Samstag, 31. März 2012

Schämen wir uns!


Predigt am 6. Sonntag der Passionszeit, Palmarum, 1. April 2012,
über Jesaja 50,4-9:

Gott, der Herr, hat mir eine Zunge gegeben,
wie Schüler sie haben,
damit ich zur rechten Zeit ein Wort für die Erschöpften weiß.
Er weckt mich am Morgen.
Am Morgen weckt er mir das Ohr,
damit ich höre wie ein Schüler.
Gott, der Herr, hat mir das Ohr geöffnet.
Ich wehre mich nicht dagegen, ich weiche nicht zurück.
Meinen Rücken hielt ich den Schlägern hin,
und mein Kinn denen, die mich am Bart zogen.
Ich verbarg mein Gesicht nicht, wenn ich rot wurde
und nicht, wenn ich bespuckt wurde.
Denn Gott, der Herr, steht mir bei.
Darum werde ich nicht rot vor Scham,
darum habe ich mein Gesicht hart wie einen Stein gemacht,
und ich weiß, dass ich mich nicht schämen muss.
Da kommt schon mein Anwalt!
Wer will mit mir einen Rechtsstreit ausfechten?
Lasst uns gemeinsam vor den Richter treten!
Wer ist mein Prozessgegner? Der soll nur herkommen!
Du wirst schon sehen, Gott wird mir helfen!
Wer ist der, der mich schuldig sprechen will?
Du wirst schon sehen, alle werden aufgerieben,
wie ein Kleidungsstück löchrig wird;
die Motte wird sie auffressen!
(Eigene Übersetzung)


Liebe Gemeinde,

sind Sie heute schon in den April geschickt worden?
An diesem einen Tag im Jahr darf man ungestraft andere hereinlegen.
Das muss man ausnutzen!
Jemanden möglichst gekonnt an der Nase herumzuführen,
ist eine echte Herausforderung.
Wenn der Betrug gelang,
kann man triumphierend "April, April!" rufen
und den entgeisterten Blick des Genasführten genießen,
vielleicht wird er sogar rot vor Scham!
Ein harmloser Scherz.
Aber nicht jeder, der so vorgeführt wurde,
kann darüber lachen.

Der 1. April ist der Tag,
an dem man sozusagen offiziell andere veräppeln darf.
Aber es passiert viel häufiger als nur am 1. April.
Wenn z.B. ein Lehrling in einem Betrieb neu anfängt,
wird er erst einmal hereingelegt.
Er muss dann vielleicht eine "Kolbenrückholfeder" aus dem Lager holen.
Dort gibt man ihm einen besonders schweren Gegenstand mit,
den er in die Werkstatt schleppt - es ist natürlich der falsche.
Er muss noch einmal los. Er muss den Weg so oft machen,
bis er darauf kommt, dass man ihn zum Besten gehalten hat.
Ein harmloser Scherz.
Aber nicht jeder, der so vorgeführt wurde,
kann darüber lachen.

Bei dem, was man mit dem Erzähler unseres Predigttextes anstellt
- er hat keinen Namen,
nennen wir ihn deshalb den "Gottesknecht",
denn dieser Text aus dem Buch des Profeten Jesaja
ist eins der sog. "Gottesknechtslieder" -
bei dem also, was man mit diesem "Gottesknecht" anstellt,
hört der Spaß allerdings auf:
Verprügeln, am Bart ziehen, ins Gesicht spucken,
jemanden vor anderen bloßstellen und beschämen
ist alles andere als harmlos.
Man will diesen Menschen vorführen,
erniedrigen, beschämen
- er wehrt sich nicht einmal dagegen.
Wird aber auch nicht rot vor Scham,
sondern blickt seinen Gegnern in die Augen.
Er beißt die Zähne, kneift die Lippen zusammen
und macht sein Gesicht hart, hart wie Stein.
Diesen Triumph will er seinen Gegnern nicht gönnen,
dass sie sehen, wie er rot wird,
wie er sich abwendet, damit sie ihn nicht weinen sehen.

