Mittwoch, 30. Dezember 2015

Ihr Horoskop für 2016

Predigt am Altjahrsabend, 31.12.2015, über Römer 8,31b-39:

Wenn Gott für uns ist, wer ist dann noch gegen uns? Er hat ja seinen eigenen Sohn nicht verschont, sondern ihn für uns alle dem Tod übergeben. Wir könnte er uns da nicht mit ihm alles schenken?
Wer will die Erwählten Gottes anklagen? - Gott rechtfertigt.
Wer verurteilt? - Christus Jesus, der gestorben ist, vielmehr, der auferweckt ist, der zur Rechten Gottes ist, der tritt für uns ein.
Wer will uns trennen von der Liebe Christi? Bedrängnis oder Ausweglosigkeit oder Verfolgung oder Hunger oder Blöße oder Gefahr oder Bedrohung durch Waffen? Wie geschrieben steht:
"Deinetwegen schweben wir den ganzen Tag hindurch in Lebensgefahr.
Wir werden als Schlachtvieh betrachtet." -
Aber all diese Widrigkeiten meistern wir gänzend durch den, der uns liebt.
Denn ich weiß, dass weder Tod noch Leben, weder Engel noch Obrigkeiten, weder Gegenwärtiges, noch Zukünftiges, noch überirdische Wesen, weder Hochstand, noch Tiefstand der Gestirne, noch eine andere Kreatur, uns trennen kann von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserm Herrn.
(Eigene Übersetzung)

Liebe Schwestern und Brüder,

haben Sie schon Ihr Horoskop für 2016 gelesen? Was das neue Jahr wohl bringen wird? Hoffentlich nur Gutes!
Im Supermarkt konnte man sich zu Silvester Glückssymbole aus Blei kaufen, die man heute Abend über der Kerzenflamme in einem Löffel schmilzt. Wenn man sie anschließend in eine Schüssel mit Wasser gießt, ergeben sich bei einigem Glück Figuren, die etwas über das kommende Jahr verraten.

Natürlich sind wir nicht abergläubisch! Wir würden nie eine Entscheidung vom Ausgang des Bleigießens oder vom Horoskop in der Zeitung abhängig machen! Und trotzdem ist man neugierig, was wohl drinsteht im Horoskop, hält alle Jahre wieder geduldig den Löffel über die Kerzenflamme, gespannt, was wohl diesmal herauskommen wird.

II
Auch Paulus stellt uns ein Horoskop, sozusagen. Was er uns vorhersagt, klingt aber gar nicht erfreulich: Bedrängnis, Ausweglosigkeit, Verfolgung, Hunger, Blöße, Gefahr und Bedrohung durch Waffen. Das waren die alltäglichen Bedrohungen der Christinnen und Christen zur Zeit des Paulus. Als Christ war man damals ein Geächteter, ein Staatsfeind. So wie zu Paulus' Zeiten die Christen, so mag sich heute ein Muslim in den Vereinigten Staaten fühlen, oder auch in unserem Land.

Die Erfahrung, jeden Tag in Lebensgefahr zu schweben, machte aber schon der Beter des 44. Psalms, den Paulus zitiert. Er machte sie lange vor den ersten Christinnen und Christen. Es sind also nicht die politischen Umstände, die einen Gläubigen in Gefahr bringen; es ist der Glaube selbst: "Deinetwegen schweben wir den ganzen Tag hindurch in Lebensgefahr", betet der Psalmist.

III
In unseren Breiten befindet man sich als Christin oder Christ nicht in Lebensgefahr. Die schlimmste Gefahr, die einem als Gläubigen droht ist die, sich lächerlich zu machen; nicht für voll genommen zu werden, weil man an einen Gott glaubt, den es doch gar nicht gibt! Die moderne Gesellschaft hat Gott abgeschafft; sie kommt bestens ohne ihn aus. Sie befindet sich nicht einmal mehr in Gegnerschaft zum Glauben. Die Mehrheit vertritt keinen Atheismus, der den schlimmen Irrtum des Gottesglaubens, das mittelalterliche Weltbild der Kirche bekämpfen will. Gott und der Glaube sind für die meisten Menschen schlicht bedeutungslos; sie bemerken nicht einmal mehr, dass ihnen Gott fehlt.

