Donnerstag, 29. Dezember 2016

Stille bleiben

Predigt am Altjahrsabend, 31.12.2016, über Jesaja 30,15-17:

Liebe Schwestern und Brüder,

wenn ein Gipfel zum ersten Mal bezwungen ist, wird ein Fahnenmast eingerammt und eine Fahne gehisst. So war es bei der Erstbesteigung des Mount Everest, aber auch, als der erste Mensch seinen Fuß auf den Mond setzte. Das Hissen einer Fahne markiert das Erreichen des Gipfels.
Heute haben wir den Gipfel des Jahres 2016 erreicht. Weiter geht es nicht mehr, wir sind ganz oben angelangt und haben nur noch ein paar Stunden, um das Panorama zu genießen und auf den Weg zurückzublicken, den wir im vergangenen Jahr gegangen sind. Dann müssen wir schon wieder aufbrechen, ins nächste Jahr, hinauf auf den nächsten, großen Berg. Den 2016er haben wir bezwungen; jetzt wartet der 2017er … 
Auch seinen Gipfel werden wir, so Gott will und wir leben, im Laufe der nächsten 365 Tage erklimmen. Aber das ist ein anderer, ein neuer Berg. Noch stehen wir auf dem Berg dieses Jahres und blicken ehrfurchtsvoll zurück auf den langen Aufstieg. Zuweilen war er steil, steinig, knifflig; meistens aber ging es sich ganz leicht auf gut gebauten Wegen. An Proviant hat es wohl nie gemangelt, eher an der Ausdauer. Es gab vielleicht einen Unfall, die eine oder andere Gefahrenstelle. Aber da konnten wir uns auf unsere Partner, auf unsere Seilschaft verlassen. Das war vielleicht das schönste am Aufstieg: Dass wir den Weg nicht allein gehen mussten - auch wenn wir auf dem zurückliegenden Weg vielleicht eine Kameradin oder einen Kameraden vieler Gipfeltouren verloren haben ... 
Nun stehen wir oben, auf dem Gipfel der 365 Tage, und blicken zurück. Hinten verschwimmt schon alles im blauen Dunst der Ferne, und manches Wegstück, mancher schöne Ausblick ist bereits von einer Wegbiegung verdeckt. Wenn wir in unseren Rucksack schauen: Viel haben wir von dieser Etappe nicht mitgenommen. Die eine oder andere schöne Aussicht. Den einen oder anderen Gipfel, den wir unterwegs erreicht haben. Etwas Schönes, das wir am Weg fanden und auflasen. Doch der Großteil der 365 Tage rann uns durch die Hände. War Weg, den wir abgeschritten sind und der nun bereits vergessen hinter uns liegt.
Was bleibt uns? Was nehmen wir mit auf unserer weiteren Wanderung? Und was ist Ballast, den wir hier, auf dem Gipfel, zurücklassen, damit er uns beim nächsten Anstieg nicht belastet?

Dazu rammen wir jetzt einen Fahnenmast ein. Nicht nur, um den Gipfel zu markieren. Sondern auch um festzuhalten, was uns sonst durch die Finger rinnen würde. 
Von einem Fahnenmast auf dem Berg spricht auch der Predigttext für den Altjahrsabend aus dem Buch des Propheten Jesaja im 30. Kapitel, aber er schlägt einen ganz anderen Ton an. 
Bei ihm heißt es:
„So spricht Gott der Herr, der Heilige Israels: Wenn ihr umkehrtet und stille bliebet, so würde euch geholfen; durch Stillsein und Hoffen würdet ihr stark sein. Aber ihr wollt nicht und sprecht: ‘Nein, sondern auf Rossen wollen wir dahinfliehen’, - darum werdet ihr dahinfliehen, ‘und auf Rennern wollen wir reiten’, - darum werden euch eure Verfolger überrennen. Denn eurer tausend werden fliehen vor eines einzigen Drohen; ja vor fünfen werdet ihr alle fliehen, bis ihr übrigbleibt wie ein Mast oben auf dem Berge und wie ein Banner auf dem Hügel.”
„Bis ihr übrigbleibt wie ein Mast oben auf dem Berge
und wie ein Banner auf dem Hügel“.
Der Mast markiert den Haltepunkt.
Ums Banner sammeln sich die, die übrig geblieben sind, und formieren sich neu.
Aber was für ein Banner ist das? Wessen Wappen ziert es, und wofür steht es?
Was war unser Ziel, als wir durchs Jahr 2016 geeilt sind, abgesehen davon, heute auf seinem Gipfel zu stehen und auf den 365 Tage-Marsch zurückzublicken? Wofür haben wir die Strapazen des Aufstiegs oder des Ritts, wie Jesaja sagt, auf uns genommen, was wollten wir erreichen? Oder hat es nicht vielmehr uns geritten (und: was hat uns da im vergangenen Jahr geritten?), sind wir wie blind unseren Weg entlanggestolpert, weil er nun einmal vor uns lag, weil es eben immer weiter gehen muss, immer bergauf, von einem Berg zum nächsten …?

Edmund Hillary, zusammen mit Tensing Norgay Erstbesteiger des Mount Everest, hat auf die Frage, warum er auf Berge steige, geantwortet: „Weil sie da sind.“
Übertragen auf das Jahr 2016 könnte man demnach sagen, wir haben den Weg durch dieses Jahr genommen, weil es nun mal da war. Was wäre uns auch sonst übrig geblieben? Es gibt keine Alternative zum Weitergehen, denn Stillstand würde bedeuten, dass wir nicht mehr leben. Aber es macht doch einen Unterschied, ob „es“ geht, ob „es“ uns treibt, oder ob wir um unser Ziel wissen und uns darüber klar sind, wohin „es“ gehen soll. Und da macht Jesaja einen interessanten Vorschlag: Umkehren und stille bleiben.

