Montag, 25. September 2017

Martin will wie Martin werden


Begrüßung

Willkommen zur Martinsandacht am 10. November!
Aber eigentlich ist heute gar kein Martinstag.
Der Tag des Heiligen Martin ist morgen, am 11. November.
Warum feiern wir heute schon Martinstag?
Ist da vielleicht ein Malheur passiert?

Am 10. November 1483 wurde Martin Luther geboren.
Er wurde am 11. November getauft - so war das damals üblich:
Die Kinder wurden sofort am Tag nach der Geburt getauft.
Und sie bekamen oft den Namen des Heiligen dieses Tages.
Der Tag nach Luthers Geburt war der 11.11., der Martinstag.
Deshalb bekam Luther den Namen Martin,
der Heilige Martin wurde sein Namenspatron -
wir würden sagen: Sei Namenspate,
weil er von ihm den Namen bekam.

Zwei Martins:
„Unser“ Martin, Martin Luther,
und der Heilige Martin von Tours,
der nicht nur für Luther ein Vorbild war.

Von beiden Martins handelt unser Martinsspiel,
das die Konfirmanden gleich aufführen.
Doch erst wollen wir noch die Laternen bewundern,
die ihr mitgebracht habt.


 Ein Martinsspiel mit Martin Luther

Personen:
Martin Luther
Bettler
Martin von Tours
Jesus

Material:
Gewitterfolie/ Pauke
Starke Lampe
Großer Umhang
Holz- oder Plasteschwert
Helm
Bücher

(Luther tritt auf. Er hat Bücher unter dem Arm.)

LUTHER:
Ich grüße Euch! Ich bin Martin.
Ich bin Student in Erfurt.
Mein Vater ist Unternehmer in Mansfeld.
Er ist im Bergbau tätig.
Er möchte, dass ich Jura studiere
- also Rechtswissenschaften -,
damit ich später viel Geld verdiene.

Also habe ich mit Jura angefangen.
Das Studieren fällt mir nicht schwer.
Aber ich bin nicht zufrieden.
Es macht mir keinen Spaß.
Ich frage mich: Ist Geld verdienen wirklich alles?
Darüber muss ich nachdenken.
Und über eine Geschichte, die ihr bestimmt kennt:
Die Geschichte vom Heiligen Martin.
Nach ihm wurde ich benannt.
Er ist mein Namenspatron.

(Luther tritt zur Seite.)
(Der Bettler tritt auf und setzt sich frierend auf den Boden.)

BETTLER:
(Klappert mit den Zähnen, zittert am ganzen Leib)
Oh je, wie kalt mir ist!
Warum ist es nur so schrecklich kalt?
Und ich habe nichts, womit ich mich wärmen könnte.
Wenn mir keiner hilft, werde ich erfrieren.
Oh je, jetzt kommt auch noch ein Soldat!
Hoffentlich tut der mir nichts!
Ach, was soll's: Wenn ich sowieso erfriere,
kann ich ihn auch um Hilfe bitten.

(Martin kommt, bekleidet mit Umhang, Helm und Schwert.)

BETTLER:
Helft mir, Herr! Ich erfriere!

MARTIN (bleibt vor dem Bettler stehen):
Wie kann ich dir helfen?

BETTLER:
Hast du etwas Kleidung übrig?
Ich habe nichts, womit ich mich wärmen kann.
Bei der Kälte bin ich bald erfroren.

