Samstag, 24. November 2018

mutabor

Predigt am Ewigkeitssonntag, 25.11.2018, über Jesaja 65,17-25

„Siehe, ich will einen neuen Himmel und eine neue Erde schaffen,
dass man der vorigen nicht mehr gedenken
und sie nicht mehr zu Herzen nehmen wird.”

Liebe Schwestern und Brüder,

wozu braucht es eine neue Erde?
Ist die, auf die wir leben, nicht gut genug?
Und gibt es nicht Momente, an denen man sagt:
Wie wunderbar ist diese Welt!

Heute, wo wir uns an die schmerzhaften Abschiede des zurückliegenden Jahres erinnern,
fällt es schwer, das Schöne im Leben, das Wunderbare dieser Welt zu erkennen.
Manche*r fragt sich, ob es überhaupt wieder so schön werden kann, wie es einmal war.

Das Schöne, das wir miteinander erlebt haben; das gemeinsame Staunen über das Wunder, das unsere Erde ist, verband uns mit denen, die wir jetzt vermissen.
Das Staunen und das Schöne erlebte man wohl am intensivsten während gemeinsamer Urlaubsreisen.
Darum denken so viele beim Abschied gerade daran zurück.

Im Urlaub, da erlebt man besonders, wie schön die Welt sein kann.
Da wünscht man sich keine andere, keine bessere Welt.


I. Die Welt kann so schön sein.
Trotzdem spricht Jesaja von einem neuen Himmel und einer neuen Erde.
Wenn die Welt neu werden muss, kann an der Welt, wie sie ist, etwas nicht stimmen.
In dem, was Jesaja von der neuen Welt erwartet, kommt zum Ausdruck, was an unserer Welt nicht richtig ist.

Da sind zunächst Trauer und Leid.
Für uns heute ist es die Trauer über den Verlust eines geliebten Menschen.
Jemand anders trauert darüber, dass ihm die Liebe abhanden kam, oder der Glaube.
Eine Krankheit kann in tiefe Trauer stürzen.
Der Verlust einer Fähigkeit:
Etwas, was man vorher noch konnte, kann man plötzlich nicht mehr.
Durch einen Unfall, durch eine Krankheit, durch das Alter ging diese Fähigkeit und damit ein Stück Selbständigkeit verloren.

Jesaja erwartet auch, was sich wohl jede*r wünscht:
Dass der Tod nicht mehr wie ein Verhängnis über uns kommt.
Dass keine Kinder mehr sterben müssen, die das Leben noch gar nicht kennen lernen konnten.
Dass der Tod einen Menschen nicht mitten aus dem Leben reißt.
Und dass auch ältere Menschen ihr Leben auskosten dürfen, solange es ihnen Spaß macht und sie Pläne und Hoffnungen haben.
Ein Traum wäre es, wenn man so lange leben dürfte, bis man den Tod nicht mehr fürchtet, sondern wie einen guten Freund begrüßt.

Jesaja träumt schließlich von einem Ende der Entfremdung der Arbeit:
Nicht für jemand anders arbeiten zu müssen, der sich mit den Früchten meiner Arbeit schmückt, sie in seinem Namen verkauft.
Keine Arbeit verrichten zu müssen, die eintönig ist.
Sondern dass die eigene Arbeit auch einem selbst zugute kommt.
Vielleicht träumen deshalb so viele vom eigenen Haus, dem eigenen Garten:
Was ich da arbeite, kommt mir selbst und meiner Familie zugute.


II. Die Sehnsüchte und Träume Jesajas kann man verstehen.
Es sind auch unsere Sehnsüchte und Träume.
Aber warum sollte man zu ihrer Erfüllung auf eine neue Erde warten?
Sie lassen sich doch auf unserer Erde, sie lassen sich doch hier und jetzt verwirklichen!
Wir sind schon längst dabei, unsere Welt besser zu machen.
Im Bereich der Lebenserwartung wurde viel erreicht:
In unserem Land ist die Kindersterblichkeit sehr gering, und die Lebenserwartung enorm gestiegen.

Aber aller Fortschritt kann nicht verhindern, dass Menschen sterben müssen.
Und er kann auch nicht verhindern, dass Menschen einander Leid zufügen.
Er verhindert nicht, dass man zuerst an sich denkt und sich selten über die Folgen seines Tuns Gedanken macht.

Immer wieder gab es Menschen, die das, was von unserer Seite aus das Leben beschwerlich oder leidvoll macht, ändern wollten.
Sie wollten den Menschen umerziehen, wollten ihn besser machen mit sanfter oder brutaler Gewalt.
Nie ist es gelungen.
Diese Versuche brachten schreckliches Leid - aber keine Veränderung zum Besseren.

In unserer Welt, so schön, wie sie ist, steckt der Wurm drin.
Und dieser Wurm, das sind wir.
Wir richten unsere schöne Welt zugrunde,  wie man am Klimawandel und am Insektensterben sehen kann.
Und gleichzeitig werden wir von unserer Welt zugrunde gerichtet, weil wir den in ihr geltenden Gesetzen unterworfen sind.
Zu diesen Naturgesetzen gehört, dass alles Leben endlich ist und dass niemand voraussehen kann, wann dieses Ende kommt.


III. Unsere Welt, in der wir leben, und wir selbst sind nicht zu ändern.
Jedenfalls nicht so, dass dadurch etwas grundsätzlich anders wird.
Darum muss es ein neuer Himmel und eine neue Erde sein.
Aber wie soll das gehen?
Und was nützt es uns?
Denn soviel ist doch klar: Der neue Himmel und die neue Erde, die Jesaja kommen sieht, die kommen erst nach unserem Tod.
Sie erwarten unsere Gestorbenen.
Sie sind dorthin unterwegs.
Und wir werden eines Tages wieder mit ihnen vereint sein unter einem neuen Himmel, auf einer neuen Erde.
Bis dahin kann man nichts tun - außer zu warten und auszuhalten, dass die Welt so ist, wie sie ist.
Und die schönen, glücklichen, wunderbaren Momente in ihr zu genießen, die so schnell wieder vorüber sind.

Es ist wahr:
Den neuen Himmel, die neue Erde können wir nicht herstellen.
Das kann nur Gott.
Alle neuen Welten und tausendjährigen Reiche, die Menschen erschaffen wollten, wurden zu einem Alptraum - zunächst für die, die nicht dabei sein durften, und am Ende für alle.
Eine neue Welt ohne Leid und Schmerz kann nur Gott schaffen.
Auf diese neue Welt warten wir.
Aber sie kommt nicht erst am Ende der Zeiten, beim Jüngsten Gericht.
Gott erschafft diese neue Welt bereits - wenn wir ihn machen lassen.

Wenn wir Gott machen lassen, kann er uns verwandeln.
Und das wird die Welt verwandeln.
Denn jede Veränderung beginnt bei mir selbst.
Aus den schönen, neuen Welten, die Menschen sich erdachten und erträumten, wurde auch deshalb nichts, weil immer andere sich dafür ändern sollten, aber nie die, die sie sich ausdachten.

