Freitag, 27. Juli 2018

Du brauchst keine Angst zu haben

Predigt am 9. Sonntag nach Trinitatis, 29.7.2018, über Jeremia 1,4-10:

Ich hörte Gott zu mir sagen:
Ich kannte dich, bevor ich dich im Mutterleib bildete.
Bevor du geboren wurdest, weihte ich dich.
Ich setzte dich ein zum Propheten für die Völker.
Aber ich sprach:
Ach, Herr Gott, schau, ich kann nicht reden; ich bin zu jung!
Gott sagte zu mir:
Sage nicht: Ich bin zu jung!
Vielmehr sollst du gehen, wohin ich dich schicke,
und sollst reden, was ich dir sage.
Fürchte dich nicht vor ihnen,
denn ich bin bei dir, um dich zu retten. Spruch des Herrn.
Und Gott streckte seine Hand aus und berührte meinen Mund.
Und Gott sprach zu mir:
Hiermit lege ich mein Wort in deinen Mund.
Mit dem heutigen Tag vertraue ich dir Völker und Sippen an,
auszureißen, abzubrechen, auszurotten, einzureißen,
zu bauen und zu pflanzen.


Liebe Schwestern und Brüder,

vielleicht kennen Sie das ja auch:
Dass einem eine Aufgabe zu groß erscheint
und man Angst hat, sie nicht zu schaffen.
Steht man vor dieser Aufgabe, möchte man sie am liebsten loswerden -
so, wie Jeremia.

Eine Aufgabe erscheint einem zu groß,
wenn man etwas zum ersten Mal tut und noch keine Erfahrung hat;
sie erscheint zu groß, wenn man das Gefühl hat,
nicht gut vorbereitet zu sein, nicht genug geübt zu haben;
sie erscheint zu groß, wenn einem viele dabei zusehen.
Am größten wird die Angst vor der Aufgabe, wenn alles zusammenkommt:
Wenn man etwas, das man nicht kann und für das man nicht genug geübt hat,
vor anderen Leuten vorführen muss.
Das Referat vor den Klassenkameraden kommt einem da in den Sinn.
Die Führerscheinprüfung.
Ich denke an meine allererste Predigt.

Wer solche Situationen erlebt und durchlitten hat, kann nachfühlen,
wie es Jeremia geht.
Kann nur zu gut verstehen, dass er Gottes Einladung ablehnt.
So schmeichelhaft es ist, dass Gott ihn zu seinem Propheten machen will:
Jeremia weiß, dass diese Aufgabe für ihn eine Nummer zu groß ist.
Wenn einem eine viel zu große Aufgabe übertragen wird,
sucht man händeringend nach Ausreden.
Jeremia führt seine Unerfahrenheit an;
er ist noch zu jung, um als Redner von Älteren ernst genommen zu werden.
Aber Gott lässt diese Ausrede nicht gelten.
Er wischt sie beiseite mit dem Hinweis,
er habe Jeremia schon vor seiner Geburt ausgewählt.
Das bedeutet: Es kommt nicht auf Jeremias Fähigkeiten an.
Vor der Geburt lässt sich nun wirklich nicht sagen,
was einmal aus diesem Menschlein wird;
welche Gaben es besitzt, welche Fähigkeiten es entwickelt.
Deshalb taufen wir Säuglinge, um deutlich zu machen:
Gottes Kind wird man nicht, weil man besondere Fähigkeiten besitzt;
weil man etwas leistet oder sich eines Tages dazu entschieden hat, es zu werden.
Gottes Kind wird man, weil Gott einen dazu berufen hat.