Umkehren und stille bleiben - wie soll das gehen, wenn man die Zeit nicht zurückdrehen kann, wenn Stillstand auf dem Lebensweg den Tod bedeuten würde?
Zu jeder Wanderung gehört die Rast. Und auf jedem Weg in den Bergen findet sich eine Kapelle, oder ein Kreuz, an dem man kurz innehält und ein Vaterunser betet. Beten, das ist die Rast auf dem Weg, das Umkehren und stille bleiben.
Wenn wir ans Beten denken, dann an die Gebete, die wir seit Kindertagen kennen, wie das Vaterunser. Und an die Bitten, die wir, meist in den traurigen, angstvollen oder gefährdeten Momenten unseres Lebens geäußert haben: Die Stoßgebete und Fürbitten. Je häufiger man das Beten übt - ganz gleich, mit welcher Art Gebet -, desto deutlicher geht es einem auf, dass es beim Beten nicht um das Äußern und Erfüllen von Wünschen geht. Gott ist nicht das Sams, das mit seinen blauen Wunschpunkten jeden Wunsch erfüllt, bis irgendwann kein blauer Punkt mehr da ist. Gott ist eine Macht, die aber nicht in unser Leben eingreift. Ähnlich einem Vater oder einer Mutter, die von ferne das Leben ihres erwachsen gewordenen Kindes sehen und gerne noch manchen Rat geben würden - aber dafür ist das Kind zu alt, oder es will ihn nicht mehr hören. Die manches anders machen, manche Entscheidung so nicht treffen würden. Die ihr Kind nicht verstehen - und manchmal staunen, wie gelungen, wie schön sein oder ihr ganz anderes Leben dennoch ist.

Gott begleitet unser Leben in ähnlicher Weise; wir nennen ihn ja auch unseren Vater. Und wie unsere Eltern weiß auch er, was gut und richtig für uns ist. Nur bezieht sich das nicht auf unsere Berufswahl, unsere Art, und zu kleiden oder zu leben. Gott geht es nicht um solche Äußerlichkeiten. Gott sorgt sich darum, was wir mit unserer Zeit anstellen. Welche Ziele wir verfolgen, und mit welchen Mitteln. Wie wir mit uns und anderen Menschen umgehen.
Gott will Gutes für uns, und Gott will uns glücklich sehen. Aber oft ist es mit dem Glück so, wie Bertold Brecht es in der Dreigroschenoper besingt:
„Ja, renn nur nach dem Glück,
doch renne nicht zu sehr!
Denn alle rennen nach dem Glück,
das Glück rennt hinterher.“
Vor lauter Gerenne verpassen wir das Glück, es geht uns durch die Lappen, zerrint zwischen unseren Fingern, wie die Zeit ... Glück können wir nicht kaufen, Glück können wir nicht machen - das einzusehen fällt uns immer wieder sehr schwer.
„Wenn ihr umkehrtet und stille bliebet, so würde euch geholfen; 
durch Stillsein und Hoffen würdet ihr stark sein.“
Gott will Gutes für uns, und Gott will, dass wir glücklich sind. Deshalb könnte es sich lohnen, auf seinen Rat zu hören: Innezuhalten und stille bleiben - eben: zu beten. Und beim Sprechen mit Gott zu merken, wie aus dem Sprechen ein Zuhören, aus dem Reden ein Schweigen wird. Das geht nicht beim ersten Mal. Auch nicht beim zweiten oder dritten. Das muss man üben. Auch Pause machen, Innehalten will gelernt sein.
Aber jeden Tag, auf jedem Abschnitt unseres Weges, steht ein Kreuz, das uns auf ein Vaterunser einlädt. Jedes Abendläuten, jeder Gottesdienst ist eine kleine Rast auf dem Weg, ein Innehalten und Stillesein und Schweigen …

Wenn wir das lernen, dann kann Gott uns den Weg zeigen.
Dann brauchen wir nicht mehr so zu rennen nach dem Gipfel, nach dem Glück,
dann kommt uns das Glück entgegen auf dem Weg ins Neue Jahr,
und dann wissen wir, warum wir gehen, und zu welchem Ziel.

Amen.

Sonntag, 25. Dezember 2016

Sein Antlitz leuchten lassen

Predigt am 2. Weihnachtstag, 26.12.2016, über Johannes 8,12:
Jesus spricht:
Ich bin das Licht der Welt.
Wer mir nachfolgt, der wird nicht wandeln in der Finsternis,
sondern wird das Licht des Lebens haben.

Liebe Schwestern und Brüder,

in den dunkelsten Zeit des Jahres,
zur Zeit der Wintersonnenwende,
zur Zeit der längsten Nacht und des kürzesten Tages,
feiern wir Weihnachten.
Ein Fest des Lichtes mit vielen Kerzen,
weil an diesem Tag der zur Welt kam,
der später von sich sagte:
„Ich bin das Licht der Welt.
Wer mir nachfolgt, der wird nicht wandeln in der Finsternis,
sondern wird das Licht des Lebens haben.“
Schon vor Christi Geburt wurde zur Zeit der Wintersonnenwende ein großes Fest gefeiert,
das Fest des Sol invictus, der unbesiegbaren Sonne.
Denn nachdem die Dunkelheit scheinbar über das Licht triumphiert hat
am Tag der längsten Nacht und des kürzesten Tages,
kehrt die Sonne doch zurück,
die Tage werden wieder länger.

