Mittwoch, 21. November 2012

Wir müssen uns einmal entscheiden


Predigt am Buß- und Bettag, 21. November 2012, über Offenbarung 3,14-22:

Dem Engel der Gemeinde zu Laodizea schreibe:
"Dies sagt der, der "Amen" heißt, der treue und wahrhaftige Zeuge,
das Haupt von Gottes Schöpfung:
Ich kenne deine Werke, dass du weder kalt noch heiß bist.
Wärst du doch kalt oder heiß!
Demnach, weil du lauwarm bist und weder heiß noch kalt,
werde ich dich aus meinem Mund erbrechen.
Weil du sagst:
'Ich bin reich, und bin reich geworden und habe nichts nötig',
aber nicht weißt,
dass du die Elende, die Unglückliche, die Arme, Blinde und Nackte bist,
rate ich dir, kaufe dir von mir im Feuer geläutertes Gold,
damit du reich wirst,
und weiße Kleider, damit du etwas anzuziehen hast
und deine Blöße nicht sichtbar wird,
und Salbe für deine Augen, damit du siehst.
Welche ich liebe, die weise ich zurecht und erziehe sie.
Gib dir Mühe und ändere dich!
Sieh, ich stehe vor der Tür und klopfe an.
Wer meine Stimme hört und die Tür öffnet,
zu dem werde ich hineingehen
und mit ihm speisen und er mit mir.
Wer das vollbringt, dem werde ich gewähren,
mit mir auf meinem Thron zu sitzen,
wie auch ich es vollbracht habe
und mit meinem Vater auf seinem Thron sitze."
Wer Ohren hat, höre, was der Geist den Gemeinden sagt.
(Eigene Übersetzung)


Liebe Schwestern und Brüder,

die Dinge sind oft nicht das, was sie zu sein scheinen.
Wer z.B. in der Dämmerung spazieren geht,
dem spielen seine Sinne oft einen Streich:
das Wildschwein am Wegrand
wird beim Näherkommen zum Baumstumpf;
die Person, die da regungslos steht,
war nur ein Schatten.

Auch wir selbst sind oft nicht das, was wir zu sein scheinen.
Entsetzt starrten Eingeborene auf Fotos,
die man ihnen von sich selbst zeigte;
da hatte ihnen jemand "die Seele gestohlen".
Das waren sie - und waren es doch nicht:
so hatten sie sich noch nie gesehen.

Diese Erfahrung kann jede und jeder machen,
der eine Tonaufzeichnung von sich hört
oder sich auf einem Video sieht.
Man hört und sieht sich plötzlich,
wie andere einen hören und sehen.
Vertraut, und doch auch sehr fremd.
Wer sich das erste Mal so von außen sieht,
erschrickt, empfindet vielleicht sogar Scham:
Dass man so aussieht, so klingt,
das wusste man ja gar nicht.

I
Der Blick von außen auf einen Menschen
fördert oft Überraschendes zutage.
Oft genug beschämt er auch. Oder verletzt.
Wenn man z.B. daran denkt,
was so alles über einen erzählt wird.
Vieles weiß man zum Glück nicht,
und manches will man lieber auch gar nicht wissen.

Wie eine Kamera oder ein Tonband
halten wir Eindrücke unserer Mitmenschen fest
und geben sie an andere weiter:
"Hast du gesehen, wie der aussieht?"
"Hast du schon gehört, was ... gemacht hat?"
"Neulich, da sagt die doch zu mir: ..."

Wir sind schnell dabei, wenn über andere geredet wird.
Tratsch ist ein gesellschaftlicher Kitt,
er schweißt zusammen.
Unangenehm, ärgerlich oder peinlich ist es aber,
wenn man selbst zum Thema wird,
wenn statt mit einem über einen geredet wird.
Was da so an - zum Teil vielleicht sogar berechtigter -
Kritik geäußert wird,
lässt sich nur schwer oder gar nicht annehmen.
Zu groß ist die Beschämung, die Verletzung.

