Sonntag, 31. März 2024

Vorbestimmt

Predigt am Ostersonntag, 31.3.2024, über 1.Samuel 2,1-8a

Liebe Schwestern und Brüder,


Hannah, die das Lied singt,

hatte einen großen Wunsch:

Sie wünschte sich so sehr ein Kind.

Doch sie konnte keines bekommen.


Ihre Nebenbuhlerin Peninna kränkte sie deswegen.

Peninna war eifersüchtig auf Hannah,

weil ihr Mann Hannah mehr liebte als sie.

Aber Peninna hatte Kinder, und Hanna nicht.

Das ließ sie Hannah spüren.


Hannahs Kinderwunsch entsprang der Sehnsucht,

ihre Konkurrentin zu besiegen,

damit sie endlich Frieden hätte.

Wenn Hannah ein Kind bekäme,

wäre Peninnas Lästerei ein für allemal beendet,

sie könnte ihr nicht mehr die Lebensfreude nehmen.


Was Hannah erlebt, würde man heute „Mobbing” nennen.

Es ist weit verbreitet;

viele mussten es erleiden oder erleiden es gerade.

Mobbing kann einem die Freude an der Arbeit nehmen,

an der Begegnung mit den Kolleginnen und Kollegen;

es kann das Leben zur Hölle machen.


Eine Konkurrentin, ein Konkurrent kann es erreichen,

dass man ihn oder sie nicht mehr los wird:

Wie eine Zecke saugt sie sich in den Gedanken fest,

sodass sie selbst Zuhause ständig gegenwärtig ist.

Wer so etwas durchmachen musste, kann wohl verstehen,

warum sich Hannah ein Kind wünscht

und dass ihr Kinderwunsch so dringend für sie ist.


Hannah möchte ein Kind bekommen,

damit sie nicht mehr gemobbt wird.

Ihr Kind ist ein Wunschkind, aber in sehr besonderer Weise:

es soll ihr helfen, ihre Gegnerin zu besiegen.


Tatsächlich wird Hannah schwanger,

nachdem sie in ihrer Verzweiflung

einen Handel mit Gott eingegangen ist:

Sollte sie ein Kind bekommen, würde sie es Gott weihen.


Gott geweiht, das bedeutet:

das Leben des Kindes wird Gott gehören.

In ähnlicher Weise wurden im Mittelalter

Kinder ins Kloster gegeben,

wo sie ein Leben als Mönch oder Nonne erwartete.


Nachdem Hannahs Kind zur Welt gekommen und entwöhnt ist,

bringt sie es zum Tempel und übergibt es dem Priester.

Ohne ihr Kind kehrt sie nach Hause zurück.

Ihr Kind wächst ohne Mutter auf und ohne Spielgefährten.

Es wächst auf ohne Kindheit, in einer Welt der Erwachsenen,

im Tempel, der die Welt vor ihm aussperrt.


Das Kind, das Hannah geboren und dem Tempel übergeben hat,

trägt den Namen Samuel. Ein sprechender Name, er bedeutet:

Von Gott erbeten.

Samuel wird ein Prophet, ein Bote Gottes.

Man könnte ihn auch als ein Werkzeug Gottes bezeichnen.

Ein Werkzeug hat keinen eigenen Willen,

sondern führt den Willen dessen aus, der es benutzt.

Ein Werkzeug hat auch kein Eigenleben: Es dient.

Als Werkzeug dient es einem Zweck,

als Prophet dient Samuel Gott.


Ein Leben im Dienste eines anderen war früher alltäglich:

Mägde oder Knechte nannte man solche Menschen,

die nicht ihr eigenes Leben lebten.

Sie waren nicht angestellt,

sondern wohnten im Haus ihrer Dienstherren,

aßen von ihrem Essen und, wenn sie auf einem Hof arbeiteten,

auch mit der Bauersfamilie an einem Tisch.

Sie zahlte ihnen Kleidung und Schuhe und den Arzt,

und ansonsten ein Taschengeld.


Heute würden wir ein solches Leben nicht mehr führen wollen.

Leben, das bedeutet für uns: Freiheit und Selbstbestimmung.

Seine eigene Herrin, sein eigener Herr sein.

Selbst entscheiden, wie man lebt und was man tut,

frei sein in seiner Entscheidung und unabhängig.

Darum könnte man auf den Gedanken kommen,

Samuel zu bedauern: Er hatte kein eigenes Leben.

Sein Leben war ihm von seiner Mutter vorbestimmt worden.

Er hatte zu keinem Zeitpunkt eine Wahl.


Auch das war früher die Regel:

Früher musste der älteste Sohn den Hof übernehmen,

oder den Handwerksbetrieb des Vaters.

Keine Frage, dass der Junge den Beruf des Vaters erlernte

und den Hof, die Werkstatt weiterführte,

um sie eines Tages an die nächste Generation zu übergeben.

Das Schicksal der Mädchen war es,

möglichst vorteilhaft verheiratet zu werden,

eine „gute Partie” zu machen.

Sie wurden bei der Entscheidung über ihren Partner nicht gefragt.

Romantik, Liebe, Erfüllung, persönliches Glück spielten keine Rolle.


So wie Hannah bringt auch eine andere junge Frau in der Bibel

durch Gottes Einwirken ein Kind zur Welt.

Es scheint so, dass es diesmal sie ist, die man nicht fragt.

Ein Engel teilt ihr mit, was mit ihr geschehen wird.

Es ist alles vorherbestimmt, es ist schon alles entschieden.

Aber ausdrücklich wird berichtet, dass Maria einwilligt:

„Ich bin des Herrn Magd. Mir geschehe nach deinem Wort”, sagt sie.

Sie hat zwar eigentlich keine Wahl,

aber es kommt doch auf ihre Entscheidung, ihre Zustimmung an.


Auch ihr Kind hat keine Wahl.

Sein Leben ist vorherbestimmt wie das Samuels,

und wie er, trägt auch dieses Kind einen sprechenden Namen:

Immanuel, Gott ist bei uns, und

Jesus, auf Hebräisch: Jehoschua, Gott hilft.

Sein Name weist voraus auf das Leben,

das diesem Kind bestimmt ist.

Durch dieses Kind kommt Gott den Menschen nah,

durch dieses Kind wird Gott den Menschen ein Helfer,

indem er ihnen vergibt und ihnen neues Leben schenkt.

Doch dafür muss dieses Kind eines schrecklichen Todes sterben.


Wenn ein Leben so vorbestimmt und festgelegt ist,

dass einem keine Wahl mehr bleibt, sprechen wir von „Schicksal”.

Das Schicksal erscheint wie eine unausweichliche Macht,

der man nicht entgehen kann und gegen die niemand ankommt.

Eine Vorstellung, die im Gegensatz zu unserem Glauben steht.

Der Bibel nach ist Gott allein allmächtig.