II
Was bringt einen dazu, andere hereinzulegen?
Warum macht das Veräppeln anderer so viel Spaß?
Ich führe selbst viel zu gern mal jemanden hinters Licht
und kann mich über einen gelungenen Scherz diebisch freuen.
Es ist ein Glücksgefühl wie beim Kreuzworträtsel,
wenn man eine knifflige Frage geknackt hat:
So fühlt es sich auch an,
wenn man jemanden aus der Reserve locken
und seine Selbstsicherheit knacken kann.

Selber hat man es meist nicht so gern,
hereingelegt zu werden.
Da kann man sogar richtig humorlos werden.
Ein Scherz unter vier Augen oder in der Familie ist harmlos.
Aber wenn man vor versammelter Mannschaft zum Besten gehalten wird,
wenn man sich nicht wehren kann,
dann ist das kein Spaß mehr.
Da fühlt man sich in seiner Schwäche bloßgestellt
und vorgeführt.
Es ist erniedrigend.

Genau das haben seine Gegner mit dem "Gottesknecht" vor:
Sie wollen ihn erniedrigen.
Sie wollen ihn zum Opfer machen,
zu einem Opfer ihrer Überlegenheit,
ihres Rechthabens, ihrer Spottlust, ihrer Macht.

Wenn man's recht bedenkt,
wenn man ehrlich zu sich selbst ist,
steckt darin auch der Grund,
warum wir so gern andere hereinlegen:
Es gibt einem für den Moment ein Gefühl der Überlegenheit,
ein kurzes Gefühl des Triumphes über den anderen.

Das ist der Grund,
warum immer wieder Menschen zu Opfern werden.
Das ist auch der Grund,
warum es vor allem Menschen sind,
die selbst nichts Besonderes sind
- nicht besonders mächtig, nicht besonders klug,
nicht besonders einflussreich, nicht besonders stark -,
die andere zu Opfern machen.
Weil sie über das Opfer triumphieren,
sich stark und überlegen fühlen können,
auch - und gerade - dann, wenn sie es nicht sind.

Deshalb werden immer wieder und andauernd
Menschen zu Opfern gemacht,
damit Schwache einen Moment der Stärke genießen können,
damit Menschen, denen die Gesellschaft keinen Wert beimisst,
sich einen Augenblick mächtig und als Herren fühlen können,
damit Menschen, die Erniedrigung erleben,
sich einmal über andere erheben können.
Aber weil das Gefühl des Triumphes nur von kurzer Dauer ist,
müssen wieder und wieder Menschen erniedrigt,
gedemütigt, beschämt und zu Opfern gemacht werden.
Ein Teufelskreis, der die Verhältnisse stabilisiert.

III
Seine Gegner versuchen,
den "Gottesknecht" zum Opfer zu machen.
Warum gerade ihn?
Was hat er ihnen getan?

"Gott, der Herr, hat mir eine Zunge gegeben,
wie Schüler sie haben,
damit ich zur rechten Zeit ein Wort für die Erschöpften weiß."
Das klingt nicht so,
als würde der "Gottesknecht" jemanden provozieren.
Im Gegenteil: Er will helfen,
besonders denen die erschöpft sind,
die am Ende ihrer Kräfte, die ganz unten sind
- und das sind sicher nicht die feinen, einflussreichen Herren.

Er hilft denen, die am Ende ihrer Kräfte sind,
nicht von oben herab mit guten Ratschlägen,
sondern redet mit ihnen wie ein Schüler.
Wie ein Lehrling, den man eben nach einer "Kolbenrückholfeder" geschickt hat.
Er redet mit denen, die unten sind, von gleich zu gleich.
Er ist wahrscheinlich genauso ratlos,
genauso am Ende wie sie.
Aber genau das ist das Wort zur rechten Zeit:
das Wort, an dem man merkt:
Der will mich nicht belehren,
der will mich nicht bekehren,
sondern der fühlt mit mir, der kann mich verstehen.

Der Gottesknecht begibt sich auf das Niveau der Erschöpften.
Er ist sich nicht zu schade dazu,
sich zu ihnen herabzubeugen,
sie ebenso ernst und wichtig zu nehmen
wie eine Persönlichkeit von hohem Rang,
ihnen zuzuhören, wie ein Schüler dem Lehrer zuhört,
und geduldig auf das rechte Wort zur rechten Zeit zu warten.

