Samstag, 27. November 2021

Ein Fest der Gerechtigkeit

Predigt am 1.Advent, 28. November 2021, über Jeremia 23,5-8:

Kreuzdarstellung mit Maria auf der linken und Johannes auf der rechten Seite.


Siehe, es kommt der Tag, spricht der Herr,

da will ich David einen gerechten Nachkommen beschaffen.

Als verständiger König wird er herrschen,

Recht und Gerechtigkeit im Lande üben.

In seinen Tagen wird Juda Hilfe empfangen

und Israel in Sicherheit wohnen.

Und das ist sein Name, mit dem man ihn nennt:

„Der Herr ist unsere Gerechtigkeit.”


Denn siehe, es kommt der Tag, spricht der Herr,

dass man nicht mehr sagen wird:

„So wahr der Herr lebt,

der die Kinder Israel aus dem Land Ägypten heraufgeführt hat”,

sondern:

„So wahr der Herr lebt,

der heraufführte und brachte die Nachkommen des Hauses Israel

aus dem Land im Norden und aus allen Ländern,

in die sie verstoßen wurden.”

Und sie werden in ihr Land zurückkehren.


Liebe Schwestern und Brüder,


wir feiern Advent und freuen uns auf eine besinnliche Advents- und Weihnachtszeit. Dafür haben wir den Herrnhuter Stern vom Dachboden geholt, einen Adventskranz gebunden oder gekauft, Plätzchen gebacken. Adventliche Musik erklingt, Kerzen brennen, ein Duft nach Zimt, nach Tee oder Kaffee zieht durchs Haus.


Doch die adventliche Stimmung hat es dieses Jahr schwer, sich gegen die beunruhigenden Corona-Meldungen und die harten Corona-Maßnahmen durchzusetzen. Eine neue Virus-Variante ist auf dem Vormarsch, womöglich weitaus ansteckender als die ohnehin schon sehr ansteckende Delta-Variante. Tag für Tag brechen die Zahlen der Infizierten und des Inzidenzwertes neue, traurige Rekorde.


Trotz Corona sind auch in diesen Tagen Menschen auf der Flucht vor Krieg oder Unterdrückung, vor Hunger und Armut, oder werden aus ihrem Land, von Haus und Hof vertrieben.


So erging es schon Jeremias Zeitgenossen: Viele von ihnen wurden aus ihrer Heimat Israel nach Babylonien im heutigen Irak verschleppt. Sie waren damals in einer ähnlichen Situation wie die Flüchtlinge heute. Ein bisschen geht es uns auch so. Wir haben zwar keinen Grund zum Klagen, weil wir gut versorgt sind und alles haben, was man zu einem guten Leben braucht. Aber wir schränken uns nun schon das zweite Jahr in Folge ein, reduzieren unsere Kontake und wissen nicht, ob und wir wir Weihnachten werden feiern können.


Den ins Exil Verschleppten macht Jeremia Hoffnung auf einen neuen, gerechten Herrscher. Auch wir haben eine neue Regierung gewählt; gerade hat sie sich zur „Ampel” zusammengerauft. Eine neue Regierung weckt Hoffnung. Beim amerikanischen Präsidenten Barack Obama war das so. Bei den Parlamentswahlen in Russland, in der Ukraine und in vielen anderen Ländern, in denen autoritäre Machthaber regieren, gab es eine kleine Hoffnung auf Veränderung. Aber die Hoffnung wurde jedes Mal enttäuscht. Keine und keiner der Regierenden konnte die in sie gesetzten Erwartungen erfüllen.


Wie sollte das auch möglich sein? Sie sind alle Menschen, und Menschen haben Grenzen, machen Fehler, irren sich. Wollen wiedergewählt werden, müssen Rücksicht auf ihre Partei nehmen, oder auf die Interessen wichtiger Persönlichkeiten. Müssen eine Familie ernähren und ihre Karriere planen. Da geraten Recht und Gerechtigkeit manchmal ins Hintertreffen.


Der Herrscher, den Jeremia verspricht, ist anders. Nicht, weil er ein Übermensch wäre. Ein Superheld, der keine menschlichen Schwächen und Grenzen kennt. Sondern weil er Gott machen lässt.


