Samstag, 19. Juni 2021

gut genug

Predigt am 3. Sonntag nach Trinitatis, 20. Juni 2021, über Lukas 15,3-10:

Jesus erzählte den Pharisäern und Schriftgelehrten dieses Gleichnis:
Wer unter euch, der 100 Schafe hätte, wenn ihm eines verloren ginge, ließe nicht die 99 in der Wüste zurück und ginge zum Verlorenen, bis er es fände? Und wenn er es findet, legt er es sich voller Freude auf seine Schultern, geht nach Hause und ruft die Freunde und Nachbarn zusammen und spricht zu ihnen: Freut euch mit mir! Denn ich habe mein verlorenes Schaf gefunden.
Ich sage euch: Solche Freude wird im Himmel sein über einen Sünder, der Reue empfindet, als über 99 Gerechte, die keiner Buße bedürfen.

Oder welche Frau, die 10 Drachmen besitzt, nimmt nicht die Lampe, wenn sie eine verliert, fegt das Haus aus und sucht eifrig, bis sie sie findet? Und wenn sie sie gefunden hat, ruft sie die Freundinnen und Nachbarinnen zusammen: Freut euch mit mir, denn ich habe die verlorene Drachme gefunden!
Ebenso, sage ich euch, wird Freude bei den Engeln Gottes sein über einen Sünder, der Reue empfindet.


Liebe Schwestern und Brüder,

was für ein wohltuendes Gleichnis!
Der gute Hirte, der das verlorene Schaf sucht; die gewissenhafte Hausfrau, die nicht eher ruht, bis sie die fehlende Münze gefunden hat. Und die Freude der Engel im Himmel über den Sünder, der Buße tut. Dieses Gleichnis spendet Trost und Zuversicht: Sollten wir einmal verloren gehen, wird der gute Hirte auch uns suchen, und die Freude wird groß sein, wenn wir wieder zuhause sind.

Sollten wir einmal verloren gehen … Aber wir sind nicht verloren gegangen. Wir sind alle hier. Vielleicht fehlt jemand, den wir gern hier unter uns sähen, jemand, den wir heute vermissen. Aber wir sind da. Wir können nicht die verlorenen Schafe sein, von denen Jesus spricht. Gewiss, „sie sind allesamt Sünder und ermangeln des Ruhmes, den sie bei Gott haben sollten”, schreibt Paulus (Römer 3,23). Vor Gott sind alle Menschen Sünderinnen und Sünder; das macht unser Menschsein aus. Wenn wir ohne Sünde wären, wären wir wie Gott. Wir sind nicht perfekt, wir machen Fehler, wir haben uns schuldig gemacht gegenüber Gott und Mitmenschen, und wir werden es immer wieder tun. Aber im Moment, in diesem Augenblick, sind wir es nicht. Und wir sind es auch sonst nicht, auch wenn wir Fehler machen. Denn wir sind durch den Glauben gerechtfertigt. Dafür ist ja Jesus gestorben, dass wir vor Gott gerecht dastehen. Wir sind keine Sünderinnen und Sünder mehr. Wir sind Gerechte, wir gehören zu den 99.

Das aber bedeutet: Wir sind mit dem Gleichnis nicht gemeint.
Sicher, wir haben uns früher auch mal wir das verlorene Schaf herumgetrieben, vielleicht gingen wir tatsächlich einmal verloren, vielleicht waren wir sogar verloren und wurden vom guten Hirten gefunden. Aber jetzt sind wir es nicht. Wir gehören zu den 99 Gerechten, über die sich die Engel im Himmel zwar freuen - aber über einen Sünder, der Buße tut, freuen sie sich noch ein bisschen mehr.

Trotzdem wendet sich das Gleichnis auch an uns. Ich habe sogar den Verdacht, dass es gerade für uns Gerechte erzählt wird. Jesus erzählt es ja auch den Schriftgelehrten und Pharisäern, die sich um Gottes Gerechtigkeit bemühen.
Drei Dinge sagt dieses Gleichnis über uns Gerechte aus, die uns ebenso trösten sollen wie die Zusage an das Verlorene, dass es gefunden wird.