Und wahrscheinlich ist es genau das,
was seine Gegner so wütend auf ihn macht.
Der Gottesknecht beachtet die natürliche Hackordnung nicht.
Er hält sich nicht an die gesellschaftlichen Spielregeln
sondern unterläuft sie im wahrsten Sinne des Wortes,
indem er sich denen zuwendet,
die ganz unten sind,
und sie mindestens ebenso wert schätzt und wichtig nimmt
wie die, die ganz oben sind.
Statt andere zu Opfern zu machen,
opfert er sich lieber selbst.

IV
Mit seinem Opfer entlarvt der Gottesknecht unser Tun.
Auch wir machen Menschen zu Opfern.
Wir machen Menschen zu Opfern,
um dadurch unseren eigenen Rang,
unsere gesellschaftliche Stellung zu stabilisieren.
Oder warum ist es so wichtig,
dass unsere Kinder das Gymnasium besuchen?
Warum hat die Hauptschule einen so schlechten Ruf?
Wir müssen uns, unsere Kinder von anderen abheben,
wir, sie müssen besser, klüger, erfolgreicher sein als andere.
Eine Gesellschaft, in der alle gleich viel wert sind,
gleich viel gelten, gleich viel Einfluss haben
- ohne Rücksicht auf ihre Bildung,
ihre gesellschaftliche Stellung,
ihre Herkunft, ihr Einkommen -
eine solche Gesellschaft können wir uns nicht vorstellen.
Und die wollen wir, wenn wir ehrlich sind, auch nicht haben.

Der "Gottesknecht" ist kein Kommunist.
Ihm geht es nicht um Gleichmacherei.
Ihm geht es um Gerechtigkeit.
Gerechtigkeit bedeutet, dass niemand
auf Kosten anderer einen Vorteil ausnutzt,
weil er weiß, was andere nicht wissen,
weil er Beziehungen hat zu denen, die entscheiden,
oder selbst Entscheidungen beeinflussen kann.
Aber so funktioniert unsere Gesellschaft:
Wer einen Vorteil hat, nutzt ihn aus
- er wäre ja schön blöd, wenn er's nicht täte,
und außerdem tun's die anderen ja auch.
So produzieren wir täglich auf's Neue
Ungleichheit und Ungerechtigkeit.
So werden täglich auf's Neue Menschen zu Opfern gemacht.

V
Der "Gottesknecht" beachtet die natürliche Hackordnung nicht.
Ihm geht es um das Recht,
deshalb fordert er seine Gegner auch zu einem Rechtsstreit auf.
Nicht um das Recht als abstrakte Größe,
sondern um Gerechtigkeit.
Gerechtigkeit ist das Anliegen Gottes.
Gott hat ihm das Ohr geöffnet:
er hat ihn empfindlich gemacht gegen Ungerechtigkeit,
jetzt kann er nicht mehr zurück zur alten Ordnung.

Die ersten Christen haben Jesus als den "Gottesknecht" gesehen,
von dem Jesaja erzählt.
Auch Jesus hat sich nicht an die Ordnung gehalten,
sondern sie unterlaufen und sich denen zugewendet,
die ganz unten waren, zu den Zöllnern und Prostituierten.
Seine Gleichnisse handelten von den verhassten Samaritanern,
und seine liebevolle, heilende Zuwendung galt denen,
die von der Gesellschaft ausgeschlossen waren,
den Leprakranken, den Behinderten, den Stigmatisierten.
Als König der Armen und der Bettler ist er in Jerusalem eingezogen,
um sich lieber selbst zu opfern,
als andere zu Opfern zu machen,
und damit seine Zeitgenossen und ihr Tun zu entlarven.

Jesus hat sich geopfert.
Hat sich nicht gewehrt gegen die Schläge,
gegen das Bespucktwerden und Gedemütigtwerden.
Hat aber auch nicht den Blick gesenkt oder abgewandt,
sondern den Tätern ins Gesicht gesehen
und sich nicht geschämt.

So beschämt Jesus uns heute.
Beschämt uns, weil wir ihn genauso wenig aushalten würden,
wie ihn seine Zeitgenossen damals aushalten konnten.
Wir würden ihn genauso zum Opfer machen,
weil wir es nicht schlimm finden
und ganz gut damit leben können,
dass Menschen unter uns zu Opfern gemacht werden.