Neben oder unter ihm gibt es keine überweltlichen Mächte,

die unser Leben beeinflussen oder gar bestimmen könnten -

weder der Sternenhimmel, noch das Schicksal.


Vom Schicksal sprechen wir auch nur,

wenn es nicht so kommt, wie wir es uns wünschen.

Niemand sagt von einem Lottogewinn,

der sei „Schicksal” gewesen.

Wenn jemand krank wird ist es Schicksal,

wenn jemand gesund wird, nicht.


Diese Vorstellung vom Schicksal hängt damit zusammen,

dass wir so sehr an unsere Freiheit glauben

und an ein selbstbestimmtes Leben.

Aber die Erfahrung machen, dass wir zwar Pläne schmieden,

dass aber manchmal das Schicksal ein mieser Verräter ist,

das unsere Pläne durchkreuzt und zunichte macht.


Diese Vorstellung eines selbstbestimmten Lebens

ist der Bibel fremd.

Die Bibel kennt Heldinnen wie Debora, Helden wie David.

Sie erzählt von Einzelschicksalen wie dem von Ruth,

von Hannah oder von Maria.

Aber sie alle stehen nicht für sich.

Sie sind eingebunden in die Geschichte des Glaubens:

In Gottes Geschichte mit seinem Volk,

in Gottes Handeln an seiner Schöpfung, der Welt.


Durch Jesus wurden wir ein Teil dieser Geschichte des Glaubens.

Wir gehören zu Gott, und damit sind wir eingebunden

in diese Geschichte des Glaubens,

auch wenn man wohl später nicht so von uns erzählen wird

wie von Hannah.

Weil wir zu Gott gehören, ist Gott unser Herr.

Wir sind - mit diesem altertümlichen Ausdruck -

seine Knechte und Mägde.

Unser Leben ist vorherbestimmt, wie es das von Samuel war.

Man nennt das mit einem Fachwort: Prädestination.


Vorherbestimmung, Prädestination, bedeutet nicht,

dass wie in einem Drehbuch jeder unserer Schritte,

jedes Wort, das wir sagen, im Voraus festgelegt ist.

Wir sind auch keine Automaten,

die ein Programm abspulen,

das ein Fremder geschrieben hat,

und das wir nicht beeinflussen können.


Prädestination bedeutet nur,

dass der Ausgang unseres Lebens schon fest steht:

Unser Leben geht gut aus.

Es gibt ein Happy End für uns.

Dieses Happy End ist die Auferstehung.

Durch die Auferstehung brauchen wir uns keine Sorgen zu machen,

dass wir unser Leben vermasseln,

dass wir nicht gut genug waren,

nichts aus uns und unserem Leben gemacht haben.

Gott hat bereits entschieden:

Unser Leben ist gut, ist gelungen,

und wir sind ihm recht so, wie wir sind.


Darum leben wir aus der Auferstehung.

Wir leben sozusagen vom Ende her,

vom glücklichen Ende unseres Lebens her zur Gegenwart.

Die Auferstehung lässt das Ende den Anfang sein,

macht aus Misserfolg und Scheitern neue Möglichkeiten,

aus Enttäuschung und Irrtum Erfahrungen.


Die Auferstehung stellt alles auf den Kopf:

Knechte werden zu Herren und Herren zu Knechten.

Starke werden schwach und Schwache stark.

Satte hungern und Hungernde bekommen zu essen.

Reiche werden arm und Arme reich.

Wer nichts galt, wird bedeutend,

wer berühmt war, verschwindet in der Versenkung.

Und wer tot war, wird wieder lebendig.


Die Auferstehung stellt alles auf den Kopf.

Aber aus der Sicht Gottes stellt sie alles

vom Kopf auf die Füße.

Denn Gott wünscht sich Gerechtigkeit und Mitgefühl.

Gott ist auf der Seite der Schwachen und der Kleinen,

weil die nicht auf eigene Kraft,

auf eigene Fähigkeiten vertrauen,

sondern auf Gott.


Gott wird unser Herr, wenn wir ihn machen lassen.

Nicht um jeden Preis an unseren Plänen festhalten,

nicht wie mit Scheuklappen nur in eine Richtung gehen,

Misserfolge, Irrtümer, Scheitern nicht als Katastrophen,

sondern als notwendige Schritte auf unserem Weg

anzusehen lernen.


Weil Gott ein gutes Ende für unser Leben vorgesehen hat

und weil Gott Gutes für uns im Sinn hat,

Glück und Lebensfreude,

können wir ihn machen lassen.

Das gibt uns die Freiheit, unser Leben zu gestalten,

wie wir es möchten.

Es befreit uns von der Befürchtung,

wir hätten etwas verpasst,

wir hätten nicht richtig gelebt,

wir hätten keine Wahl gehabt.


Wir haben jetzt eine Wahl, und wir haben sie jeden Tag neu.

Wir können wählen, alles auf den Kopf zu stellen,

alles neu und anders zu machen.

Wir können wählen, das Leben anzunehmen, wie es ist.

Wir auch immer wir uns entscheiden:

Gott bleibt an unserer Seite

und wartet am Ende unseres Lebensweges auf uns,

um uns in seine Arme zu schließen

und uns ein neues, das ewige Leben zu schenken.

Samstag, 30. März 2024

Hier gibt es Nichts zu sehen

Predigt in der Osternacht, 30. März 2024, über Johannes 5,19-21:

Im Johannesevangelium spricht Jesus:


Ich sage euch wirklich und wahrhaftig,

der Sohn kann nichts von sich aus tun,

sondern nur, was er den Vater tun sieht.

Denn was jener tut,

das tut der Sohn genauso.

Der Vater liebt nämlich den Sohn

und zeigt ihm alles, was er tut,

und er wird ihm noch größere Werke zeigen,

da werdet ihr staunen!

Wie nämlich der Vater die Toten auferweckt

und lebendig macht,

genauso macht der Sohn lebendig, wen er will.


Liebe Schwestern und Brüder,


Ostern gibt uns etwas zu sehen.

In dreifacher Weise gibt es uns etwas zu sehen.

Dieses Sehen beginnt in der Osternacht,

es beginnt in der Dunkelheit, wo man nichts sieht.

In dieser Dunkelheit erstrahlt ein Licht.

Zuerst war es nur ein Punkt,

der sich bewegte und dem wir folgten wie einem Stern:

Die Flamme der Osterkerze.

Das Licht breitete sich aus. Nun erhellt es den Dom.

Das Licht, das uns umgibt,

nimmt den strahlenden Glanz des Ostermorgens vorweg.

Was gibt uns dieses österliche Licht zu sehen?


I

Zuerst ist es das Licht selbst, das wir sehen.

Das Licht, das die Dunkelheit vertreibt.

Das Licht, das in der Finsternis scheint,

und die Finsternis hat’s nicht ergriffen:

Jesus Christus, das Licht der Welt.

