimmte Gläubige,
die zu einem solchen Leben berufen sind,
ist das Problem mit der Feindesliebe gelöst:
Diese besonderen Menschen erfüllen stellvertretend
das unerfüllbare Gebot, seine Feinde zu lieben.

Wer nach Vollkommenheit im Glauben strebt
und sein ganzes Leben Gott weihen will
stellt fest, dass es im Alltag der Welt nicht möglich ist,
sich ganz auf Gott zu konzentrieren.

So zieht man sich zurück in die Abgeschiedenheit des Klosters.
Man entzieht sich den Menschen, die zu Feinden werden könnten
und kommt gar nicht in die Verlegenheit,
seine Feinde lieben zu müssen.

Doch auch innerhalb der Klostermauern
wird man sich und die anderen niemals los.
Auch hier gibt es Neid, Missgunst und Konkurrenz,
die Feindschaft und Gemeinheit hervorbringen.

An diesen beiden gescheiterten Auswegen aus dem Dilemma lässt sich erkennen,
dass man das Gebot der Feindesliebe nicht erfüllen kann.
Warum verlangt es Jesus dann von uns?

Bevor Jesus davon spricht, dass man seine Feinde lieben soll,
fordert er dazu auf, keine Vergeltung zu üben:
„Ihr habt gehört, dass gesagt ist: ‚Auge um Auge, Zahn um Zahn.’
Ich aber sage euch, dass ihr dem Bösen nicht widerstreben sollt.”

Auch hier treibt Jesus das Gebot so auf die Spitze, dass man es nicht erfüllen kann.

Wer z.B. verklagt wird, ein Kleidungsstück als Pfand herzugeben
und dann zusammen mit der Unterbekleidung auch den Mantel hergibt, ist splitternackt.
Wenn man sich das bildhaft vor Augen stellt,
wird einem bewusst, wie unmöglich diese Forderung ist.

Wenn einer das wirklich täte, sich vor seinem Schuldherrn nackt ausziehen,
und damit zeigte, dass er nichts hat als das Leben,
würde deutlich werden, wie ungerecht,
wie unmöglich die Forderung des Schuldherrn ist.

Gut möglich, dass der Schuldherr sich davon nicht beeindrucken lässt
und kaltherzig die Kleidung an sich nimmt.
Aber der, dem die Kleidung genommen wurde
und der nun nichts mehr hat als das nackte Leben,
hat sich seine Würde bewahrt
und sich im Rahmen seiner Möglichkeiten gewehrt.
Er hat ein Zeichen gesetzt, das von vielen verstanden worden ist.

Es geht Jesus nicht darum,
dass man sich in einem Schuldverfahren nackt ausziehen soll;
dass man bei einer Ohrfeige auch die andere Wange hinhalten
oder bei erzwungenen Leistungen das Doppelte erbringen soll.
Es sind Beispiele für einen phantasievollen Widerstand,
der durch den Glauben ermöglicht wird.

Joseph Beuys wird der Satz zugeschrieben:
„Jeder Mensch ist ein Künstler.”
Das soll nicht bedeuten, jede und jeder könnte ein Kunstwerk erschaffen,
wie manche vor einem abstrakten Gemälde
oder einer Installation von Beuys stehen und sagen:
„Das könnte ich auch, das ist doch keine Kunst!”

Wenn jeder Mensch eine Künstlerin, ein Künstler ist, bedeutet das:
Jeder Mensch schafft mit seinem Leben etwas Einzigartiges.
Ein Kunstwerk.
Jedes Menschenleben verdient es,
dass man es gelten lässt wie jedes andere Kunstwerk,
wie jedes Musikstück, jeden Roman,
auch wenn die Geschmäcker verschieden sind.