Heute beginnt die Karwoche.
Wir erinnern uns an das Leid, das Jesus auf sich nahm.
Denken wir auch an das Leid, das wir verursachen,
das Leid, das unserer Gesellschaft verursacht,
indem sie Menschen zu Opfern macht,
von denen sie lebt,
die sie braucht, um zu bestehen.
Ertragen wir den Gedanken an dieses Leid, an diese Opfer,
wenigstens in der Karwoche.
Schämen wir uns.

Donnerstag, 22. März 2012

Der Weg ist das Ziel


Predigt am Sonntag Judika, 25.3.2012, über Numeri 21,4-9:

Die Israeliten zogen weiter, vom Berg Hor auf dem Weg zum Roten Meer, um das Gebiet Edoms zu umgehen. Aber das Volk wurde ungeduldig auf dem Weg. Daher sprachen die Leute zu Gott und zu Mose: "Warum habt ihr uns aus Ägypten hinaufgeführt? Damit wir in der Wüste sterben? Denn es gibt kein Brot und kein Wasser, und wir haben genug von diesem ärmlichen Essen."
Da sandte Gott Giftschlangen unter das Volk, die bissen die Leute, und es starben viele von Israel. Da kam das Volk zu Mose und sprach: "Wir haben uns verfehlt, denn wir haben gegen Gott und gegen dich geredet. Bitte Gott, dass er die Schlangen von uns wegschafft."
Mose bat für das Volk. Da sprach Gott zu Mose: "Mache dir eine Schlange und befestige sie auf einer Signalstange. Jeder, der gebissen wird und sie ansieht, wird leben."
Mose fertigte eine Schlange aus Metall an und befestigte sie auf der Signalstange. Und wenn eine Schlange jemanden biss und er sah die Schlange aus Metall an, blieb er am Leben.
(Eigene Übersetzung)


Liebe Gemeinde,

"Der Weg ist das Ziel!"
Mit diesem Slogan wird man aufgefordert,
auf den Weg zu achten und ihn wertzuschätzen,
selbst wenn er beschwerlich ist,
auch wenn er einen Umweg darstellt.
Denn es geht um den Weg selber
und um das, was auf diesem Weg
zu erfahren, zu erleben, zu lernen ist.

"Der Weg ist das Ziel!"
Wenn unterwegs diese Parole ausgegeben wird,
sollte man allerdings misstrauisch werden.
Vielleicht soll der Hinweis auf den Weg nur davon ablenken,
dass das Ziel der Reise ungewiss ist,
oder der Reiseleiter sich verlaufen hat.

Eine Weile lässt man sich das ja gefallen,
dieses auf-den-Weg-Achten:
Wenn die Verpflegung stimmt,
die Wanderung kurzweilig ist
und die Landschaft einigermaßen abwechslungsreich.
Weiß aber selbst der Reiseleiter nicht mehr weiter,
beginnen Landschaft und Reisegesellschaft zu langweilen,
wird gar die Verpflegung knapp oder ungenießbar,
verliert auch der geduldigste Teilnehmer die Lust am Wandern.

I
Das Volk Israel hat unser Mitgefühl.
Ein Land voller Überfluss war ihnen versprochen worden,
ein Land, darin Milch und Honig fließt.
Aber statt auf direktem Weg dorthin,
führen Gott und Mose sie
kreuz und quer durch die Wüste.
Allmählich werden Zweifel an der Leitungskompetenz des Mose laut;
man fragt sich, welchen Plan Gott verfolgt,
wenn er das Volk so umherirren lässt.

Dazu ist die Verpflegung eintönig,
es gibt irgendetwas Undefinierbares.
"Man hu?", fragten die Israeliten,
als sie es zum ersten Mal sahen, "Was ist das?" (2.Mose 16,15).
Manna, dieses süße Zeugs,
das nach Honigsemmel schmeckt (2.Mose 16,31),
wird seitdem jeden Tag aufgetischt, morgens und abends.
Kein Wunder, dass sich immer mehr Leute
nach den "Fleischtöpfen Ägyptens"
oder wenigstens einem anständigen Wurstbrot sehnen.