In der Prophezeiung Jeremias fällt auf, dass alles von Gott ausgeht: Gott sorgt für einen gerechten Herrscher, der Gottes Gerechtigkeit sogar im Namen trägt, und nicht im Namen seiner eigenen Gerechtigkeit oder seiner eigenen Rechtsauffassung handelt. Gott selbst bringt sein Volk aus der Verbannung zurück.


Weil der gerechte Herrscher Gott machen lässt, kann er wirklich gerecht sein. Er muss keine Rücksichten nehmen, weder auf Parteifreunde, noch auf einflussreiche Persönlichkeiten. Er verdankt sein Amt nicht ihnen, sondern Gott. Und er ist nicht auf ihr Wohlwollen, ihre Unterstützung angewiesen,

weil Gott ihn hält und weil Gott dafür sorgt, dass Recht und Gerechtigkeit sich durchsetzen und seinem Volk geholfen wird.


Menschen warten immer schon auf einen guten, gerechten Herrscher, und immer wieder werden sie enttäuscht. Unsere Erfahrungen mit einem „Führer”, der unser Land in den Untergang führte, der unsere Nachbarn mit Krieg überzog, der Andersgläubige, Andersdenkende, Andersleben- und liebende verfolgen und ermorden ließ, allen voran die Menschen jüdischen Glaubens - unsere Erfahrungen mit diesem „Führer” haben uns misstrauisch werden lassen, dass eine einzelne Person es richten kann. Wir vertrauen auf unser Parlament, auf demokratisch gefällte Entscheidungen.


Aber einen hat es gegeben, der war so, wie ihn Jeremia prophezeite. Der vertraute nicht auf eigene Kraft und Weisheit, sondern auf Gott. Der rechnete, was er tat, nicht dem eigenen Können, der eigenen Leistung zu, sondern verwies jedes Mal auf Gott als dem Geber aller Gaben.


Jesus ist für uns der von Jeremia verheißene gerechte Herrscher. Ein Herrscher, der seine Herrschaft ausübt, indem er Gott machen lässt.


Aber wie soll das gegen das Corona-Virus helfen?


Nun, sicher wird kein Wunder geschehen. Weder wird das Virus von einem Tag auf den andern verschwinden, noch werden die Infizierten von heute auf morgen gesund. Trotzdem würde sich etwas ändern, wenn wir Gott machen lassen könnten. Denn was ist Gottes Anliegen? Das Leben zu schützen und zu bewahren. Wenn wir also achtsam sind, uns und andere schützen durch Mundschutz, Impfung, Abstand und Hygiene, helfen wir Gott, das Leben zu bewahren. Und das ist auch eine Form von Gerechtigkeit.


Es wird auch dieses Jahr kein Advent und wohl auch kein Weihnachten werden wie früher. Aber es könnte immer noch ein Weihnachten werden, das möglichst viele gesund erleben: ein Weihnachten der Gerechtigkeit. Amen.

Samstag, 20. November 2021

Weltverbesserer

Predigt am Ewigkeitssonntag, 24.11.2021, über Jesaja 65,17-25


Liebe Schwestern und Brüder,

eine neue Welt, eine bessere Welt zu schaffen, das ist ein uralter Menschheitstraum. Manche und mancher von uns hat ihn vielleicht auch einmal geträumt, diesen Traum von einer besseren Welt, oder träumt ihn noch. Aber so viele diesen Traum auch träumen, „Weltverbesserer” ist kein Kompliment. „Weltverbesserer” gehört in die selbe Schublade von sarkastisch gemeinten Begriffen wie „Gutmensch” oder „Umweltschützer”. In Westdeutschland hat man solchen Leuten früher hinterhergerufen: „Geh doch nach ‚drüben’!” Aber „drüben”, in der DDR, wollte die auch niemand haben. Zumal der real existierende Sozialismus mit dem Anspruch angetreten war, die Welt besser zu machen; da brauchte man keine Besserwisser aus dem Westen.

Leider hat es auch der Sozialismus nicht geschafft, die Welt besser zu machen. Er griff zu brutalen Methoden - Bespitzelung, Bevormundung, Bestrafung -, um Menschen zu „bessern”, die das gar nicht wollten und die es auch gar nicht nötig hatten.