Dieses Licht war am Karfreitag verloschen.

Es hatte sich unseren Händen anvertraut.


Hände, die so behutsam sein können,

so liebevoll, so zärtlich.

Hände, die heilen, die trösten und helfen.

Hände, die Instrumenten Töne und Melodien entlocken,

die etwas gestalten und erschaffen.

Hände des Vaters, der Mutter, die ein Kind bergen und halten.

Hände des Liebsten, der Liebsten,

die von seiner, ihrer Liebe zu uns sprechen.

Hände der Ärztin, des Arztes, denen man sein Leben anvertraut.


Diese wunderbaren Hände können auch zerstören.

Sie schlagen zu, sie schwingen einen Stock, eine Geißel.

Sie winden Dornenzweige zu einer Krone.

Sie zimmern ein Kreuz.

Sie nageln das Licht der Welt ans Kreuz

und lassen es verlöschen.


Das Licht der Welt kann nicht verlöschen.

Denn dann wären wir der Dunkelheit ausgeliefert,

unserer eigenen inneren Dunkelheit,

die zerstört, statt etwas zu schaffen;

die schlägt, statt zu heilen;

die Waffen führt, statt die Hand zu reichen.

Diese Dunkelheit gibt es um uns herum.

Nicht weit von uns, in der Ukraine und in Gaza.

Sie gibt es auch in nächster Nähe;

wir spüren sie manchmal in uns selbst.


Gott lässt nicht zu, dass das Dunkel zu uns spricht.

Gott hält die Flamme lebendig, die wir auslöschen.

Das Licht der Welt leuchtet wieder.

Es setzt die Liebe ins Recht, die Sanftmut,

die Barmherzigkeit, den Frieden.

Das Schöpferische behält die Oberhand über die Zerstörung.

Im österlichen Licht erkennen wir,

dass das Leben stärker ist als der Tod,

dass die Schöpfung sich gegen ihre Zerstörung behauptet:

„Freunde, dass der Mandelzweig

wieder blüht und treibt,

ist das nicht ein Fingerzeig, dass die Liebe bleibt?”


II

Das andere, was das österliche Licht uns sehen lässt ist,

was Gott, der Vater, tut.

„Denn was jener tut, das tut der Sohn genauso.”

In seinem Sohn Jesus Christus offenbart sich Gott,

weil Gott selbst in ihm redet und handelt.


Offenbarung ist mehr als Sehen.

Sehen können wir nur durch das Licht;

in der Dunkelheit gehen zuerst die Farben verloren

und dann alle Formen und Umrisse.

Die Offenbarung aber ist das Licht selbst.

Ein Licht, das uns überwältigt,

wie man geblendet wird,

wenn man aus dem Dunkel plötzlich ins Licht tritt.


Überwältigung: Das ist die Art und Weise,

in der Gott uns begegnet.

Als Jesus seine Jünger beruft, genügen drei Worte:

Folge mir nach!, und sie lassen alles stehen und liegen,

lassen ihr bisheriges Leben hinter sich,

lassen sich auf die Zukunft ein,

die der Ruf Jesu für sie bereit hält,

weil sie überwältigt wurden.


Sie wurden überwältigt, aber nicht gezwungen.

Die Entscheidung, dem unwiderstehlichen Ruf zu folgen,

lag bei ihnen.

Sie entschieden sich für die Nachfolge,

weil sie erkannt hatten,

dass ihnen nichts besseres passieren konnte

als dieser Ruf, der eine Berufung war.

Eine Berufung in die Gegenwart Gottes,

wie sie Mose zuteil wurde, Samuel und den Propheten.


Die Offenbarung überwältigt,

indem sie in Gottes Gegenwart ruft.

Sie hat nichts mitzuteilen,

es gibt kein geheimes Wissen, keine neue Erkenntnis.

Sie versetzt in Gottes Gegenwart,

und damit ist alles klar: Die vollkommene Klarheit,

die alles Wissen und alle Erkenntnis übersteigt:

„Der Vater wird dem Sohn noch größere Werke zeigen,

da werdet ihr staunen!”


III

Schließlich das Dritte,

was uns das österliche Licht zu sehen gibt:

Das, was die Jüngerinnen Jesu am Ostermorgen vorfinden.

Das leere Grab.

Mit anderen Worten: Es gibt Nichts zu sehen.


Dieses Nichts ist nicht die Vernichtung,

die Auslöschung des Lichtes durch die Finsternis,

die Auslöschung des Lebens durch den Tod.

Dieses Nichts ist der schöpferische Anfang,

aus dem neues Leben entsteht:


In der Stille erklingt ein Ton, eine Melodie.

Auf der leeren Fläche des Papiers entsteht ein Text, ein Bild.

Durch farbiges Glas fällt Licht,

und dieses Licht wird plastisch, fast mit Händen zu greifen.

Alls das sind Metaphern für die Schöpfung aus dem Nichts,

mit der wir das, was am Ostermorgen geschieht,

die Auferstehung, beschreiben - und doch nicht begreifen.


So unbeschreiblich, unbegreiflich die Auferstehung ist,

sie überwältigt uns.

Durch sie geraten wir in Gottes Gegenwart:

„Wie nämlich der Vater die Toten auferweckt und lebendig macht,

genauso macht der Sohn lebendig, wen er will.”

Gottes Liebe, die am Ostermorgen die Oberhand behält

über die Dunkelheit, ergreift, überwältigt und verwandelt uns:

Sie macht uns lebendig.


Das österliche Licht fällt auf unsere Gesichter

und lässt sie durchscheinend werden

für Gottes Liebe und Gottes Freundlichkeit.

Durch die Auferstehung werden wir selbst

eine Stille, in der sich eine Melodie entfaltet;

eine leere Fläche, auf der ein Gedicht entsteht oder ein Gemälde;

ein Glas, durchsichtig auf den hin,

den Christus am Werk sieht in der Schöpfung und an den Menschen

und der uns in Christus anschaulich geworden ist.


IV

Der Vater wird dem Sohn noch größere Werke zeigen,

da werden wir staunen!

Die Auferstehung ist das Ziel, auf das wir zugehen,

die Hoffnung, die einmal Wirklichkeit werden wird.

Und sie ist der Anfang. Der Anfang von allem.


Gottes schöpferische Macht überwältigt uns.

Wir finden die Kraft, aufzustehen, jeden Morgen neu.

Wir entdecken schöpferische Energien in uns.

Wir erkennen unsere Schönheit,

erkennen, dass wir diese Stille sind, diese leere Fläche,

dieses Glas, durch das Christus anschaulich wird.


Wie durch einen Spiegel wird Christus durch uns anschaulich.

Er wird anderen anschaulich, und er wird uns anschaulich:

Wir sehen ihn im jeweils anderen.

So ist der Auferstandene unter uns gegenwärtig,

indem er anderen durch uns

und uns in anderen begegnet.