Das Horoskop, das Paulus stellt: Bedrängnis, Ausweglosigkeit, Verfolgung, Hunger, Blöße, Gefahr und Bedrohung durch Waffen, gilt zur Zeit nicht uns. Die erleben es am eigenen Leib, die aus Kriegs- und Krisengebieten zu uns geflohen sind. Durch ihr Schicksal wird uns bewusst, wie gefährdet und zerbrechlich auch unser Glück, unser Wohlstand sind. Ihr Schicksal erinnert uns an die Zeit, in der auch unser Land ein Kriegs- und Krisengebiet war. Die meisten von uns kennen diese Zeit nur aus Erzählungen und aus dem Geschichtsunterricht. Aber es hat sie gegeben, und an den Flüchtenden sehen wir, dass der Krieg leider kein Märchen aus uralter Zeit ist.

Unser Glück ist zerbrechlich. Daran werden wir auch im kommenden Jahr erinnert werden - durch die Nachricht vom Tod einer Nachbarin, eines Verwandten oder eines geliebten Menschen. Durch Schicksalsschläge in der eigenen Familie. Durch den eigenen Körper, der schmerzt und uns Sorgen macht.

IV
Wenn Paulus den 44. Psalm zitiert: "Deinetwegen schweben wir den ganzen Tag hindurch in Lebensgefahr", dann will er damit sagen, dass es das Schicksal der Gläubigen ist, in Widerspruch und im Gegensatz zur Welt zu sein. Der Glaube an sich widerspricht der Welt, weil er ihr eine andere Wirklichkeit entgegen hält, die für den Glaubenden sogar wirklicher ist als das, was man sehen und mit Händen greifen kann.

Solange sich die Welt für den Glauben nicht interessiert, solange er ihr gleichgültig ist, haben die Glaubenden nichts zu befürchten. Es kann aber jederzeit Situationen geben, die uns in Widerspruch zur Welt bringen - z.B., wenn es darum geht, Flüchtlingen zu helfen, was nicht alle Menschen in Deutschland befürworten. Dann kann es sein, dass man selbst angegriffen wird. Wir suchen solche Situationen nicht, aber manchmal gebietet das Gewissen, anders zu handeln als die Mehrheit. Es sind diese Situationen, wegen derer wir im Vaterunser beten: "führe uns nicht in Versuchung".

V
Solche Situationen treten unweigerlich ein. Dazu muss man nicht als Missionarin zu den Heiden gehen, dazu braucht man sich nicht mit Neonazis anzulegen. Es genügt, vor die Haustür zu treten und den Mitschülern oder den Nachbarn zu begegnen. Sobald wir unsere eigenen vier Wände verlassen, geraten wir in Situationen, die unseren Glauben herausfordern: 
Stehen wir dem bei, der von den anderen gemobbt wird? Melden wir uns, wenn wir meinen, jemand wird vom Lehrer ungerecht beurteilt, auch wenn wir sie nicht mögen und finden, es geschieht ihr ganz recht?
Lassen wir uns mit der Nachbarin sehen, mit der niemand etwas zu tun haben will? Widersprechen wir dem Gerücht, das hinter dem Rücken eines Menschen erzählt wird, oder geben wir es zumindest nicht weiter?

VI
Paulus traut uns zu, dass wir dazu in der Lage sind: "Alle diese Widrigkeiten meistern wir glänzend", prophezeit er uns für 2016.
Wir meistern sie, weil wir geliebt werden.

Natürlich werden wir geliebt: Von unseren Eltern. Von unserer Partnerin, unserem Partner. Von unseren Kindern. Aber diese Liebe hat einen Makel: Auch, wenn wir es uns nicht vorstellen können, kann es sein, dass diese Liebe abhanden kommt, aufhört: 
Paare zerstreiten sich untereinander so sehr, dass die Beziehung zerbricht. 
Kinder verlassen das Elternhaus im Zorn und brechen alle Brücken hinter sich ab. 
Geschwister sprechen nicht mehr miteinander.
Manchmal heilt die zerbrochene Liebe. Aber es bleibt immer eine schmerzende Narbe zurück.

