Samstag, 30. Juni 2018

Dazugehören


Predigt am 5. Sonntag nach Trinitatis, 1. Juli 2018, über 1. Mose 12,1-4a.

Liebe Schwestern und Brüder,

Dazugehören. Was für ein schönes Wort!
Dazugehören bedeutet, eine Familie zu haben. Freunde. Ein Zuhause. Eine Heimat.
Dazugehören bedeutet: Andere kennen mich, grüßen mich. Andere respektieren mich und meine Meinung. Helfen mir, wenn es sein muss und darauf ankommt. Laden mich zu sich ein, sprechen mit mir, wollen wissen, wie es mir geht und was ich denke.
Dazugehören, das gibt man ohne Not nicht auf. Da müsste es einem schon etwas sehr viel Besseres geboten werden. Aber was könnte besser sein als dazuzugehören?

Im heutigen Predigttext aus dem 1. Buch Mose heißt es im 12. Kapitel:
„Der Herr sprach zu Abram:
Geh aus deinem Vaterland und von deiner Verwandtschaft und aus deines Vaters Hause in ein Land, das ich dir zeigen will. Und ich will dich zum großen Volk machen und will dich segnen und dir einen großen Namen machen, und du sollst ein Segen sein. Ich will segnen, die dich segnen, und verfluchen, die dich verfluchen; und in dir sollen gesegnet werden alle Geschlechter auf Erden.
Da zog Abram aus, wie der Herr zu ihm gesagt hatte, und Gott zog mit ihm.“

I. Abram gibt seine Zugehörigkeit auf wegen einer Stimme, die er gehört hat. Sie versprach ihm Reichtum und Ruhm, wenn er in die Fremde geht. Er wird ein Star, ein Stern, der über den ganzen Welt aufgeht. Davon lässt Abram sich locken. Diese Aussicht ist so gewaltig, dass er dafür sein Dazugehören, das Vertraute: Familie, Verwandtschaft und Heimat, aufgibt. Die Aussicht ist so verlockend, dass sogar sein Neffe Lot mitkommt - allein aufgrund des Gerüchtes, das Abram gehört hat.

So sind zu allen Zeiten Menschen in gelobte Länder aufgebrochen, weil es Gerüchte gab, dass dort ein besseres Leben zu finden wäre. Sie sind dafür das Risiko des Fremdseins und der Fremde eingegangen: Niemanden zu kennen und nicht gekannt zu werden. Die Sprache nicht zu verstehen. Nicht gegrüßt zu werden und nicht respektiert. Nicht um seine Meinung gefragt zu werden und nicht, wie es einem geht, wie man sich fühlt, was man sich wünscht oder braucht. Kurz: Sie gingen das Risiko ein, nicht dazuzugehören.
Wie schrecklich und wie gefährlich es sein kann, ein Fremder zu sein, nicht dazuzugehören, das kann man die Fremden in unserem Land fragen.

Glücklicherweise gab es, anders als heute, zu Abrams Zeiten das selbstverständliche und heilige Gebot der Gastfreundschaft. Die Gastfreundschaft öffnete Fremden die Türen. Man gehörte dadurch noch nicht dazu. Aber man stand auch nicht allein draußen vor der Tür. Das Gebot der Gastfreundschaft gab einem Fremden die Chance, sich zu zeigen und mit seinem Anliegen Gehör zu finden.

Zu allen Zeiten brachen Menschen auf ein Gerücht hin in fremde Länder auf. Manche, wie der Großvater von Donald Trump, brachten es vom Tellerwäscher zum Millionär. Andere mussten enttäuscht feststellen, dass es nur Gerüchte waren, denen sie vertraut hatten. Sie mussten erleben, dass man sie nicht haben wollte, ihnen das Leben schwer machte oder ihnen sogar nach dem Leben trachtete.


II. Dazugehören ist ein schönes Wort. Aber ist es nicht eigenartig, dass immer andere bestimmen, ob man dazugehört oder nicht? Man kann sich zwar zugehörig fühlen; man kann von sich behaupten, dazuzugehören. Aber ob man tatsächlich dazugehört, entscheiden andere. Und sie entscheiden, dass ein dunkelhäutiger Mensch, der hier geboren und z.B. mit bayerischer Mundart aufgewachsen ist, trotzdem kein Deutscher sein kann, weil man als Deutscher angeblich keine dunkle Haut haben darf. Aber selbst, wenn man alle Kriterien fürs Deutschsein erfüllt, heißt das noch lange nicht, dass man auch dazugehört. Auf dem Dorf wird z.B. ganz genau unterschieden zwischen „Einheimischen“ und „Zugezogenen”. Man mag als Zugezogener dazugehören. Trotzdem bekommt man es immer wieder zu spüren und aufs Brot geschmiert, dass man nur ein Zugezogener ist.

Offenbar lässt sich Gemeinschaft nur dadurch herstellen, dass man sich von anderen abgrenzt und andere ausschließt. „Alle Menschen werden Brüder“ - dieser Wunsch Friedrich Schillers wird wohl immer nur ein Traum bleiben.

Ist es nicht eigenartig, dass etwas so Verbindendes wie Gemeinschaft nur existiert, weil andere ausgegrenzt werden? Und dass Dazugehören nur funktioniert, wenn jemand bestimmt, wer dazugehört, und wer nicht? Wirft das nicht ein schlechtes Licht auf jede Gemeinschaft, jede Zugehörigkeit, wenn sie andere ausschließt?

Solange man selbst fraglos dazugehört, braucht man sich solche Gedanken nicht zu machen, und macht sie sich auch nicht. Wer aber einmal die Zugehörigkeit aufgab oder verlor, hat es erlebt und weiß, wie sich das anfühlt, wenn man draußen steht.


III. Das Gerücht, das Abram dazu verführte, seine Zugehörigkeit aufzugeben und ein Fremder zu werden, verhieß Reichtum und Ruhm:
„Ich will dich zum großen Volk machen und will dich segnen und dir einen großen Namen machen“.
Aber es geht bei dieser Verheißung Gottes an Abram um mehr als Reichtum und Ruhm. Gott begründet mit Abram eine neue Art der Zugehörigkeit, die nichts mehr mit Blut und Boden zu tun hat. Die nicht daran gemessen wird, welche Farbe die Haut oder das Parteibuch hat, seit wie vielen Generationen die Vorfahren im Ort lebten oder ob man Land besitzt. Eine Zugehörigkeit, über die nicht andere bestimmen, sondern allein man selbst:
„In dir sollen gesegnet werden alle Geschlechter auf Erden“.
Auch die neue Zugehörigkeit, die Abram begründet, ist eine Verwandtschaft. Aber es ist keine Bluts-, sondern eine Geistesverwandtschaft. Deshalb erhält Abram später von Gott auch einen neuen Namen: Aus Abram wird Abraham, weil er der Vater aller Gläubigen wird. Dazu ist es nicht mehr nötig, mit Abram leiblich verwandt zu sein. Verwandtschaft zeigt sich im Glauben; sie zeigt sich dadurch, dass man auf Gott hört, wie Abram es tat.