Das Gleichnis vom Dorn und vom Balken im Auge fällt einem ein:
Dass man den Dorn im Auge des anderen,
seine oder ihre kleinen Fehler, sehr genau bemerkt,
während man großzügig über den eigenen Balken im Auge,
die eigenen Unzulänglichkeiten und Schwächen, hinwegsieht.
Ja, oft stört einen am anderen genau das,
was man selbst als schlechte Eigenschaft besitzt.
Aber statt unsere Aufmerksamkeit für die Fehler anderer
dafür zu verwenden, uns selbst genauer zu erkennen
und unsere eigenen Schwächen und Fehler zu durchschauen,
sind wir auf dem Auge blind,
das der Introspektion dienen sollte,
der kritischen Selbstbetrachtung.

II
Wir selbst sind oft nicht das, was wir zu sein scheinen.
Wir selbst sind auch nicht das,
was wir von uns glauben
und wie wir selbst und gern sähen.
Ein Unfall, eine Krankheit oder spätestens das Alter
weisen uns unbarmherzig darauf hin,
dass unsere Beweglichkeit, unsere Leistungsfähigkeit, unsere Kraft
Grenzen haben und mit den Jahren weniger werden.
Leid und Unglück zeigen uns,
- wenn wir es nicht schon wussten -,
dass Glück, Gesundheit und Unbeschwertheit
nichts Selbstverständliches sind.
Auch wenn wir in solchen Situationen nach dem Warum fragen,
wir wissen doch genau,
dass wir kein Anrecht darauf haben,
dass das Leben ausgerechnet für uns eine Ausnahme macht.

Wir wissen all das.
Wir wissen um die Zerbrechlichkeit und Zufälligkeit,
die alles im Leben hat,
dass jeder Augenblick ein Geschenk ist
und wir die Freundschaft und Liebe, die uns geschenkt wird,
nicht erzwingen können und nicht verdient haben.

Wir wissen es
und wiegen uns trotzdem in Sicherheit:
Wir haben ausgesorgt.
Wir sind versichert gegen alle möglichen Unbilden des Schicksals.
Wir sorgen für unser Alter vor.
Wir verdienen ordentlich
und müssen uns keine Gedanken machen,
was wir morgen essen oder anziehen werden.

Auch für unsere Außenwirkung, unser "Image"
haben wir Vorkehrungen getroffen:
Niemand kennt unsere Fehler und Schwächen,
nicht die kleinen und großen Brüche in unserer Biografie,
nicht unsere Ängste und Sorgen,
und niemand darf sie erfahren.
Die Nacktheit unserer Seelen
verbergen wir hinter Masken und Fassaden,
hinter eingeübten Rollen und frisierten Lebensläufen.

III
"Nobody is perfekt" - niemand ist vollkommen.
Das sagt sich so leicht. Aber es lebt sich nicht leicht.
In einer Gesellschaft, die nach Vollkommenheit strebt,
in der sich jede und jeder optimieren kann und muss
und in der makellose, wohlgeformte Models unsere Vorbilder sind,
und zielstrebige, lückenlose Bildungswege;
in der es als selbstverständlich vorausgesetzt wird,
sich gesund, will sagen: arbeitsfähig zu erhalten
und sich ständig weiter- und fortzubilden,
ist jede und jeder ein Schandfleck, der nicht so ist.

Man gibt nicht zu, dass man etwas nicht kann.
Man gibt nicht zu, dass man überfordert ist,
müde, überarbeitet, frustriert.
Man gibt nicht zu, dass man Angst hat oder
nicht mehr weiter weiß.

Warum?

Warum bemühen wir uns so krampfhaft darum,
den Schein zu wahren:
den Schein, dass wir Angst und Müdigkeit nicht kennen,
dass unser Leben perfekt ist, fehlerlos, ohne Brüche?
Glauben wir tatsächlich, so ein Leben gäbe es?
Glauben wir tatsächlich denen, die uns das vorspielen
und dabei genauso verzweifelt lügen wie wir selbst?

IV
Möglicherweise sind wir ja tatsächlich so arm:
So arm zu glauben,
dass uns niemand hilft, wenn wir uns selbst nicht helfen.
Dass uns Geld, Wissenschaft und Medizin retten könnten
vor den Unbilden des Lebens,
vor Leid und Schicksalsschlägen,
vor einer ungewissen Zukunft.