Gottes Liebe zu uns dagegen hört niemals auf. Nicht einmal, wenn wir uns im Zorn von Gott abwenden, wenn wir nichts mehr von Gott und dem Glauben wissen wollen. Wir können nichts tun, was Gottes Liebe zu uns beenden könnte. Auch, wenn wir meinen, wir hätten diese Liebe nicht verdient, Gott liebt uns dennoch. Denn Gott liebt uns nicht, wenn und weil wir etwas geleistet hätten, besonders fromm gewesen wären, es zu etwas gebracht hätten. Gott liebt uns seit unserer Geburt, als wir noch gar nichts geben konnten und trotzdem die allerliebenswertesten Geschöpfe waren, die man sich vorstellen kann.

VII
Trotz seiner düsteren Prognosen hat Gott für 2016 eine gute Nachricht für uns: Auch 2016 sind und bleiben wir von Gott geliebt. Auch 2016 haben wir diese Liebe im Rücken, die nichts uns niemand uns nehmen kann.

Das gibt uns Kraft, das macht uns Mut, den Schritt über die Schwelle ins neue Jahr zu wagen und es mit den Problemen und Schwierigkeiten aufzunehmen, die es sicher bringen wird. Denn wir wissen: Wir werden sie meistern. Nicht nur irgendwie, nicht nur gerade so eben. Sondern gänzend.
Amen.

Samstag, 26. Dezember 2015

An Engel glauben?!

Predigt am 2. Weihnachtstag, 26.12.2015, über Hebräer 1,1-6:

Die Predigt verdankt ihren Hauptgedanken der Predigt "Über alle Engel" von Manfred Josuttis, gehalten am 9.5.1982, veröffentlicht in: ders., Über alle Engel. Politische Predigten zum Hebräerbrief, München (Kaiser), 1990, S. 11-14.

Nachdem Gott früher vielgestaltig und mannigfaltig durch die Propheten zu den Vätern gesprochen hatte, sprach er am Ende dieser Tage zu uns durch den Sohn, den er zum Universalerben eingesetzt hat, durch den er auch die Welt geschaffen hat.
Er ist ein Abglanz seiner Herrlichkeit,
ein Abdruck seines Wesens;
er trägt das All durch sein Machtwort;
er reinigt von den Sünden;
er hat sich zur Rechten der Majestät im Himmel gesetzt;
er wurde so viel größer als die Engel,
wie der Name, der ihm verliehen wurde, sich von dem ihren unterscheidet.
Denn zu welchem Engel hat Gott jemals gesagt:
"Du bist mein Sohn,
heute habe ich dich gezeugt" ?
Und an anderer Stelle:
"Ich werde sein Vater sein,
und er wird mein Sohn sein" ?
Wenn er aber den Erstgeborenen wieder in die Welt einführen wird, spricht Gott:
"Und alle Engel Gottes sollen ihn anbeten".
(Eigene Übersetzung)

Liebe Schwestern und Brüder,

nun flattern sie wieder mit ihren kleinen Flügelchen, über der Krippe, am Weihnachtsbaum, auf Weihnachtskarten oder als Kerzenständer, allgegenwärtig in diesen Tagen: die Engel. Längst hat sich Rudolf Otto Wiemers Einsicht durchgesetzt, dass es nicht Männer mit Flügeln sein müssen, die Engel. Sie sind emanzipiert: es gibt inzwischen auch Engelinnen. Ob mit luftigem Leibchen, das den nackten Po gerade noch bedeckt, als nackte Putte, oder fast nur noch aus Kopf und Flügeln bestehend: vielgestaltig und mannigfaltig kommen sie daher. Und harmlos - wer würde sich vor solch einem süßen Engelchen fürchten? - Man versteht nicht, warum sowohl der Engel Gabriel, als er Maria die Schwangerschaft ankündigt, als auch die Engel, die den Hirten auf dem Felde die gute Nachricht von der Geburt des Gottessohnes bringen, ihre Hörer erschrecken und sie deshalb zuerst einmal beschwichtigen müssen: "Fürchtet euch nicht!"