Die ersten Christen haben frech und subversiv
diesen Termin aus dem staatlichen Festkalender
zum Geburtstermin des Gottessohnes gemacht.
So, wie sie auch die Anrufung, die allein dem Kaiser vorbehalten war:
„Kyrie, eleison!“
zur Anrufung Christi im Gottesdienst umfunktioniert hatten.
Damals war das keine bloße Laune, kein harmloser Streich.
Es war ein Akt des Ungehorsams und des Widerstands;
wer so etwas tat, brachte sich in Lebensgefahr.

Aber die ersten Christen fühlten sich dazu angestiftet von Jesus,
der auch immer wieder kleine oder große Taten des Ungehorsams
und des Widerstands beging,
wenn er Kranke am Sabbat heilte
oder von sich selber behauptete:
„Ich bin das Licht der Welt“.

Vielleicht hat Jesus selbst auf den Sonnengott angespielt.
Aber er hat sich sicherlich nicht an seine Stelle setzen wollen.
Wenn Jesus von sich als „Licht der Welt“ spricht,
setzt er sich nicht mit der Sonne gleich
und will auch nicht als neuer Sonnengott verehrt werden.

Aber es ist auch kein bloßer Scherz, kein Wortspiel.
Jesus meint es ernst, wenn er sagt:
“Ich bin das Licht der Welt“.
Er fügt ja noch ein Versprechen an:
„Wer mir nachfolgt,
wird nicht wandeln in der Finsternis,
sondern wird das Licht des Lebens haben“.
Jesus fordert zur Nachfolge auf,
fordert auf, in seine Fußtapfen zu treten,
so zu leben und zu handeln wie er.
Weil man dadurch das Licht des Lebens hat.

Das würde bedeuten:
Ohne ihn hat man das Licht des Lebens nicht,
sondern ist im Finstern.
Wir merken schon:
Es geht hier nicht um das Tages- oder Sonnenlicht,
es geht hier überhaupt nicht um Licht im eigentlichen Sinne.
„Licht“ und „Finsternis“ sind Metaphern,
sind Bilder, die für etwas anderes stehen.

Wenn ein Mensch geboren wird,
so sagen wir häufig: Sie oder er hat das Licht der Welt erblickt.
Und tatsächlich ist wohl das erste, was ein Neugeborenes sieht,
das Licht im Kreißsaal.
Aber ich glaube nicht,
dass ein Neugeborenes dieses Licht schon wahrnimmt,
wie wir Licht wahrnehmen.
Es lernt ja erst zu sehen,
und erst sehr viel später wird es lernen,
dass man zu diesem Hellen „Licht“ sagt.

Was aber jedes Neugeborenes zuerst sieht
und auch sehr schnell zu erkennen lernt,
ist ein Gesicht, das über ihm leuchtet,
weil es vor Freude und Glück strahlt:
Das Gesicht der Mutter.
Über jedem Kind geht das Gesicht der Mutter wie eine Sonne auf.
Und aus diesem leuchtenden Gesicht der Mutter und des Vaters
bekommt das Kind,
was es neben Nahrung und Wärme am meisten zum Leben braucht:
Liebe.
Erkannt werden als eine Person.
Sich im freundlichen Blick eines anderen spiegeln,
der damit sagt:
Du bist gut.
Du bist mir etwas wert.
Daher heißt es auch im Segen:
„Der Herr lasse leuchten sein Angesicht über dir“.

Ich würde sagen,
dass Jesus in diesem Sinne „Licht der Welt“ ist.
Denn kurz vor diesem Satz wird im Johannesevangelium
die Geschichte von der Ehebrecherin erzählt,
die gesteinigt werden soll,
und Jesus, um sein Urteil gefragt, sagt:
„Wer von euch ohne Sünde ist,
der werfe den ersten Stein auf sie“.
Jesus hat diese Frau angesehen
und sie nicht verdammt.
Mehr noch: er hatte Mitgefühl mit ihr.
So sieht Jesus jeden Menschen an:
Er richtet nicht.
Er verdammt nicht.
Er ist voller Mitgefühl.

Darin sollen wir ihm nachfolgen.
Im Mitfühlen mit anderen Menschen.
Das fängt zuerst damit an,
dass man nicht meint,
man wäre besser als andere.
Niemand ist ohne Fehler,
und darum hat niemand das Recht,
andere Menschen wegen ihrer Fehler,
wegen ihres Andersseins zu verurteilen.

Allerdings ist der Weg des Mitfühlens kein einfacher Weg.
Er ist sogar sehr, sehr schwierig.
Jesus hat ihn als „enge Pforte“ und „schmalen Weg“ beschrieben,
den nur wenige finden.
Aber es ist der Weg zum Leben.

Der Weg des Mitfühlens ist deshalb so schwer,
weil einem in dem Moment, wo man es versucht,
bewusst wird, wie viel Leid und Elend,
wie viel Dunkelheit es in der Welt gibt.
In Ländern der sogenannten „Dritten Welt“,
in Krisen- und Kriegsgebieten,
aber auch direkt neben unserer Haustür,
in unserer Nachbarschaft, in unserem Ort.
Man schläft dann nicht mehr so gut;
man genießt nicht mehr so ungezwungen;
man ist nicht mehr so unbeschwert,
wenn man weiß und sich dafür interessiert,
wie es anderen geht.
Wenn man sich fragt:
Wie würde ich empfinden, wenn es mir so ginge wie diesem Menschen?
Was würde ich brauchen, was würde mir helfen?
Und: kann ich diese Hilfe geben?