Die Tatsache, dass Gott ihn berufen hat, ist kein Trost für Jeremia.
Die Vorstellung, vor Leuten reden zu müssen, macht ihm Angst -
das geht wohl jedem von uns so.
Es ist schon schwer, eine Rede zu halten - bei einer Versammlung oder einem Geburtstag z.B. -,
weil man die kritischen Kommentare seiner Zuhörer fürchtet.
Gottes Wort zu sagen ist noch schwerer,
weil man sich dabei um Kopf und Kragen reden kann.
Das gilt nicht nur in Bezug auf Gott.
Wenn man Gottes Wort spricht, sagt man nicht unbedingt das,
was die Leute gerne hören möchten.
Jeremia hat am eigenen Leib erfahren müssen,
wie das ist, Gottes Wort zu verkünden:
Er bekam Ärger.
Es gab eine Verschwörung gegen ihn; man wollte ihn aus dem Weg räumen.
Ein Priester des Jerusalemer Tempels schlug ihn und sperrte ihn in den Block.
Er wurde verhaftet und ins Gefängnis gesteckt.
Seine Gegner warfen ihn in einen leeren Brunnen,
aus dem ihn seine Freunde noch rechtzeitig befreien konnten.
Seine Prophezeiungen, die sein Schüler Baruch aufgeschrieben hatte,
wurden vom König persönlich Seite für Seite verbrannt.
Am Ende musste Jeremia die Einnahme Jerusalems miterleben,
vor der er so lange vergeblich gewarnt hatte.
In den Wirren nach der Einnahme der Stadt wurde er nach Ägypten verschleppt.

Jeremias Ängste waren also mehr als berechtigt.
Er hatte von Anfang an das richtige Gefühl.
Und irgendwie spricht seine Geschichte auch gegen Gott:
Hatte er Jeremia nicht versprochen:
„Fürchte dich nicht vor ihnen,
denn ich bin bei dir, um dich zu retten“?
In all dem, was Jeremia erdulden muss,
ist von Gottes Beistand nichts zu spüren.
Deshalb sagt Jeremia in einem Rückblick auf sein Leben:
„Herr, du hast mich überredet, und ich habe mich überreden lassen.
Du bist mir zu stark gewesen und hast gewonnen“ (Jeremia 20,7).
Jeremia fühlt sich von Gott getäuscht, er fühlt sich über den Tisch gezogen.
Auch das ist ein Gefühl, das oft mit einer zu großen Aufgabe einhergeht:
Da fragt zum Beispiel ein Freund an, ob man bei seinem Umzug mal mit anfassen könnte;
Bett und Schrank könne er nicht allein tragen.
Man sagt zu - und macht auf einmal den ganzen Umzug mit,
weil der liebe Freund noch gar nichts eingepackt hat.

Oder man ist bereit, die kranke Mutter zu betreuen,
weil sie sich allein nicht mehr helfen kann -
und dann wird daraus ein Vollzeit-Job rund um die Uhr,
der einem keine Zeit, keinen Freitraum für einen selbst mehr lässt.

Ähnliche Erfahrungen macht, wer sich in der Gemeinde engagiert.
Da bietet man einmal seine Hilfe an -
schon ist man Mitarbeiterin oder Kirchenälteste,
und man weiß gar nicht, wie das gekommen ist.

Jeremias Erfahrungen sind uns nicht fremd.
Auch wir lassen uns manchmal gutwillig auf etwas ein,
ohne zu ahnen, welche Folgen das haben,
welche Ausmaße unsere Verpflichtung annehmen wird.
Und wie Jeremia haben auch wir manchmal das Gefühl,
dabei über den Tisch gezogen worden zu sein …

Aber wenigstens hat man etwas davon!

Ja - was hat man denn davon, dass man sich für andere einsetzt?
Jeremia bekommt gesagt:
„Mit dem heutigen Tag vertraue ich dir Völker und Sippen an,
auszureißen, abzubrechen, auszurotten, einzureißen,
zu bauen und zu pflanzen.“
Jeremia erhält Macht - große Macht, wie es scheint.
Er erhält die Macht, die Welt wie ein Gärtner gestalten zu können:
Unkraut und welke Pflanzen auszureißen, Beete abzubrechen und anderswo neu anzulegen,
Neues zu pflanzen.
Aber Jeremia ist doch nur ein Mensch!
Wie soll ein einzelner Mensch die Welt verändern!?
Selbst, wenn er Tag und Nacht schuftete:
Ein einzelner Mensch kann einen Garten umgestalten, aber mehr auch nicht.

Die Macht, die Jeremia von Gott bekommt,
ist keine körperliche Macht.
Sie richtet nichts aus gegen die Menschen, die ihn nicht hören wollen;
die ihn bedrohen und zum Schweigen bringen wollen.
Es ist die Macht des Wortes.