Ich glaube, man kann ohne Übertreibung sagen, dass alle Versuche, eine bessere Welt zu schaffen, gescheitert sind, von der Antike bis in die Gegenwart. Nicht nur gescheitert; sie haben oft das Gegenteil erreicht: Sie haben die Welt, die sie besser machen wollten, für viele Menschen zur Hölle gemacht.

Warum ging das Weltverbessern jedes Mal so schrecklich schief? Vielleicht lag es daran, dass die Weltverbesserer das Leben nur für sich und ihresgleichen besser machten. Die Welt ist ja nicht für alle schlecht. Denen, die alles haben, was man zum Leben braucht - ein Haus, Arbeit, politischen Einfluss und eine Zukunftsperspektive -, denen gefällt die Welt so, wie sie ist. Die wollen nichts ändern - im Gegenteil: Sie möchten, dass alles so bleibt, wie es ist.

Veränderung suchen nur die, die unter den Zuständen leiden: Die benachteiligt werden, unterdrückt; die arm sind, ohne politischen Einfluss; die keine Zukunft haben. Wenn die Zahl der Benachteiligten eine kritische Anzahl übersteigt, kommt es zum Umsturz: die bisher unten waren, sind jetzt die Herrschenden, und die bisher Herrschenden verlieren ihre Macht.

Jede Revolution blieb dabei stehen, die Verhältnisse umzukehren, statt Verhältnisse zu schaffen, in denen alle gut leben können. Anders geht es wohl auch nicht. Denn sobald die Welt so ist, wie man sie sich ersehnt, hat man ja keinen Grund mehr, sie zu verändern. Aus den Revolutionären von gestern werden die Konservativen von morgen.

Was allen Revolutionären schwer fiel, war, über ihren Tellerrand hinauszusehen und zu begreifen, dass sie nicht Menschen ausschließen können, die nicht so sind wie sie, sondern ihnen auch Chancen und Perspektiven zugestehen müssen, einen Platz in der Gesellschaft, Arbeit und Heimat. 

Es gibt immer wieder Menschen - eben jene „Umweltschützer” und „Gutmenschen”, die auch an andere denken: an unsere Umwelt, Pflanzen und Tiere, Erde, Wasser und Luft. Oder an Benachteiligte, an Menschen mit Handicap, an Flüchtlinge und an Menschen in Kriegs- und Krisengebieten.

Für diese „Gutmenschen” ist die „Welt” nicht nur der kleine Kosmos ihres Ortes, ihrer Heimat, ihres Landes. Für sie ist die „Welt” tatsächlich die ganze Erde. Denn was wir tun oder unterlassen, was wir unserer Umwelt antun, bleibt nicht auf unseren Ort, unser Land beschränkt, sondern wirkt sich auf die ganze Erde aus.

Das hat uns zuletzt Corona eindrücklich gezeigt. Eine Krankheit, die in China zuerst auftrat, hat die ganze Welt in ihrem Griff und ist gerade dabei, auch in unserem Land das Leben wieder massiv zu beeinträchtigen.

Unser Umgang mit Corona zeigt auch, dass wir nicht zu Weltverbesserern taugen. Wir haben es nicht geschafft, das Virus einzudämmen. Sobald ein kleiner Erfolg eingetreten war, wurden alle  Vorsichtsmaßnahmen, alle guten Vorsätze über Bord geworfen. Inzwischen sind wir bei der vierten Welle, die in zwei Wochen täglich 400 Todesopfer fordern wird. Die fünfte Welle droht bereits, wenn keine einschneidenden Maßnahmen getroffen werden.

Wir taugen nicht zu Weltverbesserern. Das wusste schon der Prophet Jesaja. Darum entwirft er auch keine schöne, neue Welt, sondern überlässt es Gott, die Welt zu verbessern. 

Gott aber ist kein Weltverbesserer, Gott ist ein Schöpfer: „Ich will einen neuen Himmel und eine neue Erde schaffen, das man der vorigen nicht mehr gedenken und sie nicht mehr zu Herzen nehmen wird.” Die neue Welt ist keine verbesserte Version der alten, sie ist eine Neuschöpfung.

Schöpfer sein - das kann der Mensch nicht, so sehr er sich als Schöpfer versucht, Gene manipuliert, Atome verschmilzt oder spaltet. 