Wenn die Welt sich wandeln soll, müssen zuerst wir anders werden.
Aus eigener Kraft, durch eigenen Willen können wir das nicht.
Aber Gott kann uns verändern.
Gott kann uns menschlich machen.
Wenn wir menschlich werden, weicht das Unmenschliche zurück.
Mit unserer Menschlichkeit berühren wir andere, stecken sie mit unserem Vorbild an:
so verwandelt sich die Welt.


IV. Heute stehen wir noch einmal an den Gräbern der Menschen, die wir liebten.
Wir denken zurück und staunen, wie sehr wir uns durch sie verändert haben - wie sehr wir uns ihretwegen verändert haben.
Unsere Verstorbenen haben uns verändert.
Nicht immer nur zum Besseren. Nicht alles war gut.
Nicht jede Veränderung, zu der sie uns bewegten oder die wir ihnen zuliebe an uns vornahmen, tat uns gut.
Aber wenn wir sie geliebt haben, dann haben wir viel von ihnen bekommen.
Und wenn sie uns geliebt haben, dann hat uns das verwandelt, uns zu anderen, vielleicht besseren Menschen gemacht.

Die Liebe verwandelt Menschen.
Macht sie menschlicher, einfühlsamer, fähig zu Mitleid und Vergebung.
Gott liebt uns über alles.
Deshalb kann seine Liebe uns verwandeln, uns zu anderen, vielleicht besseren Menschen machen.
Und wenn wir Gott lieben - weil wir glauben, dass Gott uns über alles liebt und erkennen, wie gern er uns hat - bekommen wir etwas von Gott.
Wir bekommen so viel, dass wir nichts weiter brauchen.
So viel, dass wir überfließen von Freundlichkeit und Mitgefühl.
Davon werden andere berührt, davon werden sie angesteckt.
So verwandelt Gott die Welt: indem er uns verwandelt.


V. Diese Verwandlung geschieht jetzt, geschieht heute und hier.
Gottes Welt ist im Werden.
Sie beginnt, wo Menschen von Gottes Liebe ergriffen werden.
Und wo sie beginnen, Gott zu lieben.
Weil sie erkannt haben, dass sie Gott alles verdanken.

Wir stehen bereits an der Schwelle zu dieser neuen Welt Gottes.
Unsere Verstorbenen stehen auf der anderen Seite, wir können uns beinahe die Hand reichen.
Das Leben in dieser Welt trennt uns von ihnen.
Und die Liebe verbindet uns.
Die Liebe schlägt die Brücke hinüber und herüber.
Bis wir eines Tages miteinander erwachen unter einem neuen Himmel, auf einer neuen Erde.
Amen.

Mittwoch, 14. November 2018

Pie in the Sky

Predigt am Vorletzten Sonntag des Kirchenjahres, 18.11.2018, über Offenbarung 2,8-11:

Dem Engel der Gemeinde in Smyrna schreibe:
Das sagt der Erste und der Letzte,
der tot war und lebendig wurde:
Ich weiß von deiner Bedrängnis und Armut -
und doch bist du reich -
und von der üblen Nachrede derer,
die behaupten, Juden zu sein.
Aber sie sind es nicht,
sondern eine Satansgemeinde.

Habe keine Angst vor dem, was du erleiden wirst.
Es wird ja der Teufel einige von euch ins Gefängnis werfen,
damit ihr zehn Tage lang geprüft werdet und Bedrängnis erleidet.
Sei treu bis zum Tod,
und ich werde dir die Krone des Lebens geben.

Wer hören kann, höre, was der Geist den Gemeinden sagt.
Wer [das alles] aushält,
dem kann der zweite Tod nichts mehr anhaben.


Satansgemeinde!
Teufel!

Liebe Schwestern und Brüder,

wie kommt man dazu, jemanden zu verteufeln?
Was ist geschehen, dass man jemanden bezichtigt,
mit der Dunklen Seite, mit dem Bösen selbst im Bunde zu sein? (=> I.)

Sind Gerüchte ein hinreichender Grund dafür?
Dass jemand nicht das glauben will, was man selbst glaubt?
Offenbar. (=> II.)

Für eine erbitterte Feindschaft genügt oft weniger als das.
Aber steht es Christen zu,
so über andere zu urteilen und zu sprechen? (=> III.)

Kann man sich eine Notlage, eine Entscheidungssituation vorstellen,
in der es nur noch Gut oder Böse gibt, richtig oder falsch,
so dass man die Gegenseite geradezu verteufeln
und mit allen Mitteln bekämpfen muss? (=> IV.)


I. Der Seher Johannes schreibt den Brief an die Gemeinde in Smyrna
in einer für die Christen lebensbedrohlichen Situation:
Sie werden von den römischen Behörden verfolgt.
Christen sind in den Augen der Behörden anders als die Religionen, die man kennt.

Anders auch als die Juden, von denen sie sich offensichtlich abgespaltet hatten.
Die jüdische Gemeinde will jedenfalls nichts mit ihnen zu tun haben.
Sie distanziert sich öffentlich von den Christen
und verweigert ihnen die Nutzung ihrer Synagoge.

Christen verhalten sich auffällig
und machen sich damit selbst zu Außenseitern:
Sie verweigern Kaiserkult und Kriegsdienst
und nehmen nicht an den staatlichen Feiertagen teil.
Damit geben sie ideale Sündenböcke ab.
Wenn der Volkszorn hochkocht,
verhaftet man schnell ein paar Christen.
Man tötet sie oder, besser noch,
lässt sie im Zirkus von den Bestien zerfleischen.
Dann hat man die Volksseele für eine Weile beschwichtigt.

Der Feind der Christen sind der römische Staat und die Behörden,
die ihre Verfolgung anordnen und organisieren.
Der Staat wird in diesem Brief an die Gemeinde in Smyrna aber nicht benannt.
Es ist nur allgemein von „Bedrängnis” die Rede.
Der Teufel ist es, der die Christen ins Gefängnis wirft.
Dass mit dem Teufel der römische Staat gemeint ist,
lesen die Briefempfänger zwischen den Zeilen.
Offenbar traute man sich selbst in Briefen nicht,
die Dinge beim Namen zu nennen.

Statt dessen wird in diesem Brief die jüdische Gemeinde bezichtigt.
Neben den Teufel, den römischen Staat,
stellt der Brief die „Gemeinde des Satans”,
die jüdische Gemeinde in Smyrna.
Sie wird zu dem verteufelten Staat in Beziehung gesetzt
und damit selbst verteufelt.