Nun hören wir heute keine Stimmen mehr. Das ist wohl auch besser so: Wer Visionen hat oder Stimmen hört, ist in unserer Gesellschaft ein Fall für den Psychiater. Wir sind solche Phänomene nicht mehr gewohnt und verstehen sie nicht mehr; wir könnten nicht damit umgehen. Aber auch wir hören Gottes Stimme: Jeden Sonntag wird sie uns aus der Bibel vorgelesen. Und wer eine Bibel im Haus hat, kann sogar jederzeit Gott zu sich sprechen lassen.

Aber die Stimme Gottes zu hören genügt nicht. Man muss auch auf sie hören. Und da wird es heikel. Denn auf Gottes Stimme zu hören bedeutet, auf die Stimmen all derer nicht mehr zu hören, die be-stimmen wollen, wo es langgeht, was man zu tun und zu lassen hat und wer dazugehört und wer nicht. Das kann befreiend sein. Das kann aber auch sehr schlimm sein. Denn wer nicht auf die Be-Stimmer hört, gehört nicht mehr dazu.


IV. Gottes Stimme ruft in die Fremde. Nicht nur Abram, auch uns ruft sie, Bindungen an Altvertrautes, Gewohntes zu verlassen: Bindungen an Beziehungen, Besitz, eine Ideologie oder eine Nation. Bindungen an Urteile und Meiningen, die man selbst sich gebildet oder vermittelt bekommen hat. Wer auf Gottes Stimme hört, wird zur Fremden im eigenen Land.

Wer fremd ist, nimmt mit einem Mal die anderen Fremden wahr - so, wie man als Vater oder Mutter, die einen Kinderwagen schiebt, staunt, wie viele Kinderwägen unterwegs sind. Wer selbst fremd ist, übersieht die anderen Fremden nicht mehr, sondern solidarisiert sich mit ihnen. So entsteht eine neue Gemeinschaft. Eine, die sich nicht durch Abgrenzung und Ausgrenzung bestimmt, sondern durch Gastfreundschaft. Gastfreundschaft legt nicht fest, wann einer dazugehört und wann nicht. Sie lässt jede und jeden selbst bestimmen, ob sie dazugehören möchte oder nicht. Wer an die Tür klopft und eintritt, ist willkommen und gehört dazu.

Eine solche Gemeinschaft ist die Gemeinde, die sich sonntags zum Gottesdienst trifft. Hier, in der Kirche, die nicht unser Haus ist, sondern Gottes, in der wir also selbst als Einheimische Fremde und Gäste sind, hier ist jede und jeder willkommen. Hier ist es gleichgültig, wie jemand aussieht, sich kleidet oder spricht. Welche Partei er oder sie gewählt hat, aus welchem Ort oder Land er oder sie stammt. Hier, in der Gemeinde, wird während des Gottesdienstes Schillers Traum von der Geschwisterlichkeit aller Menschen für eine Stunde wahr: Wir alle sind Schwestern und Brüder. deshalb sprechen wir uns so an und werden so angesprochen: Als Schwestern und Brüder.


V. Liebe Schwestern und Brüder,
ich weiß, sogar im Gottesdienst gibt es diese fraglose Zugehörigkeit nicht. Auch hier wird ein Fremder als Fremder angesehen. Auch hier vergessen wir nicht, wer zugezogen und wer einheimisch ist. Dafür vergessen wir zu leicht, dass auch wir Gäste und Fremdlinge sind, die kein größeres Recht haben, in diesem Haus Gottes zusammenzukommen, als andere.

Aber auch, wenn es im Gottesdienst nicht weniger menschelt und fremdelt als draußen in der Welt, so geschieht, was wir hier tun, doch unter einem anderen Vorzeichen: Wir versammeln uns im Namen Gottes. Gott hat uns zu seinen Kindern gemacht. Weil wir Gottes Kinder sind, darum sind wir tatsächlich Schwestern und Brüder - selbst dann, wenn es uns nicht gelingt, uns wie Geschwister zu verhalten. Amen.

Sonntag, 24. Juni 2018

Jede eine Trainerin

Predigt am Johannistag, 24. Juni 2018, über 1.Petrus 1,8-12:

Obwohl ihr Christus nicht seht, habt ihr ihn lieb.
Und obwohl ihr ihn jetzt nicht seht, glaubt ihr doch an ihn.
Ihr seid unaussprechlich, himmlisch glücklich,
weil ihr das Ziel eures Glaubens erreicht habt:
den Frieden für eure Seele.
Nach diesen Frieden suchten und forschten die Profeten.
Sie profezeiten das Gute, das euch von Gott zuteil geworden ist.
Sie grübelten darüber nach, welche Zeit der Geist Christi meinte,
der in ihnen war, als er im Voraus erkennen ließ,
welche Leiden Christus erwarteten
und welche Herrlichkeiten danach folgen sollten.
Und ihnen wurde gezeigt,
dass sie mit ihren Profezeiungen nicht sich selbst dienen würden,
sondern euch. Denn euch wird es jetzt von denen verkündigt,
die euch das Evangelium im Heiligen Geist predigten,
der vom Himmel gesandt wurde.
In dieses Evangelium würden sogar die Engel gern einen Blick werfen.


Liebe Schwestern und Brüder,

Trainer ist eine undankbare Aufgabe.
Man erklärt den Spielern, wie sie den Gegner bezwingen können,
man paukt Taktik, übt Spielzüge mit ihnen -
um dann während des Spiels am Spielfeldrand ohnmächtig mit ansehen zu müssen,
wie sie alles Geübte vergessen, den Ball an den Gegner verlieren
und nach einem Gegentor wieder in alte Muster verfallen.
Zum Glück ist das gestrige Spiel gegen Schweden gerade noch gut gegangen.
Das kroosartige, erlösende Tor fiel in allerletzter Minute.