Man versteht den Schrecken jedoch, wenn man sich die biblischen Schilderungen der Engel anschaut: da kann einen schon das Grausen überkommen. Zum Beispiel gibt es die Cherubim mit dem flammenden Schwert, die den Eingang zum Paradies bewachen - und die, wie alle Türsteher, allein durch ihr Äußeres deutlich machen sollen: "Du kommst hier nit rein". 
Da ist der Engel mit dem Schwert, der Bileam den Weg versperrt, aber nur von seiner Eselin gesehen wird, die ihm durch ihren Starrsinn das Leben rettet. 
Da ist der Todesengel, der in der Nacht vor dem Auszug des Volkes Israel aus der Knechtschaft durch die Straßen geht und jeden Erstgeborenen Ägypter tötet. 
Und da sind die Engel der Apokalypse, die ein katastrophales Inferno entfachen, als sie ihre Posaunen blasen. 
Sieht man sich diese biblischen Schilderungen von Engeln an, versteht man, warum der Engel sie erst einmal beschwichtigen musste, als er Maria und den Hirten gegenübertrat. Und kann Rainer Maria Rilke nur zustimmen: "Ein jeder Engel ist schrecklich"

II
Unser Verhältnis zu Engeln ist zwiespältig. Das liegt nicht daran, dass sie auf der einen Seite so niedlich und auf der anderen so schrecklich sind. Sondern daran, dass wir nicht wissen, ob wir an sie glauben sollen. Sie sind gerade jetzt allgegenwärtig, aber das muss ja nicht heißen, dass es sie wirklich gibt - der Weihnachtsmann ist jetzt ja auch allgegenwärtig. 
Andererseits tröstet uns die Vorstellung vom Schutzengel, der über den Menschen wacht, die wir lieben. Und wer schmölze nicht dahin bei Humperdincks Abendsegen aus der Oper "Hänsel und Gretel": 
"Abends, wenn ich schlafen geh, 
vierzehn Engel um mich stehn: 
zwei zu meinen Häupten, 
zwei zu meinen Füßen, 
zwei zu meiner Rechten, 
zwei zu meiner Linken, 
zweie die mich decken, 
zweie die wecken, 
zweie die mich weisen zu des Himmels Paradeisen"
Wer wollte nicht glauben, dass es so ist - besonders dann, wenn sich zwei kleine Kinder im Wald verlaufen haben?
Und wiederum wissen wir nur zu gut, dass kein Engel kleinen Kindern beisteht, die mutterseelenallein draußen sind. Dass kein Schutzengel für uns einspringt, wenn wir nur einen Moment nicht hinsehen, während unser Kind mit Messer, Gabel, Schere, Licht hantiert …

Das kann doch nur bedeuten: Es gibt sie nicht, die Engel. Aber so ganz mag man mit dieser Vorstellung von den vierzehn Engeln nicht brechen, denn vielleicht ist ja doch was dran, und es kann ja auch nichts schaden … Daher kommt unser zwiespältiges Verhältnis zu den Engeln.

III
Dass wir trotz aller Widersprüche an der Vorstellung von den Engeln festhalten, hat einen doppelten Grund: 
zum einen ist es der Wunsch, der Glaube an den unsichtbaren Gott möge etwas Handgreifliches haben. "Du sollst dir kein Bildnis und kein Gleichnis machen", heißt es zwar im zweiten Gebot, und daran halten wir uns auch, so gut wir können - obwohl Gott für uns immer diese auffallend große Ähnlichkeit mit dem Weihnachtsmann haben wird. Aber von seinen Dienern, den Engeln, darf man sich ungestraft Bilder machen. Sie stehen an der Grenze zwischen unserer Wirklichkeit und der Welt des Glaubens, als Wächter und als Vermittler. Indem wir sie uns ausmalen; indem wir Engelsfiguren aufstellen, schaffen wir sozusagen ein Portal in diese andere Wirklichkeit; ist der Himmel uns ein bisschen näher; fällt es uns etwas leichter, zu glauben.

Zum anderen steht hinter der Vorstellung vom Engel die Sehnsucht nach einem machtvollen Eingreifen Gottes. In der Bibel wird unzählige Male davon berichtet, wie Gott den Lauf der Welt und das Schicksal von Menschen verändert - von der Sintflut, die alles Leben auf der Welt auslöscht - mit Ausnahme einiger weniger Auserwählter -, über den Auszug aus Ägypten, als Gott für das Volk Israel das Schilfmeer zerteilt und es über den nachfolgenden ägyptischen Truppen wieder zusammenschlagen lässt, bis zum unscheinbaren Brot, das Elia unter dem Wacholder in der Wüste findet und von dem man nicht weiß, ob es eine Hirtin oder ein Engel dort für ihn hingelegt hat …

Solange man an Engel glaubt, hält man sich zumindest die Möglichkeit offen, dass Gott auch in unser Leben eingreifen könnte. Es ist zwar unwahrscheinlich, dass er es tun wird, aber kann man es wissen? Deshalb wagt man es nicht, die Engel ganz und gar ins Reich der Märchen zu verbannen. Denn damit würde man gleichzeitig auch eingestehen, dass man nicht mehr mit einem Eingreifen Gottes rechnet - und wer weiß, ob man das nicht eines Tages bereut?