II. Eine kleine Gruppe von Christen in einer verzweifelten Lage.
Mit der jüdischen Gemeinde, zu der sie einmal gehörten, haben sie sich zerstritten.
Dort finden sie keine Heimat, keinen Unterschlupf mehr.
Im Gegenteil: Wo sie kann, distanziert sich die jüdische Gemeinde von den Christen.
Denn es steht für sie viel auf dem Spiel.
Sie ist selbst nur geduldet und wird argwöhnisch beobachtet.
Die verfolgten Christen sind ehemalige Gemeindeglieder.
Da besteht die Gefahr, dass die Behörden Christen und Juden in einen Topf werfen.

Johannes kann oder will das Dilemma der jüdischen Gemeinde nicht sehen.
Er sieht nur die gefährliche Situation, in der die christliche Gemeinde sich befindet.
In ihrer Notlage macht er ihr Mut,
dass die Verfolgung nicht grenzenlos sein, sondern ein Ende haben wird.
Zehn Tage im Gefängnis können einem wie eine Ewigkeit vorkommen -
zumal, wenn es ein römisches ist.
Aber es ist absehbar, dass diese Zeit der Prüfung und Bedrängnis auch wieder vorübergeht.
Und selbst, wenn es in Smyrna dazu kommen sollte, dass Christen ermordet werden,
haben sie die Hoffnung auf das ewige Leben.

Hier stoßen wir auf ein Versprechen,
das sich wie ein blutig roter Faden durch die Geschichte zieht.
Auch im Mittelalter wurden die Bauern, die man bis aufs Blut auspresste,
auf den Himmel vertröstet.
Den afrikanischen Sklaven in Noramerika erzählte man vom „Pie in the Sky”,
dass es im Himmel Torte zu essen gäbe.
Und den Selbstmordattentätern von heute verspricht man ein Paradies,
in dem sich ihre erotischen Träume erfüllen werden.

Auf diese Weise zieht man den Himmel in den Dreck,
macht man die Hoffnung auf das ewige Leben zu einem schlechten Witz,
über den niemand mehr lachen kann.
Denn es ist ja offensichtlich, dass man den Menschen, denen man den Himmel verspricht,
für ihr Leben jetzt und hier nichts zu bieten hat -
nichts bieten kann oder nichts bieten will.
Darum verspricht man ihnen das Blaue vom Himmel,
das kostet ja nichts.

Andere zahlen dafür den Preis.
Denn um so verzweifelt an den Himmel glauben,
sein Leben so wegwerfen zu können,
braucht es einen sehr starken Antrieb: den Hass.
Den Hass auf einen Feind, der es wert ist, vernichtet zu werden.
Oder, wenn man ihn nicht vernichten kann,
soll er wenigstens ausgeschlossen sein vom Paradies, das einen erwartet.

Dieser Feind ist für Johannes nicht der römische Staat,
denn der ist zu mächtig, und außerdem interessiert ihn der Himmel der Christen nicht.
Dieser Feind ist die jüdische Gemeinde.


III. In allen Epochen der Geschichte kann man beobachten:
Hand in Hand mit dem falschen Versprechen eines besseren Lebens
in einer unerreichbaren Zukunft
geht die Verteufelung einer Gruppe von Menschen, die anders sind
und die man wegen ihres Andersseins zu Feinden stilisiert.
Und immer wieder trifft es dabei Menschen jüdischen Glaubens.
Im Himmel, den die Demagogen aller Zeiten so detailliert ausmalen können,
scheint kein Platz zu sein für das Volk Gottes.

Damit verrät sich das leere Versprechen eines besseren Lebens im Jenseits
als gottlose Ideologie.
Denn ein Himmel, der für das Volk Gottes keinen Platz hat,
der hat auch für Gott keinen Platz.
Und der hat, wenn man ehrlich ist, auch keinen Platz
für all die armen Schlucker, denen er versprochen wird.
Denn die, die solche Versprechungen machen,
genießen schon jetzt ihren Himmel auf Erden.

Jesus, der den Himmel auf die Erde holte
und sagte: „Das Reich Gottes ist mitten unter euch” (Lukas 17,21),
dem hatten es besonders die armen Schlucker angetan.
Das waren nicht nur die finanziell Armen.
Zu den armen Schluckern gehörten auch die reichen Zöllner.
Es waren die geistlich Armen.
Es waren die aus der Gemeinde Verstoßenen -
wie auch die ersten Christen aus der jüdischen Gemeinde ausgeschlossen worden waren.
Es waren die gesellschaftlich Geächteten,
mit denen man nicht verkehrte - außer gegen Bezahlung -,
von denen sich viele zur christlichen Gemeinde hielten.
Jesus gab mit seiner Hinwendung zu den Schwachen und an den Rand Gedrängten ein Beispiel.
Die Solidarität mit den Schwachen
und die Solidarität mit dem Volk Israel aufzukündigen -
das wäre Jesus niemals eingefallen.

Wie kann dann Johannes -
in dem die Tradition den Lieblingsjünger sieht, der an Jesu Brust gelegen hat -
etwas schreiben, das dem Willen Jesu derart widerspricht?

Johannes sieht die Christen in einer Auseinandersetzung auf Leben und Tod,
er sieht sie in einem Krieg, in dem es nur Freund oder Feind gibt.
Und im Krieg, so scheint es, sind alle Mittel recht.
„Wer nicht mit mir ist, ist gegen mich” (Matthäus 12,30) -
hatte nicht Jesus selbst das gesagt?
Aber er bezog es auf seine Person.
Johannes verlegt die Entscheidung auf die Ebene der Gemeinde:
Wer gegen die Gemeinde ist, der ist auch gegen Jesus.
Und wer gegen Jesus ist, der ist ein Teufel.


IV. Wir Christen befinden uns aber nicht im Krieg.
Im Namen des Christentums,
im Namen des Glaubens sind unzählige Kriege geführt worden,
bis hinein in unsere Gegenwart.
Das Leid, das dabei im Namen Gottes angerichtet wurde,
lässt sich nicht bemessen und nie wieder gut machen.
Das Christentum, die christliche Kirche steht tief in der Schuld fast aller Völker dieser Erde.

Jesus war der Gewalt gegenüber grundsätzlich misstrauisch:
„Wer das Schwert nimmt, soll durch das Schwert umkommen” (Matthäus 26,52), sagte er.
Der Auftrag der Christen ist es nicht,
sich gegen einen Gegner mit Gewalt durchzusetzen
oder den Glauben gegen angebliche Feinde mit Feuer und Schwert zu verteidigen.

Das Christentum hätte die Verfolgungen seiner Frühzeit fast nicht überlebt.
So viele Christen wurden wegen ihres Glaubens gefoltert und getötet.
So viele Christen widerstanden den Anfeindungen, den Repressalien,
dem Zwang, ihren Glauben zu verraten.
Sie wurden Märtyrer, zu deutsch: Zeugen eines Glaubens,
der nicht zum Schwert greift,
der nicht Gewalt mit Gewalt beantwortet,
sondern mit Liebe und Gebet.