Das erste überhört man leicht, weil es nur so nebenbei erzählt wird, aber es ist doch von Bedeutung: Die 99 Schafe werden in der Wüste zurückgelassen. Der Hirte bringt sie nicht erst nach Hause in den warmen, sicheren Stall, wo sie Wasser und Futter finden. Er lässt sie in der unwirtlichen, lebensfeindlichen und gefährlichen Wüste zurück.
Das entspricht unserer Lebenserfahrung: Manchmal haben wir das Gefühl, ohne Hirten zu sein und die Wüstenabschnitte unseres Lebens allein durchqueren zu müssen.
Aber der Hirte ist weder herzlos noch leichtsinnig. Er lässt seine Schafe nicht einfach im Stich, sondern weiß genau, was er tut: Er lässt sie als Herde zurück, als große Herde.
Wir fühlen uns zwar manchmal ohne Hirten, aber wir sind nicht allein. Wir haben einander, wir haben die Gemeinde. Die Gemeide ist die Herde der 99 Gerechten; sie gewährt uns den Schutz, den Halt und den Trost, den uns auch der Hirte gibt.
Jetzt verstehen wir auch besser, warum das Schaf ein verlorenes Schaf ist. Nicht, weil es sich verlaufen, sondern weil es sich von der Herde getrennt hat. Die verlorenen Schafe, zu denen Jesus unterwegs ist, sind die, die ohne den Schutz, den Halt und Trost der Gemeinde sind.

Als zweites fällt eine krumme Zahl auf: 99 Schafe, 9 Münzen. Man merkt sofort: Da fehlt eine, da fehlt eins, dass es 10 oder 100 sind. Das Verlorene fehlt, damit aus den Schafen und Münzen eine „runde” Zahl wird. Entsprechend groß ist die Freude darüber, wenn es gefunden wird. Das Verlorene gehört dazu. Die Gemeinde ist erst komplett, wenn auch die „verlorenen Schafe” dazugehören. Gewöhnlich denkt man bei den „Verlorenen” an Menschen, die nicht so richtig dazuzugehören scheinen. Die „anders” sind. Über die andere die Nase rümpfen: Die Sonderlinge und schrägen Vögel, die Anstrengenden und Eigenartigen, die Hilfsbedürftigen und die mit Helfersyndrom. Aber sie sind gar nicht die Verlorenen - sie sind ja auch da, wie alle anderen. Verloren sind die, die der Gemeinde abhanden kamen. Die sich abwendeten - aus Enttäuschung, im Streit, oder aus Gleichgültigkeit. Verloren zu gehen, das kann jeder und jedem von uns passieren. Doch der gute Hirte überlässt die Verlorenen nicht sich selbst. Er bemüht sich um sie. Er sucht sie. Denn ohne sie wäre unsere Gemeinde nicht vollständig. Die Gemeinde ist ja nicht unser Freundeskreis, unsere handverlesene Gruppe von Menschen, die sich mögen. Es ist die Gemeinschaft derer, die Christus selbst sich ausgesucht und angesprochen hat. Sein Geschmack, seine Auswahl ist nicht unsere, aber wir haben hier nichts zu wählen. Darum müssen wir uns nicht gegenseitig gut finden, wir brauchen nicht miteinander befreundet zu sein, wir müssen einander nicht einmal mögen. Trotzdem gehören wir als Gemeinde zusammen. Darum sollen wir uns umeinander bemühen, damit keine und keiner verloren geht.