MARTIN:
Ich habe auch nur, was ich auf dem Leib trage.
Aber (überlegt) - warte. Ich weiß, wie ich dir helfen kann.
(Zieht sein Schwert)

BETTLER:
Oh nein, bitte, lasst mich am Leben, tut mir nichts!
(Fällt mit dem Gesicht zu Boden)

MARTIN:
(Nimmt seinen Umhang, teilt ihn mit dem Schwert in zwei Teile, steckt das Schwert wieder ein und gibt ein Teil dem Bettler):
Da, nimm. Der Umhang wird dich warm halten.
(Legt den Umhang auf den knieenden Bettler und geht weiter)

BETTLER:
(Blickt auf, sieht staunend den Umhang, legt ihn sich um)
He, halt, wartet! Ich will Euch doch noch danken …!
Schade, er ist schon weg.
Das war der erste nette Mensch heute -
ach, was sage ich: seit Wochen!
Jetzt wird mir langsam wieder warm.
Und ich weiß nicht: Ist es dieser Umhang,
oder ist es, weil der Soldat mir geholfen hat?
(Geht auch weg)

MARTIN:
(Tritt wieder auf, legt sich hin)
Das war ein langer Tag!
Ich bin müde.
Der arme Bettler wollte mir danken.
Das wäre mir peinlich gewesen.
Ich hatte doch nichts, was ich ihm geben konnte.
Wie gut, dass ich wenigstens meinen Umhang mit ihm teilen konnte!

(Martin deckt sich mit dem Umhang zu und schläft)
(Jesus tritt hinter Martin)

JESUS:
Martin, Martin!

MARTIN (im Schlaf, mit geschlossenen Augen):
Ja, was ist?

JESUS:
Martin, ich danke dir, dass du mir geholfen hast!

MARTIN:
Wer bist du?

JESUS:
Ich bin Jesus.

MARTIN:
Du bist Jesus?
Aber ich habe dich doch gar nicht gesehen.
Und ich habe dir nichts gegeben.
Oh, wie gern würde ich dir alles geben, was ich habe.

JESUS:
Aber Martin,
hast du denn vergessen, was ich gesagt habe:
Was du einem von den geringsten meiner Schwestern und Brüder getan hast, das hast du mir getan?

MARTIN:
Wann habe ich etwas für dich getan, Jesus?

JESUS:
Heute Nachmittag hast du einem armen Bettler,
der beinahe erfroren wäre,
ein Stück deines Umhangs gegeben,
mit dem du dich gerade zudeckst.
Du hast ihn vor dem Tod bewahrt.
Und du hast ihm Hoffnung gegeben.
Der Bettler - das war ich.

(Jesus geht weg)
(Martin wacht auf)

MARTIN:
Was für ein eigenartiger Traum!
Der Bettler war Jesus?
Wenn das so ist, will ich Jesus noch öfter begegnen.
Ich will kein Soldat mehr sein,
der Menschen verletzt und tötet.
Ich will Menschen helfen
und ihnen von Jesus erzählen.

(Martin geht weg)
(Luther tritt auf)

LUTHER:
Was soll ich nur machen?
Soll ich auf meinen Vater hören?
Oder soll ich tun, was Martin getan hat?
Ich weiß es nicht.
Ich kann mich einfach nicht entscheiden.
Ich werde eine Wanderung machen.
Da wird mein Kopf frei.
Vielleicht weiß ich dann, was für mich das Richtige ist.

(Luther geht los)

Oh je, der Himmel wird ja ganz schwarz!
Das gibt bestimmt ein Gewitter!
(Es fängt an zu donnern)
Au weia! Ich bin hier mitten auf freiem Feld!
Nirgends eine Möglichkeit, mich unterzustellen.
Ich habe solche Angst!
(Das Donnern wird lauter. Lichtblitze)
Wenn mich der Blitz trifft, bin ich tot!
Was kann mich retten?
Mein Jurastudium hilft mir hier gar nichts.
Nur Gott kann mich retten!
(ruft:)
Heilige Anna, hilf! Ich will ein Mönch werden!
(Donner hört auf)

Das Gewitter zieht weiter.
Ich habe mich entschieden:
Ich will so werden wie mein Namenspatron Martin:
Ich will Menschen helfen 
und ihnen von Jesus erzählen.
(Luther geht)



Martin Luther hatte Angst vor dem Gewitter.
Und aus lauter Angst hat er eine Schutzheilige angerufen,
die heilige Anna, die Mutter von Maria.