Donnerstag, 28. März 2024

sich die Hände schmutzig machen

Predigt am Gründonnerstag, 28. März 2024, über Johannes 13,1-17.34f:

Liebe Schwestern und Brüder,


was man tagtäglich oder regelmäßig tut,

darüber denkt man nicht weiter nach.

Händewaschen zum Beispiel:

Das macht man ganz automatisch.

Nur wenn man sehr dreckige Hände hat,

wenn der Schmutz partout nicht abgehen will,

sieht man genau hin und greift notfalls noch einmal zur Seife.


Im Altertum war das Füßewaschen das,

was das Händewaschen heute für uns ist:

Eine Selbstverständlichkeit, über die man nicht nachdachte.

Nur, dass man es in bestimmten Kreisen nicht selber tat:

Füße zu waschen war Aufgabe des Personals.

Sobald man das Haus betrat,

war eine Sklavin oder ein Sklave zur Stelle,

um die Füße von Schmutz und Staub der Straße zu befreien.


Das Evangelium beschreibt diesen alltäglichen Vorgang

wie in einer Großaufnahme oder wie in Zeitlupe:

Wie Jesus seine Kleidung ablegt,

damit sie beim Knien auf dem Boden nicht schmutzig wird,

wie er ein Handtuch umbindet

und Wasser in ein Waschbecken gießt,

mit dem er anschließend von einem zum anderen geht,

um seinen Jüngern die Füße zu waschen.

Sogar das Abtrocknen der Füße wird nicht vergessen.


Normalerweise würde man eine solche alltägliche Verrichtung

nicht so ausführlich beschreiben.

In Romanen liest man nichts davon,

wie sich die Heldin die Zähne putzt,

wie sie ihre Wäsche wäscht, das Frühstück macht

oder die Wohnung aufräumt.


Sie müssen mal im Kino darauf achten:

Die Schauspieler gehen so gut wie nie aufs Klo,

sie duschen nicht und bügeln auch nicht ihre Kleidung.

Wird eine Alltagsszene doch einmal gezeigt,

wird gleich etwas Schreckliches geschehen,

wie bei der berühmten Duschszene

in Alfred Hitchcocks Horrofilm „Psycho”.


Nicht ganz so heftig wie im Horrorfilm ist Petrus’ Reaktion,

als Jesus ihm die Füße waschen will.

Immerhin sagt er sehr theatralisch:

„Niemals sollst du mir die Füße waschen!” -

als sei es etwas völlig Unmögliches, Undenkbares,

dass Jesus ihm die Füße wäscht.


Aber, könnte man fragen, wenn es so unmöglich ist,

dass Jesus seinen Jüngern die Füße wäscht:

Warum sieht Petrus dann erst seelenruhig zu?

Und auch ein anderer Gedanke legt sich nahe:

Warum kommt Petrus nicht selbst auf die Idee,

Jesus und seinen Freunden die Füße zu waschen?


Gibt es da etwa ein ungeschriebenes Gesetz,

dass man bestimmte Tätigkeiten

ab einem bestimmten hierarchischen Level

nicht mehr ausüben darf?

Wäre es unfein, vielleicht sogar anstößig,

wenn ein Meister seinen Schülern die Füße waschen würde?

Darf eine Chefin ihren Gästen keinen Kaffee kochen,

weil das die Aufgabe der Sekretärin ist?

Darf ein Abteilungsleiter keine Stühle rücken,

sondern muss warten, bis der Hausmeister kommt?


Man könnte auf diesen Gedanken kommen.

Einmal im Jahr wäscht der Papst

einer ausgewählten Schar von Menschen die Füße.

Dass er es sonst nicht tut,

macht diesen Akt so besonders und außergewöhnlich.

In diesem Ritual soll sich seine Demut zeigen:

Seht, dieser, der das höchste Amt innehat,

das die Kirche vergeben kann,

ist sich nicht zu schaden, in die Knie zu gehen vor Leuten,

die weit unter ihm stehen!


Ob Jesus das gemeint hat, als er sagte:

Ein Beispiel habe ich euch gegeben … ?

Wenn ich schon so frage: Wahrscheinlich nicht.

Was Jesus meinte, verrät der eigenartige Vergleich,

dass der Sklave nicht größer ist als sein Herr

und ein Apostel nicht größer als der, der ihn sendet.

Damit will Jesus wohl sagen:

Der Sklave eines berühmten oder mächtigen Herrn

soll sich nichts darauf einbilden,

denn er ist und bleibt sein Sklave.

Und ein Apostel soll sich nicht zu schade sein,

zu tun, was Jesus getan hat.


Dabei geht es nicht um das Füßewaschen an sich -

es hat sich in der Christenheit nicht durchgesetzt

als Zeichen der Liebe und Wertschätzung.

Nicht zuletzt deshalb, weil geschlossene Schuhe in Mode kamen,

die das Waschen der Füße - naja, nicht unnötig machten,

aber in den privaten Bereich verdrängten.

Es geht Jesus um eine Haltung.


Wenn die Managerin oder der Manager eines Dax-Konzerns

vor seinem Büro die Straße fegen würde,

wäre das eine Schlagzeile oder käme sogar in den Nachrichten.

Nach wie vor gibt es ein ungeschriebenes Gesetz,

wonach bestimmte Tätigkeiten zu einem bestimmten Platz

auf der Karriereleiter gehören:

Der Lehrling hat das Bier zu holen und den Hof zu fegen.

Putzen oder Müll entsorgen ist ein Job für Ungelernte,

und entsprechend schlecht wird er bezahlt.


Die Bezahlung richtet sich nicht nach der Schwere der Tätigkeit,

nach ihrer Notwendigkeit oder ihrem Nutzen für die Gesellschaft.

Sondern danach, wie aufwändig die Ausbildung war

und vor allem danach, wie viel Gewinn erzielt wird.

Am Einkommen hängt auch das gesellschaftliche Ansehen -

ob man im Hotel oder Restaurant zuvorkommend behandelt wird,

ob man gekannt und auf der Straße gegrüßt wird.


Diese Unterschiede sind fatal,

wenn es um das Gebot geht, einander lieb zu haben.

Natürlich kann eine Chefin ihre Angestellten lieb haben,

eine Managerin freundlich zu ihrer Putzfrau sein.

Aber es bleibt ein Gefälle zwischen beiden:

ein Gefälle des Ansehens und der Macht.

Dieses Gefälle kann nur von oben nach unten überwunden werden,

nicht von unten nach oben.

Die unten sehen über sich die berühmte gläserne Decke,

durch die sie nicht hindurch kommen.


Darum ist es Jesus so wichtig,

gar nicht erst ein Gefälle des Ansehens aufkommen zu lassen.

Es ist für Jesus keine außergewöhnliche Tat,

seinen Jüngern die Füße zu waschen,

wie sie es für den Papst ist

oder für einen hochgestellten Menschen wäre.

