Samstag, 20. Mai 2017

Erwartungen

Predigt am Sonntag Rogate, 21. Mai 2017, über Lukas 11,5-13:

Jesus sagte:
„Nehmen wir mal an, ihr hättet einen Freund,
zu dem würdet ihr um Mitternacht gehen und sagen:
‘Mein Freund, leih mir drei Brote! Mein Freund ist auf der Durchreise zu mir gekommen. Ich habe nichts, was ich ihm vorsetzen kann.’
Und jener würde von drinnen antworten:
‘Mach keinen Ärger! Ich habe bereits abgeschlossen, die Kinder und ich sind im Bett! Ich kann nicht aufstehen und dir etwas geben.’
Ich versichere euch: Wenn er auch nicht aufsteht und ihm aushilft, weil er sein Freund ist, wird er doch wegen seiner Unverschämtheit aufstehen und ihm geben, was er braucht. Darum sage ich euch:
Bittet, und euch wird gegeben.
Sucht, und ihr werdet finden.
Klopft an, und euch wird geöffnet.
Jeder, der bittet, empfängt,
und wer sucht, der findet,
und wer anklopft, dem wird geöffnet.
Wer von euch wird als Vater, den sein Sohn um einen Fisch bittet, ihm statt dessen eine Schlange geben?
Oder ihm, wenn er um ein Ei bittet, einen Skorpion?
Wenn nun ihr, obwohl ihr zu Bösem fähig seid, euren Kindern Gutes zu geben wisst, um wieviel mehr wird eurer Vater im Himmel Heiligen Geist denen geben, die ihn bitten.
(Eigene Übersetzung)


Liebe Schwestern und Brüder,

die Geschichte vom Leihen, die Jesus im Evangelium erzählt, möchte ich mit einer anderen Leihgeschichte vergleichen. Manche hat sie bestimmt schon gehört. Sie stammt von Paul Watzlawick und erzählt von einem Mann, der einen Hammer leihen will:
“Ein Mann will ein Bild aufhängen.
Den Nagel hat er, nicht aber den Hammer.
Der Nachbar hat einen. Also beschließt unser Mann, hinüberzugehen und ihn auszuborgen.
Doch da kommt ihm ein Zweifel:
Was, wenn der Nachbar ihm den Hammer nicht leihen will? Gestern schon grüßte er ihn nur so flüchtig. Vielleicht war er in Eile.
Aber vielleicht war die Eile nur vorgeschützt, und er hat etwas gegen ihn. Und was?
Er hat ihm nichts angetan; der bildet sich da etwas ein.
Wenn jemand von ihm ein Werkzeug borgen wollte, er gäbe es ihm sofort. Und warum sein Nachbar nicht?
Wie kann man einem Mitmenschen einen so einfachen Gefallen ausschlagen?
Leute wie der Kerl vergiften einem das Leben.
Und dann bildet der Nachbar sich noch ein, er sei auf ihn angewiesen. Bloß weil er einen Hammer hat.
Jetzt reicht’s ihm aber wirklich.
Und so stürmt er hinüber, läutet, der Nachbar öffnet, doch noch bevor er ‘Guten Morgen’ sagen kann, schreit ihn unser Mann an:
‘Behalten Sie Ihren Hammer, Sie Rüpel!’”
Zwei Leihgeschichten.
Beide sind erfunden, um damit etwas anschaulich zu machen.
Paul Watzlawicks Geschichte, die sich in seiner “Anleitung zum Unglücklichsein” findet, illustriert in ironischer Übertreibung, wie wir uns und anderen das Leben schwer machen: Wir interpretieren in das Verhalten anderer etwas hinein.
Der hat mich nicht gegrüßt - hat er etwas gegen mich? Oder wir sehen jemanden etwas eigenartiges tun und beziehen es auf uns: Der hat mir einen Vogel gezeigt! Was bildet der sich ein!?