Damals hat man das oft gemacht:
Man hat Heilige gebeten.
Zum Beispiel hat man vor einer Reise den Heiligen Christophorus gebeten,
dass er einen beschützt.
Bei Halsschmerzen hat man eine Kerze für den Heiligen Blasius angezündet.
Den heiligen Florian hat man gebeten, wenn es brannte.

Man hat den Heiligen etwas geschenkt oder etwas versprochen.
Eine Kerze für sie angezündet.
Oder, wie Martin Luther, ein Versprechen gemacht:
„Heilige Anna, wenn du mir hilfst, will ich ein Mönch werden!“

Als das Gewitter vorbei war
und Martin Luther nichts passiert ist,
dachte er, das wäre die Heilige Anna gewesen.
Darum hat er sein Versprechen wahr gemacht
und ist in Erfurt ins Kloster eingetreten.
Er ist Mönch geworden.

Man könnte sagen,
dass Martin Luther ganz schön dumm war,
dass er an Heilige geglaubt hat.
Später hat er das auch anders gesehen.

Aber es war nicht Dummheit oder Aberglaube,
der ihn zu der Entscheidung gebracht hat, Mönch zu werden.
Es hatte schon lange in Martin gegärt.
Es fehlte nur noch ein Auslöser für seine Entscheidung
- und das war das Gewitter.

Auch wir treffen wichtige Entscheidungen im Leben oft nicht nach langer Überlegung,
sondern „aus dem Bauch heraus“, wie man sagt.
Fragt mal eure Eltern, wie sie sich ineinander verliebt haben:
Das haben sie nicht geplant - das kann man gar nicht planen.
Das ist einfach so passiert.
Und doch ist es die wichtigste Entscheidung in ihrem Leben gewesen.

Man kann nicht alles planen.
Gerade bei wichtigen Entscheidungen muss man sich auf seinen Bauch verlassen.
Dabei kann der Glaube helfen.
Der Glaube, dass Gott bei uns ist.
Gott begleitet uns bei unseren Entscheidungen.
Auch, wenn wir merken, dass unsere Entscheidung falsch war.

Martin Luther hat später auch gemerkt,
dass es nicht mehr richtig für ihn war, Mönch zu sein.
Er ist aus dem Kloster ausgetreten
und hat geheiratet, Katharina von Bora, die vorher auch in einem Kloster war.

Aber Luther wäre nicht Luther geworden,
wenn er nicht vorher im Kloster gewesen wäre.
Dann wäre er nämlich Rechtsanwalt geworden-
Und es hätte keine Reformation gegeben.

Darum sind auch die scheinbar falschen Entscheidungen,
über die wir uns hinterher ärgern,
sehr wichtig für unser Leben.
Und man kann sagen:
Weil Gott bei uns ist und uns begleitet,
kann aus falschen Entscheidungen Gutes entstehen,
können Umwege und Fehler, die wir machen,
uns doch auf den richtigen Weg bringen.
Amen.

Samstag, 9. September 2017

Verpflichtungen


Predigt am 13. Sonntag nach Trinitatis, 10. September 2017, über Markus 3,31-35

Jesus‘ Mutter und seine Geschwister kamen und standen draußen. Und sie schickten nach ihm und bestellten ihn zu sich.
Viele Leute saßen um Jesus herum und sagten: „Hör mal, deine Mutter, deine Brüder und Schwestern sind draußen und wollen was von dir.“
Jesus antwortete: „Wer ist meine Mutter, und wer sind meine Geschwister?“
Und er schaute ringsherum auf die, die im Kreis um ihn saßen, und sprach: „Hier, das ist meine Mutter, und das sind meine Geschwister. Denn wer immer den Willen Gottes tut, ist mein Bruder und meine Schwester und meine Mutter.“
(Eigene Übersetzung)

Liebe Schwestern und Brüder,

eine ziemlich alltägliche Szene:
Sohnemann sitzt mit seinen Kumpels zusammen.
Die Eltern wollen etwas von ihm.
Er reagiert gereizt und ablehnend.
So weit, so gewöhnlich.