Für Jesus ist es eine Selbstverständlichkeit.

So, wie es für jeden und jede von uns selbstverständlich ist,

die Spülmaschine ein- und auszuräumen,

die Wäsche zusammenzulegen oder das Wohnzimmer zu saugen.


Das bedeutet nicht, anderen die Arbeit wegzunehmen

oder Berufe überflüssig zu machen,

die Menschen diese Arbeit abnehmen.

Es bedeutet, ein Gefühl dafür zu bekommen,

was jeder Mensch leistet - und dass jeder Mensch

für seine Leistung nicht nur einen gerechten Lohn verdient,

von dem man leben und sich auch etwas leisten kann,

sondern auch Anerkennung.

Erst dann ist ein von Liebe geprägtes Miteinander möglich,

wie Jesus es seinen Jüngern ins Stammbuch schreibt.


„Ein neues Gebot gebe ich euch, dass ihr einander lieb habt.”

Die Gemeinde ist ein geschützter Raum,

in dem wir das probieren können:

Einander zu respektieren und anzuerkennen.

In dem wir uns ausprobieren können in Tätigkeiten,

die sonst nicht zu unserem Aufgabenprofil zählen,

wie zum Beispiel beim Kirchenputz am 20. April.


Je öfter man es probiert, desto selbstverständlicher wird es.

Es kann zur Gewohnheit werden, mit anzufassen

und sich auch mal die Hände schmutzig zu machen.

Es kann zur Gewohnheit werden, auch die Arbeit derer zu würdigen,

die im Hintergrund wirken, die vorbereiten,

damit andere im Rampenlicht stehen können,

und hinterher alles wieder wegräumen und sauber machen.


Wenn es uns zur Gewohnheit wird,

keinen Unterschied mehr zu machen,

kann von der Gemeinde ein Impuls ausgehen,

der bis in unsere Gesellschaft hinein wirkt.

Daran werden alle erkennen, dass wir Jesu Jünger sind,

weil wir einander auf diese Weise Respekt bezeugen,

weil wir nicht auf andere herabsehen

oder Menschen meiden,

die nicht unsere Klasse haben, kurz:

weil wir uns untereinander lieb haben. Amen.

Sonntag, 24. März 2024

kyrios

Predigt am Sonntag Palmarum, 24. März 2024, über Philipper 2,5-11

Liebe Schwestern und Brüder,


wer war der, der damals in Jerusalem einzog?

Für die Bevölkerung Jerusalems war er ein Wundertäter,

der einen Toten auferweckt hatte.

Man hoffte auf ein Spektakel,

man hoffte, noch mehr zu sehen, größeres.

Manche und mancher hoffte vielleicht auch

auf ein kleines Wunder für sich.


Für seine Jünger war er der Lehrer,

der wieder einmal etwas tat,

dessen Bedeutung sie wieder einmal nicht verstanden.

Erst nach seiner Auferstehung erinnerten sie sich daran,

wie er in die Stadt eingezogen war:

Auf einem jungen Esel war er eingeritten.

So hatte es der Prophet Sacharja

für die Ankunft des messianischen Königs verheißen.


Der Messias zieht nicht wie ein Machthaber ein,

der über Soldaten und Waffen gebietet,

die seine Machtposition sichern und seinen Willen durchsetzen.

Nicht wie ein Superstar,

dessen Ausstrahlung, prächtige Kleidung und pompöser Glanz

den Zuschauern seine Größe demonstriert,

während sie sich klein und unwichtig vorkommen.


Der Messias, der Waffen und Kriege abschafft,

ist arm und unscheinbar.

Er kommt nicht als Star, den man bewundert,

sondern als Sklave, den man übersieht und verachtet.

Er flößt nicht Furcht ein,

sondern strahlt Sanftmut aus.


Sanftmut wird immer wieder mit Schwäche verwechselt.

Wer niedrig und unscheinbar ist,

gilt als unfähig, sich zu wehren oder sich durchzusetzen.

Manche sehen in Sanftmut und niedrigem Rang

einen Freibrief oder sogar eine Einladung,

einem solchen Menschen Gewalt anzutun.


II

Wer ist er für uns?

Der Hymnus aus dem Philipperbrief gibt zur Antwort:

Jesus Christus ist der Herr.

Dieser Satz: Jesus Christus ist der Herr

ist das älteste christliche Bekenntnis.

Um den christlichen Glauben von anderen abzugrenzen

und ihn vor Missverständnissen zu schützen,

kam mit der Zeit immer mehr dazu,

bis zum apostolischen Glaubensbekenntnis

oder dem noch längeren und komplizierteren Bekenntnis

von Nizäa-Konstantinopel,

das nächstes Jahr 1.700 Jahre alt wird.


Aber das Bekenntnis, das eine Christin, einen Christen ausmacht,

das uns zu Christen macht

und allein für uns Bedeutung hat,

ist dieser kurze Satz: Jesus Christus ist der Herr.

Paulus schreibt dazu im Römerbrief:

„Wenn du mit deinem Munde bekennst,

dass Jesus der Herr ist,

und in deinem Herzen glaubst,

dass Gott ihn von den Toten auferweckt hat,

so wirst du gerettet“ (Römer 10,9)


Was bekennt man, wenn man sagt: Jesus Christus ist der Herr?

Ist es ein Akt der Unterordnung: Du bist der Chef?

Du hast mir etwas zu sagen,

und ich habe dir zu gehorchen?

Ein derartiges Verhältnis von Chef und Untergebenem

basiert in der Regel nicht auf Sympathie,

sondern auf einer Rangordnung:

Der oder die über mir hat mir etwas zu sagen,

ich habe zu gehorchen.

Darum ist es so erstrebenswert,

in einer Hierarchie aufzusteigen:

Dann hat man endlich auch mal etwas zu befehlen.

Und vor allem muss man dann nicht mehr tun,

was alle anderen tun müssen.


Jesus legt dieses Herr-Sein ab:

Seine Gottgleichheit sieht er nicht als das große Los an,

das ihn in die Sphäre der Macht hebt,

in der er niemandem mehr gehorchen muss.

Er legt sie ganz bewusst ab

und macht sich selbst zu einem Sklaven:

Eine Existenz außerhalb jeder Hierarchie,

auf dem alle herumtrampeln

und der nichts zu melden hat.


Und obwohl er Gott gleich ist,

unterwirft er sich doch Gottes Willen

und bleibt diesem Willen Gottes gehorsam.

Dieser Gehorsam kostet ihn sein Leben.

Es ist nicht Gottes Wille, dass Jesus am Kreuz stirbt.