Trainer ist eine undankbare Aufgabe.
Auch deshalb, weil jede Fernsehzuschauerin und jeder Fernsehzuschauer mittrainert
und es im Grunde viel besser weiß, besonders bei einer WM.
Viele hätten in der Halbzeitpause die Spieler in der Kabine
wohl so richtig zusammengefaltet.
Aber das hat Jogi Löw nicht getan.
Er hat zur Geduld gemahnt, das ja.
Aber vor allem hat er den Spielern Hoffnung gemacht,
dass sie noch zwei Tore aufholen können.
Und das haben sie ja auch geschafft.

Das 2:1 von Toni Kroos im Vorrundenspiel Deutschland-Schweden

I. Die Profeten, von denen der Predigttext erzählt,
waren auch so etwas wie Trainer -
wenn auch nicht in einem Fußballturnier.
Der Fußball war damals noch nicht erfunden.
Auch sie gaben den Gläubigen aus dem Volk Israel
Tipps und gute Ratschläge und mussten dann mit ansehen,
wie die Israeliten ihre Worte in den Wind schossen
und immer wieder in alte Muster verfielen.

Wenn das geschah, kam es zu mancher Gardinenpredigt.
Und die Profeten konnten es auch nicht lassen,
„siehste!“ zu sagen, wenn das Unglück eingetroffen war,
das sie angekündigt hatten.
Aber im Grunde waren auch sie schon wie Jogi Löw:
Sie machten Mut, verbreiteten Zuversicht und Hoffnung.

Selbst nach der bitteren Erkenntnis,
dass die Israeliten für ihr Unglück selbst verantwortlich waren,
stärkten sie ihren Glauben an die Zukunft.
Sie schenkten ihnen Bilder wie das von der Stimme des Predigers in der Wüste:
„Es ruft eine Stimme:
In der Wüste bereitet dem Herrn den Weg,
macht in der Steppe eine ebene Bahn unserm Gott!
Alle Täler sollen erhöht werden,
und alle Berge und Hügel sollen erniedrigt werden,
und was uneben ist, soll gerade,
und was hügelig ist, soll eben werden.
Denn die Herrlichkeit des Herrn soll offenbart werden,
und alles Fleisch miteinander wird es sehen“.
An solchen Bildern kann die Hoffnung sich fest machen.
Sie trösten nicht nur, sondern geben Orientierung.
Sie sind so etwas wie die Laufwege,
die ein Trainer für die Spieler vor der Einwechslung aufzeichnet:
Sie geben eine neue Richtung vor,
wenn man in eine Sackgasse geraten ist und nicht mehr weiter weiß.

II. Die ersten Christen lasen diese Botschaften an das Volk Israel,
und plötzlich wurde ihnen klar, von wem die Profeten da sprachen:
Für sie wiesen die Worte der Profeten auf Jesus hin. -
Wer weiß, was Menschen einmal in die Laufwege von Jogi Löw hineinlesen,
wenn sie seine Zettel in 500 Jahren in Händen halten!
Die Laufwege, die die Profeten den Israeliten vor Augen gemalt hatten -
weg von den Götzen, hin zu dem einen Gott;
weg vom Vertrauen auf Waffen, auf Verbündete und die eigene Kraft
hin zum Vertrauen auf Gott,
der andere Wege führt, als die Mächtigen der Welt sie gehen -
diese Laufwege für das Volk wurden ihnen zum Weg Christi.
Sie sahen seinen Weg ans Kreuz darin vorgezeichnet,
fanden Hinweise auf seine Auferstehung
und auf den Geist, den er den Gläubigen zu Pfingsten schenkte.
Und die Stimme des Predigers in der Wüste war für sie natürlich
niemand anders als Johannes der Täufer,
der Jesus den Weg bereitet hatte.

III. Johannes der Täufer - auch so eine Art Trainer.
Auch er hatte gute Ratschläge für die Gläubigen.
Er forderte Früchte des Glaubens
und mahnte zur Bescheidenheit:
„Wer zwei Hemden hat, der gebe dem, der keines hat;
und wer zu essen hat, tue ebenso.
Fordert nicht mehr, als euch vorgeschrieben ist!
Tut niemandem Gewalt oder Unrecht
und lasst euch genügen an eurem Sold!“
Damit gab Johannes einen Weg vor,
der auch heute noch gangbar ist.
Es ist der Weg der Barmherzigkeit.

Wir sehen Menschen heute andere Wege gehen:
Wege der Gewinnmaximierung.
Wege des geringsten Widerstands.
Wege, die andere von Wohlstand und Freiheit ausschließen.
Wege, die anderen Menschen das neiden,
was sie haben oder bekommen.
Wege, die fordern: „Ich zuerst!“.
Es sind Wege, die auch wir gehen.
Denn es sind eingelaufene Pfade,
man geht sie schon fast von selbst.
Die vor, hinter und neben einem laufen sie entlang,
da geht man einfach mit.
Denn wer die ausgetretenen Pfade verlässt, fällt auf.
Wer nicht mit den anderen geht, ist allein.
Wer neue Wege ausprobiert, kann in die Irre gehen.

IV. Die ersten Christen gingen neue Wege -
und wurden dadurch auffällig.
Sie machten sich dadurch unbeliebt,
sie wurden verfolgt. Das geht bis heute vielen so,
die den Weg der Barmherzigkeit gehen,
den Johannes verkündet hat.
Und auch, wenn man sich keine Blessuren dabei holt,
wird man doch müde und unsicher.
Man fragt sich, ob man auf dem richtigen Weg ist,
wenn so viele auf anderen Wegen unterwegs sind.

Ihnen - uns - gelten die Worte des Predigttextes.
Denn auch dessen Worte sind die Worte eines Trainers,
der uns, wie Jogi Löw in der Halbzeitpause,
Mut machen will.
Dazu benutzt er starke Bilder.
Zum Beispiel das Bild, dass wir etwas haben,
was nicht einmal die Engel kennen
und worauf sie ziemlich neugierig sind:
Das Evangelium.

Das Evangelium ist noch etwas mehr
als die guten Worte der Profeten.
Denn es ist die Erfüllung dessen, was sie verheißen haben.
Es ist wie ein Lottogewinn, den man sich wünscht,
aber nie bekommt.

Wenn man einmal den Jackpot im Lotto knacken könnte,
hätte man so viel Geld, dass man es im Leben nicht ausgeben könnte.
Dann wären - so stellt man sich vor - alle Sorgen vorbei
und man wäre glücklich, weil man sich jeden Wunsch erfüllen könnte.
Wenn man genauer nachdenkt, merkt man,
dass das nicht sein kann,
weil man Glück, Zufriedenheit und Gesundheit,
die Liebe und den Respekt von anderen nicht kaufen kann.