Nur, dass Jesus kein gewöhnlicher Sohn ist
und seine Reaktion nicht die eines pubertierenden Jugendlichen, sondern eines Rabbis.
Eines Lehrers, der genau weiß, was er tut
und mit seinem Tun ein Beispiel gibt,
das für uns Vorbild und Orientierung sein soll.

Also schauen wir noch einmal hin, und genauer:
Was ist das für eine Situation?

Jesus sitzt da, umgeben von Menschen,
die um ihn einen Sitzkreis bilden.
Ein Rundgespräch. Sie besprechen etwas.
Jesus in der Mitte leitet wohl das Gespräch.
Vielleicht stellt er Fragen, vielleicht gibt er Antworten,
vielleicht hört er einfach zu, was die anderen sagen.
Gespräche dieser Art finden statt in Klassenräumen und Universitäten.
Es sind Supervisions- oder Seelsorgegespräche,
kollegiale Beratungen oder Balintgruppen.
Es sind Gesprächsrunden von Initiativen wie den Anonymen Alkoholikern.
Es sind Elternabende oder Hauskreise.
All diesen Gesprächsrunden gemeinsam ist,
dass es da sehr konzentriert zugeht
und dass man nicht gestört werden möchte.

Auf der anderen Seite seine Familie,
seine Eltern und Geschwister.
Also nicht nur die Mutter, die will, dass er sein Zimmer aufräumt.
Nicht nur der Vater, der ihn ans Rasenmähen erinnert.
Nicht nur der Bruder, der fragt, wo er den Fahrradschlüssel gelassen hat,
oder die Schwester, die wissen will, ob er sie heute Nacht von der Disco abholt.
Nein, die ganze, komplette Familie steht vor der Tür.
Wo gibt‘s denn sowas?

Und vor allem: Wann passiert es jemals, dass die ganze Familie anrückt?
Da kann es sich eigentlich nur um einen besonderen Geburtstag handeln.
Um ein Familienfest: die Hochzeit, die Taufe.
Oder um die Feier des Schul- oder Studienabschlusses,
der Meisterprüfung oder des Doktortitels.
Seine Familie ist gekommen, um ihn, Jesus, zu besuchen.
Aber er lässt sie einfach warten,
lässt sie draußen vor der Tür stehen.

II
Wer verhält sich unhöflich in dieser Geschichte?
Jesus, der ablehnend auf den Wunsch seiner Familie reagiert, ihn sehen zu wollen?
Oder seine Familie, die ihn stört, während er in einem Gespräch ist?

Unsere Sympathien sind wohl bei der Familie.
Die Familie ist eine besondere Gemeinschaft.
Da muss man nicht Blutsbande beschwören oder Verwandtschaftsgrade,
braucht keine Stammbäume zu zeichnen oder Gesellschaftstheorien zu bemühen.
Die Familie ist allein schon deshalb etwas Besonderes,
weil sie mit dem verbunden ist, was wir unser „Zuhause“ nennen.
Selbst, wenn man selbst längst eine eigene Familie hat,
fährt man, solange man noch Eltern hat, „nach Hause“,
wenn man seine Eltern besucht.
Und die Geschwister sind nun einmal die Geschwister.
Das ist eine ganz andere Beziehung als die zur Freundin oder zum Freund,
aber auch als die zur Liebsten oder zum Liebsten.
Man bleibt sein Leben lang Schwester oder Bruder,
und man kann sein Leben lang darauf zurückkommen,
dass man jemandes Schwester oder Bruder ist.