Einfacher und bequemer ist es da doch,
wenn jeder sein Leben lebt
und jeder selber sieht, wie er zurecht kommt.
Es ist ja trotzdem jedem freigestellt,
mal mitzuhelfen oder etwas zu spenden.

Warum soll man sich mit der Frage belasten,
was in den Ländern, die in Deutschland produzierte Waffen kaufen,
dort damit angestellt wird.
Das ist ja nicht mehr unsere Sache.
Hier wird damit Geld verdient - und es gibt Arbeitsplätze.

Warum soll man sich Gedanken machen über die Hähnchen,
die mit viel Antibiotika in Rekordzeit herangemästet werden,
und wie sie geschlachtet werden.
Das verdirbt einem doch bloß den Appetit.

Warum sollte es einen interessieren,
wie die Menschen in den Ländern der sogenannten „Dritten Welt“ leben,
in Syrien, im Irak, in Afghanistan,
und was unsere Art zu wirtschaften, unsere Politik mit ihrem Elend zu tun hat.
Hauptsache, sie bleiben schön da, wo sie sind.
Sie sollen bloß nicht zu uns kommen und uns auf der Tasche liegen.

Ich übertreibe.
Aber im Grunde ist das doch eine Lebenseinstellung,
die wir im Prinzip alle mehr oder weniger teilen.
Sie steht auch völlig im Einklang mit unseren Gesetzen.
Es gilt: Was nicht strafbar ist, ist erlaubt.
Das ist der breite Weg, auf dem unsere Gesellschaft unterwegs ist.
Und, soviel kann man doch sagen, ohne allzu schwarz zu malen:
Er führt nicht ins Licht.

Jesus dagegen möchte, dass wir uns zuerst fragen:
Welche Folgen hat mein Tun für meine Mitmenschen?
Das ist der schmale, beschwerliche Weg.
Es ist der Weg des Lebens.

Es muss sich vieles ändern in unserer Gesellschaft und in der Welt.
Es ist ein zäher, langwieriger Weg.
Das kann man sehr gut an den Verhandlungen über das Kyoto-Protokoll studieren.
Wahrscheinlich geht es nicht anders,
wenn viele unterschiedliche und sich widersprechende Interessen
ausgeglichen werden müssen.

Aber Veränderungen wird es nur geben, wenn wir uns ändern.
Der erste Schritt liegt bei uns.
Es ist die Frage,
ob wir dem Licht der Welt nachfolgen wollen.
Ob wir, wie er, unser Angesicht über anderen Menschen leuchten lassen wollen,
uns ihnen zuwenden wollen und mit ihnen fühlen wollen.
Nicht nur mit unseren Familien und Verwandten,
auch mit uns unbekannten, mit wildfremden Menschen.
Dann nämlich beginnt sich etwas zu verändern.
Und je mehr Menschen ihr Angesicht für andere leuchten lassen,
desto größer wird die Kraft der Veränderung sein:
Ein Licht, das die Finsternis überstrahlt.
So, wie es in einer Weissagung des Propheten Jesaja heißt:
„Mache dich auf, werde licht;
denn dein Licht kommt,
und die Herrlichkeit des Herrn geht auf über dir!
Denn siehe,
Finsternis bedeckt das Erdreich
und Dunkel die Völker;
aber über dir geht auf der Herr,
und seine Herrlichkeit erscheint über dir.“
(Jesaja 60,1-3)
Ich sagte vorhin,
der Weg des Mitfühlens sei kein einfacher Weg.
Das stimmt so nicht.
Denn uns hat Jesus ja bereits angesehen.
Mit liebevollem Blick,
mit leuchtenden Augen hat er uns gezeigt,
wie lieb er uns hat,
wie stolz er auf uns ist,
wie sehr er an uns glaubt.
Wenn wir daran denken,
strahlt sein Leuchten von selbst aus unserem Gesicht.
Wir sind dann ein Abglanz seines Lichtes,
leuchten ganz von selbst,
und von uns zu unserem Mitmenschen
ist es dann nur noch ein winziger Schritt.
Amen.

Samstag, 24. Dezember 2016

Barmherzigkeit - eine Weihnachtspredigt

Predigt am Heiligen Abend, 24.12.2016, über Johannes 3,16-21:

Gott liebte die Welt über alle Maßen. Das sieht man daran, dass er seinen einzigen Sohn gab, damit keiner, der an ihn glaubt, zugrunde geht, sondern ewiges Leben hat.
Gott schickte seinen Sohn nicht in die Welt, damit er die Welt verurteilte, sondern damit die Welt durch ihn gerettet würde. Wer an ihn glaubt, wird nicht verurteilt. Wer aber nicht glaubt, ist schon verurteilt, weil er nicht an den Namen des einzigen Sohnes Gottes geglaubt hat. Darin aber liegt der Unterschied: Das Licht kam zur Welt, aber die Menschen liebten statt des Lichts die Finsternis, denn ihre Taten waren schlecht. Jeder, der Schlechtes tut, hasst das Licht und scheut es, damit seine Taten nicht ans Licht kommen. Wer aber wahrhaftig handelt, geht zum Licht, damit seine Taten sichtbar werden, weil sie durch Gott gewirkt sind.
(Eigene Übersetzung)

Liebe Schwestern und Brüder,

neulich habe ich mein Lieblingsbuch verliehen. Ich bekam es mit gebrochenem Rücken, Eselsohren und Kaffeeflecken zurück. Was habe ich mich geärgert! Wie kann man nur so liederlich mit fremden Sachen umgehen?! Das, was anderen gehört, sollte man sorgsamer behandeln als das eigene. Aber meistens ist es andersherum. Und gerade das, was allen gehört - der öffentliche Raum, unsere Umwelt - wird am wenigsten geachtet. Dabei müsste es doch eigentlich umgekehrt sein: Je mehr Menschen eine Sache besitzen, desto sorgsamer muss man damit umgehen, wenn sie einem anvertraut wird. Also müsste man den öffentlichen Raum, die Umwelt eigentlich am aller-allervorsichtigsten behandeln, denn sie gehört uns allen.