Aber wie soll das gehen mit einem neuen Himmel und einer neuen Erde? Wenn Gott auch ein Schöpfer ist, so greift er doch nicht ein. Der Glaube versetzt keine Berge, geschweige denn, dass er die Welt verändert.

Vielleicht denkt, wer so denkt, zu gering vom Glauben. Es stimmt: Wer auf ein Wunder wartet, wartet vergebens, wenn man unter „Wunder” etwas Übernatürliches versteht, die Aufhebung der Gesetze der Physik. Doch es gibt noch andere Wunder.

Mitgefühl zum Beispiel ist ein Wunder: Wenn jemand nicht gleichgültig ist, was seiner Nachbarin, seinem Nachbarn geschieht. Wenn jemand Anteil nimmt am Schicksal eines anderen, zu helfen versucht oder zu trösten: das ist ein Wunder.

Solidarität ist ein Wunder. Wenn es jemandem nicht reicht, selbst genug zum Leben zu haben, sondern er, sie sich fragt, ob auch andere das haben, was sie zum Leben brauchen und wenn nicht: wie sie es bekommen können und was er, was sie dazu beitragen kann: das ist ein Wunder.

Engagement ist ein Wunder. Wer nicht nur das eigene Haus, den eigenen Garten in Ordnung hält, sondern sieht, woran es im Ort, in der Welt mangelt, was es an Gefahren gibt, die man eindämmen muss, und was an Möglichkeiten, die man schaffen kann, und versucht, seinen, ihren Beitrag zu leisten: das ist ein Wunder.

Es ist ein Wunder, wenn Menschen Mitgefühl zeigen, Solidarität und Engagement. Das ist nicht selbstverständlich. Es ist, wie unsere Erfahrung lehrt, sehr selten - ein Wunder, eben. 

Ein Wunder, das Gott bewirkt. Gott schenkt uns Mitgefühl, Solidarität und Engagement. Weil wir uns zu den Menschen zählen dürfen, die Gott sich ausgesucht, die er auserwählt hat und von denen Jesaja sagt: „sie sind das Geschlecht der Gesegneten des Herrn.”

Der Glaube wartet auf eine Neuschöpfung der Welt. Eine Welt, in die Christus uns voraus gegangen ist. Weil Christus lebt, fällt ein Licht aus jener neuen Welt in unsere. Diese Lichtblicke schenken uns Hoffnung, zeigen uns, was sich ändern muss und was wir ändern können.

Der Glaube gibt sich nicht zufrieden mit der Welt so, wie sie ist. Der Glaube sieht die Menschen, die leiden, sieht die Schäden an der Umwelt, die Bedrohung unserer Zukunft, und möchte sie abwenden.

Der Glaube erkennt auch die eigenen Grenzen - auch die Grenzen des Mitgefühls, der Solidarität und  des Engagements. Und der Glaube weiß um die Folgen, die das Überschreiten der Grenzen hat: dass das Leben dann zur Hölle werden kann.

Darum wendet sich der Glaube an Gott. Nur Gott allein wird einen neuen Himmel, eine neue Erde schaffen. Darauf warten wir voller Hoffnung.

Bis es soweit ist, sind wir im Rahmen unserer Kräfte und Möglichkeiten voller Mitgefühl, solidarisch und engagiert.

Wir können aus dieser Welt kein Paradies machen.
Aber wir müssen sie uns auch nicht gegenseitig zur Hölle machen.

Amen.

Dienstag, 16. November 2021

wahre Schönheit kommt von innen

Predigt am Buß- und Bettag, 17.11.2021, über Matthäus 7,12-20


Liebe Schwestern und Brüder,

„bin ich schön?” Das fragt man sich, wenn man sich kritisch im Spiegel betrachtet. Man spricht es nicht aus, aber darauf zielt es ab, wenn man im Spiegel noch einmal überprüft, ob alles sitzt, die Frisur, das Makeup, die Krawatte, ob nirgendwo ein Fussel oder Fleck den Eindruck trübt, oder etwa ein Knopf nicht geschlossen ist.

„Bin ich schön?” Ich möchte nicht nur selbst mit meinem Aussehen zufrieden sein. Ich möchte mich auch sehen lassen können, möchte nicht auffallen - oder gerade mit meiner Erscheinung Eindruck machen. Ich möchte anderen gefallen, möchte, dass sie einen guten Eindruck von mir gewinnen oder behalten.