IV
Auch der Hebräerbrief geht nicht so weit, die Existenz von Engeln ganz und gar zu leugnen. Im Gegenteil: Weil sie in der Bibel stehen, muss es sie geben. Doch mit der Geburt Jesu ist etwas geschehen, was die Engel unwiderruflich in die zweite Riege verbannt hat. Jesu Geburt, so könnte man sagen, ist schuld daran, dass die Engel von himmlischen Kriegern, die Angst und Schrecken verbreiteten, zu kleinen, harmlosen Flattermännern und -frauen zusammenschnurrten, die niemandem mehr einen Schrecken einjagen. 

Gott hat seine Politik geändert. Das kommt selbst bei Gott ab und an vor. Die Sintflut lässt er über die Erde hereinbrechen, weil er sich über seine Schöpfung so sehr ärgert, dass er sie wieder rückgängig machen und alles ins Chaos stürzen will. Nach der Sintflut reut ihn, was er getan hat, und er schwört, die Erde nie wieder zu verwüsten. 
Mit der Geburt Jesu ändert Gott noch einmal etwas ganz Entscheidendes: Gott verzichtet auf Gewalt, auf jede ihrer Formen. Darum nimmt Gott die gewaltlose Gestalt schlechthin an: Gott wird ein Baby, das dazu noch in ärmlichen Verhältnissen zur Welt kommt.

Jesus wird später lehren, dass man auch die linke Wange hinhalten soll, wenn man auf die rechte geschlagen wird. Er wird zwar voller Zorn die Tische der Händler im Tempel umwerfen und die Wechsler mit der Peitsche aus dem Tempel jagen, aber als die Jünger seine Verhaftung verhindern wollen, verbietet er es ihnen. Ohne Gegenwehr geht er seinem Tod entgegen, um damit die Spirale der Gewalt zum ersten Mal und zugleich ein für allemal außer Kraft zu setzen.

V
In Jesus hat Gott, wenn man so will, der Gewalt abgeschworen und auf eine andere, eine größere Macht gesetzt: auf die Liebe. Der Nachteil dieser Macht ist, dass sie ohnmächtig ist. Mit Liebe lässt sich Gewalt nicht aufhalten; sie ist machtlos dagegen. Wie eine Sandburg, so spielerisch leicht kann man die Liebe zerstören. Alles Schöne ist so leicht zu zerstören - Bücher, Bilder, Noten sind aus Papier; man kann sie verbrennen oder einfach in den Müll werfen. Blüten verwelken, wenn man sie abschneidet; Musikinstrumente sind so zerbrechlich, dass man sie mit wenigen Handgriffen außer Betrieb setzen kann. 
Aber die Liebe ist es, die uns zu Menschen macht. Wir unterscheiden uns dadurch vom Tier, dass wir Schönes schaffen und uns daran freuen können - und nicht dadurch, dass wir Tiere und uns selbst am effektivsten von allen Lebewesen töten, ja, sogar unsere eigene Erde unbewohnbar machen können. Was das Leben lebenswert macht, ist nicht das Gefühl, dass ich der Stärkste bin, so dass alle anderen Angst vor mir haben, sondern die Schönheit, die ich erlebe und vielleicht sogar selbst schaffe; die Liebe, die ich gebe und empfange.
Wenn Jesus alles auf eine Karte, auf die Liebe, setzt, baut er darauf, dass die Schönheit stärker ist als die hässliche Fratze der Rohheit; dass die ohnmächtige Liebe der einschüchternden Gewalt die Stirn bieten kann; dass Kultur die Barbarei besiegt.