Mit dieser Macht rüstet auch Jesus seine Jünger aus,
wenn er sie aussendet, das Reich Gottes zu verkündigen:
„Wenn ihr in ein Haus geht, so grüßt es;
und wenn es das Haus wert ist, kehre euer Friede dort ein.
Ist es aber nicht wert, so wende sich euer Friede wieder zu euch“ (Matthäus 10,13).
Mit ihren Worten können die Jünger einem Haus, einer Familie den Frieden bringen
oder ihnen den Frieden wieder nehmen.

Woher dieses Vertrauen auf die Macht des Wortes?
Lehrt die Erfahrung Jeremia, lehrt sie uns nicht etwas anderes?
Dass nicht der mit den besten Argumenten gewinnt,
sondern der, der am lautesten brüllen kann;
dass nicht Vernunft, sondern Gewalt sich durchsetzt;
dass der Klügere deshalb nachgibt, weil der Dümmere meistens der Stärkere ist?

Die Gewalt scheint sich immer wieder gegen das Wort durchzusetzen.
Aber das scheint nur so.
Tatsächlich ist das Wort viel mächtiger als das Schwert.
Warum sonst geht es den Mächtigen um die Lufthoheit an den Stammtischen?
Warum sonst twittern sie, sind auf Facebook, reden in Talkshows?
Warum sonst wird von denen, die keine Argumente haben,
die freie Presse als „Lügenpresse“ geschmäht?

Worte haben Macht, und das nicht nur in der Politik.
Worte haben Macht auch im privaten Bereich.
Wie sehnsüchtig wartet man auf das Geständnis: „Ich liebe dich“!
Mit diesen drei Worten ändert sich alles für den, dem sie gelten.
Für diesen Menschen ändert sich die Welt.

Oder wie dringend wartet jemand nach einem Streit auf eine Geste der Versöhnung,
auf ein Wort des Bedauerns und der Entschuldigung!
Man kann hungern und dürsten nach dem Wort eines anderen,
kann leiden unter dem Schweigen des anderen.

Und schließlich können Worte einen Menschen auch stark machen oder schwach.
Wer ständig zu hören bekommt: Du kannst das nicht; du bist nicht schön,
der kann sich irgendwann selbst nicht mehr anders sehen;
für den ist jeder Fehler, jeder Misserfolg eine Bestätigung,
dass das Urteil der anderen wahr ist.
Und andererseits, wer Ermutigung erfährt, wer gelobt wird, kann vieles leisten
und wird leicht mit Fehlern oder einem Misserfolg fertig.

Worte haben eine Macht.
Die Macht, in Menschen etwas auszureißen, abzubrechen, auszurotten, einzureißen.
Und sie haben die Macht, in Menschen etwas zu bauen und zu pflanzen.
Es kommt darauf an, wie man die Worte verwendet - ob verantwortungsvoll,
mit dem Wissen um den eigenen Auftrag und um die Wirkung, die meine Worte haben,
oder verantwortungslos, ohne Rücksicht auf das, was meine Worte bei anderen anrichten,
wie verletzend, wie schädigend, wie zerstörerisch sie sein können.
Wenn schon Worte, die zwischen zwei Menschen gesprochen werden,
das Leben zum Guten oder zum Schlechten verändern können;
wenn die Worte der Mächtigen Macht haben, die Meinung eines ganzen Landes zu beeinflussen:
um wie viel gefährlicher muss es dann sein, mit Gottes Wort zu hantieren!
Da versteht man, dass Jeremia dem lieber aus dem Weg gehen möchte.

Gerade, weil das Wort so mächtig ist,
braucht es Menschen, die damit verantwortungsvoll umgehen können.
Deshalb beruft Gott den Jeremia.
Deshalb hat Gott auch uns berufen:
Er traut uns zu, dass wir sein Wort nicht benutzen,
um Menschen wehzutun, ihren Mut und ihre Hoffnung zu zerstören,
ihnen das Gefühl des eigenen Wertes zu nehmen, des Sinns in ihrem Leben.
Sondern dass wir Menschen damit aufbauen und ihnen etwas Gutes einpflanzen:
Selbstvertrauen. Anerkennung. Respekt.