Das Christentum überlebte, weil Christinnen und Christen an den Worten Jesu festhielten:
Sie übten sich in Toleranz.
Sie machten, zumindest am Anfang,
keinen Unterschied zwischen Männern und Frauen in den Gemeinden.
Sie luden die ein, die am Rand standen.
Damit verkörperten sie für viele eine bessere Alternative zum Bestehenden.
Was das Christentum anziehend machte,
war nicht die Aussicht auf den Himmel,
sondern auf ein besseres Leben im Hier und Jetzt.
Wobei „besser” nicht den Wohlstand meint,
den wir heute unter einem „besseren Leben” verstehen.
Sondern ein Ende von Gewalt und Unterdrückung.
Ein Ende der Versklavung von Menschen,
ein Ende der Unterscheidung von Herkunft, Hautfarbe oder Geschlecht.

Das alles bot die christliche Gemeinde damals,
und das bietet sie heute auch.
So verkörpert sie bis heute eine Altarnative zum Bestehenden.
Denn immer gibt es Gruppen,
die sich zusammentun, um ihre Interessen zu „verteidigen”.
Die sich also in einem Krieg wähnen,
die einen Krieg anzetteln gegen jene,
die ihre Interessen zu gefährden scheinen.

In diesem Krieg der Interessen sollte der Platz der Christen auf Seiten der Opfer sein.
An der Seite derer, die zu schwach sind und sich nicht selbst verteidigen können.
Sie sollten als Märtyrer, als Zeugen, den Opfern zu Seite stehen.
Christen sollten diesen Platz ohne Waffen einnehmen.
Ohne die Mittel und den Willen, sich selbst zu verteidigen oder zu wehren.
Denn man kann den Krieg nur beenden,
wenn man das Kämpfen aufgibt und das Schwert fallen lässt.


V. Wer schwach ist, wer anders ist, wer Außenseiter ist, wird verfolgt.
Solange Christen Außenseiter waren, wurden sie verfolgt.
Und wann immer Christen Positionen von Außenseitern vertreten,
sich an die Seite von Außenseitern stellen, werden sie verfolgt.

Als das Christentum Staatsreligion wurde,
vergaßen die Christen, wo ihr Platz war.
Sie waren jetzt die Herren, die mit der Macht der Mehrheit
Minderheiten verfolgten und bekämpften.

Heute, wo wir als Christen nicht mehr die fraglose Mehrheit der Gesellschaft sind,
haben wir die Chance, uns auf unseren Platz in der Gesellschaft zu besinnen.
Und den Platz einzunehmen, den Jesus für uns vorgesehen hat:
Nicht am Haupt der Tafel, nicht in der vordersten Reihe,
sondern bei den Hinterbänklern, den armen Schluckern
und draußen bei denen, die gar nicht erst eingeladen wurden.

Außerdem ist unser Platz immer und zu allen Zeiten
an der Seite unserer jüdischen Geschwister.
Denn in das Reich Gottes, auf das wir warten,
werden wir nur mit ihnen gemeinsam gelangen -
oder gar nicht.

Amen.

Samstag, 10. November 2018

Sehen und gesehen werden


Predigt am Drittletzten Sonntag des Kirchenjahres, 11.11.2018, über Hiob 14,1-6:

Der Mensch wird von einer Frau geboren.
Seine Lebenszeit ist kurz.
Sie ist voll Unruhe.
Wie eine Blume, die aufblüht und verwelkt,
eilt [der Mensch] dahin.
Wie der Schatten [auf der Sonnenuhr], der nicht stehen bleibt.
Auch ihn beobachtest du genau.
Und mit mir gehst du [sogar] ins Gericht!
Wenn es doch einen Reinen gäbe, der nicht unrein wäre.
Aber es gibt keinen.
Hast du die Lebenszeit eines Menschen
und die Zahl seiner Monate festgelegt,
dann hast du ihm eine Deadline gesetzt,
die kann er nicht überschreiten.
Schau weg von ihm, dann hört er auf [unrein zu sein (?)],
bis er sich freut, wie ein Lohnarbeiter auf seinen Tag*.

__________
* An dem er frei hat? An dem er seinen Lohn erhält?



Liebe Schwestern und Brüder,

wenn man jemanden anstarrt, kann man ihn nervös machen.
Sie haben sicher schon erlebt, wie unsicher man wird,
wenn einen jemand anstarrt.
Besonders, wenn man bei der Arbeit beobachtet wird.
Da wird man unkonzentriert, da unterlaufen einem Fehler.
Schon kleine Kinder mögen es überhaupt nicht, wenn man sie beobachtet.
Dabei gibt es für Omas und Opas nichts Schöneres,
als ihren Enkelkindern zuzuschauen.

I. Gott sieht alles.
Gott starrt uns permanent an.
Sieht uns immer zu,
sogar, wenn wir unter der Dusche stehen.
Das mag man sich gar nicht vorstellen.

Manchmal hat man es gern, gesehen zu werden.
Da sehnt man sich geradezu danach, dass jemand hinsieht.
Das Kunststück bewundert, das man gelernt hat.
Die neue Frisur.
Die Eins, die man auf die Klassenarbeit bekam.

Manchmal möchte man lieber nicht gesehen werden.
Wenn man gerade aufgestanden ist.
Wenn man sich bekleckert hat.
Wenn man geweint hat.

Ist Gott so höflich, dass er in solchen Situationen wegschaut,
oder guckt er gerade hin, wenn einem etwas Peinliches passiert?
Fühlen wir uns durch sein Hinschauen unbehaglich,
fühlen wir uns beobachtet,
oder fühlen wir uns von seinem Blick geschmeichelt und bestärkt?

II. So viele Fragen!
Ausgelöst hat sie der Predigttext aus dem Buch Hiob.

Hiob - das war ein Mensch,
auf den Gott gern und voller Stolz sah.
Gott war mit Hiob sehr zufrieden.
Denn Hiob war ein Gerechter.
Er war einer, der tat, was Gott von ihm verlangte:
Er erfüllte die Gebote.
Er tat Gutes.
Er führte ein frommes und gottesfürchtiges Leben.

Aber eines Tages schlägt der Teufel Gott eine Wette vor.
Der Teufel behauptet,
Hiob würde sofort vom Glauben abfallen, wenn ihm Böses widerfährt.
Gott geht auf diese Wette ein.
Hiob verliert auf einen Schlag alles, was er hat.
Er selbst wird schwer krank.
Er leidet an einer ansteckenden Hautkrankheit,
sodass sich niemand mehr in seine Nähe wagt.
Am Ende sitzt Hiob in der Asche
und schabt mit einer Scherbe seine wunde Haut.
Trotzdem fällt er nicht vom Glauben ab.
Aber er klagt.
Hiob klagt Gott an.
Er kann nicht verstehen,
warum ihm, dem Guten, so viel Böses widerfahren ist.