Der Respekt vor dem Wert und der Würde jedes Menschen:
Das ist es, was Jesus mit der Feindesliebe fordert.
Zum phantasievollen Widerstand beim Verzicht auf Vergeltung
gesellt sich bei der Feindesliebe die Liebe hinzu.
Beide zusammen führen zu der verrückten, ja, leichtsinnigen Idee,
dass auch der ärgste Feind ein Mensch ist.
Ein Mensch, den Gott geschaffen hat.
Ein Mensch, den Gott liebt.
Ein Mensch, für den Christus am Kreuz gestorben ist.

Es wird uns wohl nicht oft gelingen, unsere Feinde so anzusehen: als Menschen.
Besonders dann nicht, wenn sie unmenschlich handeln.
Aber darauf kommt es nicht an.
Es kommt auf den Versuch an.
Es kommt darauf an, die Humanität, die Menschlichkeit zu bewahren,
gerade dort, wo andere unmenschlich handeln,
wo Menschen ihrer Würde beraubt werden.
Es kommt auf den Versuch an,
der ein Zeichen des Protestes ist, nicht zuletzt für unsere Feinde,
und ein Zeichen der Menschlichkeit.

Das ist der Edelstein, den ich Ihnen heute zeigen wollte:
Das so unmöglich erscheinende Gebot der Feindesliebe
weckt das Beste in uns: unsere Humanität.
Die Menschlichkeit, die uns zu Mitmenschen macht
und zu Künstlerinnen und Künstlern.

Als Künstlerinnen und Künstler erschaffen wir Schönheit
in dieser Welt und für unsere Welt: Unser Leben,
das auf so einzigartige Weise Antwort gibt auf die Liebe Gottes,
und das von dieser Liebe Zeugnis gibt.

Wo wir versuchen, unsere Feinde zu lieben,
halten wir das Licht der Menschlichkeit dort hoch,
wo Gewalt herrschen und Krieg,
Unmenschlichkeit und Unterdrückung.

Ein Licht, das ein Zeichen setzt:
Ein Protest des Lebens gegen den Tod.
Ein Licht, das Mut macht und Hoffnung.
Und ein Licht, das inmitten der Dunkelheit des Leides
die Schönheit der Menschlichkeit aufstrahlen lässt.

Sonntag, 13. Oktober 2024

ein Brief Christi

Predigt am 20. Sonntag nach Trinitatis, 13.10.2024, über 2.Korinther 3,3-6:


Es hat sich gezeigt, dass ihr ein Brief Christi seid,

durch uns zugestellt;

geschrieben nicht mit Tinte,

sondern durch den Geist des lebendigen Gottes;

nicht auf steinerne Tafeln,

sondern auf Tafeln lebendiger Herzen.

Solches Selbstvertrauen Gott gegenüber haben wir durch Christus.

Nicht dass wir von uns aus fähig wären,

etwas nach unseren Maßstäben zu beurteilen.

Unsere Fähigkeit kommt von Gott,

der uns befähigt als Mitarbeiter eines neuen Bundes,

nicht des Buchstabens, sondern des Geistes.

Denn der Buchstabe tötet, aber der Geist macht lebendig.


Liebe Schwestern und Brüder,


es hat sich gezeigt, dass ihr ein Brief Christi seid.”

Sie - ich - ein Brief, wer hätte das gedacht?

Und wie soll man sich das vorstellen?

Etwa so, wie Christian Morgenstern es

von seinem „Herrn v. Korf” beschreibt?


„Korf lässt sich in einen Folianten einbinden,

um selben immer bei sich zu tragen;

die Rücken liegen gemeinsam hinten,

doch vorn ist das Buch auseinandergeschlagen.

So dass er, gleichsam flügelbelastet,

mit hinter den Armen flatternden Seiten

hinwandelt oder zu anderen Zeiten

in seinen Flügeln blätternd rastet.”


Sind wir also, ähnlich wie v. Korf,

offene Briefe, in denen jede:r lesen kann?

Oder stecken wir noch in unseren Umschlägen

und suchen unsere Adressat:innen?


Es ist nicht allein die Frage,

ob wir offene Briefe sind oder verschlossene.

Das Bild des Briefes selbst ist nicht mehr zeitgemäß.