Aber das Evangelium ist tatsächlich ein Lottogewinn.
Denn es sagt uns, dass wir ausgesorgt haben.
Über uns und unser Leben ist schon entschieden,
es ist alles gut, es kann gar nichts mehr schief gehen.
Was auch immer geschieht: Wir sind und bleiben Kinder Gottes.
Wir sind wer, ob wir nun Weltmeister werden oder nicht.
Unser Leben ist gelungen, auch, wenn wir viele Fehlpässe geschlagen haben.
Und wir sind geliebt, auch wenn das Publikum uns auspfeift.

V. Der Predigttext gibt uns diese guten Worte mit auf den Weg,
weil der Weg der Barmherzigkeit kein leichter Weg ist
und weil das Leben uns immer wieder foult.
Nach einem solchen Foul des Lebens,
nach einem Gegentreffer trotzdem,
wie die Nationalmannschaft in der zweiten Halbzeit,
die Hoffnung nicht aufzugeben
und es wieder und wieder zu versuchen:
Dazu braucht es Ermunterung und gute Worte.
Dazu braucht es die Trainer-Profeten,
wie Johannes der Täufer einer war.

Und weil wir in der WM alle Trainerinnen und Trainer sind -
wie wäre es, wenn wir uns an Johannes und an Jogi Löw ein Beispiel nähmen:
Statt andere zu kritisieren und ihnen Gardinenpredigten zu halten,
könnten wir es ja mal mit einer Ermutigung probieren,
weil auch wir hin und wieder eine Ermutigung nötig haben.
Amen.

Samstag, 16. Juni 2018

Was ist Wahrheit?

Predigt am 3. Sonntag nach Trinitatis, 17. Juni 2018, über 1.Johannes 1,5-2,6:

Das ist die Botschaft,
die wir von ihm gehört haben
und euch verkündigen,
dass Gott Licht ist
und es ist überhaupt keine Finsternis in ihm.

Wenn wir behaupten,
wir hätten Gemeinschaft mit ihm.
aber in Finsternis leben,
lügen wir und üben nicht die Wahrheit.
Wenn wir aber im Licht leben,
wie er im Licht ist,
haben wir miteinander Gemeinschaft
und das Blut seines Sohnes Jesus
reinigt uns von allen Sünden.

Wenn wir behaupten,
wir hätten keine Sünde,
betrügen wir uns selbst
und die Wahrheit ist nicht in uns.
Wenn wir unsere Sünden bekennen,
ist er verlässlich und gerecht,
dass er uns die Sünden vergibt
und uns von allem Unrecht reinigt.
Wenn wir behaupten,
wir hätten nicht gesündigt,
machen wir ihn zum Lügner,
und sein Wort ist nicht in uns.

Meine Kindlein,
das schreibe ich euch,
damit ihr nicht sündigt.
Aber wenn einer sündigt,
dann haben wir einen Fürsprecher beim Vater,
Jesus Christus, den Gerechten.
Und er ist die Sühnung für unsere Sünden;
nicht allein für unsere,
sondern auch für die ganze Welt.

Und daran erkennen wir,
dass wir ihn kennen,
indem wir seine Gebote halten.
Wer sagt: ‚Ich kenne ihn‘,
aber seine Gebote nicht beachtet,
ist ein Lügner
und in ihm ist die Wahrheit nicht.

Wer aber sein Wort beachtet,
in dem vollendet sich wirklich Gottes Liebe.
Daran erkennen wir, dass wir in ihm sind.
Wer behauptet, in ihm zu sein,
muss so leben, wie er gelebt hat.


Liebe Schwestern und Brüder,

die ersten christlichen Gemeinden hatten ein Problem,
das auch ein Problem unserer Zeit ist.
Man könnte es zugespitzt so formulieren:
Woran erkennt man „fake news“?
Oder, anders gefragt:
Wenn beide Seiten behaupten, die Wahrheit zu sagen,
woher weiß man dann, wer tatsächlich die Wahrheit sagt?


I. Wenn eine Idee einmal auf der Welt ist,
kann man nicht mehr kontrollieren,
wie sie verwendet wird - und von wem.
Der Glaube an Jesus faszinierte viele Menschen.
Und je mehr Menschen von ihm hörten,
und je weiter die Ereignisse seines Lebens,
seines Todes am Kreuz und seiner Auferstehung zurücklagen,
desto freier wurde man in der Auslegung dessen,
was diese Ereignisse bedeuteten.
Man machte sich seinen eigenen Reim auf die Geschehnisse,
erzählte die Geschichten von Jesus
und die Geschichte seines Kommens immer wieder ein wenig anders.
Bis am Ende unterschiedliche Erzählungen entstanden waren,
die nicht mehr zusammenpassten
- ja, die sich zum Teil widersprachen.
Wer hatte nun recht?
Wem sollte man glauben?

Diese Frage hatte die Gemeinde,
an die sich der 1.Johannisbrief wendet,
vor eine Zerreißprobe gestellt.
Jedenfalls stellt der Autor dieses Briefes
- nenne wir ihn Johannes -
es so dar, als ginge es um Leben und Tod
bzw. um Licht und Finsternis.

An eine ähnlich dramatische, zum Zerreißen gespannte Situation
erinnert uns der heutige 17. Juni:
An den Volksaufstand in der DDR vor 65 Jahren.
Auch in diesem Volksaufstand gab es zwei verschiedene „Erzählungen“,
gab es Wahrheiten, die einander widersprachen.

Aus der Sicht des damaligen Westens war der Volksaufstand
der von der Sowjetarmee brutal unterdrückte Versuch,
Freiheit und Demokratie einzufordern.

Aus der Sicht der DDR-Führung hatten revanchistische und imperialistische Kräfte des Westens eine gutwillige und ahnungslose Bevölkerung zum Aufstand angestachelt. Dank der brüderlichen Hilfe durch die sowjetischen Truppen konnte die westliche Aggression im Keim erstickt werden.

Heute wissen wir, dass die Sichtweise des Westens den Tatsachen näher kam als die Darstellung der DDR-Führung - die war schlicht gelogen, „fake news“.
Aber wie hätte man das damals erkennen sollen,
wenn man nicht selbst dabei gewesen war,
sondern nur von den staatlichen Medien oder im Schulunterricht von diesem Ereignissen erfuhr?

Wie kann man heute die dreisten Lügen entlarven,
die Donald Trump verbreitet,
oder die „alternativen Fakten“ der AfD?
Kann man denn überhaupt die Wahrheit erkennen,
wenn man nicht alle Seiten gehört hat, alle Fakten kennt?
Das ist das Totschlag-Argument aller Lügenbarone:
Dass man die Wahrheit gar nicht wissen
und daher auch nicht beurteilen könne,
was wahr ist und was nicht.