Man kann verstehen, dass die Israeliten langsam, aber sicher
ungeduldig und grantig werden
und ihren Unmut gegenüber der Reiseleitung äußern.
Man selber würde es nicht anders machen.
Nur versteht die Leitung leider überhaupt keinen Spaß,
sondern reagiert äußerst heftig:
Mit Giftschlangen bringt Gott die schimpfenden Israeliten
zum Schweigen - im wahrsten Sinne des Wortes.

Eine unerklärliche und völlig überzogene Reaktion des Reiseleiters.
Sicher, die Israeliten könnten dankbarer sein,
dass Gott sie vor der Sklaverei in Ägypten bewahrt
und durch Mose in die Freiheit geführt hat.
Aber Undankbarkeit derart zu bestrafen?
Was ist das überhaupt für eine Freiheit,
die nie aus dem Niemandsland herausführt,
die man nie wirklich zu schmecken bekommt?
Da sind doch offenbar Versprechungen,
unter denen die Reise angetreten wurde,
nicht eingehalten worden,
so dass man mit gutem Recht
sein Rücktrittsrecht geltend machen kann!

Für die Israeliten aber gibt es kein Zurück.
Das wissen sie selbst.
Die Fleischtöpfe Ägyptens sind, wenn überhaupt,
dann nur um den Preis erneuter Versklavung zu erreichen.
Und es reift die Einsicht,
man hätte vor Reiseantritt
besser das Kleingedruckte gelesen,
hätte genauer überlegt,
worauf man sich bei dieser Reise einlässt
und zu welchem Ziel man unterwegs ist.

II
Offenbar ist dies keine Wellness-Veranstaltung,
keine Rundum-Verwöhn-Kur mit Buffet und allem Komfort.
Es ist ein Weg durch die Einsamkeit und Leere der Wüste,
der die Israeliten mit sich selbst konfrontiert
und sie sich fragen lässt,
welches Ziel sie nach der Flucht aus Ägypten
eigentlich gewinnen wollen.
Es ist eine Wanderschaft,
bei der Gott ihnen ganz nahe ist
- so nah wie nie zuvor -,
und gleichzeitig völlig fremd.

Und dennoch ist Gott,
der ihnen die Giftschlangen auf den Hals hetzt,
der selbe, der sie gerettet hat
aus der Sklaverei in Ägypten
vor den Soldaten des Pharao,
vor Hunger und Durst in der Wüste.
Gott, der ihnen vorangeht
in der Wolkensäule am Tag
und in der Feuersäule bei Nacht (2.Mose 13,21-22).
Ein schrecklich lebendiger Gott,
der, offenbar tödlich beleidigt,
sich mit tödlichen Giftschlangen revanchiert.

Hier könnte man stehen bleiben,
den Staub von den Sandalen schütteln
und diesem unverständlichen, ungerechten Gott
samt seinem Diener Mose die Brocken vor die Füße werfen.
Könnte das Nachdenken über diese Geschichte aufgeben,
weil es einfach nicht zu begreifen und zu ertragen ist,
dass Gott, der doch so sehr auf der Seite seines Volkes ist,
der alles tut, um es zu retten und zu beschützen,
es im nächsten Augenblick dem Tod überlässt.

Man könnte diesen unbegreiflichen Gott ignorieren und ablehnen,
wenn - ja, wenn man nicht wüsste,
dass wir uns manchmal selbst unbegreiflich sind.
Auch bei uns liegen Liebe und Hass
manchmal erschreckend nah beieinander:
Über einen Menschen, den man sehr lieb hat,
kann man sich manchmal auch schrecklich ärgern;
so sehr, dass man ihm weh tut.
Eine Liebe, die einzigartig schien, riesengroß und unzerstörbar
kann, wenn sie zerbricht,
Menschen, Beziehungen völlig vergiften.