Möglicherweise sind wir ja tatsächlich so arm,
dass uns das Vertrauen fehlt in den,
der das Haupt von Gottes Schöpfung ist,
der an ihrem Anfang steht und an ihrem Ende,
wie er auch am Anfang und am Ende unseres Lebens steht
und es in seiner Hand hält.

Möglicherweise fehlt uns das Zutrauen,
dass er uns tatsächlich halten wird und halten kann.
Da ist es nur allzu verständlich,
dass man lieber auf Nummer Sicher geht:
Hoffentlich Allianz-versichert!
Es schadet schließlich nicht,
ja, es wäre doch geradezu leichtsinnig und töricht,
nicht alle Vorkehrungen zu treffen,
nicht alles auszunutzen,
die uns unsere Gesellschaft und unser Einkommen bieten!

Ja, natürlich darf und kann man das tun,
und sollte es vielleicht auch.
Mit einer solch lauen Haltung kann man sich
irgendwie durchs Leben lavieren.
Aber Gott findet sie - entschuldigen Sie den derben Ausdruck -
Gott findet diese Haltung zum Kotzen.

V
Uns würde es nicht anders gehen.
Einem Menschen, der sagt, dass er uns liebt,
sich aber nicht für uns entscheiden kann und will,
sondern sich lieber noch ein Hintertürchen offen hält
(- weil man ja nicht wissen kann,
und überhaupt, vielleicht kommt ja noch was Besseres -)
den würden wir bald vor die Tür setzen.
Wir könnten Lauheit genauso wenig ertragen,
wie Gott es kann.
Ein Nein, ein Ja: damit kann man leben.
Aber ein Vielleicht, das ist auf Dauer nicht zu ertragen.

Wir müssen uns einmal entscheiden.
Wenn schon nicht um Gottes willen,
dann wenigstens um unserer selbst willen.
Wir müssen uns einmal entscheiden,
ob wir unserem Glauben wirklich trauen wollen,
oder ob wir uns weiterhin halbherzig
die Option des Glaubens offen halten,
weil man ja nie wissen kann, ob nicht doch etwas dran ist,
und schaden kann's ja nicht ...

Wenn wir uns für den Glauben entschieden,
könnten wir die Masken fallen lassen
und aufhören, uns selbst und unseren Mitmenschen
etwas vorzumachen.
Wir dürften endlich zu unseren Schwächen stehen,
weil sie unsere größte Stärke sind:
sie erlauben es Gott, uns zu helfen.

Wenn wir uns für den Glauben entschieden,
würden wir erkennen,
dass wir schon jetzt reich sind,
mit dem Besten ausgestattet,
was man im Leben erreichen kann:
ein gelungenes, ein richtiges, ein sinnvolles Leben.

Schaut man aus dem Blickwinkel des Glaubens
auf das eigene Leben zurück,
dann läuft alles zielgerichtet und zwingend
auf das eine Ziel zu:
dass wir bei Gott geborgen sind,
dem wir recht sind,
dem wir gut genug sind,
der stolz ist auf uns und auch zu uns sagen wird:
Du bist meine geliebte Tochter, du bist mein geliebter Sohn,
an dir habe ich Wohlgefallen.
Amen.