II. Der Briefschreiber, den wir „Johannes“ nennen,
will in dieser Frage Klarheit schaffen,
denn für ihn steht nicht nur eine Wahrheit auf dem Spiel.
Es geht nicht nur um Richtig oder Falsch,
sondern es geht um die Wahrheit des Glaubens.

Die Wahrheit ist nicht etwas,
was man so oder so sehen kann.
Menschen gehen auf die Straße und protestieren,
weil sie davon überzeugt sind,
dass es nur eine Wahrheit gibt.
Sie protestieren, um diese Wahrheit gegen die Lüge,
gegen „fake news“ und „alternative Fakten“ zu verteidigen und durchzusetzen.

Aber Protest allein erweist etwas nicht als wahr
- auch für die Verteidigung einer Lüge gehen Menschen auf die Straße.
Und auch die Masse derer, die eine Behauptung im Munde führen,
bürgt nicht dafür, dass diese Behauptung wahr ist
- im Gegenteil: Je mehr Menschen eine Sache vertreten,
und je lauter und wütender sie das tun,
desto misstrauischer sollte einen das machen.

Auf welche Weise versucht Johannes,
die Wahrheit zu erweisen?
Vielleicht kann uns seine Methode helfen,
im Alltag zwischen Wahrheit und Lüge zu unterscheiden
- gerade, wenn wir nicht alle Facetten der Wahrheit kennen -,
und die Wahrheit gegen die Lüge zu behaupten.

Johannes gibt sich nicht mit einem Wahrheitsbeweis zufrieden.
Er unternimmt ganze vier Anläufe,
um die Wahrheit zu ermitteln.
Zwei, mit denen man als Beobachter von außen erkennen kann,
ob es sich um die Wahrheit handelt,
und zwei, mit denen man sich selbst prüfen kann,
ob man auf der Seite der Wahrheit steht.

(1) Das erste Kriterium,
an dem ein Beobachter die Wahrheit erkennen kann,
ist die Übereinstimmung von Reden und Handeln:
„Wenn wir behaupten,
wir hätten Gemeinschaft mit ihm.
aber in Finsternis leben,
lügen wir und üben nicht die Wahrheit.“
Jemand, der Gewaltlosigkeit und Liebe predigt,
aber sein Kind schlägt, ist nicht glaubwürdig.
Ebensowenig kann man jemandem glauben,
der nach Recht und Ordnung ruft,
aber selbst Strafzettel in Mengen sammelt.
Von solchen Leuten sagt man,
dass sie Wasser predigen und Wein saufen.

Man hört sich ihre Predigten dennoch an,
weil gut und vernünftig klingt, was sie sagen.
Und so lässt man sich von ihnen überzeugen,
weil man meint, Reden und Tun hingen nicht zusammen,
sondern wären zwei verschiedene Paar Schuhe.
Man beschönigt das Auseinanderfallen von Reden und Tun
als „Kavaliersdelikt“, als „Ausrutscher“;
man redet sich ein, das würde sich noch ändern,
die Versprechen würden eines Tages wahr werden.
Weil man die Worte nicht an den Taten misst,
wird man belogen, und belügt sich selbst.


III. (2) Das zweite Merkmal, an dem ein Beobachter die Wahrheit erkennen kann,
ist die Kritikfähigkeit dessen, der sie vertritt:
„Wenn wir behaupten,
wir hätten keine Sünde,
betrügen wir uns selbst
und die Wahrheit ist nicht in uns.“
Allen totalitären Herrschern und Regimen ist gemein,
dass sie Kritik brutal unterdrücken
und Kritiker mundtot oder lächerlich machen -
seien es ein Erdogan, ein Putin oder ein Trump,
seien es Regime wie in China oder in Nordkorea.
Sie können Kritik nicht ertragen
und geben niemals einen Fehler zu.

Der Volksaufstand vom 17. Juni 1953 brach deshalb aus,
weil die DDR-Führung schwerwiegende wirtschaftliche Fehler begangen hatte,
die sie auf keinen Fall zugeben wollte.
Statt dessen wurden andere zu Sündenböcken gemacht,
und um die enormen Ausfälle zu kompensieren,
wurden die Arbeitsnormen erhöht - also letztlich
die Arbeiter für die Fehler ihrer Regierung zur Rechenschaft gezogen.
Kein Wunder, dass die Arbeiter sich das nicht gefallen lassen wollten.

Wer auf Seiten der Wahrheit stehen will,
muss Kritik aushalten können.
Denn die Wahrheit ist nichts, was man besitzen könnte.
Sie muss immer wieder neu gefunden und verteidigt werden.
Eine Wahrheit muss auch immer neu überprüft werden,
ob sie noch gilt, oder ob wir es nicht inzwischen besser wissen.

Auf die Wahrheit des Glaubens bezogen bedeutet das:
Die Tatsache, dass Gott uns vergibt,
bedeutet nicht, dass man nun tun und lassen könnte, was man will.
Die Tatsache, dass wir Gottes Kinder sind,
bedeutet nicht, dass alles, was wir tun,
Gott gefällt und in seinem Sinne ist.
Sie bedeutet auch nicht, dass wir anderen die Gotteskindschaft absprechen,
sie sozusagen aus dem Nest werfen dürften.

Wer meint, er habe in der Schule genug gelernt
und könne sein Leben lang mit diesem Wissen auskommen,
wird bald eines besseren belehrt.
Wer meint, er habe im Leben genug gelernt
und würde jetzt keine Fehler mehr machen,
belügt sich selbst - und andere.


IV. Das Prüfen der Worte an den Taten (1)
und die Fähigkeit, Fehler einzugestehen (2)
sind zwei ziemlich einfache, aber wirkungsvolle Mittel,
um Lügner zu entlarven und die Wahrheit zu erkennen.
Trotzdem führt Johannes noch zwei weitere Kriterien an.
Denn die beiden äußerlichen Merkmale allein könnten dazu führen,
dass man so wird wie die, die man kritisiert:
Man zeigt mit dem Finger auf andere -
und übersieht dabei, dass drei Finger auf einen selbst zurückweisen.
Darum gehört zur Suche nach der Wahrheit die Selbstkritik unbedingt dazu.
Und auch dabei geht Johannes wieder zwei Schritte,
denn bei der Suche nach der Wahrheit
kann man gar nicht sorgfältig und vorsichtig genug sein.