III
Die Israeliten geraten unter den Bissen der Giftschlangen
ins Nachdenken über Gott und ihre Welt
- etwas, das sie vielleicht schon früher hätten tun sollen.
Dabei wird ihnen klarer,
was sie verloren und was sie gewonnen haben.
Verloren haben sie die "Fleischtöpfe Ägyptens",
ein Leben, das zwar nicht ihr eigenes war,
in dem sie sich aber eingerichtet hatten
und das ihnen manche Annehmlichkeiten bot.
Verloren haben sie auch die Heimat,
in der sie zwar Fremde waren,
nur geduldet als Menschen zweiter Klasse,
wo sie aber immerhin ein Dach über dem Kopf hatten,
ein Zuhause.

Gewonnen haben sie die Freiheit,
aber nicht eine bessere Welt.
Sie sind im Niemandsland;
noch ist gar nicht absehbar,
was werden, wie sich ihre neu gewonnene Freiheit
gestalten wird.

Gewonnen haben sie die Freundschaft Gottes,
der sie von dem, woran ihr Leben bisher hing,
trennt und entfremdet
und der sehr eifersüchtig darüber wacht,
dass sie nicht in den alten Trott zurückfallen;
der schrecklich enttäuscht ist darüber,
wenn die Israeliten ihm nicht vertrauen.

Den Israeliten wird klar,
dass sie sich entscheiden müssen
für ihr altes Leben,
in das sie aber schon nicht mehr zurück können
und eigentlich auch nicht zurück wollen,
oder für das Vertrauen auf die Freundschaft Gottes,
der sie befreit hat und ihnen eine Zukunft verspricht
- allerdings um den Preis,
die Leere und Eintönigkeit der Wüste erst einmal auszuhalten,
den Weg in ein anderes Leben erst einmal auf sich zu nehmen.

IV
Die Israeliten geraten unter den Bissen der Giftschlangen
ins Nachdenken über Gott und ihre Welt.
Und es rettet sie der Blick auf die Schlange,
die Mose an einer langen Stange hochhält,
damit alle sie sehen können.

Was sehen sie da?

Die Schlange erinnert sie daran,
wie wenig greifbar Gott ist,
wie wenig greifbar sie selbst auch sind.
So, wie die Schlange sich windet,
schwanken sie
zwischen Heimweh nach dem Vertrauten und Bequemen
und der Sehnsucht nach Veränderung und Neuem
hin und her.

Die Schlange erinnert an Gottes
und an die eigene Unbegreiflichkeit.
Indem man sie ansieht
und das eigene Schwanken wahrnimmt,
wird man gerettet.
Indem man sich bewusst wird,
was man verliert und gewinnt,
kann man sich entscheiden für das,
was das Leben befördert.

Nicht umsonst wird diese Geschichte in der Passionszeit erzählt.

So, wie Mose die Schlange an einer Stange aufrichtet,
damit alle sie sehen können,
so ist das Kreuz nicht zu übersehen,
an dem Gottes Sohn stirbt.
Und ebenso wie die Schlange
ist auch das Kreuz ein Symbol
für Gottes Unbegreiflichkeit,
der seinen Sohn den Menschen überlässt,
und damit dem sicheren Tod,
und für unsere eigene Unbegreiflichkeit,
weil es um unseretwillen offenbar dieses Opfers bedurfte.

Wir machen immer wieder Menschen zu Opfern,
werden manchmal selbst zu Opfern gemacht.
Vor allem aber opfern wir Menschen
am Kreuz unseres Konsums und unseres Wohlstands.
Damit freie Bürger freie Fahrt haben,
nehmen wir die Verkehrstoten in Kauf.
Damit der Strom reichlich fließt
und wir uns nicht einschränken müssen,
bürden wir unseren Kindeskindern Abfälle auf,
die niemand entsorgen kann.
Damit unsere Wirtschaft wächst
und wir Arbeitsplätze haben,
müssen Menschen in anderen Ländern für Hungerlöhne arbeiten
müssen Erwachsene und Kinder in der Sahelzone verhungern,
die für einen Bruchteil des Geldes,
das wir zur "Rettung der Banken" ausgegeben haben,
gerettet werden könnten.

V
Der Blick auf das Kreuz kann uns retten.
Er kann im wahrsten Sinne des Wortes Leben retten.
Zuerst unser eigenes:
Indem wir uns bewusst werden,
dass Gott uns so sehr liebt,
dass er sich selbst kreuzigen lässt,
damit wir uns nicht opfern müssen.