Montag, 5. November 2012

Sich vergeben lassen - und sich selbst vergeben



Predigt am 22. Sonntag nach Trinitatis über Römer 7,14–25a

Denn wir wissen, dass das Gesetz geistlich ist; ich aber bin fleischlich, unter die Sünde verkauft. Denn ich weiß nicht, was ich tue. Denn ich tue nicht, was ich will; sondern was ich hasse, das tue ich. Wenn ich aber das tue, was ich nicht will, so gebe ich zu, dass das Gesetz gut ist. So tue nun nicht ich es, sondern die Sünde, die in mir wohnt. Denn ich weiß, dass in mir, das heißt in meinem Fleisch, nichts Gutes wohnt. Wollen habe ich wohl, aber das Gute vollbringen kann ich nicht. Denn das Gute, das ich will, das tue ich nicht; sondern das Böse, das ich nicht will, das tue ich. Wenn ich aber tue, was ich nicht will, so tue nicht ich es, sondern die Sünde, die in mir wohnt. So finde ich nun das Gesetz, dass mir, der ich das Gute tun will, das Böse anhängt. Denn ich habe Lust an Gottes Gesetz nach dem inwendigen Menschen. Ich sehe aber ein anderes Gesetz in meinen Gliedern, das widerstreitet dem Gesetz in meinem Gemüt und hält mich gefangen im Gesetz der Sünde, das in meinen Gliedern ist. Ich elender Mensch! Wer wird mich erlösen von diesem todverfallenen Leibe? Dank sei Gott durch Jesus Christus, unsern Herrn!
(Lutherbibel)

Liebe Gemeinde,

der Apostel Paulus hat kein gutes Image. Er schreibt so kompliziert; man versteht nicht, was er eigentlich will. Er setzt Frauen zurück, will, dass sie Kopftuch tragen und duldet nicht, dass sie in der Gemeine sprechen. Und vor allem gönnt er einem nichts. Paulus spricht negativ und despektierlich vom “Fleisch”, das er dem “Geist” gegenüberstellt. “Fleisch” ist bei ihm soviel wie “Sünde”. Kein Wunder, dass ein scheinbar so lust- und sinnenfeindlicher Theologe nicht viele Anhänger und noch weniger Anhängerinnen hat.

Martin Luther war einer seiner Anhänger. Er hat viel von Paulus gelernt, und seine reformatorische Entdeckung der Gerechtigkeit Gottes, die auf einem winzigen grammatischen Unterschied beruht, geht auf Paulus zurück. Deshalb, meine ich, lohnt es sich, so kurz nach dem Reformationstag, die Vorverurteilungen und das Vorwissen über Paulus für einen Moment beiseite zu legen und zu fragen, was er uns eigentlich sagen will. Vielleicht können auch wir dabei eine Entdeckung machen.

I
Wir Menschen unterscheiden uns von den Tieren, und wer einen Menschen mit einem Tier vergleicht, mit einem Schaf, einem Schwein oder einem Hund, meint es in 99% der Fälle als Beleidigung. Wir sehen uns selbst als “Krone der Schöpfung”. Wir spielen in einer ganz anderen Liga als die Hunde und Katzen, die wir uns als Haustiere halten, als die Schweine, Rinder und Hühner, die wir essen. Wir vergessen dabei, dass wir uns von ihnen weniger unterscheiden, als wir denken. Auch wir sind, von außen betrachtet, eine Art Tier. Die Tatsache, dass wir aufgrund unseres prächtig entwickelten Großhirns die dominierende Lebensform auf unserem Planeten sind, ändert nichts daran, dass wir - sozusagen unterhalb dieses Großhirns - genauso funktionieren wie alle anderen Tiere auch. Sonst wären ja auch die ganzen Tierversuche sinnlos ...

Uns unterscheidet von den Tieren, dass die Tiere tun müssen, was sie tun - sie können nicht anders. Sie sind ihren Hormonen, ihren Trieben unterworfen. Wir dagegen können uns entscheiden, haben Alternativen - zumindest glauben wir das. Aber jeder, der einmal regelmäßig geraucht hat, weiß, dass man sein Leben lang ein Raucher, eine Raucherin bleibt. Eine einzige Zigarette kann einen rückfällig werden lassen. Ebenso ist es mit dem Alkohol. Für manche Frauen sind die Tage vor den Tagen die Hölle. Und Frauen wie Männer trifft Amors Pfeil: Liebe macht nicht nur blind, sie lässt einen oft auch Grenzen überschreiten - manchmal sogar gegen den Willen des Partners. Lust und Gier sind mächtige Triebe, gegen die wir meistens machtlos sind.

Unser Körper zeigt uns immer wieder, dass wir trotz unseres Verstandes tierischer sind, als wir uns selber eingestehen möchten. Das meint Paulus, wenn er sagt, dass wir “fleischlich” sind. Zunächst einmal ist das nichts Schlechtes. Wir können ja nichts dafür, dass wir einen Körper haben, im Gegenteil: Er gehört zu uns. Wir brauchen ihn.