(3) Der erste Schritt ist die Frage,
ob ich die Regeln, die für alle gelten,
auch für mich gelten lasse:
„Wer sagt: ‚Ich kenne ihn‘,
aber seine Gebote nicht beachtet,
ist ein Lügner
und in ihm ist die Wahrheit nicht.“
Wir hatten das vorhin schon,
an dem Beispiel dessen, der Wasser predigt und Wein trinkt.
Jetzt wendet sich die Beobachtung nach innen:
Wie halte ich’s denn mit den Geboten?
Lasse ich die Regeln, die für andere gelten,
auch für mich gelten, oder meine ich, ich hätte eine Extrawurst verdient
und stünde außerhalb dessen, was für alle gilt?
Lege ich den Maßstab, mit dem ich andere beurteile, auch an mich an?
Würde ich, was ich von anderen erwarte und verlange,
auch selbst tun, wenn ich in einer ähnlichen Situation wäre wie sie?

(4) Gerade die letzte Überlegung,
das Einfühlen in die Lage anderer Menschen,
scheint in unserer Gesellschaft nicht verbreitet zu sein.
An dieser Stelle greift das zweite Kriterium,
mit dem man überprüfen kann,
ob man auf der Seite der Wahrheit steht:
„Wer aber sein Wort beachtet,
in dem vollendet sich wirklich Gottes Liebe.
Daran erkennen wir, dass wir in ihm sind.“
Gottes Liebe vollendet sich in der Liebe zum Nächsten, zum Mitmenschen.
Es ist eine Liebe, die nicht fragt,
ob der andere diese Liebe auch verdient.
Es ist eine Liebe, die nicht scheinheilig fragt:
„Wer ist denn mein Nächster?“,
die Menschen anderer Herkunft, anderer Hautfarbe nicht ausschließt.
Es ist vielmehr eine Liebe,
die dem Nächsten die gleichen Rechte, die gleichen Freiheiten
und den gleichen Wohlstand zugesteht, über die man selbst verfügt.
Eine Liebe, die dem Nächsten nichts gönnt und nichts wünscht,
was man nicht selbst zu ertragen bereit wäre.


V. „Was ist Wahrheit?“ (Johannes 18,38)
Es zeigt sich,
dass man unter all den „fake news“ und „alternativen Fakten“
die Wahrheit recht leicht entdecken kann, wenn man nur will.

Dazu darf man sich nicht von hohlen Worten
und leeren Versprechungen einwickeln lassen,
sondern muss unbeirrt darauf achten,
wie der handelt, der so spricht (1).

Dazu darf man nicht glauben,
jemand wäre über alle Zweifel erhaben.
Gerade, wer ein Vorbild für andere sein will,
muss Kritik ertragen und seine Fehler eingestehen können (2).

Um die Wahrheit erkennen zu können,
braucht man einen Maßstab,
an dem man Worte und Taten messen kann - Gottes Gebote -,
den man auch an sich selbst anlegen
und für sich selbst gelten lassen muss (3).

Und schließlich darf man bei der Suche nach der Wahrheit
niemals das größte Gebot vergessen:
„Du sollst Gott lieben von ganzem Herzen,
von ganzer Seele und mit all deiner Kraft,
und deinen Nächsten wie dich selbst“ (Markus 12,29-31) (4).

Mit diesen Kriterien ist man gut gewappnet
gegen alle Versuche, die Wahrheit zu verdrehen.
Damit ist man fähig, die Wahrheit gegen die Lüge zu verteidigen und
- wichtiger noch - die Menschen zu verteidigen,
die durch Lügen ausgegrenzt, verfolgt,
benachteiligt oder behindert werden.

Amen.

Mittwoch, 6. Juni 2018

The Artist is present

Predigt am 2. Sonntag nach Trinitatis, 10. Juni 2018, über 1.Korinther 14,1-3.20-25:
Strebt nach der Liebe!
Bemüht euch um die Gaben des Geistes,
am meisten aber um die Gabe der prophetischen Rede!
Denn wer in Zungen redet,
der redet nicht für Menschen, sondern für Gott;
denn niemand versteht ihn,
vielmehr redet er im Geist von Geheimnissen.
Wer aber prophetisch redet,
der redet den Menschen zur Erbauung und zur Ermahnung und zur Tröstung.
Liebe Geschwister, seid nicht Kinder, wenn es ums Verstehen geht,
sondern seid Kinder, wenn es um Böses geht;
im Verstehen aber seid vollkommen.
Im Gesetz steht geschrieben:
„Ich will in anderen Zungen
und mit anderen Lippen reden zu diesem Volk,
und sie werden mich auch so nicht hören,
spricht der Herr“ (Jesaja 28,11f).
Darum ist die Zungenrede ein Zeichen
nicht für die Gläubigen, sondern für die Ungläubigen;
die prophetische Rede aber ein Zeichen
nicht für die Ungläubigen, sondern für die Gläubigen.
Wenn nun die ganze Gemeinde an einem Ort zusammenkäme
und alle redeten in Zungen,
es kämen aber Unkundige oder Ungläubige herein,
würden sie nicht sagen, ihr seid von Sinnen?
Wenn sie aber alle prophetisch redeten
und es käme ein Ungläubiger oder Unkundiger herein,
der würde von allen geprüft
und von allen überführt;
was in seinem Herzen verborgen ist, würde offenbar,
und so würde er niederfallen auf sein Angesicht, Gott anbeten
und bekennen: Gott ist wahrhaftig unter euch.


Liebe Schwestern und Brüder,

die Zungenrede, die Paulus hier so kritisch behandelt,
hat sich nicht durchgesetzt - ob diese Worte des Paulus daran schuld waren?
Ich habe jedenfalls noch nie jemanden „in Zungen“ reden hören,
weder im Gottesdienst noch außerhalb.
Auch mich selbst hat es nie überkommen, „in Zungen“ zu reden.

Trotzdem möchte ich behaupten,
dass es so etwas wie das Reden „in Zungen“ bis heute gibt.
Und ich möchte mit Ihnen überlegen,
warum die Zungenrede ein Zeichen für die Ungläubigen ist.