VI
Terroristen versuchen, mit Selbstmordattentaten, Bombenanschlägen und Angriffen auf unbewaffnete Menschen Angst und Schrecken - eben: Terror - zu verbreiten. Sie wollen die Spirale der Gewalt anheizen, indem sie barbarische Dinge tun, die in denen, die sie erleben oder von ihnen erfahren, einen gerechten Zorn nach Vergeltung wecken. Sie schlagen dann zurück, treffen die Terroristen, aber eben auch Unbeteiligte, und damit gibt es in der Heimat der Terroristen neue Opfer, werden Häuser, wird Schönes zerstört, was ihnen neuen Zulauf bringt, und so geht es immer weiter …

Wir werden den Terror niemals mit Gewalt beenden - weder den Terror von Menschen, die Unterkünfte für Flüchtlinge zerstören oder unbewohnbar machen, die Helfer einschüchtern und vor Flüchtlingsheimen Böller zünden, noch den Terror des sogenannten "Islamischen Staates", dem unzählige hilf- und wehrlose Zivilisten zum Opfer fallen. Dass wir uns jetzt in Syrien daran beteiligen, möglichst viele von ihnen umzubringen, wird nicht verhindern, dass sie weiter töten - im Gegenteil: wie man an Israel oder Nordirland lernen könnte, schafft Gewalt zuverlässig neue Gegengewalt, wachsen für jeden getöteten Terroristen zwei neue nach. Wir können das Töten nur verhindern, wenn wir den Menschen dort, wo diese Terroristen rekrutieren, Schönheit bringen. Kultur. Liebe.
"Wer zweifelt, explodiert nicht", sagt Dieter Nuhr. Um zweifeln zu können, muss man erfahren haben, dass es mehr als eine Wahrheit gibt. Muss gelernt haben, die angeblichen Wahrheiten zu hinterfragen. Muss eine Perspektive für sein Leben haben, damit man es nicht einfach wegwirft, die Chance, aus seinem Leben auch etwas zu machen.

VII
Also lassen Sie uns weiter an Engel glauben.
Wir wollen an sie glauben, weil sie für Schönheit stehen an der Grenze zwischen zwei Welten, unserer alltäglichen Welt und dem Reich Gottes, von dem die Bibel sagt, dass es ein Reich des Friedens und der Gerechtigkeit ist. 
Wir wollen an sie glauben, weil Felix Mendelssohn-Bartholdys Vertonung des 91. Psalms, "Denn er hat seinen Engeln befohlen über dir" uns jedesmal zu Tränen rührt und unseren Glauben daran bestärkt, dass die Liebe doch stärker ist als alle Brutalität, Rohheit und Dummheit der Menschen, stärker sogar als der Tod. 
Wir wollen an sie glauben, denn sie weisen uns auf den, der über alle Engel ist, der uns so sehr geliebt hat, dass er sein Leben für uns gab, und dessen Liebe den Tod besiegt hat, damit wir in unserer Angst vor dem Tod nicht mehr auf die Gewalt vertrauen, sondern auf die Liebe. Amen.

Freitag, 25. Dezember 2015

Gott versteckt sich

Predigt zur Christvesper am 24.12.2015 über Jeremia 29,13

Liebe Gemeinde,

I
eins der ersten Spiele, das ein kleines Kind lernt und von dem es gar nicht genug bekommen kann, ist Verstecken. Dieses Versteckspiel der Kleinen ist anders als das der größeren Kinder: nicht so anstrengend, ohne das Zählen, ohne die hektische Suche nach einem möglichst guten Versteck, ohne den Wettlauf, wenn man gefunden wurde … Man braucht sich dabei nicht zu bewegen - es reicht, die Hände vors Gesicht zu halten: Jetzt bin ich weg - jetzt bin ich wieder da; jetzt bin ich versteckt - jetzt wieder da …

Ältere Kinder und Erwachsene amüsieren sich über die Einfalt dieses Spieles: Das Kind muss doch wissen, dass man da ist. Oft sitzt es bei diesem Spiel ja sogar auf dem Schoß - und trotzdem funktioniert es. Offenbar ist es nicht entscheidend, dass Mama oder Papa, Oma oder Opa da sind. Entscheidend ist es, ihr Gesicht zu sehen. Das ist wie mit der Sonne - die ist ja auch immer da, auch wenn sie sich hinter Wolken versteckt. Trotzdem sagen wir dann: "Die Sonne scheint nicht", obwohl sie doch scheint - nur eben über den Wolken.