Und das Dritte, das uns das Gleichnis sagen will?
Das Dritte ist überhaupt das Schönste und Wichtigste. Wenn Jesus uns zu den 99 Gerechten zählt, bedeutet das: Wir sind gut genug. Du bist gut genug. Wir müssen nicht immer noch mehr tun, immer noch besser werden, um uns Gottes Liebe zu verdienen. Er hat sie uns doch schon längst geschenkt, als er uns durch den Glauben gerecht machte. Als durch den Glauben Gerechte sind wir so, wie Gott uns haben will: Wir sind gut genug.

Gebe Gott, dass wir das auch annehmen und glauben können! 

Samstag, 12. Juni 2021

Gemeinde bauen

Predigt am 2. Sonntag nach Trinitatis, 13.6.2021, über 1.Korinther 14,1-12

Strebt nach der Liebe! Bemüht euch auch um das Geistliche; viel lieber aber wäre es mir, ihr würdet verkündigen. Denn wer in fremder Sprache redet, redet nicht zu Menschen, sondern zu Gott. Es versteht ihn ja niemand. Für den Geist spricht er Geheimnisse aus. Wer verkündigt, spricht Menschen Erbauung, Zuspruch und Trost zu. Wer in fremder Sprache redet, erbaut sich selbst. Wer verkündigt, erbaut die Gemeinde. Ich wünschte mir, ihr würdet alle in fremden Sprachen reden, mehr aber, ihr würdet verkündigen. Größer ist, wer verkündigt, als wer in fremden Sprachen spricht - es sei denn, es werde übersetzt, damit die Gemeinde Erbauung empfängt.

Gesetzt den Fall, liebe Geschwister, ich käme zu euch und spräche in fremden Sprachen, was würde ich euch nützen, wenn ich nicht zu euch spreche durch Offenbarung, Erkenntnis, Verkündigung und Lehre?
Genauso ist es mit den Dingen, die eine Stimme haben, sei es eine Flöte oder eine Zither: Wenn es bei ihrem Klang keinen Unterschied gibt, wie soll man das Flötenspiel oder Zitherspiel auseinander halten? Und wenn die Posaune ein undeutliches Signal gibt, wer machte sich dann kampfbereit?
So auch ihr, wenn ihr wegen der Fremdsprache kein deutliches Wort übermittelt, wie soll man das Gesprochene verstehen? Ihr redet es in den Wind.
Es gibt doch so viele Arten von Sprachen in der Welt, und nichts ist Sprach-los. Wenn ich nun die Bedeutung der Sprache nicht kenne, bin ich für den, der spricht, unverständlich, und der Sprecher ist es für mich. So sollt auch ihr, da ihr euch ja um Geister bemüht, nach der Erbauung der Gemeinde  trachten, damit ihr reich seid.


Liebe Gemeinde,

vor drei Wochen war Pfingsten. Da haben wir die Geschichte vom Pfingstwunder gehört, das zur Folge hatte, dass die Jünger plötzlich Fremdsprachen beherrschten. Sie, einfache Leute aus Galiläa, die nur aramäisch konnten, sprachen plötzlich Lateinisch, Griechisch, Arabisch, Persisch, und was es damals sonst an Sprachen und Dialekten gab. Die Beherrschung einer Fremdsprache - damals galt sie als Gabe des Heiligen Geistes.
Was zu Pfingsten für Klarheit und Verständigung sorgt und der Weitergabe der guten Nachricht von  Jesus dient, würde an einem normalen Sonntag, in der Gemeinde vor Ort, zu Verwirrung und Unverständnis führen.
If, for example, I suddenly talked to you in English, some of you might understand what I am saying. Others would probably recognize the language, but would be unable to understand what I am talking about.
Wenn ich z.B. plötzlich auf Englisch zu ihnen sprechen würde, könnten einige mich verstehen. Andere würden wohl merken, dass ich Englisch spreche, wüssten aber nicht, was ich gerade gesagt habe.
So ähnlich wird es damals in Korinth gewesen sein. Manche beherrschten eine Fremdsprache, sangen Lieder, sprachen Gebete in dieser Sprache, die nur wenige verstanden, wenn ihnen nicht jemand übersetzte, was das Gesagte bedeutete. Diese Fremdsprachenkenntnis wurde trotzdem bewundert, denn die Kenntnis einer Fremdsprache galt als Gabe des Hl. Geistes. Wer eine Fremdsprache konnte, musste also besonders begabt sein. Und es tut ja auch gut, wenn man für etwas bewundert wird. Manche*r bekommt davon gar nicht genug. Aber die Gemeinde hat nichts davon. Wenn ich den ganzen Gottesdienst auf Englisch hielte, würden Sie sich das aus Höflichkeit einmal gefallen lassen. Aber wenn ich das jeden Sonntag tun würde, würden Sie nicht mehr kommen - zu recht. Sie hätten nichts davon, mir zuzuhören, ohne etwas zu verstehen.