„Ein guter Baum bringt gute Früchte.” Was ist ein guter Baum? Ist ein guter Baum auch schön? Kann man von einem Baum mit geradem Stamm, symmetrischen Ästen, dichter, grüner Krone auch gute Früchte erwarten?

Bei Menschen denken wir so: Ist jemand sauber und adrett gekleidet, hat man gleich Vertrauen zu ihm. Trägt jemand einen Arztkittel, ist man beeindruckt, trägt jemand Uniform, zeigt man Respekt. Das nutzen wir aus, indem wir uns zu besonderen Anlässen besonders anziehen: Zu einem Vorstellungsgespräch bindet man eine Krawatte um, trägt man ein Kostüm. Das nutzen auch Betrüger aus, indem sie sich seriös kleiden und dadurch Menschen in falscher Sicherheit wiegen, die sie dann übers Ohr hauen. Auf das Äußere kommt es an.

Ist das bei einem Baum auch so? Hängt, ob er gute Früchte trägt, von seinem Aussehen ab? Liegt es nicht vielmehr am Boden, an Feuchtigkeit und Wärme, an Nährstoffen und Bestäubung? Wenn das alles vorhanden ist, bringt der Baum seine Frucht sozusagen von selbst.

Bei einem Baum lehrt die Erfahrung, dass es nicht auf das Aussehen ankommt. Bei Menschen denken wir nicht so. Da meinen wir, ein schöner Mensch müsste auch zugleich ein guter Mensch sein.

Aber was ist überhaupt Schönheit? Ist jemand schön, der einen schlanken, sportlichen Körper hat, ebenmäßige Gesichtszüge, eine reine Haut, volles Haar?
Ist jemand schön, der sich schöne Kleidung leisten kann, der immer sauber und adrett gekleidet ist?
Ist jemand schön, der mit den Schönen und Reichen per Du ist, mit dem man sich gern schmückt, den man gern kennen oder gar zu seinen Freunden zählen würde?

Es gab einmal einen Werbespruch, der lautete: „Natürliche Schönheit kommt von Innen”. Mit diesem Spruch wurde eine Pille verkauft, die für einen glatten, rosigen Teint sorgen sollte. Es ist ein Traum, den viele träumen: Dass man bloß eine Pille einzunehmen bräuchte, um strahlend schön zu sein, schlank und faltenfrei.

Leider ist das Gegenteil der Fall: Schönheit ist harte Arbeit. Wer schön sein will, muss leiden. Muss regelmäßig und ausdauernd Sport treiben, auf seine Ernährung achten, Zeit und Geld in seinen Körper investieren. Solche Menschen bewundern wir für ihre Disziplin und für das Ergebnis ihrer  Anstrengungen: ihren perfekten Körper, ihre makellose Haut.

Aber der Werbespruch hat recht: Natürliche Schönheit kommt von innen. Denken Sie an das Strahlen junger Eltern, die sich über ihr Neugeborenes beugen - sind sie nicht schön?
Denken Sie an Ihr Lächeln, wenn Sie ein Baby bestaunen und es dazu bringen wollen, dass es zurücklächelt: Dann sehen Sie schön aus - denn sonst würde das Baby vor Angst weinen.
Denken Sie an die Liebe, die in unserem Blick liegt, wenn wir die Partnerin, den Partner ansehen, die Kinder oder Enkelkinder: Dann sind wir schön.
Was uns in diesem Moment erfüllt, sind Liebe, Freundlichkeit, Güte.

Liebe, Freundlichkeit, Güte - das wünscht sich wohl jede und jeder für sein Leben. Wie sagt es Jesus? „Alles, was ihr wollt, dass euch die Menschen tun sollen, das tut ihr ihnen auch.” Die sogenannte „Goldene Regel”. Es gibt sie auch in anderer, weniger komplizierter Form: „Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem andern zu.” Aber zwischen diesen beiden Sätzen gibt es einen gravierenden Unterschied: Die einfache Regel spricht davon, etwas zu lassen: Sie spricht davon, zu unterlassen, was man selbst nicht erleiden möchte. Diese Regel wird erfüllt, indem man -- nichts tut. Denn dann tut man ja nichts Böses.
Jesus dagegen fordert uns auf, zu handeln, indem wir anderen das geben, was wir von ihnen erhalten möchten: Liebe. Freundlichkeit. Güte.
Man könnte diese Liste noch erweitern um Respekt, Rücksichtnahme, Hilfsbereitschaft und Mitgefühl - all das, was wir empfinden, wenn wir einen Menschen ansehen, den wir lieben.