Schlimm ist nicht, dass wir das Verhalten anderer interpretieren. Wir können nicht anders. Unser Miteinander basiert auf einfachen Gesten:
Ein Kopfnicken, das Heben einer Hand bedeuten:
Ich habe dich gesehen, ich grüße dich.
Irritierend wird es, wenn diese selbstverständlichen Gesten nicht funktionieren oder ins Leere laufen:
Wenn man grüßt, und der andere starrt durch einen hindurch, als wäre man Luft, oder schaut zur Seite.
Oder wenn der andere in dem Moment, in dem man ihn ansieht, eine merkwürdige Bewegung macht - z.B. sich an der Nase kratzt:
Hat der mir gerade eine lange Nase gezeigt?
Manchmal genügt es, einen anderen Menschen zu lange anzusehen, dass der sich angegriffen fühlt: “Ey, was glotztn so, Alter!?”

Schlimm ist nicht, dass wir das Verhalten anderer wahrnehmen und interpretieren - wir müssen es tun, es gehört zu unserer Natur.
Schlimm ist, wie wir mit Verhalten umgehen, das nicht unseren Erwartungen entspricht. Solches Verhalten bewerten wir nämlich durchweg negativ. Und nehmen es persönlich, legen es als einen Angriff aus.
Das stammt noch aus den Zeiten, als unsere Vorfahren sich von Ast zu Ast schwangen. Da war es lebenswichtig, das Verhalten anderer zu erkennen, freundliches von feindlichem Verhalten blitzschnell zu unterscheiden. Alles, was nicht den Erwartungen entsprach, war potenziell gefährlich, bedrohte vielleicht das Leben. Deshalb musste man aggressiv reagieren, bereit zur Gegenwehr - oder zur Flucht.

Heute schwingt man sich nur selten von Ast zu Ast. Aber unser Körper hat das nicht mitbekommen und reagiert noch immer wie damals: Mit Stress, sobald etwas nicht so ist, wie es sein sollte. Darum wird der Mann in Watzlawicks Geschichte am Ende aggressiv und brüllt den Nachbarn an, der ihm doch gar nichts getan hat.

In dem Beispiel, das Jesus erfindet, geht es auch um Erwartungen: Da erwartet jemand dringend die Hilfe seines Freundes, aber er kommt ungelegen. Eine Situation, die uns nicht unbekannt ist:
Man nimmt gern mal ein Paket für die Nachbarin an - aber nicht, wenn man gerade unter der Dusche steht.
Man verleiht gern mal seine Bohrmaschine - aber nicht nachts um Zwei.
Und dann gibt es diese penetranten Leute, denen ein Nein nicht genügt. Die nicht locker lassen, bis sie bekommen, was sie wollen. Man nennt sie “Kinder”.
Kinder scheren sich nicht um ein Nein,
Kinder schauen auch nicht auf die Uhr.
Kindern ist es egal, ob es gerade ungünstig ist:
Sie nerven so lange, bis sie ihren Willen kriegen.
Manchmal, wenn man ausnahmsweise mal ausgeruht und bereit ist, den Kampf aufzunehmen, bleibt das Nein ein Nein. Dann erträgt man Schimpfen, Schreien, Tränen und Wutgeheul.
Manchmal aber liegen die Nerven blank. Dann explodiert man und brüllt sein Kind an (was einem hinterher schrecklich leid tut). Oder man gibt nach und lässt dem Kind seinen Willen.
Oft ist es eine dritte Person - die Oma, die Freundin -, die den Streit schlichten und die Tränen trocknen kann.

Kinder können ganz schön penetrant oder, wie Jesus es nennt, unverschämt sein. Sie wissen noch nicht, was sich gehört. Sie kennen die Gesten noch nicht, mit denen unser Miteinander funktioniert und grüßen z.B. nicht zurück. Wir nehmen es ihnen nicht übel - es sind ja noch Kinder. Höchstens, dass wir ihnen erklären: Du musst zurückgrüßen, wenn dich jemand grüßt!

Jesus nennt die Kinder als Beispiel, um damit zu zeigen, dass wir eigentlich ganz nett, verständnisvoll und menschlich sein können. Beobachtet man, wie Eltern mit ihren Kindern umgehen, erlebt man meistens freundliche, zugewandte, liebevolle Menschen.
Manchmal fragt man sich vielleicht unwillkürlich: Warum können wir nicht auch mit anderen, mit Fremden so umgehen wie mit unseren Kindern?
So geduldig, so verständnisvoll, so nachsichtig?