Deshalb zieht Paulus die Verkündigung der Fremdsprachenkenntnis vor, weil sie die Gemeinde erbaut. Die Gemeinde wird nicht dadurch erbaut, dass eine* zeigt, wie toll sie* ist, was sie Besonderes kann. Sondern dass einer* im Gottesdienst ein Licht aufgeht, dass man etwas verstanden hat, dass man Gottes Wort hört oder etwas Neues lernt. Das man etwas mitnimmt, das einer* zu denken gibt, und dass man Trost und Zuspruch erfährt. Das nennt Paulus „Erbauung” der Gemeinde. Bei dieser Erbauung kommt es aber nicht nur darauf an, dass ich aus dem Gottesdienst etwas für mich mitnehme. Das wäre wieder nur die Selbst-Erbauung, die Selbst-Bestätigung, die der Selbstdarsteller sucht.
Paulus unterscheidet zwischen der Kenntnis der Fremdsprachen, die nur die* erbauen, die* sie spechen, und der Verkündigung, die die Gemeinde erbaut. Mit dieser Unterscheidung will Paulus erreichen, dass wir uns nicht nur fragen: Was habe ich davon? Sondern dass wir lernen, die Gemeinde in den Mittelpunkt zu stellen.
Wenn wir zum Gottesdienst zusammenkommen, verkündigt nicht nur der Pastor, der seine Predigt hält. Sie alle verkündigen durch die Art, wie Sie Ihre Banknachbarin, Ihren Banknachbarn ansehen. Wie Sie andere beim Eingang begrüßen, beim Ausgang verabschieden. Ob sich eine* Fremde* eingeladen fühlt. Ob jemand, die* traurig ist, Zuspruch erfährt. Ob jemand, die* stolz oder fröhlich ist,  ihre* Freude mit uns teilen kann. Da kommt es auf jede und jeden Einzelnen von uns an. Es kommt darauf an, dass wir den Gottesdienst nicht nur als eine Stunde persönlicher Erbauung oder Unterhaltung erleben, sondern auch als ein gemeinsames Bauen der Gemeinde.

Eine Gemeinde bauen ist Arbeit, richtige Arbeit. Gottesdienst als Bauen an der Gemeinde ist keine Unterhaltungssendung, bei der man sich so schön entspannen und geistlich berieseln lassen kann. Alle sind dabei gefordert, alle sind einbezogen, auf sich und auf einander zu achten.
Der Lohn der Mühe ist eine Gemeinde, die jede und jedem eine Heimat bietet. In einer solchen Gemeinde lädt man seinen geistlichen Akku allein dadurch auf, dass man ein Teil von ihr ist. In einer solchen Gemeinde weht und begeistert, trägt und tröstet Gottes Geist auch ohne begnadeten Prediger, auch ohne mitreißende Predigt.
Eine solche Gemeinde sind Sie! All das, was ich aufgezählt habe, kann man bei Ihnen entdecken. Ich wünsche Ihnen, dass Sie Freude am Bau der Gemeinde behalten, und dass Menschen sich anstecken lassen, Teil dieses Baus zu werden und daran mitzubauen.