Es werden ja kaum noch Briefe geschrieben.

Statt dessen schreibt man eMails.

Das geht viel schneller, und sie sind quasi sofort da -

und preiswerter als ein Brief sind sie auch noch.


Doch längst ist auch die eMail überholt.

Im Zeitalter der Smartphones verschickt man Kurznachrichten -

per SMS oder per Whatsapp.

Kurznachrichten sind noch schneller als eMails,

noch schneller geschrieben und noch schneller gelesen.

Oft ist eine neue Nachricht da,

während man noch auf die vorhergehende antwortet,

sodass die Antwort schon überholt ist,

bevor man sie abgesendet hat.


Der altmodische, handgeschriebene Brief steht für eine andere,

eine entschleunigte Art der Kommunikation.

Eine, die sich Zeit nimmt und Zeit benötigt.

Ein Brief nimmt sich sogar dreimal Zeit:

Beim Geschriebenwerden, beim Unterwegssein

und beim Gelesenwerden.


Das Schreiben eines Briefes braucht Zeit,

weil man es vorbereiten muss:

Man schafft Platz auf dem Tisch,

legt Papier und Schreibgerät bereit,

sucht einen Umschlag und eine Briefmarke,

muss womöglich erst eine bei der Post kaufen,

und vielleicht muss man auch die Anschrift erst finden.


Vor allem braucht das Schreiben selbst Zeit:

Man denkt an den Menschen, dem man schreiben will.

Man versetzt sich in ihn, in sie hinein.

Man sammelt die Gedanken und überlegt sich,

was man sagen will, und wie man es sagen will.


Dabei muss man die zweite Zeit im Auge behalten,

die sich der Brief nimmt: Das Unterwegssein.

Die Gedanken müssen eine lange Reise überstehen.

Sind sie auch noch in drei Tagen

oder in drei Wochen gültig und interessant?

Kann das, was man am Abend schrieb,

auch am Morgen gelesen werden?

Was in trauriger Stimmung geschrieben wurde,

trifft vielleicht auf einen fröhlichen Menschen.

Der Mensch, an den man beim Schreiben dachte,

ist vielleicht nicht mehr derselbe, der den Brief liest.


Das Gelesenwerden ist die dritte Zeit, die sich der Brief nimmt.

Manche reißen den Umschlag sofort auf,

sobald sie den Brief aus dem Kasten geholt haben,

und lesen ihn schon im Gehen.

Andere kochen sich erst einmal einen Tee,

oder legen den Brief beiseite, bis sie ihn in Ruhe lesen können.


Wenn wir ein Brief Christi sind -

ein Brief, keine eMail oder SMS -,

wird auch für uns der Faktor Zeit eine Rolle spielen.

Werden auch wir die Zeit brauchen,

uns die Zeit nehmen, die sich der Brief nimmt:

Das Geschriebenwerden, das Unterwegssein

und das Gelesenwerden.


Es hat sich gezeigt, dass ihr ein Brief Christi seid.”

Nein, wir sind keine unbeschriebenen Blätter.

Nicht nur das Leben hat uns gezeichnet;

wir sind auch von Christus gezeichnet,

beschrieben wie ein Brief.


Man hat sich dieses Gezeichnetwerden durch Christus

früher ganz wörtlich vorgestellt:

Vom Heiligen Franz von Assisi wird erzählt,

dass an seinem Körper die Stigmata zu sehen gewesen seien,

die fünf Wundmale Jesu:

Die Nägelmale in Händen und Füßen

und die Seitenwunde durch den Speer,

der Jesus in den Brustkorb gestoßen wurde,

als er schon gestorben war.


Stigma - wir kennen dieses Wort aus einem anderen Zusammenhang:

Stigmatisierung steht für Ausgrenzung.

Jemand, der oder die stigmatisiert ist, hat etwas an sich,

das andere auf Abstand hält.

Armut kann ein Stigma sein, oder eine Behinderung.