Familie geht vor.
Also könnte man erwarten, dass Jesus,
wenn er seine Gesprächspartner schon nicht wegschickt,
wenigstens eine kurze Pause einlegt, um mit seiner Familie zu sprechen.

Aber Jesus macht keine Pause,
sondern verwendet die Nachfrage seiner Familie,
um daraus eine Frage an seine Gesprächspartner zu formulieren:
„Wer ist meine Mutter, und wer sind meine Geschwister?“

Was soll man darauf antworten?
Sie stehen doch draußen, seine Mutter, Schwestern und Brüder.
Warum fragt Jesus dann, wer seine Mutter und seine Geschwister sind?
Das kann doch nur bedeuten, dass er sagen will:
Die da draußen, die sich als meine Eltern und Geschwister ausgeben, sind es nicht.
So etwas zu sagen ist, gelinde gesagt, eine ziemliche Unverschämtheit.

III
Es kommt manchmal vor, dass Jugendliche sich für ihre Eltern schämen.
Besonders, wenn sie sich als Spaßbremse erweisen:
Unangemeldet ins Zimmer platzen und Bemerkungen machen wie
„Dein Freund, deine Freundin muss doch sicher bald nach Hause?“
Und auch Geschwister können peinlich sein.
Aber das ist kein Grund, sie so rundweg zu verleugnen, wie Jesus es tut.
Er sagt ja nicht: Die kenn‘ ich nicht.
Er sagt: Das ist nicht meine Familie.

Es gibt Stellen in den Evangelien,
an denen Jesus ähnlich schroffe Aussagen macht wie hier.
Zum Beispiel:
„Lass die Toten ihre Toten begraben,
du aber gehe hin und verkündige das Reich Gottes“ (Lukas 9,60).
Auch an dieser Stelle achtet Jesus die Pflicht gegenüber der Familie nicht.
Dem Sohn, der seinen Vater begraben will, sagt er:
„Lass die Toten ihre Toten begraben“.
Und dem, der sich nur kurz von seiner Familie verabschieden will,
bescheinigt er:
„Wer die Hand an den Pflug legt und sieht zurück,
der ist nicht geschickt für das Reich Gottes“ (Lukas 9,62).
Mit anderen Worten:
Wenn du dich erst von deiner Familie verabschieden musst,
brauchst du gar nicht erst mit mir mitzukommen.

Warum ist Jesus hier so schroff, so unbarmherzig?
Er hat Mitleid mit der Ehebrecherin,
mit Zöllnern und Sündern,
aber einem, der ihm nachfolgen will,
erlaubt er nicht einmal, Abschied von seiner Familie zu nehmen?
Was hat Jesus denn bloß gegen die Familie?

IV
Jesus wäre nicht so, wenn nicht einiges auf dem Spiel stünde - vielleicht sogar alles.
Aber was steht auf dem Spiel, um was geht es hier?
Es geht nicht um Höflichkeit, nicht um Respekt vor der Familie.
Es geht um Verpflichtungen.

Nicht nur Adel verpflichtet.
Eine Familie verpflichtet weitaus mehr.
Wer eine Partnerschaft eingeht, ist diesem Partner, dieser Partnerin verpflichtet.
Wer Kinder in die Welt setzt, muss für diese Kinder sorgen -
und zwar, bis sie ihre Ausbildung beendet haben und selbst Geld verdienen können.
Normalerweise macht man sich darüber keine Gedanken.
Es ist selbstverständlich, man findet es sogar gut,
für die Partnerin, den Partner, für die Kinder da sein zu können.
Erst, wenn etwas schief geht, merkt man, dass es eine Pflicht ist.

Und man merkt es, wenn Eltern oder Geschwister sich auf die familiären Pflichten berufen.
Wenn man einem Bruder Geld leihen soll, weil er sich verschuldet hat,
der Schwester einen Gefallen tun soll, weil sie keinen Babysitter fand.
Wenn die Eltern fragen, warum man sie so lange nicht mehr besucht hat.