Hiob beklagt nicht nur sein Schicksal,
sondern das aller Menschen.
Und es scheint, als habe seine und unsere Misere damit zu tun,
dass Gott alles sieht.
Gott schaut hin.
Gott schaut zu genau hin.
Unter Gottes Augen fühlt sich Hiob bloßgestellt.
Denn wenn Gott ihn ständig beobachtet,
sieht er auch, wenn er einen Fehler macht.
Es geht ja gar nicht anders - irgendwann macht jeder mal einen Fehler.
Und den sieht Gott natürlich, wenn er alles sieht.

Hiob findet das unfair.
Darum bittet er Gott, wegzusehen,
damit er nicht jeden Fehler mitbekommt, den man so macht.
Wenn Gott nicht ständig hinsieht,
ist man vielleicht auch nicht so nervös,
und dann macht man auch nicht so viele Fehler.

Ist Gott wirklich so streng, wie Hiob ihn darstellt?
Wenn Gott alles sieht, dann sieht er auch das,
was man lieber nicht zeigen würde.
Was einem peinlich ist, wofür man sich schämt.
Und natürlich nützt es nichts, sich zu verstecken.
Gott sieht einen überall.
Überall müssen ihm unsere Fehler und Schwächen auffallen.
Uns stehen sie ständig vor Augen.
Wir sehen sogar im Dunkeln, was wir an uns nicht mögen.
Gott kann doch gar nicht anders, als das auch zu sehen!
Selbst, wenn er ein Auge zudrücken wollte -
wer alles sieht, kann das nicht.

Eltern und Großeltern sehen auch immer alles.
Sie sehen sofort, wenn man mit den neuen Sachen draußen war -
obwohl man sich doch so vorgesehen hat!
Sie sehen sofort, dass der Teller kaputt ist,
obwohl man die beiden Hälften so geschickt in den Stapel zurückgeschoben hat.
Eltern und Großeltern kriegen immer raus,
wenn man etwas getan hat, was man nicht tun sollte.
Wie machen sie das nur?

Eltern und Großeltern sehen vieles, aber nicht alles.
Und öfter, als Kinder und Enkel es ahnen, drücken sie ein Auge zu.
Statt die Fehler zu korrigieren,
freuen sie sich über das, was das Kind geschrieben hat,
obwohl die Rechtschreibung sehr originell ist.
Statt eine Leistung zu schmälern oder mit anderen zu vergleichen,
loben und ermutigen sie das Kind für das, was es schon kann,
obwohl das, was es kann, für einen Älteren nicht der Rede wert wäre.

Und dann gibt es noch den Liebsten oder die Liebste.
Die sieht auch alles.
Die sieht uns so, wie uns sonst keiner sieht:
Noch ganz zerknautscht und zerstört morgens nach dem Aufstehen.
In Tränen aufgelöst, verzweifelt.
Manchmal in einer peinlichen Situation.
Und er, sie liebt uns trotzdem.
Er, sie findet uns trotzdem schön.
Und sieht Seiten an uns, die wir nicht sehen können.
Und findet schön, was wir an uns nicht leiden können.

IV. Jesus sagt, dass wir Gott „Vater” nennen sollen.
Weil Gott unser Vater ist, sieht er alles,
aber er drückt auch mal ein Auge zu.
Gott sieht, was wir falsch gemacht haben,
aber er misst uns nicht an unseren Fehlern,
sondern an unseren Möglichkeiten.
Das bedeutet nicht, dass Gott gleichgültig wäre, was wir tun.
Oder dass Gott Schuld nicht erkennen,
Falsches nicht falsch nennen würde.
Vielmehr bedeutet es, dass Gott unterscheidet zwischen uns und der Schuld.
Die Schuld verurteilt er.
Aber uns liebt er.

Gott sieht uns an und entdeckt unsere Fähigkeiten.
Gott entdeckt die Schönheit, die jede und jeder von uns besitzt.
Denn Schönheit entsteht im Auge des Betrachters.
Wenn jemand einen anderen Menschen voller Liebe ansieht,
dann ist dieser Mensch schön.
Wenn Gott uns liebevoll ansieht, werden wir schön.

Aber wenn es uns so ergeht wie Hiob?
Wenn uns ein Unglück widerfährt,
wenn wir verlieren, was wir lieben,
wenn wir krank werden, sterbenskrank vielleicht sogar:
Was hilft es uns dann, dass Gott uns sieht?
Wir fühlen uns in unserem Elend bloßgestellt,
fühlen uns ausgeliefert und preisgegeben.

Auch Eltern können manchmal bloß zusehen.
Zwar, wenn das Kind sich weh tat,
können sie pusten und ein Pflaster aufkleben.
Aber wenn es ins Krankenhaus muss,
können sie nur hilflos neben dem Bett sitzen.
Und es ist so wichtig, dass sie neben dem Bett sitzen!
Dass sie ihre eigene Hilflosigkeit aushalten,
es aushalten, dass sie nichts tun können außer sitzen und schauen.
Weil ihr Kind das jetzt braucht, um gesund zu werden
oder um die Verzweiflung der Krankheit zu ertragen.
Hinsehen heißt nämlich auch, dass man nicht wegsieht -
obwohl man das vielleicht lieber täte.
Hinsehen heißt, wahrzunehmen, wie es dem anderen geht
und es auszuhalten, dass es ihm nicht gut geht
und dass man nichts daran ändern kann.
Aber man kann es sehen und ertragen
und dem anderen so tragen helfen,
was nicht zu ertragen ist.

So sieht Gott auf uns.
Gott sieht uns, wenn wir Angst haben.
Gott sieht uns, wenn wir verzweifelt sind.
Gott sieht uns, wenn wir keinen Glauben, keine Hoffnung mehr haben.
Und Gott hält das aus.
So hilft er uns tragen, was nicht zu ertragen ist.
So hilft er uns, in der größten Dunkelheit ein Licht zu sehen.

V. Hiob kann das nicht so empfinden.
Er fühlt Gottes strengen, kritischen Blick auf sich,
weil er Gott die Schuld an seinem Elend gibt.
So geben manchmal auch Kinder ihren Eltern die Schuld für das,
was aus ihnen geworden oder nicht geworden ist.
Und Eltern geben sich manchmal selbst die Schuld für das,
was ihren Kindern widerfahren ist, worunter sie leiden,
was sie zu viel und zu wenig von ihnen bekamen.

Auch Gott gibt sich die Schuld.
Gott gibt sich die Schuld aller Menschen
und lässt sich dafür von ihnen ans Kreuz nageln.
Und überlebt auch das.
Gott hält nicht nur unsere Wut aus, unsere Anklage, unsere Verzweiflung -
nicht, weil er so herzlos und kalt wäre,
so unendlich weit entrückt allem Irdischen und Menschlichen, sondern -
weil Gott uns unendlich liebt.
Gott hält auch aus, dass wir ihm die Schuld geben.
Er nimmt sie auf sich,
damit wir uns selbst nicht mit Schuld belasten müssen
und damit wir anderen keine Schuld aufladen müssen.

Wenn wir das glauben können,
werden wir entdecken, dass Gott liebevoll auf uns sieht.
Dass er uns schon immer so angesehen hat
und uns immer so ansehen wird.
Amen.