Die Kehrseite dieser Berufung ist:
Wer Gottes Wort behütet, wird leiden.
Zum Glück nicht so, wie Jeremia - jedenfalls nicht in unseren Breiten.
Aber wer Gottes Wort im Munde führt,
wird manchmal widersprechen müssen - und kann dafür Kritik ernten,
ausgegrenzt werden, wird vielleicht sogar niedergebrüllt.
Wer andere verteidigt, wer für die spricht, die keine Stimme haben,
macht sich Feinde und wird vielleicht selbst jemand, den man zum Schweigen bringen will.

Wer Gottes Wort behütet, wird leiden.
Aber die Tatsache, dass man leidet, ist kein Beweis dafür, dass es tatsächlich Gottes Wort ist.
Gottes Wort kann man nicht besitzen.
Gott legt es einem in den Mund, wann und wo er will.
Dass es Gottes Wort ist, zeigt sich daran,
dass es etwas wachsen lässt in einem Menschen, dass es Menschen aufbaut.
Und es zeigt sich auch darin, dass es ausreißt und ausrottet,
was Menschen klein macht, ihnen das Menschsein abspricht.

Aber was hat man nun davon?
Was ist der Lohn für die Mühe, die man damit hat, Gottes Wort zu behüten?
Was hat Jeremia davon gehabt, dass er für Gottes Wort eingetreten ist?
Jeremia bekam Gottes Zusage:
„Fürchte dich nicht vor ihnen,
denn ich bin bei dir, um dich zu retten.“
Man sagt kleinen Kindern: Du brauchst doch keine Angst zu haben!
Wenn Sie an Ihre Kindheit zurückdenken, hat das geholfen gegen die Angst?
Nein, meistens nicht.
Die Angst war trotzdem da. Und sie ist geblieben.
Dass wir keine Angst zu haben brauchen, wissen wir - und haben sie trotzdem.
Weil wir die Erfahrung machen mussten, dass unsere Eltern uns nicht immer beschützen können.
Dass es Dinge gab, gegen die auch sie nichts aurichten konnten.

Gottes „Fürchte dich nicht vor ihnen“ ist kein „Du brauchst keine Angst zu haben“.
Es ist keine Zusage, es ist ein Befehl.
Aber man kann doch niemandem befehlen, keine Angst zu haben!?
Gott befiehlt Jeremia, auf die Macht seines Wortes zu vertrauen.
Das ist wie der Gang über einen schmalen Steg über einem reißenden Fluss: Man muss es wagen.
Wer das Wagnis eingeht, auf Gottes Wort zu vertrauen,
wird die Erfahrung machen, dass es die Angst vertreibt -
obwohl all das, was uns Angst macht, noch da ist,
und obwohl wir werden leiden müssen.
Gott ist bei uns, und Gott rettet uns.
Wer es wagt, auf diese Worte zu vertrauen,
den tragen sie, wie eine Brücke.
Das ist unser Lohn: Wir müssen keine Angst mehr haben
und wir erhalten die Fähigkeit, auch anderen die Angst zu nehmen.
Das ist doch gar nicht mal so schlecht, oder?

Freitag, 20. Juli 2018

Wem wir gehören

Predigt am 8. Sonntag nach Trinitatis, 22. Juli 2018, über 1.Korinther 6,9-20:

Wisst ihr nicht, dass Sünder das Gottesreich nicht erben werden?
Macht euch nichts vor: Niemand, der seinen Körper verkauft oder Götzen anbetet, weder Ehebrecher, noch Lustknaben, noch Kinderschänder, auch nicht Diebe, Trunkenbolde, Lästerer oder Räuber werden das Reich Gottes erben. Manches davon seid ihr gewesen. Aber ihr wurdet befreit. Ihr wurdet geheiligt. Ihr wurdet gerechtfertigt durch den Namen des Herrn Jesus Christus und durch den Geist unseres Gottes.
Ich darf alles, aber nicht alles tut gut.
Ich darf alles, aber Macht habe ich über nichts.
Das Essen ist für den Bauch und der Bauch für das Essen da. Gott wird diesen und jenes zunichte machen.
Der Körper ist nicht dafür da, gegen Geld verkauft zu werden, sondern er ist für den Herrn [Jesus Christus] da, und der Herr ist für den Körper da. Gott aber, der den Herrn auferweckt  hat, wird durch seine Macht auch uns auferwecken. Wisst ihr nicht, dass eure Körper Teile des Leibes Christi sind? Nimmt man denn Teile des Leibes Christi, um sie für Geld zu verkaufen? Undenkbar!
Oder wisst ihr nicht, dass, wer sich mit einer Prostituierten einlässt, ein Leib mit ihr wird? Denn es heißt: „Die zwei werden ein Leib sein“ (1.Mose 2,24).
Wer sich auf Gott einlässt, ist eines Geistes mit ihm.
Hütet euch davor, euren Körper zu verkaufen! Jede Sünde, die der Mensch tut, geschieht außerhalb des Körpers. Wer aber seinen Körper verkauft, sündigt im eigenen Leib. Oder wisst ihr nicht, dass euer Körper ein Tempel des Heiligen Geistes ist? Ihr habt ihn von Gott; er gehört euch nicht. Ihr wurdet gegen Bezahlung gekauft. Ehrt also Gott mit eurem Körper.


Liebe Schwestern und Brüder,

bei manchen Bibeltexten fragt man sich, was sie einem sagen wollen und warum man sich ausgerechnet mit diesem Text beschäftigen soll. Prostitution ist, das kann man wohl behaupten, nun wirklich nicht unser Problem. Für Pauulus dagegen war es eins. Während wiederum die Korinther, an die er schreibt, darin offenbar kein Problem sahen. Das veranlasst Paulus dazu, sich so ausführlich mit dieser Frage auseinanderzusetzen.
Aber muss man sich wirklich mit dieser Geschichte befassen? Sollte man wirklich die knapp 2.000 Jahre zurückreisen in die damalige Weltstadt Korinth, eine bedeutende Hafenstadt wie heute Hamburg? Wie in Hamburg gab es auch in Korinth eine „Reeperbahn“, auch wenn die natürlich nicht so hieß. Man sprach und spricht bis heute Griechisch in Korinth. Viele von denen, die auf der Korinther Reeperbahn arbeiteten und verkehrten, hatten das Herz auf dem rechten Fleck. Denn mit dem horizontalen Gewerbe geht oft ein großes Herz, große Einfühlsamkeit einher. Und auf Seiten der Freier ein Bewusstsein der eigenen Grenzen, der eigenen Endlichkeit. Beides macht empfänglich für den christlichen Glauben. Kein Wunder also, dass damals in Korinth manches Gemeindeglied aus diesem Kiez stammte. Schon Jesus hatte sich mit Prostituierten getroffen - und sich nichts dabei gedacht. Vielleicht deshalb sahen Prostituierte wie Freier kein Problem darin, ihr Gewerbe und ihren Glauben miteinander zu vereinbaren. Sonst müsste Paulus sich nicht so anstrengen, ihnen zu erklären, warum beides nicht zusammengeht.

Ich möchte heute nicht mit Ihnen über das Für und Wider der Prostitution nachdenken. Wie man sich dazu stellt, ist eine moralische Frage. Der Glaube hat aber nichts mit Moral zu tun. Jesus ging es nie um „Sitte“ und „Anstand”. Sonst hätte er sich wohl nicht mit Menschen getroffen und sehen lassen, die seinen Zeitgenossen als unanständig und moralisch fragwürdig galten.
Dem Glauben geht es nicht um Moral, aber sehr wohl darum, wie wir uns und andere beurteilen und behandeln. Der christliche Glaube hat dabei ein ganz bestimmtes Bild vom Menschen entwickelt. Paulus, als erster und sehr wichtiger Theologe des Christentums, entwirft in diesem Abschnitt des 1.Korintherbriefes ein ganz besonders interessantes Bild vom Menschen. Das möchte ich mit Ihnen genauer anschauen. Es findet sich im letzten Satz seiner Ausführungen über die Prostitution: „Ihr wurdet gegen Bezahlung gekauft. Ehrt also Gott mit eurem Körper.“