Ein Mensch, den wir lieben, ist für uns schön. Nicht, weil er oder sie die Schönheitsideale erfüllt, die unsere Gesellschaft aufstellt und die sich mit der Mode ändern. Sondern weil die Liebe uns seine oder ihre wahre Schönheit erkennen lässt: Die Schönheit, die von innen kommt. Und weil der geliebte Mensch sozusagen spiegelt, was wir ihr oder ihm an Liebe, Freundlichkeit und Güte entgegenbringen.

So werden Menschen schön: Nicht durch eigene Anstrengung, sondern durch die Begegnung mit anderen: Ihre Freundlichkeit lässt sie leuchten, ihre Liebe lässt sie erstrahlen, ihre Güte lässt sie gut sein.
Das ist die enge Pforte, durch die wir gehen sollen. Warum finden sie nur so wenige? Weil wir nicht von anderen gespiegelt werden wollen, sondern uns selbst in anderen spiegeln möchten. Wir möchten  bewundert werden, nicht andere bewundern. Wir möchten geliebt werden, nicht andere lieben. Wir möchten etwas bekommen, aber möglichst nichts dafür geben müssen.

Wir finden die enge Pforte nicht, weil wir meinen, unsere Schönheit herstellen zu können, herstellen zu müssen, statt sie uns von anderen schenken zu lassen. Weil wir meinen, Schönheit könne man kaufen, oder bekäme sie in Form einer Pille.

Dabei muss man sich Schönheit erarbeiten. Entweder durch Sport und Disziplin, durch Pflege des eigenen Körpers.
Oder indem man tut, was Jesus uns rät: Anderen das zu tun, was wir uns von ihnen wünschen: Liebe, Freundlichkeit und Güte. Dadurch werden wir schön. Und dadurch werden auch alle anderen Menschen schön.

Dass Äußere kann täuschen. Hinter einer seriösen Fassade kann sich ein Schweinehund verbergen. In einem wunderschönen, perfekten Körper kann ein Herz aus Stein stecken.
An Liebe, Freundlichkeit und Güte lässt sich wahre Schönheit erkennen - Schönheit, die nicht an sich selbst genug hat, sondern die ansteckend wirkt und andere schön sein lässt.

Sonntag, 14. November 2021

Sehnsucht

Predigt zum vorletzten Gottesdienst des Kirchenjahres, 14.11.2021, über 2.Korinther 5,1-10



Wer, wenn ich schriee, hörte mich denn aus der Engel
Ordnungen? und gesetzt selbst, es nähme
einer mich plötzlich ans Herz: ich verginge von seinem
stärkeren Dasein. Denn das Schöne ist nichts
als des Schrecklichen Anfang, den wir noch grade ertragen,
und wir bewundern es so, weil es gelassen verschmäht,
uns zu zerstören. Ein jeder Engel ist schrecklich.

Und so verhalt ich mich denn und verschlucke den Lockruf
dunkelen Schluchzens. Ach, wen vermögen
wir denn zu brauchen? Engel nicht, Menschen nicht,
und die findigen Tiere merken es schon,
daß wir nicht sehr verläßlich zu Haus sind
in der gedeuteten Welt. Es bleibt uns vielleicht
irgend ein Baum an dem Abhang, daß wir ihn täglich
wiedersähen; es bleibt uns die Straße von gestern
und das verzogene Treusein einer Gewohnheit,
der es bei uns gefiel, und so blieb sie und ging nicht.

(Reiner Maria Rilke, Duineser Elegien, Die erste Elegie)


Liebe Schwestern und Brüder,

eine Sehnsucht spricht aus diesen Zeilen des Dichters Reiner Maria Rilke. Eine Sehnsucht, für die es keinen Namen gibt, weshalb Rilke sie einem Engel vergleicht. Einen Engel, den man ruft, der aber nicht kommt.