Aber die Bedürfnisse unseres Körpers, unsere animalische, tierische Seite, bringt uns manchmal dazu, Dinge zu tun, die wir eigentlich nicht tun wollen und die uns hinterher leid tun. Jede und jeder hat wohl schon einmal erlebt, wie in der Erregung ein Wort herausrutschte, das den anderen sehr verletzte. Man möchte es zurücknehmen, aber es ist heraus, der Schaden ist schon angerichtet. Oder manchmal “rutscht einem die Hand aus”, wie es so schlecht eufemistisch heißt. Man wendet im Zorn Gewalt an gegen die Kinder oder den Partner.

II
Aber, wird man vielleicht jetzt einwenden, dafür haben wir doch unser Großhirn. Das unterscheidet uns doch vom Tier: dass wir denken können, dass wir uns selbst Regeln und Maßstäbe geben können, nach denen wir handeln. Und dann schlagen wir eben nicht zurück, dann greifen wir eben nicht zur Zigarette oder zur Flasche, dann halten wir eben unsere Lust, unsere Gier im Zaum.

Wir glauben, dass wir das können. Aber wenn man ehrlich ist, gelingt es eben nicht immer. Siegmund Freud hat gezeigt, dass es nichts nützt, seine Gefühle, seine Leidenschaften zu kontrollieren. Sie finden immer ein Ventil, um erneut auszubrechen. Gewalt, die man nicht nach außen richten will, wendet sich gegen einen selbst. Lust, die man auf dem einen Weg nicht befriedigen kann, sucht sich einen anderen Weg. Siegmund Freud hat uns gezeigt, dass wir weniger Herrinnen und Herren im eigenen Haus unseres Körpers sind, als uns lieb ist und als wir glauben wollen. Und Paulus sagt dasselbe: “Ich weiß nicht, was ich tue. Denn ich tue nicht, was ich will, sondern was ich hasse, das tue ich.”

III
Wir fühlen uns als Krone der Schöpfung, als Herrinnen und Herren dieser Erde. Und was haben wir nicht alles erfunden: den Pflug und die Stahlerzeugung, die Elektrizität und die Atombombe, den Kunststoff und das Internet. Wir haben alles im Griff. Es gibt nichts, was wir nicht kontrollieren könnten. Es ist nur eine Frage der Zeit. Schon manipulieren wir unsere Erbinformation. Bald werden wir auch unsere Gedanken, unsere Erinnerungen manipulieren können. Alles, was Menschen denken können, kann eines Tages auch Wirklichkeit werden. Da erscheint es doch lächerlich, dass wir nicht Herrinnen und Herren über unseren eigenen Körper sein sollten! Wir zähmen ihn und zeigen ihm, wer hier der Herr im Hause ist und was wir ihm antun können durch Training und Schönheitsoperationen, durch Piercings und Tattoos, durch Diäten und Medikamente.

Aber unsere Pläne und Ideen gehen manchmal auch schief - furchtbar und schrecklich schief. Das hat Folgen, nicht nur für uns. Wir überblicken die Folgen unseres Tuns nicht. Wir können es nicht, dazu ist das Leben, ist unsere Umwelt viel zu kompliziert. Wir verstehen immer erst hinterher, warum eine Entscheidung falsch war. Das gilt für den privaten wie für den gesellschaftlichen Bereich.

IV
In ähnlicher Weise können auch Moralvorstellungen schief gehen und schreckliche Folgen haben. Denn auch über unser Zusammenleben, über das, was “richtig” und “falsch” ist, haben wir genaue Vorstellungen. Und auch darüber, wie jemand zu sein hat. Die Kirche hat sich über Jahrhunderte in oft schlimmer Weise als Wächterin der Moral betätigt und damit Menschen das Leben schwer oder sogar unmöglich gemacht. Paulus beschreibt das mit seinen Worten so: “Ich habe Lust an Gottes Gesetz nach dem inwendigen Menschen. Ich sehe aber ein anderes Gesetz in meinen Gliedern, das widerstreitet dem Gesetz in meinem Gemüt und hält mich gefangen im Gesetz der Sünde, das in meinen Gliedern ist.”