Freitag, 9. November 2018

Traueransprache

Traueransprache über Psalm 104,24:

„Herr, wie sind deine Werke so groß und viel!
Du hast sie alle weise geordnet,
und die Erde ist voll deiner Güter.”

Liebe Angehörige,
liebe Trauergemeinde,

der 104. Psalm spricht von der Ordnung der Welt.
Für den Psalmdichter ist das keine zufällige Ordnung.
Die Welt ist von Gott eingerichtet und geordnet worden.
Wie der Mensch den Acker bestellt
und im Garten Gemüse und Blumen anpflanzt,
hat Gott die Welt geordnet,
damit Gras für das Vieh wächst
und für den Menschen Brot und Weintrauben.
Auch Werden und Vergehen sind kein Zugfall.
Sie folgen dem göttlichen Plan.

Indem man Ordnung schafft, versucht man auch,
sein Leben zu ordnen.
Das fängt bei der Küchengestaltung an -
jeder hat da sein System, wie er Besteck und Geschirr einräumt,
wo die Gewürze hinkommen und wo Mehl und Reis.
Es geht weiter über die Gestaltung des Wohnzimmers, des Bades, der Abstellkammer
und hört nicht auf bei den Lebensgewohnheiten -
wann man aufsteht, was man dann als erstes tut,
wie man sich sein Frühstück zubereitet.
Jeder Mensch macht das anders.
Als Kind übernimmt man manche dieser Gewohnheiten von seinen Eltern.
So kann man sich in einer Familie einigermaßen zurechtfinden,
und zugleich hat jede Familie dadurch eine Art Handschrift, eine Signatur
in der Weise, wie sie die Dinge des Alltags einsortiert.
Durch diese Handschrift erinnert man sich an seine Eltern.

Neben diese persönlichen Ordnung der Familie tritt die staatliche Ordnung.
In die wächst man hinein, angeleitet durch Kindergarten und Schule.
Und manchmal muss man sich neu sortieren und orientieren,
wenn die staatliche Ordnung sich grundlegend ändert.
N.N. hat eine solch grundsätzliche Veränderung der Ordnung
in ihrem Leben vier Mal erleben und durchmachen müssen.

Hineingeboren wurde und hineingewachsen ist sie in die Weimarer Republik.
Ihre Eltern hatten noch das Kaiserreich erlebt,
und der Vater die Schrecken des ersten Weltkrieges.
Als N.N. in die Schule kam, brach das sogenannte „Dritte Reich” an.
Die staatliche Ordnung hatte sich grundsätzlich geändert.
Aus einer Demokratie war ein totalitärer Staat geworden,
eine Diktatur, die bald begann, ihre Bürger mit Terror einzuschüchtern.
Aber das war nicht gleich zu merken.
Als man es merkte, war es zu spät.
Da waren die Vorbereitungen zum zweiten Weltkrieg längst im Gange,
in den N.N.s Vater noch einmal hineingezogen wurde.
Da brannten am 9. November 1938 die Synagogen,
zerklirrten die Scheiben jüdischer Geschäfte,
verschwanden jüdische Nachbarn und Kollegen.

Und dann kam die nächste Umwälzung,
kam mit der Gründung der DDR die dritte neue staatliche Ordnung, die N.N. erlebte.
Wieder wurde alles anders,
wieder merkte man es nicht gleich.
Aber bald war der Unterschied zu Westdeutschland nicht mehr zu übersehen.
Viele Menschen ergriffen damals die Gelegenheit zur Übersiedlung in den Westen.
Manche ließen dabei sogar ihre Familien,
ließen Frau und Kinder zurück.

Als N.N. dann in den Ruhestand eintrat, kam die Wende
und damit der vierte Wechsel der staatlichen Ordnung, den sie erlebte.
Alle, die vor der Wende geboren wurden, haben erlebt,
was ein solcher Systemwechsel bedeutet.
Wie viel sich da gerade für einen persönlich verändert,
auch wenn äußerlich scheinbar alles gleich bleibt -
man wohnt weiterhin im selben Haus,
hat die selben Nachbarn, die selben Kollegen.
Und doch wird alles anders.
Den „Konsum” gibt es auf einmal nicht mehr,
den Betrieb, in dem man so lange gearbeitet hatte, auch nicht.
Die Politiker haben andere Gesichter,
die Behörden heißen jetzt anders und funktionieren auch anders.
Und vieles von dem, was man als „Wahrheit” in der Schule lernte,
gilt nicht mehr, ist sogar falsch.

Die Wende war für alle, die sie erlebten, ein Einschnitt.
N.N. hat vier solcher Wenden mitmachen müssen.
Man kann sich kaum vorstellen, wie sie diese Einschnitte verkraftet hat.
Es waren nicht nur diese Wechsel der äußerlichen Ordnung,
die sie verarbeiten musste.
Auch im persönlichen Bereich musste sie Herausforderungen bestehen.
Das waren gute wie ihre erste große Liebe,
wie der Umzug ins neu gebaute Haus,
wie die Geburt ihres Kindes.
Und es waren schwere, an denen man zerbrechen konnte.

(…)

„Nimmst du weg ihren Odem,
so vergehen sie und werden wieder Staub.
Du sendest aus deinen Odem,
so werden sie geschaffen
und du machst neu die Gestalt der Erde.”

Mit dem Tod hört alle Ordnung auf.
Der Körper löst sich auf, vergeht.
Nach ein paar Jahren ist nichts mehr davon da.
Dieser Auflösung der Ordnung durch den Tod
setzen wir eine Ordnung entgegen, das ist die Erinnerung.
In der Erinnerung halten wir den Menschen fest,
den wir körperlich verloren haben.
So halten wir fest, wer N.N. für uns war.
Wir können nicht alles festhalten, nicht ihr ganzes Leben.
Vor allem nicht den Teil des Lebens, der ihr allein gehörte.
Wir können nur das festhalten, was wir mit ihr teilten.
Aber wie klein oder wie groß dieser Teil auch ist,
wie kurz oder oberflächlich unsere Bekanntschaft mit ihr auch gewesen ist:
Jede Erinnerung ist ein Stück Ordnung,
die wir dem Tod, der Auflösung aller Ordnung, entgegen setzen.
Damit setzen wir dem Tod eine Grenze,
weisen wir íhn in seine Schranken.

Als Christinnen und Christen setzen wir dem Tod nicht nur die Erinnerung entgegen.
Wir haben die Ordnung Gottes auf unserer Seite,
die dem Tod seinen Ort und seine Grenze zuweist.
Und wir setzen dem Tod die Auferstehung entgegen,
den endgültigen Sieg des Lebens über den Tod.
Wir glauben, dass Gott jenseits des Todes eine neue Ordnung schaffen kann und schaffen wird.

Auch wir Menschen versuchen, neue Ordnungen zu schaffen.
N.N. hat vier solcher Versuche erlebt und erlitten.
Unsere menschlichen Ordnungsversuche grenzen Menschen aus
und bringen Leid über die, die nicht hineinpassen.