Sehnsucht ist uns nicht fremd. Wir kennen das Heimweh, das wir als Kinder empfunden haben: Die Sehnsucht nach dem Zuhause, die doch vor allem eine Sehnsucht nach der Geborgenheit und Vertrautheit der Familie war.

Wir wissen auch, wie es sich anfühlt, einen Menschen zu vermissen, den man lieb hat: Die Sehnsucht nach der Liebsten, dem Liebsten, von dem man durch die Entfernung getrennt ist. Die Sehnsucht nach den Kindern, die ausgezogen sind, nach einer fernen Freundin, einem fernen Freund. Dazu gehört auch die Sehnsucht, die Sie in dieser Zeit der Trauer besonders empfunden haben: Das Vermissen eines Menschen, der Teil des Lebens war und der das nun nicht mehr ist.

Und dann gibt es noch diese dritte Sehnsucht, von der Rilke spricht. Diese namenlose Sehnsucht, die nichts Bestimmtes ersehnt, niemand Besonderen vermisst, aber trotzdem manchmal schmerzhaft am Herzen zieht. Man spürt sie, wenn man etwas so Schönes erlebt, dass man es fast nicht ertragen kann. Wenn man sich eins mit allem fühlt und zugleich ganz klein. Wenn man über sich den hohen Himmel hat und vor sich den weiten Horizont am Ufer des Meeres, auf dem Gipfel eines Berges. Oder wenn man Rückschau auf sein Leben hält und sich fragt, ob da noch etwas kommt, und wenn ja, was?

Paulus beschreibt diese namenlose Sehnsucht so:

„Darum seufzen wir auch und sehnen uns danach, unsere Behausung aus dem Himmel anzuziehen.”

Paulus beschreibt die namenlose Sehnsucht mit einem ganz anderen, uns fremden Bild einer  Behausung. Er vergleicht unseren Körper mit einem Haus,  genauer: mit einem Zelt. Das kommt wohl daher, dass Paulus von Beruf Zeltmacher war. Aber es trifft unsere Erfahrung: Das Zelt ist ein Provisorium, nicht auf Dauer angelegt. Es wird von Wanderern benutzt, von Nomaden, die heute hier, morgen dort sind. Getriebene, manchmal Vertriebene. Gestrandete, wie die Flüchtlinge an Polens Grenze.
Weil das Zelt nur ein Provisorium ist, steht es für eine Sehnsucht nach Dauer, nach Festigkeit und Geborgenheit. Es steht für den Wunsch,  irgendwo ankommen und bleiben zu können, ein Zuhause zu finden.
Das Zelt zeigt uns aber auch: Dieses Zuhause bleibt immer provisorisch. So, wie unser Körper gefährdet und zerbrechlich ist - außer Gefecht gesetzt und in Lebensgefahr gebracht werden kann von unsichtbaren Viren, wie er altert und anfällig wird - so ist auch unser Zuhause nur vorübergehend ein Zuhause, selbst, wenn wir unser ganzes Leben darin zubringen.

Ist unser Elternhaus denn noch das Elternhaus, wenn die Eltern dort nicht mehr leben? Fehlen dann nicht die, die das Haus erst zu einem Zuhause gemacht haben?
Wenn wir die Wohnung einer Gestorbenen ausräumen müssen: Bleibt dann nicht nur eine leere Hülle, etwas Fremdes, weil die, die einmal darin lebte, sie nicht mehr ausfüllt?
Sind die Dinge, die der Gestorbenen gehörten und die für sie und für uns eine Bedeutung hatten, jetzt nicht nur noch Gegenstände, die man bei „Bares für Rares” oder auf dem Trödel verkauft und die bestenfalls noch an die erinnern, die sie einmal besessen hat?

Unser Körper - ein Zelt. Wir spüren, dass dieses Bild stimmt; wir spüren es am eigenen Leib. Das Älterwerden. Den Verlust von Beweglichkeit, Schnelligkeit, Ausdauer und Kraft.
Wir sahen es an den Menschen, von denen wir in diesem Jahr Abschied nehmen mussten: Wie sie immer weniger wurden. Wie sie langsam verfielen, körperlich, geistig. Wie sie sich allmählich von uns und aus ihrer Umwelt entfernten, Dinge vergaßen, Menschen nicht mehr erkannten oder den Wunsch äußerten: „Ich wollt, dass ich daheime wär”. Und damit meinten sie nicht das Haus, in dem sie ihr Leben verbracht hatten.