Regeln, Gebote und Vorschriften sind gut, ja, notwendig für das Miteinander von Menschen. Aber sie sind nicht an sich gut. Denn für jede Regel gibt es eine Ausnahme, für die diese Regel nicht gut tut oder sogar schadet. Was für eine Mehrheit von Menschen richtig ist, kann für einzelne Menschen völlig falsch sein.
Wir sprechen von Gottes Gebot, aber was das - abgesehen von den 10 Geboten - wirklich ist, wissen wir nicht so genau. Es ist Auslegungssache. Und die ändert sich mit der Zeit und mit den Umständen. Wir können uns nicht wirklich sicher sein, ob wir tatsächlich tun, was Gott will, oder ob wir seinen Willen zu unseren Gunsten manipuliert haben. Anders wäre so manche Bigotterie und Doppelmoral nicht zu erklären - bis hinauf in die obersten Ämter der Kirche.

Paulus warnt davor, das Tier im Menschen durch Regeln, Gebote und Gesetze im Zaum halten zu wollen. Das kann nicht gelingen, das muss schief gehen; es führt zu Bigotterie und Doppelmoral. Schlimmstenfalls bringt es den Menschen, der es dennoch versucht, zur Verzweiflung.

V
“Ich elender Mensch! Wer wird mich erlösen von diesem todverfallenen Leibe?” 
Vielleicht verstehen wir jetzt diesen Stoßseufzer des Paulus und stimmen sogar in ihn ein. Wenn wir uns selbst nicht erlösen, wenn wir uns selbst nicht retten können trotz unseres so überaus grandios entwickelten Großhirns - wer kann es dann?

“Dank sei Gott durch Jesus Christus, unsern Herrn!”
Jesus hat uns erlöst. Jesus, der die Gesetze und Gebote auf die Spitze getrieben hat, indem er lehrte: “Ihr habt gehört, dass gesagt ist (2. Mose 20,14): »Du sollst nicht ehebrechen. « Ich aber sage euch: Wer eine Frau ansieht, sie zu begehren, der hat schon mit ihr die Ehe gebrochen in seinem Herzen.” Oder: “Ihr habt gehört, dass gesagt ist: »Du sollst deinen Nächsten lieben« (3. Mose 19,18) und deinen Feind hassen. Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde und bittet für die, die euch verfolgen.”

Jesus will damit nicht Unmögliches von seinen Anhängern fordern. Er will vielmehr deutlich machen, dass es unmöglich ist, die Gebote zu erfüllen. Weil es unmöglich ist, sollen wir aber auch nicht die Hände in den Schoß legen und es gar nicht erst versuchen. Wir sollen vielmehr Zuflucht nehmen zu seiner Vergebung.

Vergebung bedeutet: Jesus nimmt uns so an, wie wir sind. Als Menschen, die Fehler haben, die Gutes tun möchten und es doch nicht immer schaffen. Der erste und einzige Schritt, den wir tun müssen, ist: das liebevoll anzunehmen. Uns liebevoll anzunehmen als die, die wir sind. Zu verstehen und zu akzeptieren, dass wir nun einmal nicht vollkommen sind, weder körperlich, noch, was unsere Art zu leben angeht.

Wenn wir gelernt haben, und selbst liebevoll mit Gottes Augen anzusehen und uns anzunehmen, dann können wir wahrhaft versuchen, nach Gottes Gebot der Nächstenliebe zu leben. Dann können wir unangestrengt und unverkrampft lieben, Gutes tun und dabei Fehler machen und es beim nächsten Mal anders und vielleicht besser machen.

Paulus möchte uns frei machen, indem er uns unsere Grenzen aufzeigt. Es ist schmerzlich, die eigenen Grenzen zu erfahren. Aber wenn man sie akzeptiert, merkt man, dass die Liebe Gottes alle Grenzen sprengt und uns eine Freiheit schenkt, die alles übersteigt, was wir uns vorstellen können.

Deshalb lohnt es sich, ab und an mal Paulus zu lesen und auf ihn zu hören.

Amen.