Eine von der Mehrheit abweichende Meinung kann ein Stigma sein

oder der Glaube, den man hat:

Juden wurden mit dem Judenstern stigmatisiert.


Wir sind von Christus Gezeichnete.

Aber dieses Gezeichnetsein ist für uns kein Stigma,

obwohl es genau das bedeutet.

Wer von Christus gezeichnet ist,

trägt nicht nur das für andere unsichtbare Zeichen der Taufe an sich.

Sondern auch eine Haltung: eine Art zu leben

und eine Einstellung zum Leben und zu den Mitmenschen,

die eine:n früher oder später als Christ:in verrät.

Oder, positiv gesagt: an der man als Christ:in erkannt wird.


Damit eine solche Haltung wachsen kann, braucht es Zeit.

Die Taufe, die uns zu Christen macht, ist ein kurzer Vorgang,

vergleichbar der Kurznachricht:

Du gehörst zu Christus.

Du bist ein Kind Gottes.

Damit wir ein Brief Christi sein können,

braucht es Zeit, in der wir von Christus beschrieben, gezeichnet werden.


In dieser Zeit, die es braucht,

setzen wir uns mit unserem Glauben auseinander.

Wir versuchen zu verstehen,

wer Christus für uns ist, was er für uns ist,

und was er für uns und unser Leben will.


Dieses verstehen Wollen ist das Unterwegssein des Briefes:

Wir sind mit dem Wort Gottes auf einem Weg.

Es begleitet unser Leben, unseren Alltag.

Es formt uns in Zustimmung und Ablehnung,

in Nähe und Distanz zu diesem Wort Gottes.


In Glaube und Zweifel wachsen wir

an dem Wort und durch das Wort.

Das Verstehen vollzieht sich nicht nur im Kopf,

es findet auch in unseren Herzen statt.

Das Wort Gottes wird unseren Herzen eingeschrieben,

gleichsam auf lebendige Tafeln.

Es wird zur Richtschnur unseres Handelns,

zur Orientierung in unserem Alltag.


Das Wort Gottes, das unseren Herzen eingeschrieben wurde,

scheint durch uns hindurch, sodass andere in uns lesen können.

Sie können durch uns Christus begegnen.

Nicht, weil wir Christus ähnlich sind,

oder weil wir besondere Fähigkeiten entwickelt hätten.

Sondern weil wir ein Brief Christi sind,

der einem Menschen in dem Augenblick zugestellt wird,

in dem er uns begegnet.


Das ist die dritte Zeit des Briefes.

Das Gelesenwerden geschieht in einem Augen-Blick,

durch eine Geste, ein Lächeln.

Meistens braucht es Zeit, bis anderen Christus durch uns begegnet.

Weil der erste Eindruck oft trügt.

Weil man erst Vertrauen gewinnen, miteinander warm werden muss.

Weil es Gelegenheiten braucht,

in denen sich zeigen kann, dass wir ein Brief Christi sind.


Wir sind keine unbeschriebenen Blätter mehr.

Als von Christus Gezeichnete, Stigmatisierte

sind wir Mitarbeiter:innen eines neuen Bundes.

Christus sendet uns als Briefe zu allen Menschen,

damit wir Hoffnung, Frieden und Gottes Liebe ausbreiten.


Nicht, indem wir uns anstrengen und wunder was leisten.

Sondern indem wir Gottes Geist wirken lassen.

Er schreibt Gottes Wort auf die Tafeln unserer Herzen,

sodass andere Menschen sie in uns lesen,

durch uns hindurch Christus sehen können.


Durchsichtig auf Gottes Wort hin werden wir,

wenn wir so sind, wie wir sind:

So schwach, so fehlbar, so verletzlich -

und so voller Sehnsucht, voller Hoffnung,

voller Vertrauen auf Gott und sein Versprechen:

Solange die Erde steht,

soll nicht aufhören Saat und Ernte, Frost und Hitze,

Sommer und Winter, Tag und Nacht.”