II
Wie bin ich jetzt auf's Verstecken gekommen? Das gehört doch eigentlich zum Osterfest, wo die Eier versteckt werden. An Weihnachten liegen die Geschenke nach der Bescherung offen unter dem Weihnachtsbaum. Vorher allerdings, da sind sie versteckt … Wo? Tja, das ist und bleibt ein Geheimnis …
Ach ja: Auf's Verstecken kam ich wegen des Kindes in der Krippe!
Ob Jesus wohl auch so Verstecken gespielt hat wie wir? Eigentlich erübrigt sich die Frage, Jesus war doch ein Mensch wie wir. Also wird er auch dieses menschlichste aller Spiele gespielt haben. Aber irgendwie stellt sich die Frage trotzdem, denn - ich weiß nicht, wie es Ihnen geht: mir fällt es schwer, mir Jesus als "richtigen" Menschen vorzustellen. Als Baby, das schreit, weil es Hunger hat; das bäuert und in die Windeln macht; das nicht einschlafen kann und von Maria oder Josef stundenlang geschuckelt oder auf der Schulter durch den Stall getragen werden muss … Das ist so …  menschlich. Aber Jesus ist doch Gottes Sohn, ein göttliches Kind, ein "lieber Stern" (EG 37,6), ein "holder Knabe in lockigem Haar" (EG 46,1), "viel schöner und holder, als Engel es sind" (EG 43,2)!

III
Wenn ich es mir richtig überlege, hat das Verstecken doch sehr viel mit Weihnachten zu tun. Denn eigentlich ist Gott es, der sich an Weihnachten versteckt. - Ein eigenartiger Gedanke, nicht? Dass Gott sich verstecken könnte … Und zugleich eine ganz vertraute Erfahrung: Hat man nicht manchmal das Gefühl, Gott habe sich versteckt? Gott scheint sich immer gerade dann zu verstecken, wenn man ihn am nötigsten braucht. Wenn man für die Matheklausur nicht gelernt hat, aber auf gar keinen Fall eine 5 schreiben darf, dann hilft alles Bitten und Beten nicht: Gott ist nicht zu erreichen, kein Anschluss unter dieser Nummer. Aber auch, wenn man sich Sorgen um einen Menschen macht, wenn jemand schwer krank geworden ist oder gar im Sterben liegt, wenn man selbst Schlimmes erlebt: Dann scheint Gott nicht da zu sein. In solchen Situationen zweifelt man, ob es Gott überhaupt gibt, verzweifelt an der beharrlichen Weigerung Gottes, sich zu melden, das Schicksal zu wenden, ein Wunder zu tun, wenigstens einmal.

IV
Wie aber wäre es, wenn Gott sich gar nicht versteckt hat, sondern wir das bloß denken, weil wir ihn nicht finden? Man sagt ja manchmal, der "sieht den Wald vor lauter Bäumen nicht", wenn man etwas nicht sieht, obwohl man fast mit der Nase darauf stößt.
Ein jüdischer Gelehrter erzählt eine Geschichte von einem Jungen, der mit seinen Freunden Verstecken spielt. Er hat ein so gutes Versteck gewählt, dass seine Freunde ihn nicht finden. Doch statt weiter zu suchen, geben sie die Suche auf, spielen etwas anderes und lassen ihren Freund in seinem Versteck zurück. Da läuft das Kind weinend zu seinem Großvater. Als der erfährt, dass die Freunde seines Enkels ihn nicht suchen wollten, schießen ihm die Tränen in die Augen und er sagt: „So spricht auch Gott: Ich verberge mich, aber keiner will mich suchen.“
(nach: Martin Buber, Die Erzählungen der Chassidim, Zürich (Manesse) 1990, S. 191)

Ist es nicht verständlich, dass man die Suche aufgibt, wenn der, der sich versteckt hat, einfach nicht zu finden ist - vielleicht gar nicht gefunden werden will? Aber das Versteck, das Gott sich gewählt hat, ist wirklich kinderleicht - im wahrsten Sinne des Wortes. Wir stoßen sozusagen mit der Nase darauf. Gott liegt in der Krippe! Dieses kleine, hilflose, wärme- und liebesbedürftige Menschlein ist Gott! - Kein Wunder, dass wir ihn nicht finden. Was soll man schon mit so einem Gott anfangen? Wie soll ein Baby in der Krippe bei der Matheklausur helfen? Was soll es ausrichten gegen Krankheit, Schmerz und Tod? Wie kann es helfen, wenn es selbst hilfebedürftig ist?