Rechnen müsste man können


Predigt im Gottesdienst zum Thema Schöpfung am 4. November 2012 um 17.00 Uhr in der Klosterkirche über Genesis 1,28


Liebe Gemeinde,

“Wir sind Kinder einer Erde, die genug für alle hat. 
Doch zu viele haben Hunger und zu wenige sind satt. 
Einer prasst, die andern zahlen, das war bisher immer gleich. 
Nur weil viele Länder arm sind, sind die reichen Länder reich.”

So heißt es in einem Gedicht von Volker Ludwig. Dieses Gedicht bringt das Problem auf den Punkt, das unsere Gesellschaft hat: Es ist ein Verteilungsproblem. Die Ressourcen dieser Erde, die für alle Menschen reichen würden, sind ungleich verteilt. Manche haben mehr davon - oder alles, andere wenig - oder nichts.

Geld ist der Schlüssel, der die Tür zur Vorratskammer aufschließt. Wer es sich leisten kann, bekommt unbegrenzten Zugang zu frischem Wasser und Energie, zu Bildung und Nahrung, zu Gesundheitsversorgung und Treibstoff. Wer kein Geld hat, hat eben - - - Pech gehabt.

Das Problem unserer heutigen Gesellschaft ist ein Problem der Verteilung der Ressourcen. So ein Verteilungsproblem lässt sich mathematisch lösen; theoretisch ist das gar nicht schwer. Praktisch ist es so gut wie unmöglich.

Was aber hat das mit dem Thema dieses Gottesdienstes zu tun, in dem es um unseren zerstörerischen Umgang mit der Natur und den Lebewesen auf dieser Erde geht?

I
“Seid fruchtbar und mehrt euch und füllt die Erde und macht sie euch untertan und herrscht über die Fische im Meer und über die Vögel unter dem Himmel und über das Vieh und über alles Getier, das auf Erden kriecht.”

Gott, so stellt es der erste Schöpfungsbericht dar, vertraut den Menschen die Erde an. Damit wird keine Entstehung der Welt erzählt, die im Widerspruch zu den wissenschaftlichen Erkenntnissen steht, die wir über die Entstehung der Welt und der Arten gewonnen haben. Vielmehr wird mit diesen Sätzen das Verhältnis beschrieben, in dem sich der Mensch zu seiner Umwelt findet: Als Herr, der über die Natur herrscht und gebietet.

Das ist zunächst einmal nicht mehr als eine Beschreibung der Realität: Wir Menschen halten uns für die Krone der Schöpfung, für die Herren dieser Erde. Aber während wir für uns selbst die Demokratie als Gesellschaftsform fordern und bevorzugen, bewegen wir uns als “Herren” und “Herrinnen” der Schöpfung noch immer in den Bahnen absolutistischer Herrscher. So, wie z.B. der Sonnenkönig Ludwig der XIV., der von sich sagte: “L’État, c’est moi” - ich bin der Staat, um mich hat sich alles zu drehen und ich kann mit meinem Staat und mit meinen Untertanen lassen und tun, was ich will.

Gesellschaftlich haben wir den Absolutismus hinter uns gelassen. Es hat viel Kraft und Blut, viele Revolutionen gekostet, bis die Gesellschaft so erwachsen wurde, dass sie sich nicht mehr von einem Herrscher tyrannisieren lassen wollte und bereit war, selbst Verantwortung für das Gemeinwesen zu übernehmen. In unserem Verhältnis zur Natur, so scheint es, sind wir noch längst nicht in der Demokratie angelangt.

II
Zum Glück kann die Natur keine Revolution gegen uns machen. Sie würde es, wenn sie könnte. Denn gegenüber unserer Umwelt verhalten wir uns nicht anders als der Sonnenkönig. Wir benehmen uns wie Tyrannen, nehmen uns, was wir kriegen können, verschwenden und vergeuden, was Mensch und Tier zum Leben brauchen. Einfach so, weil wir es können. Oder weil wir der Meinung sind, es stünde uns zu, wir hätten es vielleicht sogar verdient.