I
Gott liebt diese Welt über alle Maßen.
Was Gott wohl empfindet, wenn er sieht, wie wir mit seiner Welt umgehen?
Was empfindet Gott, wenn er die zerbombte Stadt Aleppo sieht.
Was denkt Gott über den Fahrer des Lastwagens, der in den Weihnachtsmarkt an der Gedächtniskirche in Berlin gerast ist und so viele Menschen getötet und verletzt hat.
Was denkt Gott darüber, wie wir Wasser und Lebensmittel auf der Welt verteilen; wie Wohlstand und Reichtum auf der Welt und in unserer Gesellschaft verteilt sind.
Was empfindet Gott angesichts der Menschen, die ihre Heimat aus Angst vor dem Krieg verlassen. Weil sie und ihre Kinder dort keine Zukunft haben. Weil es dort nicht einmal das gibt, was Martin Luther zum täglichen Brot zählt: „Fromme und getreue Oberherren. Gute Regierung. Friede. Gesundheit. Ehre.“ Und man darf ergänzen: Schulen. Die Möglichkeit, eine Ausbildung zu erhalten. Gleichberechtigung. Meinungsfreiheit. Religionsfreiheit. Eine freie Presse. Eine unabhängige Justiz. Eine Polizei, die sich an Recht und Gesetz hält. 

Was denkt sich Gott, wenn er sieht, wie wir mit der Welt umgehen. Was empfindet Gott, wenn er sieht, unter welchen Einschränkungen ihrer Freiheit und ihrer Gesundheit Menschen heute noch leben müssen, im 21. Jahrhundert. Wie sie hungern, wie sie leiden, wie sie zugrunde gehen. Gott, „der seinen einzigen Sohn gab, damit keiner, der an ihn glaubt, zugrunde geht“.

II
Gott leidet.
Gott leidet daran, wie wir mit der Welt umgehen, die er so liebt.
Gott leidet daran, wie wir miteinander umgehen; mit denen, die auch nach seinem Ebenbild geschaffen sind, wie wir. Die nur zufälligerweise nicht hier geboren wurden, zufällig nicht so aussehen wie wir.

Gott leidet und schickt seinen Sohn in die Welt, damit das Leid ein Ende hat. Darum wird in dieser Nacht das Licht geboren, das alle Dunkelheit vertreibt. Die Dunkelheit der Angst. Die Dunkelheit der Gewalt und des Terrors. Die Dunkelheit des Hungers und des Leides. Und die Dunkelheit des Todes.

Dieses Licht ist ganz klein und sehr verletzlich, wie es eben ein Neugeborenes ist. Man muss es beschützen und hegen, damit es nicht verlischt. So, wie das Friedenslicht, das von den Pfadfindern aus Bethlehem hergebracht wurde, in vielen Kirchen und Gemeinden beschützt und gehegt wurde, damit es heute an alle ausgeteilt werden und für alle leuchten kann.

Das Licht, das heute zur Welt kommt, hat nur eine kleine Kraft. Es ist nicht wie die Sonne. Es ist nicht wie der Blitz bei der Explosion einer Atombombe oder beim Aufprall eines Kometen auf die Erde.
Christus, das Licht der Welt, kam nicht auf die Welt, um zu zerstören und zu verurteilen, sondern um zu retten. 

Rettung geschieht nicht durch Macht und Gewalt. Christus, der Retter, ist kein Supermann, der mal eben die Naturgesetze außer Kraft setzt, um alles wieder gut zu machen. Immer wieder gibt es Anführer, die sich als solche Supermänner ausgeben und behaupten, sie würden eigenhändig den Karren aus dem Dreck ziehen. Am Ende stellt sich jedes Mal heraus, dass er tiefer drin steckt als vorher …

Rettung geschieht nicht durch Macht und Gewalt, sondern durch das Gegenteil: durch Ohnmacht und Gewaltlosigkeit. Die Band „Wir sind Helden“ singt das so:
„Die Verletzten sollen die Ärzte sein
Die Letzten sollen die Ersten sein
Sieh es ein: the meek shall inherit the earth“.
Das Kleine, Verletzliche wird uns retten. 
Damit es uns retten kann, muss es uns zuerst berühren. 
Das tut es, indem es alles auf eine Karte setzt und - - - uns vertraut: Es vertraut sich uns an. Es gibt sich als hilfloses, verletzliches Neugeborenes ganz in unsere Hände. Wenn wir es nicht wärmen, wenn wir es nicht versorgen, dann stirbt es. 

Jeden Tag geben sich Menschen in unsere Hand, setzen ihre ganze Hoffnung auf uns. Manchmal merken wir das gar nicht. Manchmal wollen wir es nicht merken. Manchmal sind wir überfordert. Und manchmal brauchen wir selbst jemanden, der uns in den Arm nimmt. Aber trotzdem erhalten wir weiterhin jeden Tag die Chance, von Gott berührt zu werden, wenn wir das Leid, die Bedürftigkeit eines anderen an uns heranlassen.