Und dann das Leben anderer,
indem wir im Blick auf das Kreuz erkennen,
dass wir auf dem falschen Weg sind,
wenn wir zurück zu den Fleischtöpfen Ägyptens wollen.

Der Weg in die Freiheit für alle Menschen
führt durch die Öde und Einsamkeit der Wüste.
Er hält Verzicht und Entbehrungen bereit,
und es ist gar nicht klar,
ob wir jemals das Ziel erreichen,
das uns vor Augen steht:
Frieden und Gerechtigkeit für alle Menschen.
Aber in diesem Fall ist der Weg das Ziel.
Jeder Schritt, den wir auf ihm gehen,
kann die Welt retten
und unsere Rettung sein.
Amen.

Mittwoch, 21. März 2012

Leiden


Heute konnte unser Hund nicht mehr aufstehen. Sooft man ihn dazu animierte, jaulte er vor Schmerz auf, zog die Hinterläufe unter den Leib und machte den Rücken krumm. Alles Locken half nichts, der Schmerz war zu groß.
Es bricht einem das Herz, wenn man Leid mit ansehen muss, zumal beim eigenen Haustier. Wie viel schwerer ist es, wenn ein Mensch leiden muss! Man steht hilflos daneben und würde am liebsten weglaufen, weil es kaum auszuhalten ist, dass man nichts tun kann - und doch kann man gar nichts anderes und gar nichts besseres tun, als da zu bleiben und auszuhalten, was nicht zu ertragen ist.
In solchen Momenten schießt einem die Frage nach dem Warum durch den Kopf. Warum muss dieser Mensch, warum muss dieses Tier, warum müssen wir leiden?
Auf diese oft verzweifelt gestellte Frage gibt es keine Antwort. Es scheint, als verstumme Gott gerade in den Momenten, wo man am dringendsten auf eine Antwort wartet, oder wenigstens ein kleines Zeichen seiner Nähe. Selbst Jesus hat diese Erfahrung machen müssen. Am Kreuz schrie er nach Gott: "Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?" (Matthäus 27,46)
Ja, wo war Gott, als sein Sohn qualvoll am Kreuz starb? Wo ist Gott, wenn Mensch und Kreatur leiden müssen?
Leid ist ein schrecklicher Begleiter des Lebens. Man kann es betäuben, manchmal lindern - los wird man es nicht, und es bleibt niemandem erspart. Man kann es nicht begreifen, man kann es nicht erklären, weil es keinen Sinn hat, wie auch der Tod keinen Sinn hat.
In der Passionszeit setzen wir uns dem Leiden Jesu aus, bis zu seinem schrecklichen Tod am Kreuz, um dem Leiden und dem Tod unseren Glauben, unsere Hoffnung und Liebe entgegen zu halten. In der Passionszeit üben wir den Ernstfall, sozusagen. Wir suchen, wo wir Trost finden können und eine Antwort auf die Frage, wo Gott ist im Leiden. Im Gottesdienst machen wir die Erfahrung: Wir sind nicht allein. Andere fragen wie wir, und gemeinsam geben wir uns Halt, wenn Gewissheiten und Überzeugungen nicht mehr tragen. Das Leiden zerbricht den Glauben in Stücke, aber wenn wir im Gottesdienst die Bruch­stücke unseres Glaubens zusammentragen, entsteht ein Fun­dament, auf dem man aufbauen kann. Dann finden wir den Mut, anderen beizustehen und ihnen tragen zu helfen, was nicht zu ertragen ist. Mit unserem Bruchstück des Glaubens, mit dem, was uns an Hoffnung geblieben ist, und mit unserer Liebe wagen wir es, dem Leid und dem Tod die Stirn zu bieten. Und der Leidende spürt: Ich bin nicht allein.
Jesus war am Kreuz nicht allein. Seine Mutter und sein bester Freund standen bei ihm. Sie standen ihm bei und glaubten für ihn, als er sich von Gott verlassen glaubte. So war Gott bei ihm, bis zuletzt. So ist Gott bei uns: In den Menschen, die uns beistehen und uns mit ihrem Glauben, ihrer Hoffnung, ihrer Liebe festhalten.