Um diesen Satz zu verstehen, muss man wissen, dass es zur Zeit des Paulus noch die Sklaverei gab. Sklave zu sein bedeutete, einem anderen Menschen zu gehören. Und zwar im wortwörtlichen Sinn: Ein Sklave wurde als Eigentum angesehen, wie ein Stück Vieh, ein Tisch oder ein Stuhl. Manche Besitzer gingen mit ihren Sklaven auch genau so um. Sie behandelten sie nicht wie Menschen, sondern wie Tiere oder Möbel. Einen Sklaven zu verletzen oder gar zu töten war nicht Mord, sondern Sachbeschädigung. Für uns klingt das heute zynisch; für die Menschen der Antike war es Normalität. Und man muss nur über den großen Teich schauen: In den USA herrscht bei vielen Menschen dieses Denken noch immer vor, obwohl die Sklaverei dort vor 150 Jahren abgeschafft wurde.
Paulus behauptet also, wir seien gekauft worden - wie man damals Sklaven kaufte. Eine groteske, geradezu unerträgliche Vorstellung! Aber Paulus will uns nicht beleidigen. Er will vielmehr erklären, in welchem Verhältnis wir zu Gott stehen. Paulus selbst nennt sich in seinen Briefen δοῦλος Χριστοῦ Ἰησοῦ, Sklave Christi Jesu. Er sagt von sich, dass er Christus gehört, wie ein Sklave seinem Herrn gehört, weil er von ihm gekauft wurde. Womit hat Jesus bezahlt? Die Antwort liegt auf der Hand: Mit seinem Leben.
Jesus gab sein Leben für Paulus.
Jesus gab sein Leben für uns.
Wenn jemand sein Leben aufs Spiel setzt, um einen anderen zu retten, begründet das ein ganz besonderes Verhältnis, eine Lebensschuld. Man ist seinem Lebensretter ewig dankbar, steht ein Leben lang in dessen Schuld.
Paulus aber spricht nicht von Schuld. Von Schuld hat Jesus uns doch gerade befreit! Wir sind Jesus nichts schuldig, obwohl er sein Leben für uns gab. Trotzdem - oder gerade deshalb - haben wir ein ganz besonderes Verhältnis zu ihm. Dieses besondere Verhältnis beschreibt Paulus als Eigentumsverhältnis: Wir gehören Jesus, sind sein Eigentum.
Sich nicht selbst zu gehören - das kann man sich nicht vorstellen. Unsere Freiheit ist unser höchstes Gut. Niemand würde diese Freiheit aufgeben wollen, nicht einmal um Gottes Willen.
Aber wer verliebt ist, singt lauthals mit Heinz Rudolf Kunze: „Dein ist mein ganzes Herz …“. Wenn man verliebt ist, will man dem anderen gehören, mit Haut und Haar, und es macht einem gar nichts aus. Im Gegenteil, man sucht es, dieses Einssein mit dem anderen und wünscht sich, es möge niemals enden.

Jesus, dem wir gehören, ist kein zynischer Sklavenhalter. Er ist eher so etwas wie ein Liebhaber. Denn Liebe war es, aus der er sein Leben für uns gab.
Die eine Seite der Tatsache, dass wir Jesus gehören, bedeutet demnach, dass wir eins mit ihm sind, weil er eins mit Gott ist. Weil wir Jesus gehören - und nur, weil wir Jesus gehören - sind wir Gott ganz nah. So nah, wie uns nur der Liebste oder die Liebste kommen kann.
Die andere Seite der Tatsache, dass wir Jesus gehören, sind all die anderen, denen wir nicht gehören. Etwas oder jemand kann ja nur einem gehören. Weil wir Eigentum Christi sind, gehören wir nicht dem Staat. Wir gehören auch keinem anderen Menschen - weder unserem Partner oder unserer Partnerin, noch unseren Eltern oder unseren Kindern. Nicht dem Arbeitgeber oder irgendeinem Chef, noch einem sonstigen Vorgesetzten.
Paradoxerweise schenkt uns also gerade die Tatsache, dass wir Jesus gehören, wie früher ein Sklave seinem Herrn gehörte, mit Haut und Haar, die größte Freiheit. Eine Freiheit, die so umfassend ist, dass man sie leicht verspielen kann. Denn im Alltag merken wir es nicht, dass wir Jesus gehören. Die Sklavenmarke, die uns zu seinem Eigentum macht, besteht aus Wasser - das Wasser, mit dem wir getauft wurden. Niemand kann sie sehen. Auch wir selbst vergessen leicht, dass wir sie tragen. Weil wir so vergesslich sind, warnt Paulus uns davor, uns zu verkaufen. Da geht es nicht nur um Prostitution. Man kann sich auch auf andere Weise verkaufen. Man verkauft sich immer dann, wenn man sich anderen wider besseres Wissen für deren Absichten zur Verfügung stellt. Wenn man nicht Nein sagt, obwohl man fühlt, dass man es sagen sollte. Wenn man kein Rückgrat zeigt, sein Fähnchen nach dem Wind dreht - aus Angst, oder aus Opportunimus.
Wir wurden gegen Bezahlung gekauft, um in der Freiheit der Kinder Gottes zu leben.
Gebe Gott, dass wir unsere Freiheit recht gebrauchen!