III
Viele Menschen wollen sich nicht vom Leid anderer berühren lassen. Sie fühlen sich benachteiligt, zu kurz gekommen; sie sehen sich selbst als Leidende, die Hilfe und Zuwendung benötigen. Aus Selbstmitleid verschließen sie die Augen vor den anderen. Aus Enttäuschung können sie das Licht der Weihnacht nicht sehen. Sie stehen im Dunkeln und entscheiden sich für die Dunkelheit, die ihnen wirklicher und mächtiger erscheint als das schwache Licht in einer Futterkrippe.

Wenn man nur noch sich selbst sieht und kein Mitleid mehr empfinden kann, verliert man seine Menschlichkeit. Man wird hart und kalt. Die Dunkelheit, in der man steht, kriecht in einen hinein. Worte und Sätze, die noch vor wenigen Jahren unsagbar schienen, weil sie von der Ideologie des Nationalsozialismus verseucht sind, werden laut ausgesprochen.
Und dann wird auch eine so schreckliche Tat wie der Anschlag von Berlin dazu benutzt, fremdenfeindliche und rassistische Parolen zu verbreiten. Weil man unfähig ist, Mitgefühl zu empfinden. 

IV
Weihnachten lockt uns in einen Stall, an eine Futterkrippe, zu einem neugeborenen Kind. Wir sollen, wie die Hirten, dem Kind ins kleine Angesicht sehen und uns überfluten lassen vom Mitgefühl mit diesem kleinen Menschlein. Dazu braucht es nicht viel Phantasie. Mütter und Väter kennen diese Welle der Liebe, die einen überflutet, wenn man seinem Kind ins Gesicht blickt.

Halten wir dieses Gefühl fest.
Halten wir die Erinnerung fest an diese Liebe und Wärme, die uns angesichts eine kleinen Kindes überfluten, und tragen wir sie als Licht in uns. 
Das, was wir da empfinden, nennt man Barmherzigkeit: Ein warmes Herz, das überläuft, überquillt vor Liebe und für den anderen nur Glück und Gutes will.

Das ist das Wunder der Weihnacht, das wir mit nach Hause nehmen wie die Flamme des Friedenslichtes, und das uns durch das kommende Jahr begleitet: Aus jedem Menschen blickt uns das Kind in der Krippe an. Jeden Tag des kommenden Jahres erhalten wir aufs Neue die Chance, von ihm berührt zu werden.

Bleiben wir verletzlich.
Bewahren wir unser Mitgefühl.
Seien wir barmherzig.
Amen.

Samstag, 17. Dezember 2016

Begnadet

Predigt am 4. Advent, 18. Dezember 2016, über Lukas 1,26-38



für Prof. Dr. Barbara Hallensleben

Im 6. Monat [von Elisabeths Schwangerschaft] wurde der Engel Gabriel von Gott in die galiläische Stadt Nazaret zu einer jungen Frau geschickt, die mit einem Mann namens Josef aus dem Hause Davids verlobt war. Der Name der jungen Frau war Maria. Als er bei ihr eintrat, sprach er:

Ich grüße dich, Begnadete! Der Herr ist mir dir.

Sie aber war wegen dieses Grußes verwirrt und überlegte, was für eine Begrüßung das wäre. Und der Engel sprach zu ihr:

Hab keine Angst, Maria.

Du hast Gnade bei Gott gefunden.

Sieh, du wirst schwanger werden

und einen Sohn gebären.

Du sollst ihn Jesus nennen.

Der wird groß sein

und Sohn des Höchsten genannt werden.

Der Herr wird ihm den Thron seines Vaters David geben.

Er wird für alle Zeit über das Haus Israel herrschen;

seine Herrschaft wird kein Ende haben.

Maria aber sprach zu dem Engel:

Wie kann das sein?

Ich habe mit keinem Mann geschlafen.

Der Engel antwortete ihr:

Heiliger Geist wird auf dich kommen

und Kraft des Höchsten dich überschatten.

Darum wird auch das Heilige,

wenn es geboren ist,

Sohn Gottes genannt werden.

Uns sieh, Elisabet, deine Tante,

ist trotz ihres Alters schwanger mit einem Sohn.

Sie ist bereits im 6. Monat,

von der es hieß, sie sei unfruchtbar.

Denn für Gott ist nichts unmöglich.

Da sagte Maria:

Ich stelle mich Gott zur Verfügung.

Was du gesagt hast, soll mit mir geschehen.

Und der Engel verließ sie.
(Eigene Übersetzung)





Liebe Schwestern und Brüder,



wer hätte gedacht, was ein schlichter Gruß bewirken kann?

Natürlich, wenn ein Engel zu Besuch kommt, mag man wohl erschrecken.

Aber Maria erschrickt nicht.

Als wäre der Umgang mit Engeln für sie etwas Alltägliches.

Oder vielleicht sieht der Engel gar nicht so sehr anders aus als die Männer, denen Maria so begegnet?

Es müssen wohl nicht immer Männer mit Flügeln sein, die Engel.



Maria erschrickt nicht, sie ist verwirrt.

Nicht, weil ein Engel sie besucht.

Das scheint, wie gesagt, nichts Besonderes für sie zu sein.

Sein Gruß irritiert sie.

Wenn etwas so gewöhnliches wie eine Begrüßung Maria verwirren kann,

muss es damit etwas auf sich haben.

Wir sollten uns also diesen „englischen Gruß“ einmal genauer ansehen.