Kleine Kinder verhalten sich manchmal wie kleine Tyrannen. Kleine Kinder, die “den Hals nicht voll kriegen können”, wie man sagt. Die alles Spielzeug an sich raffen und den anderen nichts davon abgeben. Die sich die größten Portionen aufschaufeln und hinterher nicht einmal die Hälfte von dem essen, was sie sich aufgeladen haben. Die Wasser und Lebensmittel verschwenden. Kinder sind so. Kinder dürfen so sein.

Wir aber sind keine Kinder mehr. Wir sind Erwachsene, die sich aber trotzdem oft wie Kinder benehmen:
So gierig.
So egoistisch.
So verantwortungslos.
So unbedacht gegenüber den Folgen unseres Handelns.

III
Gott hat die Erde nicht Kindern anvertraut. Auch wenn Herbert Grönemeyer fordert: “Gebt den Kindern das Kommando, sie berechnen nicht, was sie tun”, gehören zum Beherrschen der Welt Fähigkeiten, wie sie erst Erwachsene entwickelt haben. Mathematische Fähigkeiten zum Beispiel. Wenigstens die Grundrechenarten sollte man beherrschen. Dann fällt es leicht zu erkennen, dass die Vorräte an Rohstoffen, aber auch an Trinkwasser und Ackerflächen begrenzt sind und nicht unendlich verschwendet werden können. Dass, wenn man mehr Kohlenstoff verbrennt, auch mehr CO2 entsteht. Dass, wenn man mehr Flächen versiegelt, weniger Lebensraum zur Verfügung steht, usw.

Wenn der erste Schöpfungsbericht davon spricht, dass Gott den Menschen zum Herrn über seine Schöpfung machte, dann wollte er damit nicht sagen, dass Gott dem Menschen einen Freibrief gegeben habe. Gott gab dem Menschen nicht Narrenfreiheit, mit der Erde umzugehen wie ein kleines Kind, das nicht weiß, was es tut.

Gott hat seine Schöpfung Erwachsenen anvertraut, die rechnen können und daher wissen, dass man Ressourcen sparsam verwenden und gerecht verteilen muss. Erwachsenen, die umsichtig und vorsichtig mit der Natur, mit Pflanzen und Tieren umgehen. Die mit dem Leben anderer Lebewesen nicht spielen und wissen, dass alles Leben beseelt ist, weil alles Leben seinen Ursprung und sein Ziel in Gott hat.

IV
Der Schöpfungsbericht der Bibel gibt uns keinen Freibrief, sondern mutet uns eine große Verantwortung zu. Wir sind für diese Erde verantwortlich. Als Herrinnen und Herren nicht nur für uns, für unsere Mitmenschen und unsere Nachkommen, sondern auch für unsere Mitgeschöpfe, für Pflanzen und Tiere.

Da kann einem schon mulmig werden angesichts dieser Verantwortung. Wer will die schon auf sich nehmen?

Gott traut uns das zu. Gott traut uns zu, dass wir seine Welt nicht ausbeuten und verschandeln, nicht verschwenden und zerstören, dass wir seine Geschöpfe nicht quälen und sinnlos töten, sondern vorsichtig und verantwortungsvoll mit ihnen umgehen, mit Weitblick und mit Zurückhaltung.

Gott traut uns das zu, weil er selbst uns dazu befähigt hat: Er hat uns die Gaben der Liebe geschenkt, des Mitgefühls und der Barmherzigkeit. Wir können wissen und berechnen, was wir tun, und die Folgen unseres Handelns abschätzen. Das ist verantwortliches Handeln.

V
“Wir sind Kinder einer Erde die genug für alle hat.” 
Als erwachsene, verantwortungsvolle Menschen erkennen wir, dass diese Erde Ressourcen genug hat für alle und Platz genug für Mensch und Tier, wenn der Mensch sich nicht mehr nimmt, als er wirklich braucht und auch an seine Mitmenschen und Mitgeschöpfe denkt. Der Reichtum der Welt ist riesengroß, wenn wir ihn klug verwalten und gerecht verteilen. Das ist keine zu schwere Aufgabe. Sie müsste sich lösen lassen, wenn wir gemeinsam daran arbeiten. Mit Gottes Hilfe wird es uns gelingen. Amen.