Mittwoch, 11. Juli 2018

Klimaveränderung

Predigt am 7. Sonntag nach Trinitatis, 15. Juli 2018, über Philipper 2,1-4

Liebe Schwestern und Brüder,

das Klima unter uns ist rauer geworden; daran besteht wohl kein Zweifel. Der Ton, den Politiker anschlagen, aber auch die Auseinandersetzungen mit Andersdenkenden werden schärfer und härter. Man unterscheidet nicht mehr zwischen Person und Sache, sondern greift direkt die Person an.
Auch das Miteinander hat nachgelassen. Wehmütig denken die Älteren daran zurück, wie selbstverständlich man früher einander half; wie normal es war, sich zu treffen - auf der Straße, beim Einkaufen, in der Kneipe; wie gern und problemlos man in der Gaststätte Fremde am Tisch platznehmen ließ. Heute ist jeder für sich. Schon harmlose Nettigkeiten - der Wunsch der Tageszeit, die Frage nach dem Befinden - werden als Neugier, als übergriffig empfunden und schroff abgelehnt. In Hannover hatte neulich eine kirchliche Jugendgruppe die Idee, in der Nachbarschaft Blumen vor die Haustüren zu legen. Die Leute riefen die Polizei.
Enttäuschend und verstörend, dieses Misstrauen, diese Distanz unter den Menschen. Wer oder was könnte daran schuld sein an geschwundener Solidarität und fehlendem Mitgefühl?

I. Der erste Impuls ist oft, einen Sündenbock auszumachen, dem man die Schuld an der Misere geben kann. Aber damit ist das Problem nicht gelöst. Will man sich tatsächlich um eine Lösung bemühen, muss man nachdenken. Überlegen, was sich verändert hat (1), wer sich verändert hat (2) und warum es sich verändert hat (3).

(1) Wenn sich etwas verändert, muss es ein „Früher“ geben, an dem es anders war als heute. Scheinbar in jeder Generation hört man die Älteren sagen, dass es „früher“ besser war. Aber wann war dieses „Früher“? Und war „früher“ wirklich alles besser? Oder verklärt sich in der Rückschau die Vergangenheit, so dass man sich wehmütig nur an das erinnert, was schön war, das Schwere und Schlechte aber ausblendet und verdrängt?
Für das „Früher“ sollte man also besser auf eine neutrale Beschreibung zurückgreifen, die frei ist von solchen blinden Flecken. Wie wäre es z.B. mit dem Predigttext des heutigen Sonntages? Der Apostel Paulus beschreibt im Philipperbrief, was das Leben lebenswert macht:
„Wurdet ihr durch Christus getröstet,
erfuhrt Linderung durch die Liebe;
hattet ihr Gemeinschaft im Geist,
Mitleid und Mitgefühl,
dann macht meine Freude vollkommen,
indem ihr gleichgesinnt seid;
jeder von euch sich um Liebe bemüht;
indem ihr einig seid und das Eine erstrebt;
auch nicht selbstsüchtig und geltungssüchtig seid,
sondern einander in Demut zu übertreffen sucht;
nicht jeder das seine bedenkt, sondern jeder an den anderen denkt.“
Fünf Dinge zählt Paulus als Grundpfeiler der menschlichen Existenz auf:
1. man findet Trost;
2. man erfährt Liebe;
3. man erlebt Solidarität;
4. man erfährt Mitleid und hat Mitleid mit anderen und
5. man kann sich in andere hineinversetzen und erlebt, dass andere sich in die eigene Lage versetzen können.