I. Zunächst einmal: Was ist das überhaupt, die „Zungenrede“?
Offenbar gab es in den ersten christlichen Gemeinden Menschen,
die während des Gottesdienstes laut vor sich hin sprachen,
vielleicht sogar riefen oder schrien.
Nur, was sie da sprachen, riefen oder schrien, konnte niemand verstehen.
Es war eine Art Sprache, aber auch wieder nicht.
Vielleicht hat es geklungen wie Kurt Schwitters’ „Ursonate“:
Fümms bö wö tää zää Uu,
                                         pögiff,
                                                     kwii Ee.
Oooooooooooooooooooooooo,
dll rrrrr beeeee bö
dll rrrrr beeeee bö fümms bö,
     rrrrr beeeee bö fümms bö wö,
              beeeee bö fümms bö wö tää,
                          bö fümms bö wö tää zää,
                               fümms bö wö tää zää Uu:
Diejenigen, die in den ersten christlichen Gemeinden so redeten,
machten das nicht aus Spaß,
um die Mitchristen zu ärgern oder den Gottesdienst zu stören.
Sie fühlten sich erfüllt vom Heiligen Geist,
er drängte aus ihnen heraus,
sie wollten, sie mussten es sagen -
aber was man hörte, waren nur unartikulierte Laute,
die niemand verstand - vielleicht nicht einmal sie selbst.

Bevor wir darüber den Kopf schütteln,
erinnern wir uns an Situationen,
wo es einem im Wortsinne die Sprache verschlägt.
Wo man auch nur einen unverständlichen Laut hervorbringt,
weil einem die Worte fehlen -
vom Schmerzensschrei „Aua!“ über das „Huch!“, wenn man überrascht ist,
bis hin zum lustvollen Stöhnen.

Dass wir, wenn überhaupt, nur selten solche Laute machen,
liegt daran, dass es verpönt ist,
unverständlich vor sich hin zu brabbeln
oder in der Öffentlichkeit unanständige Geräusche von sich zu geben.
Wenn man es doch tut, erntet man Kopfschütteln,
bekommt einen Vogel gezeigt oder wird sogar für verrückt erklärt.
Worte, Handlungen, die man nicht versteht, die nicht „normal“ sind,
hält man normalerweise für verrückt.

Wer in den ersten christlichen Gemeinden „in Zungen“ redete,
wurde nicht für verrückt gehalten - im Gegenteil:
die oder der wurde bewundert und vielleicht sogar beneidet,
weil die Zungenrede ein Zeichen für den Heiligen Geist war,
den diese Menschen in einem ganz besonderen Maß besitzen musste,
wenn er so aus ihnen herausdrängte.

Wenn man das Phänomen der Zungenrede ernst nehmen
und nicht als Verrücktheit abtun will,
dann hilft zum Verständnis vielleicht der Begriff der „Performance“.
Eine „Performance“ ist eine Kunstaktion:
Eine Künstlerin arbeitet dabei mit dem eignen Körper,
bezieht die Dinge oder Menschen im Raum mit ein.
Bei einer Performance kommt es nicht auf das Ergebnis an,
sondern auf den Vorgang selbst.
Man kann nichts davon „mitnehmen“, es gibt nichts, was bleibt -
außer den Eindrücken und den Erfahrungen, die man hatte.
Die Performance ist eine Kunstform.

Aber das ist doch keine Kunst!, sagen manche.
Wenn sich z.B. jemand in einem Museum an einen Tisch setzt,
mit einem freien Stuhl gegenüber,
auf dem eine Zuschauerin Platz nehmen kann,
und nichts anderes tut, als die Zuschauerin anzusehen,
ohne sich zu bewegen, ohne ein Wort zu sagen,
ohne das Gesicht zu verziehen -
was soll daran Kunst sein?
Trotzdem waren die Teilnehmer an der Performance
The Artist is present“ - „Die Künstlerin ist anwesend“
der Künstlerin Marina Abramovic,
die sie im Museum of Modern Art in New York durchführte,
tief bewegt und überwältigt.
Manche weinten sogar.


II. Das ist doch keine Kunst!
Dieses Urteil hört man oft über abstrakte oder moderne Kunst,
meist gepaart mit der Bemerkung: „Das könnte ich auch, das kann doch jeder!“
Solchem Kunstverständnis liegt die Vorstellung zugrunde,
Kunst sei etwas, was nur sehr wenige Begabte können:
Aus einem Marmorblock eine Figur herausschlagen,
die wie ein echter Mensch wirkt.
Auf eine Leinwand mit Ölfarben eine Schale mit Obst,
eine Blumenvase und ein Glas so genau abmalen,
dass man meint, sie berühren zu können:
Das ist Kunst.

Ähnliche Urteile hört man über die Musik.
Was schön klingt und harmonisch, das ist Musik.
Sobald es fremdartig oder gar befremdlich wird, ist es „Katzenmusik“.
Bei der Musik liegt die Latte inzwischen allerdings höher als bei der Kunst:
Unsere Großeltern haben Jazz und Rock'n Roll noch geschmäht -
das würde heute niemand mehr tun.
Aber manche Musik hat es heute trotzdem noch schwer,
ernst genommen zu werden und Hörerinnen zu finden.

Was man nicht auf Anhieb erkennen kann, was man nicht versteht, ist keine Kunst.
Wenn etwas nicht harmonisch klingt,
oder wenn man sich beim Hören anstrengen muss, ist es keine Musik.
So haben sich zu Bachs Zeiten die Arnstädter über Bachs Orgelspiel aufgeregt:
Er spiele viel zu viele überflüssige Noten
und würde der Orgel fremdartige Klänge entlocken.
Im Grunde findet sich diese Einstellung schon bei Paulus’ Kritik der Zungenrede:
Weil man sie nicht versteht, ist sie keine „richtige“ Rede.
Der Maßstab, nach dem etwas als Kunst, als Musik oder als Rede beurteilt wird,
ist das eigene Verständnis:
Wenn ich es nicht verstehe, dann kann es auch nichts sein.


III. Dass man etwas nicht versteht,
muss nicht immer mit der Zungenrede zu tun haben.
Auch Fremdsprachen versteht man nicht,
wenn man sie nicht gelernt hat.
Nicht umsonst spricht man vom „Fachchinesisch“:
Auch die Fachausdrücke eines bestimmten Berufszweiges sind für Laien unverständlich -
man denke etwa nur an die Berichte, die man von der Fachärztin für die Hausärztin mitbekommt.

Auch im Gottesdienst versteht man vieles nicht.
Warum steht hier vorn ein Altar, wenn wir doch keine Opfer mehr darbringen?
Wazu brennen Kerzen auf, warum hängen bunte Tücher vor dem Altar?
Warum haben diese Tücher verschiedene Farben, und was bedeuten die Symbole darauf?
Warum singen wir im Gottesdienst Griechisch: Kyrie, eleison?, usw. usf.