Man hat Pflichten als Tochter oder Sohn, als Gattin oder Gatte, als Vater oder Mutter.
Jesus aber setzt andere Prioritäten.
Du bist nicht deiner Familie verpflichtet, sagte er,
sondern dem Willen Gottes.
Gottes Wille kommt vor der Familie,
und er steht über der Familie.

Das hat zu allen Zeiten vielen Menschen den Vorwand gegeben,
die Familie um Gottes Willen zu verlassen,
um ins Kloster zu gehen oder Missionar zu werden.
Diese „selbstlose Tat“ hat sogar noch den Beigeschmack besonderer Frömmigkeit.
Sie ist aber nicht fromm - ganz im Gegenteil:
Sie ist verantwortungslos.

Jesus kritisiert denn auch die Pharisäer - also die, die besonders fromm sind -,
weil sie das Geld, das sie ihren Eltern geben müssten - heute wäre das die Rente
- dem Tempel spenden.
Eigentlich doch eine fromme Tat.
Aber sie führt dazu, dass die Eltern hungern.
Hier geht Familie also vor - oder?

V
Gottes Wille steht über der Familie.
Aber Gottes Wille ist es auch, Vater und Mutter zu ehren (2.Mose 20,12).
Damit ist nicht nur der Respekt gegenüber den Eltern gemeint.
Vielmehr bedeutet Gottes Wille, die Eltern zu versorgen, wenn sie es nötig haben.
Wenn Jesus sagt:
„Wer immer den Willen Gottes tut,
ist mein Bruder und meine Schwester und meine Mutter“,
dann verleugnet er nicht seine Familie.
Jesus macht nur deutlich,
dass die Verpflichtung gegenüber einem Menschen nicht aus der Beziehung zu ihm erwächst,
sondern aus der Befolgung des Willens Gottes.

Daraus kann man noch heute viel lernen.
Denn familiäre Verpflichtungen gibt es nicht nur in der Familie.
Ohne Vitamin B, ohne gute Beziehungen, kommt man nicht voran.
Bei den Besetzungen von Stellen geht es, je höher man steigt,
desto weniger um Qualifikationen und Leistung,
sondern viel mehr darum, jemanden zu kennen,
der einem noch einen Gefallen schuldig ist.
Es wird nicht danach gefragt, wer für diese Stelle am besten geeignet ist,
sondern wer für mich am besten ist: Mit wem ich am besten kann,
wen ich mag, wer mir nützlich sein kann oder wem ich etwas schuldig bin.

Viel zu oft geht es nicht um die Sache, sondern um Personen.
Viel zu oft geht es um Beziehungen und nicht um das Ziel.
Aber Kirche ist nicht dafür da,
dass wir es kuschlig und nett haben.
Gemeinde sind nicht die, die wir mögen
- und die anderen, die können gerne draußen bleiben.

Kirche soll für Gottes Gerechtigkeit eintreten.
Gemeinde sind die, die Jesus nachfolgen und deshalb zusammengehören,
weil sie einen Rabbi, einen Lehrer haben, der sie beruft.

VI
Wem sind wir verpflichtet?
Unserer Familie, unseren Klienten, unseren Kumpels - oder Gott?
Erst, wenn wir unsere wahre Pflicht erkennen,
werden wir auch die wahre Freiheit der Kinder Gottes erfahren.

Als Gemeinde sind wir versammelt um Jesus.
Er ist nicht da. Da ist eine Leerstelle, auf die der Altar verweist.
Und trotzdem ist er mitten unter uns.
Wir sitzen um ihn herum, hören ihm zu
oder erzählen ihm von uns.
Und er schaut ringsherum auf uns, die wir im Kreis um ihn sitzen,
und sagt: „Hier, das ist meine Mutter, und das sind meine Geschwister.
Denn wer immer den Willen Gottes tut,
ist mein Bruder und meine Schwester und meine Mutter.“
Amen.