Gottes Ordnung schließt nicht aus, sondern ein.
Sie umfasst alle Menschen, Lebende und Tote.
In Gottes neuer Welt wird N.N. zu einem neuen Leben erwachen,
befreit von Angst und Schmerz, von Kummer und Leid.
Befreit auch von allen Irrtümern,
vom Korsett der Ordnungen, das sie sich selbst angelegt hat.
Wieder vereint mit allen, von denen sie getrennt war.

Dieses neue Leben erwartet auch uns.
Eines Tages werden wir uns wiedersehen.
Bis es soweit ist, können wir angesichts der Unordnung der Welt
und der Unordnung des Todes auf Gottes Ordnung vertrauen.
Sie gibt uns Mut und Kraft zum Leben,
wie es das Psalmwort sagt:

„Herr, wie sind deine Werke so groß und viel!
Du hast sie alle weise geordnet,
und die Erde ist voll deiner Güter.”

Freitag, 2. November 2018

Von der Pflicht zum Gehorsam gegenüber dem Staat

Predigt am 23. Sonntag nach Trinitatis, 4.11.2018, über Römer 13,1-7:

Jeder muss sich der übergeordneten Obrigkeit unterordnen.
Es gibt nämlich keine Obrigkeit, die nicht von Gott [zugelassen worden] ist;
[auch] die derzeitige ist von Gott verordnet.
Wer der Obrigkeit Widerstand leistet, widersetzt sich darum der Anordnung Gottes.
Wer sich aber widersetzt, wird sein Urteil empfangen.
Die gute Tat muss die Obrigkeit nicht fürchten, sondern die schlechte.
Willst du keine Angst vor der Obrigkeit haben müssen?
Tu das Gute, und du wirst von ihr gelobt werden.
Für dich ist sie nämlich ein Instrument Gottes zum Guten.
Wenn du aber das Schlechte tust, hüte dich!
Sie trägt das Schwert nicht umsonst!
Für den, der schlecht handelt, ist sie nämlich ein Instrument Gottes,
das zur Strafe überführt.
Darum muss man sich unterordnen,
nicht nur wegen der Strafe, sondern auch des Gewissens wegen.
Deshalb zahlt ihr ja auch die Steuern.
Denn [die Finanzbeamten] sind Diener Gottes,
die eben damit ihren [göttlichen] Auftrag wahrnehmen.
Erfüllt alle Pflichten:
Gebt Steuer, wem Steuer, und Zoll, wem Zoll gebührt;
Respekt, wem Respekt, und Ehre, wem Ehre gebührt.


Liebe Schwestern und Brüder,

wer hätte gedacht, dass Paulus so ein Spießer ist: Bloß nicht auffallen! Bloß keinen Ärger mit den Behörden, mit der Obrigkeit!
Dabei war Paulus eigentlich gar nicht so bieder, im Gegenteil: Er hatte ständig Ärger mit den Behörden, war mehrfach vorbestraft und etliche Male im Gefängnis. Auch den Brief an die Römer hat er wahrscheinlich aus dem Knast geschrieben.

Wenn Paulus so schlechte Erfahrungen mit der Obrigkeit gemacht hat, wie kommt er dann dazu,
von der Pflicht zum Gehorsam gegenüber dem Staat zu sprechen? Und auch noch zu behaupten, die Obrigkeit wäre von Gott verordnet, und die staatlichen Beamten, die Polizisten, Zöllner und Finanzbeamten, wären im Auftrag des Herrn unterwegs?

Eine erste Antwort könnte sein: Er mahnt zum Gehorsam, weil er selbst so schlechte Erfahrungen mit dem Ungehorsam gemacht hat. Paulus möchte nicht, dass die Gemeinde in Rom so mit dem Gesetz in Konflikt gerät wie er. Vor allem möchte er nicht, dass sie die Folgen tragen und ertragen muss: Die Bestrafung, das Gefängnis. Vielleicht befürchtet er auch, dass die Maßnahmen und Strafen in Rom, der Hauptstadt des Imperiums, drakonischer ausfallen könnten als in der Provinz. Und so ist es ja später auch gekommen: Die Ermordung von Christinnen und Christen durch wilde Tiere war eine beliebte Showeinlage im römischen Circus Maximus.

Wenn das der Grund für die Mahnung zum Gehorsam war, dann schreibt Paulus sozusagen als Seelsorger. Es ist zwar nicht seine Gemeinde, die Gemeinde in Rom, aber er empfindet eine Verantwortung für sie. Er möchte ihnen Kummer und Leid ersparen - verständlich, dass er dazu rät, den Ball flach zu halten und sich zu fügen.

II. Aber, bei allem Verständnis für die Vorsicht, die Paulus walten lässt, muss er die Römer deshalb gleich zu Untertanen machen? Es würde ja reichen, den Behörden aus dem Weg zu gehen. Aber zu behaupten, die Staatsbeamten würden im Auftrag Gottes handeln, damit schießt Paulus über das Ziel hinaus. Paulus hat sich selbst mit den Behörden angelegt – warum sollen es die Christen in Rom nicht auch tun?
Es ist ein Unterschied, ob man selbst etwas tut und die Folgen seines Tuns tragen und ertragen muss, oder ob man andere, womöglich vom sicheren Schreibtisch aus, zum Tun anstiftet und sie die Folgen tragen lässt. Um des Glaubens willen Nachteile in Kauf nehmen zu müssen, verfolgt oder gar getötet zu werden, dazu kann und darf man niemanden überreden. Gerade, weil z.B. im Nahen Osten Selbstmordattentäter auf diese Weise manipuliert werden, kann man da gar nicht vorsichtig genug sein.

Ob man für seinen Glauben einsteht, und wie weit man dafür bereit ist zu gehen, kann nur jede und jeder selbst entscheiden. Insofern ist Paulus ein guter Seelsorger, wenn er die Gemeinde in Rom nicht dazu auffordert, seinem Beispiel zu folgen.

III. Damit ist aber immer noch nicht erklärt, warum Paulus den Staat so in den Himmel hebt,
wie er es zu tun scheint. Jedenfalls wurde er über die Jahrhunderte hinweg so verstanden,
als seien der Staat und seine Vertreter quasi von Gott eingesetzt. Darum verlangte man von den Bürgern den gleichen Gehorsam dem Staat gegenüber, wie er Gott entgegengebracht werden sollte.
Im Gottesdienst wurden staatliche Verordnungen und Pamphlete abgekündigt. Evangelische Pfarrer waren Staatsbedienstete. Und viele Pfarrer gingen so weit, Waffen zu segnen und die staatliche Propaganda auch von ihren Kanzeln zu predigen.
Von dieser Haltung, der Staat und seine Vertreter seien von Gott verordnet, ist es nur noch ein kleiner Schritt zu der Auffassung, der Staat selbst sei von Gott geschaffen und die Staatsdiener somit quasi unmittelbar zu Gott, unantastbar und unfehlbar.