Aber weil Jesus die Sanftmut und die Machtlosigkeit nicht aufgibt,

weil er niemals auf die gewaltige Macht zurückgreift, die er besitzt,

darum endet sein Weg geradezu zwangsläufig am Kreuz:

Denn manche Menschen sehen in Sanftmut und Niedrigkeit

einen Freibrief oder sogar eine Einladung,

einem solchen Menschen Gewalt anzutun.


III

Das griechische Wort für „Herr” lautet kýrios.

Bei der Übersetzung der hebräischen Bibel ins Griechische

wurde der Gottesname mit kýrios übersetzt.

Der Name Gottes, das Tetragramm JHWH,

wird im Judentum nicht ausgesprochen.

Statt dessen liest man meistens, d.h. knapp 6.000 mal, „Herr”.

Bis auf die Gemeinde in Jerusalem

haben die Christinnen und Christen

die Bibel auf Griechisch gelesen.

Für sie war kýrios gleichbedeutend mit Gott.


Das Bekenntnis: „Jesus Christus ist der Herr”

bedeutet also: Jesus Christus ist Gott.

Er ist nicht wie Gott, er ist kein zweiter Gott,

sondern der Gott, der Himmel und Erde gemacht hat,

der Gott, der das Volk Israel erwählt hat:

Dieser Gott ist Jesus Christus.

Spätere Generationen haben darüber gestritten,

wie das zu verstehen sei,

und wie man sich das genau vorzustellen habe.

Das Ergebnis kann man im nizänischen Credo nachlesen.


Für Paulus und seine Gemeinden

stellten sich solche Fragen noch nicht.

Die ungeheure Einsicht war noch neu und überwältigend:

Gott, der Himmel und Erde geschaffen hat,

der außerhalb seiner Schöpfung

vor aller Zeit und in alle Ewigkeit existiert,

unvorstellbar groß, unvorstellbar mächtig,

war zur Welt gekommen,

verborgen in der Gestalt des Menschen Jesus.


Wer bekennt: „Jesus Christus ist der Herr”,

sagt damit nicht, dass Jesus ein Übermensch war,

ein Supermann oder Superstar.

Dieser Satz sagt etwas viel wichtigeres und aufregenderes:

Gott, den man nicht sehen kann,

über den wir nichts wissen

und von dem wir nichts sagen können,

kam uns in dem Menschen Jesus nahe.

An dem, was Jesus sagte und tat,

können wir erkennen, wie Gott ist,

was er für uns will und was er für uns tut.


IV

Gott, der uns Menschen in Jesus Christus begegnet,

legt seine Gottheit ab,

damit wir ihm überhaupt begegnen können.

Eine wirkliche Begegnung kann nur auf Augenhöhe stattfinden,

zwischen Gleichen.

Wenn Gott uns als Gott gegenüberträte,

müssten wir vor seiner Gottheit vergehen.

Wir wären nicht mehr frei,

zu sein, wer wir sind und zu tun, was wir wollen.

Wie ein Magnet Eisen festhält

oder in eine bestimmte Richtung zieht,

so wären wir von Gott wie magnetisiert.

Wir wären in den Bann geschlagen,

unfähig, etwas zu sagen oder uns auch nur zu bewegen.


Damit wir wirklich frei sein können,

zu sein, was wir wollen und zu leben, wie wir wollen,

verzichtet Gott uns gegenüber auf alle Macht.

Er tritt uns gegenüber in der Gestalt Jesu Christi,

von der es bei Jesaja heißt:

„Er hatte keine Gestalt und Hoheit.

Wir sahen ihn, aber da war keine Gestalt,

die uns gefallen hätte.

Er war der Verachtetste und Unwerteste” (Jesaja 53,2f).


Darum übersehen wir Jesus so oft.

Wir sehen ihn, aber wir sehen über ihn hinweg,

wenn er uns begegnet

in Hungrigen und Durstigen,

in Fremden und Unbekleideten,

in Kranken und Gefangenen.

Hungrig und durstig,

fremd und unbekleidet,

krank und gefangen im wörtlichen

und im übertragenen Sinn.


V

Der Weg zum Frieden führt über das Hinsehen.

Den Gekreuzigten kann man nicht mehr übersehen:

Er ist in unseren Kirchen allgegenwärtig.

Aber den Menschen Jesus,

der uns in unscheinbarer Gestalt begegnet,

den kann man leicht übersehen.


Die Unscheinbaren, Kleinen und Schwachen

kann man auch leicht übergehen.

Denn sie haben in der Regel keine laute Stimme.

Sie machen nicht auf sich aufmerksam

durch eine Lightshow, durch martialisches Auftreten,

durch gewaltige Muskeln oder eine atemberaubende Figur.

Zu nahe liegt es, sie zur Seite zu schieben

und so zu tun, als wären sie nicht da.

Bis man eines Tages tatsächlich glaubt,

sie spielten keine Rolle; wichtig wären nur

die Wichtigen, die Berühmten und Mächtigen.


Wer bekennt: „Jesus Christus ist der Herr”,

bekennt sich zu Niedrigkeit und Schwäche,

zu Sanftmut und Gewaltlosigkeit.

Nur so kann die Spirale der Gewalt durchbrochen werden.

Nur so kann Friede werden.

Nur so kann sich Gottes guter Wille für uns

und für seine ganze Schöpfung durchsetzen:

Wenn wir so gesinnt sind,

wie es Jesus Christus entspricht. Amen.

Sonntag, 17. März 2024

keine Opfer mehr

Predigt am Sonntag Judika, 17. März 2024, über Gen 22,1-14:


TRIGGERWARNUNG:


Die Geschichte von der Opferung Isaaks ist eine Missbrauchsgeschichte.

Wer Erfahrungen von Missbrauch oder sexueller Gewalt machen musste,

sollte diese Predigt nicht lesen:

Sie könnte traumatische Erinnerungen wachrufen.



Gott stellte Abraham auf die Probe. Er rief ihn: Abraham!

Der antwortete: Ja?

Gott sagte: Nimm mit dir deinen einzigen Sohn, den du lieb hast,

Isaak, und reise unverzüglich in das Land Moria.

Dort sollst du ein Brandopfer auf einem bestimmten Berg darbringen,

den ich dir nennen werde.

Abraham stand früh am Morgen auf, sattelte seinen Esel

und holte seine beiden Knechte und seinen Sohn Isaak.

Er spaltete Holz zum Brandopfer, brach auf

und reiste zu dem Ort, den Gott ihm genannt hatte.

Als Abraham am dritten Tag Ausschau hielt

und den Ort in der Ferne sah,

sprach er zu seinen Knechten: Bleibt ihr hier mit dem Esel.

Ich und der Junge wollen dort hin gehen, Gott verehren

und dann zu euch zurückkehren.

Abraham nahm das Holz zum Brandopfer

und legte es auf Isaak, seinen Sohn.

Er nahm in seine Hand das Feuer und das Messer,

und beide gingen einträchtig nebeneinander.

Da sprach Isaak zu Abraham, seinem Vater: Du, Papa!