V
Eben darum haben wir das Gefühl, Gott habe sich versteckt: Weil wir nach einem ganz anderen Gott suchen als den, der sich uns im Kind zeigt. Wir suchen so etwas wie Supermann, Batman, die X-men: Wir suchen einen, der auf wunderbare Weise alles wieder in Ordnung bringt, was wir nicht schaffen. Wir suchen einen, der mal eben für uns die Naturgesetze außer Kraft setzt - das müsste für Gott doch ein Kinderspiel sein, wenn es den Supermännern und -frauen schon so leicht fällt.
Gott aber weigert sich, ein Supermann zu sein. Als Jesus am Kreuz hängt und provoziert wird, er solle doch herabsteigen vom Kreuz, wenn er Gottes Sohn ist, da rettet er sich nicht. Gott wird Mensch, das bedeutet: Es gibt keinen allmächtigen Gott mehr. Keinen Blitzeschleuderer und Weltveränderer, keinen, der die Naturgesetze außer Kraft setzt, die er selbst gemacht hat. Als Gott Mensch wurde, hat er sich selbst diesen Gesetzen unterworfen. Er hat sich selbst sogar dem Leiden und dem Tod unterworfen. Warum hat er das getan? Er hätte lieber Gott bleiben sollen: Ein allmächtiger Gott nützt uns mehr als ein kleines Menschlein in der Krippe.

VI
Als wir Kinder waren, da waren unsere Eltern Superfrauen und -männer für uns. Was die alles konnten! Wie oft sie uns aus der Patsche halfen, uns trösteten, wenn wir uns weh taten; uns Geld zusteckten, wenn wir mal wieder knapp bei Kasse waren; einen Rat für uns hatten, wenn wir nicht weiter wussten; uns notfalls auch mal beim Lehrer oder beim Ausbilder 'raushauten, wenn es Ärger gegeben hatte.
Als wir selbst erwachsen wurden, mussten wir allein klarkommen. Das gehört zum Erwachsensein dazu, und das wollten wir auch. Inzwischen sind viele von uns selbst Eltern, die das für ihre Kinder tun, was ihre Eltern für sie taten. Und auch unsere Kinder werden eines Tages ohne unsere Hilfe auskommen müssen und wollen.

So ist es auch im Glauben. Als Kind stellt man sich Gott so vor wie Mutter oder Vater - nur eben viel größer und mächtiger, mit Rauschebart und so. Wenn man älter wird, erlebt man die Enttäuschung, dass Gott nicht so ist, wie man ihn sich als Kind vorstellte. Die einen geben enttäuscht ihren Glauben an einen Gott auf, der sich scheinbar weigert, für sie da zu sein. Die anderen finden Gott im Kind in der Krippe und verstehen. 
Sie verstehen, dass Gott Mensch wurde, damit wir Menschen sein können: freie, selbständige Menschen, keine großen Kinder.

VII
Gott versteckt sich in einem kleinen Kind. Dieses Versteck ist so gut, weil wir nie darauf kämen, Gott dort zu suchen. Dort ist Gott zu finden: an den Orten, bei den Menschen, wo wir ihn nicht vermuten würden. Deshalb hat sich Jesus mit Fischern abgegeben, mit Zöllnern, mit Menschen, die am Rand der Gesellschaft standen, nicht mit den Schönen, Reichen und Berühmten. Wer Gott finden will, muss sich bücken, darf sich nicht zu schade dazu sein, sich auch mal die Finger schmutzig zu machen - z.B. beim Wechseln einer vollen Windel … 

Gott versteckt sich, damit wir ihn finden. Wenn wir ihn gefunden haben, kann er uns mit seiner Liebe überwältigen, wie es ein kleines Kind tut. Wenn man beim Versteckspiel die Hände vom Gesicht nimmt, dann lacht und strahlt das Kind, dass man selber lächeln muss, ob man will oder nicht. Ein kleines Kind schenkt einem so viel Liebe, so viel Glück, dass man alle Sorgen vergisst. 
Das ist Gottes Weihnachtsgeschenk für uns. Alle Jahre wieder schenkt sich Gott uns als Kind in der Krippe, dass uns das Herz aufgeht und wir ganz weiche Knie bekommen und dieses Strahlen im Gesicht vor Glück und vor Liebe.
Amen.