I

„Ich grüße dich, Begnadete! Der Herr ist mir dir.“

Auf den ersten Blick hat der Gruß des Engels nichts Auffälliges.

„Grüß‘ dich!“, „Hallo!“, „Moin, moin“ oder „Guten Tag!“ sagt man, wenn man sich trifft.

So ist es üblich. So erwartet man es voneinander.

Wenn jemand nicht grüßte, das würde einen stutzig machen:

Hat der etwas gegen mich?

Habe ich ihm etwas getan?

Nach kurzer Überprüfung, ob der andere zurecht nicht grüßt,

würde die Verwirrung in Enttäuschung und Ärger umschlagen.

Wer den Gruß verweigert, tut so, als ob er einen nicht sieht.

Behandelt einen wie Luft.



Darum singt Maria in ihrem Lied, dem Magnificat:

„Er hat die Niedrigkeit seiner Magd angesehen“.

Damit sagt sie:

Gott hat mich angesehen,

obwohl ich aufgrund meiner gesellschaftlichen Stellung keinen Respekt genieße und oft übersehen werde.



Wir kennen das.

Leute am unteren Ende der sozialen Leiter übersieht man:

Das Küchenpersonal. Die Kellnerin. Die Putzfrau.

Müllmänner, Fensterputzer, Zusteller, Straßenkehrer.

Alle, die dafür sorgen, dass unser Alltag funktioniert, werden selten gesehen.

Erst, wenn der Kellner nicht kommt,

das Paket nicht abgeliefert,

der Schnee nicht geräumt wird,

fällt einem auf, dass etwas fehlt.

Die Reaktion darauf ist die selbe wie beim verweigerten Gruß:

Enttäuschung und Ärger.

Man nimmt es persönlich,

fühlt sich zurückgestellt, nicht respektiert.



Es gibt wenig, das einen mehr kränkt als verweigerter Respekt.

Maria aber scheint diesen Respekt nicht für sich zu erwarten.

Vielleicht, weil sie bis dahin nie respektvoll behandelt wurde?

Weil sie zu den Menschen gehört, die man einfach übersieht?



II

Was Maria nachdenklich gemacht haben könnte,

war also vielleicht die für sie unerwartete Aufmerksamkeit,

die ihr durch den Gruß des Engels zuteil wurde.

Jemand, den man übersieht,

der nicht viel gilt

oder nicht viel von sich hält,

wird gesehen.

Und auch noch vom Chef persönlich!



Wenn der Chef vorbeischaut, schwant einem nichts Gutes.

Da rechnet man mit dem Schlimmsten.

Warum sollte er wohl ausgerechnet zu mir kommen?

Was ist schief gelaufen?

Habe ich etwas falsch gemacht?



Marias Verwirrung ließe sich mit diesem mulmigen Gefühl erklären,

wenn der Chef vorbeischaut.

Aber Maria ist ja nicht Gottes Angestellte.

Sie hat keinen Auftrag von Gott erhalten,

den sie vermasselt haben könnte.

Noch nicht.

Das ist es also auch nicht.



Die Verwirrung rührt wohl von dem Wort her,

das auf den Gruß folgt: “Begnadete“.

So wird man nicht alle Tage genannt.

So wird man eigentlich nie genannt -

es sei denn, man sei Künstlerin oder Musikerin,

die mit ihrem begnadeten Talent andere in Staunen und Begeisterung versetzt.

Auch begnadete Köche mag es geben,

die für ihre Kreationen sogar einen Stern erhalten.



Aber begnadete Putzfrauen, Kellner, Müllmänner?

Fehlanzeige.

Der sprichwörtliche „kleine Mann“ gilt nicht als begnadet.

Unter anderem deshalb wird er „klein“ genannt.

Maria, die zu diesen „kleinen Leuten“ gehört,

hat auch nichts Besonderes zu bieten.

Erst die Frömmigkeit späterer Generationen hat ihr übermenschliche Fähigkeiten angedichtet;

die Mutter Gottes musste selbst gleichsam eine Göttin werden.

Hier aber ist sie eine normale junge Frau.

Obwohl - oder gerade weil - fromme Künstler sie später nach dem Schönheitsideal ihrer Zeit gezeichnet haben.

Auch darin wird sie nicht anders gewesen sein als ihre Altersgenossinnen.

Warum also nennt der Engel Gabriel sie „begnadet“?



III

„Gnade“ ist ein altertümliches Wort.

Wir verwenden es heute so gut wie nicht mehr.

Es stammt aus einer Zeit,

in der Menschen vom Wohlwollen ihrer Herren abhängig waren.

Dieses Wohlwollen nannte man „Gnade“,

weshalb die Herren mit „Euer Gnaden“ angeredet wurden.



Würde heute ein Chef Gnade für sich in Anspruch nehmen,

hätte er die Gewerkschaft auf dem Hals:

solch ein feudales Gehabe ließe sich kein Arbeitnehmer bieten.

Andererseits ist der Chef nun mal der Chef,

und es schadet sicher nichts,

wenn man ihm mit etwas Unterwürfigkeit begegnet.

Chefs mögen das.

Und außerdem, Gewerkschaft hin oder her,

schließlich ist man seinem Chef ausgeliefert.

Wenn man seinen Job behalten will, tut man besser, was er sagt.

Man ist also doch auf sein Wohlwollen, seine „Gnade“ angewiesen.



Um diese „Gnade“ kann es bei Maria also nicht gehen.

Sie ist nicht Chefin,

sondern Dienerin, wie sie selbst sagt.



Auf welche Weise ist Maria „begnadet“?

Noch weiß sie nicht, wozu der Engel zu ihr kam.