Und er sagte: Ja, mein Sohn?

Isaak sagte: Da sind Feuer und Holz,

aber wo ist das Schaf zum Brandopfer?

Abraham sprach:

Gott wird sich ein Schaf zum Brandopfer ersehen, mein Sohn.

Und beide gingen einträchtig nebeneinander.

Schließlich kamen sie zu dem Ort, den Gott ihm genannt hatte.

Dort baute Abraham den Altar und schichtete Holz darauf.

Dann fesselte er Isaak, seinen Sohn,

und legte ihn auf das Holz auf dem Altar.

Abraham erhob seine Hand gegen seinen Sohn:

Er zog das Messer, um seinen Sohn zu schlachten.

Da rief ihn der Bote des Herrn vom Himmel herab:

Abraham, Abraham!

Und er sprach: Ja?

Der Bote sprach:

Erhebe deine Hand nicht gegen den Jungen und tu ihm nichts!

Denn jetzt erkenne ich, dass du gottesfürchtig bist

und mir deinen einzigen Sohn nicht vorenthalten hast.

Da blickte Abraham auf, und sieh da: ein zweiter Widder

hatte sich mit seinen Hörnern im Gestrüpp verfangen.

Da ging Abraham und fing den Widder

und opferte ihn zum Brandopfer anstelle seines Sohnes.

Und Abraham nannte diesen Ort: „Der Herr sieht”,

daher wird er bis heute „der Herr sieht” genannt.


I

Liebe Schwestern und Brüder,


bevor wir darüber nachdenken können,

was diese Geschichte bedeuten könnte und sagen will,

muss uns zunächst die Ungeheuerlichkeit bewusst werden,

die hier erzählt wird:


Ein Vater versucht, seinen Sohn zu töten.


Seinen Sohn, den er angeblich lieb hat und der ihm vertraut;

der ohne Argwohn mit ihm geht,

obwohl er spürt, dass etwas nicht stimmt.

Und dem dann, als sein Vater ihn fesselt, schlagartig bewusst wird:

Dieser Mann ist ganz anders als der Vater, den er kannte und liebte,

dem er vertraute und von dem er dachte, er liebe ihn auch.

Diesem Mann ist er jetzt schutzlos ausgeliefert.


Wir müssen uns diese Ungeheuerlichkeit zumuten,

damit wir nicht über das, was Abraham seinem Sohn antut,

hinwegsehen, weil es ja nur ein Test war;

weil Isaak nicht wirklich getötet werden sollte

und weil es der Geschichte nicht um die Tötung eines Menschen,

sondern um den Glauben geht.


Denn dieses darüber Hinwegsehen,

das Übersehen des Opfers und seines Leides

und die Verharmlosung des Täters und seiner Tat:

Das ist ein Mechanismus, mit dem immer schon

Verbrechen zugunsten eines größeren Gutes verharmlost wurden,

auch und gerade in der Kirche.

Ein Mechanismus, durch den auch die Täter,

die Kinder, Jugendliche oder von ihnen Abhängige

sexuell missbrauchten oder ihnen Gewalt antaten,

viel zu lange davongekommen sind.


Diese Geschichte wird uns am Sonntag Judika zugemutet.

Iudica me, schaffe mir Recht,

ist der Ruf eines, der zum Opfer geworden ist.

Heute wollen wir uns zumuten,

die Opfer und ihre Leiden wahrzunehmen.

Auch der Tod Jesu am Kreuz:

der Tod eines Friedfertigen und Unschuldigen,

den die Wut seiner Mitmenschen ans Kreuz schlug,

ist eine Ungeheuerlichkeit und eine Zumutung.


Der Unterschied zur Opferung Isaaks besteht darin,

dass Jesus diese Gewalt nicht von seinem Vater erlebte,

den er liebte und dem er vertraute,

sondern von seinen Mitmenschen.

Er wurde nicht gezwungen, den Weg ans Kreuz zu gehen,

sondern opfert sich aus freien Stücken

und in vollem Bewusstsein dessen, was ihn erwartete.


II

Die Zumutung der Geschichte von der Opferung Isaaks

ist eine dreifache:


Die erste Zumutung ist die Tat selbst:

dass ein Vater versucht, seinen Sohn zu töten -

und es beinahe getan hätte,

wäre ihm der Engel nicht in den Arm gefallen -,

und dass er diese Tat vorsätzlich und hinterhältig plant und begeht.


Abraham handelt vorsätzlich,

weil die Reise zu dem Berg, wo das Opfer stattfinden soll,

drei Tage lang dauert.

Drei lange Tage hat Abraham Zeit,

sich seine geplante Tat und ihre Folgen durch den Kopf gehen zu lassen -

und bleibt trotzdem dabei.


Abraham handelt hinterhältig,

weil er heimlich in aller Frühe mit seinen beiden Knechten

und seinem Sohn aufbricht, ohne irgendjemandem Bescheid zu sagen.

Am allerwenigsten Sara, seiner Frau, der Mutter seines Sohnes.

Weil er die beiden Knechte außer Sicht- und Hörweite zurücklässt,

damit sie nicht Zeugen seines Verbrechens werden können.

Und weil er seinem Sohn,

als er ihn nach dem offensichtlichen Fehlen des Opfertiers fragt,

eine ausweichende Antwort gibt.


Nun könnte man einwenden,

dass man unsere heutigen Maßstäbe nicht

an diese uralte Geschichte anlegen kann.

In der Bronzezeit dachte man anders über Gewalt,

über die Macht eines Vaters und über ein Menschenleben als heute.

Aber die Bibel lässt an keiner Stelle erkennen,

dass sie die Tötung eines Menschen als Kavaliersdelikt betrachtet.

Und Abrahams Heimlichtuerei deutet darauf hin,

dass ihm selbst das Unrechte seiner Tat bewusst war.


Die zweite Zumutung ist der Missbrauch des Vertrauens.


Wir denken bei dem Wort Missbrauch

an sexuellen Missbrauch und an die Missbrauchsfälle,

die in der Kirche bekannt geworden sind.

In einer Institution, die vom Vertrauen ihrer Mitglieder lebt

und eine Kultur des Vertrauens, der Nähe und der Offenheit pflegt,

wiegt ein solcher Vertrauensmissbrauch besonders schwer.


Die Taten konnten ja nur begangen werden,

weil die Opfer ihren Peinigern vertraut hatten.

Nur so hatten die sich ihren Opfern überhaupt nähern können.

Darum ist es so wichtig,

dass wir in der Kirche aufmerksam sind und bleiben:

Unsere Gemeinden, Gruppen und Einrichtungen

bieten ein ideales Umfeld für Täter,

die das Vertrauen von Menschen missbrauchen wollen.


Abraham missbraucht das Vertrauen seines Sohnes.