„Darum seufzen wir auch und sehnen uns danach, unsere Behausung aus dem Himmel anzuziehen.”

Es gibt eine rätselhafte, namenlose Sehnsucht nach Erfüllung, nach einem Ankommen und zu Hause Sein. Und es gibt das Gefühl, dass diese Sehnsucht real ist. Nicht nur ein Wunschtraum, keine Einbildung, sondern etwas Wirkliches und Wahrhaftiges.

„Der uns aber dazu bereitet hat, ist Gott, der uns als Anzahlung den Geist gegeben hat.”

Unsere Sehnsucht nach Erfüllung hat ein Ziel, und dieses Ziel ist Gott, der die Fülle ist und der Leben in Fülle gibt. Bei Gott, so fühlen wir, gibt es eine Antwort auf unsere Fragen. Gibt es Heilung für unsere Schmerzen, für unsere Seele. Gibt es ein Leben, dessen Sinn wir nicht erst finden müssen, sondern das seinen Sinn und seine Erfüllung in sich trägt. Das meint Paulus mit der „Behausung vom Himmel”.

Gott ist für uns „im Himmel”. Das bedeutet nicht, dass er oben auf einer Wolke sitzt, mit den Beinen baumelt und auf das Gewimmel hier unten herabblickt. Das Himmelszelt ist wie ein Dach über unseren Köpfen. Wenn wir uns Gott im Himmel vorstellen, so ist er dieses schützende Dach. Gott blickt uns sozusagen „von oben” an, blickt uns unser ganzes Leben lang freundlich an, wie es unsere Eltern taten, als wir noch in der Wiege lagen und in den Himmel ihrer strahlenden Gesichter hinaufsahen. Gott ist wie das Himmelszelt: Jenseits der Gefahren und Wechselfälle des Lebens ist Gott. Gott steht hinter uns, Gottes Augen wachen über uns. Gott wendet die Gefahren nicht ab, er greift nicht in unser Leben ein. Er ist da, leidet und freut sich mit uns. Ist immer an unserer Seite, was auch geschieht. 

Gott ist „im Himmel”. Gott ist der Himmel. Deshalb zieht es unseren Blick manchmal nach oben. Deshalb empfinden wir diese rätselhafte, namenlose Sehnsucht. Sie ist real, diese Sehnsucht. Aber wie kann etwas wirklich sein, was der Erfahrung, dem Sehen, Tasten, Riechen, Schmecken entzogen ist?

Unser Herz sagt uns, dass es wirklich ist. Unser Herz fühlt, dass es wahr ist. Unser Herz fühlt es, weil es erfüllt ist von Gottes Geist. Dem Geist, den wir bei der Taufe erhalten haben. Dem Geist, der diese rätselhafte Sehnsucht verursacht, dieses Ziehen im Herzen, das wir manchmal spüren. Er ist die Anzahlung, das Unterpfand dafür, dass da noch etwas kommt, dass das nicht alles gewesen ist. Ein Versprechen, eine Anzahlung, die uns bei unserer Taufe gegeben wurde.

Unsere Taufe - lang, lang ist’s her. Das Wasser der Taufe ist längst getrocknet. Es hat keine Spur hinterlassen. Wir können es nicht sehen wie eine Tätowierung, die sagt: Es stimmt.

Unsere namenlose, rätselhafte Sehnsucht muss ein Rätsel bleiben, wenn man auf sichtbare Beweise wartet. Denn das Sichtbare ist provisorisch und vergänglich wie ein Zelt. Die Lösung des Rätsels wird nur dem Glauben geschenkt. Dem Glauben, der selbst ein Geschenk ist: Das große Geschenk, das wir bei der Taufe erhielten und das wir seither besitzen.

Der Glaube vergewissert uns, dass auf uns noch etwas wartet: Eine neue Behausung; eine Verwandlung; ein neues Leben; ein Zuhause bei Gott. Es wartet auf uns und auf die, die uns vorangingen. Ihre und unsere Sehnsucht wird sich erfüllen.

„Der uns aber dazu bereitet hat, ist Gott, der uns als Anzahlung den Geist gegeben hat.”

Amen.