Ist es „Gnade“, dass ein Engel sie besucht?

Schließlich kommen die nicht zu jedem.

Ist es „Gnade“, dass Maria auserwählt wurde,

Gottes Sohn zur Welt zu bringen?

Ist diese Erwählung „Gnade“?



Aber ist es nicht ein bloßer Zufall, dass es Maria traf?

Wenn wir uns an das halten, was Lukas berichtet,

und die späteren Ausschmückungen und Legenden beiseite lassen,

war sie eine Frau wie jede andere.

Es hätte auch eine andere treffen können.

Wenn man ihre Erwählung „Gnade“ nennen will,

wäre es in etwa so wahrscheinlich und gerecht wie ein Lottogewinn.

Näher noch kommt dieser Art von Gnade die Auswahl der Bewerber für die Quiz- und Talentschows im Fernsehen, für „DSDS“, „Germanys next Topmodel“ oder „Wer wird Millionär“.



Ist das Gnade?

Soll man es Gnade nennen,

wenn man das Glück hatte, zu den Auserwählten zu gehören?

Ist es Gnade, dass wir hier geboren wurden und nicht in Syrien?

Ist es Gnade, wenn wir uns keine Sorgen um unsere Gesundheitsversorgung machen müssen? 
Wenn wir nicht frieren, 
uns nicht fragen müssen, woher wir und unsere Kinder etwas zu Essen bekommen?

Und was ist mit denen, denen es nicht so gut geht wie uns?

Sind die nicht erwählt?

Hat Gott sie vergessen, übersehen, wie man einen beim Grüßen übersieht?

Und warum ist er ausgerechnet uns gnädig, und ihnen nicht?

Hat er etwas gegen sie?

Haben sie womöglich Gottes Gnade nicht verdient?

Sind sie am Ende selbst schuld an ihrem Elend?

Und woher haben wir diese Gnade verdient?

Wenn man auf diesem Weg weiter denkt,

kommt man in Teufels Küche.

Man hat allen Grund, dankbar zu sein, wenn es einem gut geht.

Es ist richtig, Gott dafür zu danken, 
denn es ist keine Selbstverständlichkeit, und es ist nicht unser Verdienst.

Aber unser Wohlstand ist kein Zeichen dafür,

dass wir von Gott Begnadete sind,

wie das Leid der anderen kein Zeichen dafür ist,

dass sie bei Gott in Ungnade gefallen wären.



IV

Wir haben bereits so viele Bedeutungen von „Gnade“ kennen gelernt,

aber keine scheint auf Maria zu passen.

Warum ist Maria denn nun „begnadet“?

Den Schlüssel für die Antwort liefert der letzte Teil des Grußes:

„Der Herr ist mir dir“.

Der Grund dafür, warum Maria „begnadet“ ist, liegt darin,

dass Gott „mit ihr“ ist.

„Mit ihr“, das heißt, Gott ist auf ihrer Seite.

Gott steht hinter ihr, stärkt ihr den Rücken und beschützt sie.

„Mit ihr“ bedeutet auch, dass Gott ihr ganz nah ist.

So nah, wie es sonst nur die Liebste oder der Liebste ist.

Die Liebste muss nicht ständig in meiner Nähe sein,

um bei mir zu sein.

Ich trage sie in meinem Herzen.

In dieser Weise ist Gott mit Maria.



Aber wenn das die Art ist,

wie Maria „begnadet“ ist

- dann sind wir ja alle begnadet!

Denn Gott ist ja mit jeder und jedem von uns.

Seit unserer Taufe hat Gott sich so eng mit uns verbunden,

wie sonst nur die Menschen, die wir lieben.



Ja, ich glaube, so ist es:

Wir sind alle Begnadete, wie Maria.



Aber dürfen wir uns derart mit Maria vergleichen?

Schließlich ist sie die „Mutter Gottes“,

brachte sie Gottes Sohn zur Welt.



Maria ist die Mutter Jesu.

Dadurch ist sie für immer einzigartig und besonders.

Aber auch durch uns kommt Christus zur Welt.

Nicht als kleines Kind in einer Krippe wie bei Maria.

Sondern in unseren Worten und Taten.

Wenn wir, von Gottes Geist beseelt, Jesus nachfolgen,

scheint durch unsere Worten und Taten Jesus selbst hindurch.

„So lass mich doch dein Kripplein sein;

komm, komm und lege bei mir ein

dich und all deine Freuden“,
dichtet Paul Gerhardt (EG 37,9).

In uns kommt Christus zur Welt

in dem Sinne, dass durch uns die Welt sehen kann,

wer und wie Jesus ist.

Das ist die Gnade, die auch uns zuteil wurde.

Darum sind auch wir „Begnadete“.



V

Ein Gruß ist der Anfang.

Der Anfang einer Begegnung.

Bei jeder unserer Begegnungen leuchtet etwas von Christus auf.

Durch uns kommt er für andere zur Welt,

und durch andere kommt er für uns zur Welt.

Wir zeigen anderen durch unsere Worte und Taten,

wer und wie Jesus ist.

Und andere zeigen uns, wer und wie Jesus ist.

Darum brauchen wir die Gemeinde.

Sie ist der Leib Christi,

die Art, wie Christus unter uns zur Welt kommt,

jeden Sonntag und jeden Alltag,

bei jeder Begegnung zwischen denen,

die Jesus nachfolgen.



Schon in einem einfachen, alltäglichen Gruß,

einem Blick, einem Lächeln

sagen und zeigen wir einander, wer wir sind:

Begnadete, wie Maria.

Amen.