Ich frage mich, wie es nach der glücklichen Rettung Isaaks

mit Vater und Sohn weitergegangen ist:

Ob sie auf dem Rückweg ebenso einträchtig nebeneinander hergingen

wie auf dem Hinweg,

oder ob Isaaks Vertrauen in seinen Vater

nicht grundlegend erschüttert wurde.


Die dritte Zumutung ist das Abstreiten der Verantwortung.


Abraham, so scheint die Geschichte zu sagen,

war ja eigentlich gar nicht der Täter.

Er handelte nur auf Geheiß, in gutem Glauben.

Eigentlich ist Gott schuld; er hatte von Abraham verlangt,

seinen Sohn für ihn zu töten.


Hat er das?


„Gott stellte Abraham auf die Probe.”

Mit diesem Satz beginnt die Erzählung.

Die Probe besteht darin, dass Abraham mit Isaak

zu einem bestimmten Berg reisen

und dort ein Opfer darbringen soll.

Keine Rede davon, dass Isaak geopfert werden soll.


Nun könnte man sagen: Das versteht sich doch von selbst.

Das ist doch die Probe, worin sollte sie sonst bestehen?

Dafür spricht, dass Abraham nach der Tat gelobt wird:

„Jetzt erkenne ich, dass du gottesfürchtig bist

und mir deinen einzigen Sohn nicht vorenthalten hast.”

Und dass anschließend ein Opfertier bereit gestellt wird,

von dem es im hebräischen Text heißt, es sei ein „zweiter Widder”,

sodass man folgern muss, Isaak wäre der erste gewesen.


Aber muss man nicht erwarten,

dass ein so ungewöhnlicher und außerordentlicher Befehl wie der,

seinen eigenen Sohn zu töten, auch ausgesprochen wird?

Isaak ist Saras und Abrahams Wunschkind,

das sie im hohen Alter durch ein Wunder noch bekamen.

Aus ihm soll einmal das Volk Gottes entstehen.

Wenn dieser so wichtige Mensch geopfert werden soll,

müsste das doch ausdrücklich gesagt werden.


Könnte es sich nicht auch um ein Missverständnis

oder um Fanatismus von Seiten Abrahams handeln?

Schließlich haben sich Kreuzritter und Djihadisten,

Terroristen und Attentäter zu allen Zeiten auf Gott berufen,

der ihnen angeblich ihre schrecklichen Taten befohlen hätte.

Und zu allen Zeiten gab und gibt es Gläubige,

die meinen, Gott verlange Opfer von ihnen.

Darum saßen einige der ersten Christen jahrelang auf Säulen

oder zogen sich in die völlige Einsamkeit der Wüste zurück.

Darum wurden Frauen, Männer und Kinder zu Märtyrern.

Darum fügten Gläubige sich Schmerzen zu,

indem sie sich geißelten, sich kratzige Unterwäsche anzogen

oder sich Steine in die Schuhe legten.


Die Antwort auf die Frage,

ob es tatsächlich Gottes Wille war,

dass Abraham seinen Sohn tötet -

bzw. ihn glauben ließ, er würde es tun -,

oder ob das Abrahams eigener Entschluss war,

lässt sich nicht eindeutig beantworten.

Allerdings war es, Befehl hin oder her, Abrahams Entscheidung,

seinen Sohn zu opfern.


Gab Gott überhaupt den Befehl?

Wir können es nicht wissen,

wie wir auch nicht genau wissen können, was Gottes Wille ist.

Oder, besser gesagt: Gottes Wille ist nicht eindeutig.

Es gibt einen Spielraum der Auslegung,

und ich glaube fast, das ist von Gott so gewollt.

Ich glaube, dieser Spielraum: Das ist die Probe,

auf die Gott Abraham stellt.


Wenn man annehmen würde,

Gott hätte Abraham eindeutig befohlen, seinen Sohn zu opfern,

würde die Probe darin bestehen,

dass Gott wissen will, wen Abraham lieber hat:

Gott, oder seinen Sohn Isaak.

Abgesehen davon, wie absurd und kindisch diese Probe wäre:

Gott selbst hatte Sara und Abraham dieses Kind geschenkt.

Gott selbst hatte ein Interesse daran,

dass die Geschichte des Glaubens,

die er mit Abraham begonnen hatte,

weitergeht über viele Generationen, bis zu uns heute.

Mit dem Tod Isaaks wäre sie geendet, ehe sie begonnen hätte.


In unserem Text heißt es nur,

dass Abraham Gott seinen Sohn Isaak nicht vorenthalten sollte.

Ich verstehe das so: Gott wollte ihn kennen lernen.

Denn mit ihm sollte die Geschichte ja weitergehen.

Darum musste der Tag kommen,

an dem Isaak mit Gott in Beziehung tritt.

In der Bronzezeit geschah das durch ein Opfer.

Von Noahs Opfer nach der Sintflut heißt es ganz sinnlich:

„Gott roch den lieblichen Geruch.”


„Du hast mir deinen einzigen Sohn nicht vorenthalten.”

Um dieses Lob von Gott zu bekommen,

hätte Abraham seinen Sohn nicht fesseln

und in Todesangst versetzen müssen.

Es hätte gereicht, wenn er mit ihm zusammen

ein Opfer dargebracht hätte.

Ein Opfertier, das zeigt die Geschichte,

hätte sich dafür gefunden.


III

Hat Abraham also den Test nicht bestanden?

Als Gott den „lieblichen Geruch” von Noahs Opfer riecht,

schwört er sich:

„Ich will hinfort die Erde nicht mehr verfluchen um der Menschen willen;

denn das Dichten und Trachten des menschlichen Herzens

ist böse von Jugend auf.”

Abraham, der Stammvater des Glaubens

für Juden, Christen und Muslime, war auch nur ein Mensch.

Er ging davon aus, dass Gott das Opfer seines Sohnes von ihm verlangte.

Dass aber Abraham so dachte heißt nicht,

dass Gott dieses Opfer gefordert hätte.


Vielleicht darf man das Opfer,

das Jesus mit seinem Kreuzestod gebracht hat,

auch so verstehen: Er wollte damit Opfer überflüssig machen.

Jesus wollte, dass wir aufhören, andere zu Opfern zu machen

und uns selbst aufzuopfern,

indem er sich für uns opferte:

Ein Opfer, das wir nicht überbieten können.

Er ließ sich aus Liebe zu uns ans Kreuz schlagen,

um uns zu zeigen, dass Gott keine Opfer von uns verlangt,

sondern uns so sehr liebt, dass er seinen einzigen Sohn hergab,

damit wir alle durch den Glauben an ihn erlöst werden.


Erlöst von unseren düsteren Phantasien über einen Gott,

der Menschen zu Opfern macht.

Erlöst von Erfahrungen der Gewalt, des Missbrauchs, der Demütigung.

Erlöst dazu, neue und andere Erfahrungen mit Gott

und mit unseren Mitmenschen zu machen.