Gott ist so, sagt Jesus.
Gott, den wir unseren Vater nennen, hat Geduld mit unseren Zweifeln, unserer Unsicherheit, unserer Scham in Fragen des Glaubens.
Gott hat Verständnis dafür, dass wir manchmal lügen müssen. Dass wir manchmal zu faul, zu bequem sind, wenn es an uns wäre, etwas zu tun. Dass wir manchmal nicht so nette, liebevolle, zugewandte Eltern sind, wie wir sein könnten und sollten.
Und Gott ist nachsichtig mit uns, wie eine gute Mutter, wie ein guter Vater.
Gott erwartet nicht, dass wir alles können, alles richtig machen. Es genügt, dass wir uns bemühen. Es genügt, gut genug zu sein - als Mutter oder Vater, als Ehemann oder Ehefrau, als Freund oder Freundin, Sohn oder Tochter.

Die Kinder können das noch.
Die müssen noch nicht perfekt sein.
Jesus nennt die Kinder als Beispiel, weil diese penetranten, unverschämten Leute uns zeigen, dass man seinen Willen bekommen kann.
Jesus zeigt uns, dass Bitten sich lohnt.
Oft traut man sich nicht, jemanden um Hilfe oder einen Gefallen zu bitten.
Man möchte dem anderen nicht zur Last fallen.
Man ist zu stolz, um “bitte” zu sagen.
Oder es geht einem wie dem Mann in Watzlawicks Geschichte: Man erwartet, dass der andere sieht, was einem fehlt, was man braucht oder will.
Aber das kann der andere nicht wissen.
Unsere Erwartungen mögen noch so groß sein:
Es ist uns nicht auf die Stirn geschrieben, was wir gerade möchten.
Niemand muss die Erwartungen anderer kennen oder ahnen, so selbstverständlich sie dem anderen erscheinen mögen. Dazu hat uns Gott einen Mund geschenkt: Dass wir sagen können, was wir wollen oder brauchen. Wie die Kinder, die - Gott sei Dank! - nicht auf den Mund gefallen sind.
Und wie die Kinder, so bekommen auch wir, was wir brauchen - wenn wir uns zu fragen trauen.
Dazu will uns Jesus Mut machen:
Zum Bitten, zum Suchen und zum Anklopfen.
Wir werden es nicht vergebens tun.
Auch Gott bittet man nicht vergebens.

Gott hat nicht nur Geduld mit uns, Verständnis und Nachsicht.
Gott schenkt uns auch etwas.
Wie Eltern das gern für ihre Kinder tun (und Großeltern und Paten natürlich auch!).
Gott schenkt kein Playmobil und kein Lego - dafür sind wir wohl zu alt.
Gott schenkt auch kein Geld - schade, eigentlich!
Gott schenkt etwas anderes, das auf den ersten und zweiten Blick gar nicht wie ein Geschenk aussieht:
Gott schenkt uns den Heiligen Geist, seinen Geist.
Den bekommen wir bei unserer Taufe.

Es ist der Geist der Möglichkeiten,
der uns immer wieder zeigt, dass es auch anders geht - und wie es anders gehen könnte.

Es ist der Geist der Geduld,
der uns die Kraft gibt, es immer wieder neu zu versuchen - mit uns selbst, wenn wir nicht so sind, wie wir sein sollten. Mit unserer Partnerin, unserem Partner. Mit unseren Kindern. Mit Nachbarn, Freunden …

Und es ist der Geist der Liebe,
der uns spüren lässt, dass Gott uns unendlich lieb hat und stolz auf uns ist - mindestens ebenso, wie Eltern ihre Kinder lieben und stolz auf sie sind.

Diese Liebe, dieser Heilige Geist erfüllt uns.
Mit dieser Liebe können wir anderen liebevoll und geduldig begegnen,
können ihre Möglichkeiten, ihr Potenzial, sehen,
nicht nur ihre Grenzen.
Die anderen: Das sind unsere Kinder, unsere Eltern, unsere Liebsten.
Aber auch der nervige Nachbar, die Fremde in der Bahn, die Kollegin auf der Arbeit.

Diese Liebe macht uns frei, nicht so aggressiv reagieren zu müssen wie unsere Vorfahren, sondern neu und anders.
Dann müssen wir den Nachbarn vielleicht nicht mehr anbrüllen, sondern können ihn freundlich und höflich um einen Hammer bitten.
Und er?
Er wird ihn uns geben.
Amen.