Wenn man erst einmal anfängt, das scheinbar Selbstverständliche zu hinterfragen,
fallen einem immer mehr Dinge ein,
die man am Gottesdienst und am Glauben eigentlich nicht versteht.
Solange man nicht darüber nachdenkt, fällt einem das gar nicht auf.
Es muss schon jemand von außen kommen
und einen durch seine scheinbar dummen Fragen mit der Nase darauf stoßen,
dass man so vieles im Gottesdienst tut, ohne es zu verstehen.

Der Gottesdienst ist also keineswegs, wie Paulus fordert, eine vernünftige Sache.
In ihm geht es auch ums Verstehen - in der Predigt zum Beispiel.
Aber der Gottesdienst selbst ist eher so etwas wie … eine Performance:
Eine Art künstlerische Aktion, in die wir verwickelt werden.

Einmal angenommen, der Gottesdienst wäre eine Performance:
Wer ist dann die Künstlerin? Ich? Oder Sie? Oder wir alle gemeinsam?

Für eine Außenstehende, die zum ersten Mal an einem Gottesdienst teilnimmt,
muss, was wir hier tun, befremdlich wirken:
Wir sitzen still in einer Bank;
ab und zu sprechen oder singen wir gemeinsam etwas;
manchmal stehen wir auf, ohne dass man wüsste,
warum wir einmal sitzen bleiben, ein anderes Mal aufstehen.
Und dann diese vielen Fachwörter:
Kyrie; Psalm; Glaubensbekenntnis; Vaterunser; Abendmahl; Segen …
Für eine Außenstehende muss all das verwirrend sein;
ihr kommen diese Begriffe wie böhmische Dörfer vor,
fast wie Zungenrede.

Darum ist die Zungenrede ein Zeichen für die Ungläubigen:
Ihnen wird dadurch, dass sie nichts verstehen, bewusst,
dass sie nicht dazugehören.
Sie sind noch ausgeschlossen aus einer Gemeinschaft,
die sich auch durch eine gemeinsame Sprache,
durch gemeinsame Zeichen verständigt und abgrenzt.
Das erlebt man als Touristin im Ausland.
Man erlebt es, wenn man als Erwachsene unter Jugendlichen ist,
oder als Jugendliche unter Erwachsenen.
Bürgerinnen der DDR erlebten es bei Reisen in den Westen,
und Westdeutsche bei Besuchen in der DDR;
bis heute hält sich hartnäckig die Unterscheidung
zwischen „Wessis“ und „Ossis“.


IV. Vieles am Gottesdienst ist für eine Außenstehende unverständlich.
Und, wenn wir ehrlich sind, auch wir selbst verstehen nicht alles,
was wir hier tun, und warum wir es tun.
Wenn der Gottesdienst aber eine Art „Performance“ wäre,
dann ginge es im Gottesdienst gar nicht so sehr ums Verstehen,
sondern um den Gottesdienst an sich: Dass er stattfindet.
Und dass er stattfindet, liegt an uns:
Wenn wir nicht zusammenkommen, gibt es keinen Gottesdienst.

Der Gottesdienst schließt uns alle ein,
er schließt uns alle zusammen zu einer Gemeinde.
Dabei kann jede für sich entscheiden,
wie nah sie dieses Geschehen an sich heranlassen will;
ob sie mitbetet und mitsingt,
oder sich die Sache lieber mit etwas Abstand von der Empore aus ansieht.
Man wird auch nicht vorher gefragt,
woher man kommt, wer man ist - man muss nicht einmal Kirchenmitglied sein,
um am Gottesdienst teilnehmen zu können.

Wenn der Gottesdienst eine Art „Performance“ wäre,
würden wir sie gemeinsam durchführen.
Wir alle wären Künstlerinnen und Künstler.
Damit bewahrheitet sich ein berühmter Satz
des ebenso berühmten wie umstrittenen Künstlers Josef Beuys,
dass jeder Mensch ein Künstler ist.
Dieser Satz von Beuys wiederum geht auf einen Satz zurück,
den Martin Luther viel gebraucht hat,
der aber viel älter ist als Martin Luther - er steht schon in der Bibel (1.Petrus 2,9).
Es ist der Satz vom Priestertum aller Glaubenden.
Er besagt, dass es nicht einige wenige Auserwählte gibt,
die - stellvertretend für alle anderen - mit Gott in Kontakt treten dürfen,
sondern dass jeder Mensch unmittelbar zu Gott ist
und deshalb auch jeder Mensch Gott dienen kann.
Der Gottesdienst ist eine Spezialform dieses Dienstes für Gott,
den wir im Alltag jede auf ihre Weise tun.

Wenn der Gottesdienst eine Art „Performance“ wäre,
wären wir alle Künstlerinnen und Künstler.
Wenn wir den Gottesdienst als eine heilige Handlung verstehen,
sind wir alle Priesterinnen und Priester.
So oder so gestalten wir gemeinsam den Gottesdienst.


V. Im Gottesdienst geht es nicht allein ums Verstehen.
Was gepredigt wird, muss verständlich sein,
wenn es die Hörerinnen erreichen soll.
Aber der Gottesdienst ist nicht nur die Predigt,
und die Predigt ist nicht das Wichtigste am Gottesdienst.
Das Wichtigste ist, dass wir gemeinsam diese heilige Atmospähre schaffen,
in der Gott uns nahe kommen kann und in der wir Gott nahe sein können.

Deshalb ist der Gottesdienst eine Art Performance,
denn nur, wenn wir uns hier versammeln
und all die Dinge tun, die zu einem Gottesdienst gehören
- vom Blumenschmuck auf dem Altar,
dem Anzünden der Kerzen und der richtigen Farbe des Paraments
über die Musik und die Lieder
bis hin zu den Gebeten, die wir gemeinsam sprechen,
dem gemeinsamen Singen und Aufstehen -
nur dann kann diese heilige Atmosphäre entstehen,
in der uns etwas erreicht, etwas bewegt,
etwas uns anrührt - vielleicht sogar zu Tränen rührt.
Das kann man nicht „machen“.
Es passiert - passiert dadurch, dass wir gemeinsam diesen Gottesdienst gestalten
und dabei etwas entstehen lassen, das man mit einem Kunstwerk vergleichen kann:
Es ist schön. Es hat seinen Sinn in sich selbst. Es hat keinen „Zweck“.
Und: Man kann es nicht mit nach Hause nehmen -
so wie man die Bilder im Museum nicht mit nach Hause nehmen kann.
Was man mitnimmt, ist der Eindruck, der hier entstanden ist.
Dazu hat jede von uns beigetragen,
denn jede von uns ist eine Künstlerin, oder -
wenn es um den Gottesdienst geht - eine Priesterin.

Amen.