Paulus hat eine solche Haltung nie vertreten. Das wäre auch ein Wunder, nach allem, was er von der Obrigkeit erlitten hat. Offenbar muss man seinen Satz:
„Es gibt keine Obrigkeit, die nicht von Gott [zugelassen worden] ist;
[auch] die derzeitige ist von Gott verordnet”,
ganz anders verstehen, als er früher verstanden worden ist.

Dazu muss man zunächst wissen, dass der Staat, in dem Paulus lebte, kein moderner Rechtsstaat war wie unserer. Es galt nicht gleiches Recht für alle. Römische Bürger wurden anders behandelt als die Menschen in den besetzten Gebieten, und diese wiederum anders als die Sklaven, die so gut wie keine Rechte hatten.
Für die Menschen zu Paulus’ Zeiten war der Staat nicht, was er für uns heute ist: eine die Bürger und das Zusammenleben schützende Einrichtung. Damals war der Staat etwas, das man ertragen musste wie das Wetter, und man überlebte nicht wegen, sondern eher trotz des Staates.

IV. Wenn Paulus fordert, sich einem solchen Staat unterzuordnen, dann ist das zunächst einmal ein realistisches Einschätzen der Kräfte. Der Staat ist immer der Stärkere, und einem Stärkeren gegenüber, der bereit ist, zuzuschlagen, hält man besser den Mund, wenn man keinen Ärger haben will. Zugleich erwartet aber auch niemand, dass man einem solchen Staat Sympathie entgegenbringt.
Wenn Paulus Unterordnung fordert, heißt das nicht, dass man den Staat auch noch gut finden soll. Gerade in dieser aus der Not geborenen Unterordnung kommt zum Ausdruck, dass der Staat nicht das ist, was man sich vom Leben erhofft und ersehnt. Der Staat, so gut und vollkommen er sein mag, ist niemals das Reich Gottes auf Erden.

Das ist der große Irrtum, dem man immer wieder verfällt: Zu glauben, weil wir in Wohlstand und Frieden leben, mit einer funktionierenden Kranken- und Altersversorgung, wäre dies die beste aller möglichen Welten, lebten wir fast schon im Paradies. Und es wäre nur noch eine Frage der Zeit,
des wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Fortschritts, bis wir tatsächlich das Paradies auf Erden geschaffen hätten.
Das ist ein tragischer Irrtum.
Alle Versuche, die Welt besser zu machen, sie überhaupt vor uns Menschen zu retten und sie vor Raubbau, Verschmutzung und Zerstörung zu bewahren, haben – unausgesprochen oder explizit – zum Ziel, das Paradies auf Erden zu schaffen. Und genau das kann und wird nie gelingen. Weil wir Menschen sind. Und weil wir als Menschen den Naturgesetzen unterworfen sind. Weil wir leiden, krank werden und sterben müssen. Weil wir einen Körper haben und eine Psyche, die ziemlich oft einfach machen, was sie wollen, ohne dass wir das groß beeinflussen könnten.

V. Die Welt ist voller Leid, das Leben ist ungerecht, schmerzhaft und endlich. Das zu erkennen, tut weh. Aber es ändert nichts daran, dass es so ist - auch wenn es uns momentan gut geht. Und weil es uns gut geht, denkt man, das gehöre sich so, das müsse immer so sein. Das Gute, das Glück, die Gesundheit seien die Regel; Krankheit, Leid und Schmerz seien die Ausnahme.
Aber es ist genau andersherum.

Vielleicht kommt daher das Erschrecken, die Verbitterung, wenn einem Leid widerfährt. Man ist der Meinung, das habe man nicht verdient. Man hat doch so viel Sport getrieben, so gesund gelebt – warum wird man dann krank? Man hat doch so viel Gutes getan, oder jedenfalls niemandem etwas Böses - warum passiert einem dieses Unglück?
Aber die Tatsache ist: Niemand hat Leid verdient. Und trotzdem passiert es ständig. Weil das Leben nun einmal so ist.

Ebenso ist der Staat nicht immer nur gut. Er ist gut, wenn ich ein guter Staatsbürger bin. Aber wenn ich einmal nicht so will wie der Staat, dann zeigt er seine Zähne. Von unserem Staat haben wir - abgesehen von dem einen oder anderen Strafzettel, von Steuern und Abgaben, die er von uns fordert - nichts zu befürchten. Und trotzdem ist der Staat eine Macht, die einem entgegentreten kann.
Die einem die Ausreise, das Recht verweigern kann. Die einen bespitzeln kann, einem Chancen verwehren kann. Denn Staatsdiener sind auch nur Menschen.

Paulus fordert nicht dazu auf, den Staat als von Gott verordnet anzusehen, um ihm dadurch besondere Weihen zu geben, ihn quasi in den Himmel zu heben.
Sondern um uns deutlich zu machen: Wie bei allem, was von Gott eingesetzt ist, kann der Mensch auch gegen den Staat nichts tun. Der Staat ist wie das Wetter: Man muss ihn ertragen.

Für uns Christinnen und Christen ist der Staat nicht das letzte, auch nicht diese Welt – so schön sie ist. Er ist immer nur etwas Vorläufiges und Vorletztes. Wir warten auf das Reich Gottes und wissen: Es ist ganz anders als diese Welt. Es wird nicht in dieser Welt entstehen - dazu muss die Welt sich erst grundsätzlich ändern und neu werden, und das kann sie nicht von selbst, das können wir nicht machen.

VI. Paulus hat die Gemeinde in Rom dazu aufgefordert, den Staat als ein notwendiges Übel anzusehen, an dem man wachsen kann, wenn man es akzeptiert. Was er nicht sehen und sich vielleicht – trotz all seiner schlechten Erfahrungen - nicht vorstellen konnte, war, dass der Staat einmal einen so umfassenden Anspruch  auf seine Bürger erheben würde, dass er so totalitär werden würde, dass man dem Rad in die Speichen fallen musste, um Menschenleben vor dem Staat zu retten und seine Menschlichkeit nicht zu verlieren.
Die wenigsten haben sich das damals getraut. Das unselige Missverständnis dieses Textes von Paulus
hat damals – neben der Angst vor dem Staat – dazu geführt, dass so wenige Christinnen und Christen sich für ihren Glauben eingesetzt haben.

Nach den Erfahrungen mit dem sogenannten „Dritten Reich” stehen wir heute dem Staat viel kritischer gegenüber als Paulus. Was wir aber dennoch von Paulus lernen können, ist, dass der Staat nur etwas Vorletztes ist. Der Staat ist notwendig, aber er ist niemals göttlich. Als Christinnen und Christen haben wir deshalb eine doppelte Staatsbürgerschaft: die unseres Heimatlandes, und die des Reiches Gottes. Gebe Gott, dass wir uns niemals für eine der beiden Staatsbürgerschaften werden entscheiden müssen.