II. Diese fünf Grundpfeiler sind ganz schön anspruchsvoll. Wie oft sucht man vergeblich nach Trost; wie vielen Menschen kam die Liebe abhanden, oder sie hofften vergeblich darauf; wie selten findet man Gleichgesinnte, und wie rar sind Mitleid und Mitgefühl! So selten diese fünf Dinge sind, ich denke, dass jeder Mensch sie braucht und für sich ersehnt: Liebe und Trost, Gemeinschaft, Mitleid und Mitgefühl. Ohne diese fünf Dinge kann man nicht glücklich sein; ohne sie ist das Leben nicht lebenswert.

Paulus setzt diese fünf so seltenen Dinge bei den Philippern glatt voraus, und er setzt noch eins obendrauf: Er fordert von den Philippern weit mehr als diese fünf, die ohnehin schon Mangelware sind:
Paulus möchte, dass unter den Philippern Einigkeit herrscht. Einigkeit in der Frage, was zu tun ist; Einigkeit über den Weg, wie es zu erreichen ist, und Einigkeit auch über das Ziel.
Er möchte, dass alle sich in gleicher Weise anstrengen und bemühen.
Und er möchte, dass jeder seine Interessen zugunsten der Gemeinschaft zurückstellt.
Das alles klingt sehr nach den Idealen, die auch im Sozialismus propagiert wurden - und an denen der Sozialismus kolossal gescheitert ist. Mancher hier kann sich noch daran erinnern und kann aus eigener Erfahrung sagen: Was Paulus da von seinen Philippern verlangt, das funktioniert nicht. Im Sozialismus jedenfalls hat es nicht funktioniert.

III. (2) Es hat nicht funktioniert, und es wird nie funktionieren, dass der Einzelne seine Interessen zugunsten der Gemeinschaft zurückstellt. Alle Projekte, alle Träume von Gemeinsinn und Solidarität sind gescheitert. Und sie werden auch in Zukunft scheitern, und zwar an ihren Voraussetzungen: Der Mensch stellt seine Interessen nicht zurück. Der Mensch denkt zuerst an sich, und dann noch einmal an sich, und dann kommt eine ganze Weile gar nichts, und dann kommen - vielleicht - die anderen.
Manchmal kann man auch anders. Manchmal kann man sich zurücknehmen, für andere da sein, hilfsbereit, liebenswürdig, barmherzig sein. Aber nie für längere Zeit. Der Drang, vorkommen und sich zeigen zu müssen, gesehen und gelobt zu werden ist einfach zu groß, ebenso wie der Drang, zu bestimmen; zu tun, was einem gefällt; der Drang, die eigenen Bedürfnisse zu erfüllen. Das alles gehört so sehr zu unserem Menschsein, dass eine selbstlose Gemeinschaft, wie Paulus sie beschreibt, nur mit Zwang durchgesetzt werden kann. Und auch dafür bietet die Geschichte viele, mitunter schreckliche, Beispiele.

Wenn wir Menschen so sind, wie wir sind, dann gibt es keinen Sündenbock, weil alle Sünder sind. Dann ist niemand Spezielles schuld daran, dass das Klima unter uns rauer, die Hilfsbereitschaft seltener und der Gemeinsinn verloren gegangen ist. Sondern wir alle sind dafür verantwortlich, jede und jeder von uns. Wir bestimmen das Klima, indem wir darauf achten, wie wir miteinander sprechen und umgehen. Wir gestalten unser Miteinander, indem wir darauf achten, wo jemand Hilfe nötig hat, und unsere Hilfe anbieten; indem wir uns von unseren Sofas erheben, unsere Wohnzimmer verlassen und z.B. hier hinauf auf den Dolmar kommen, um andere zu treffen und miteinander zu feiern.

IV. (3) Wenn wir also zuletzt fragen, warum sich gegenüber „Früher“ so viel verändert hat, müssen wir uns an die eigene Nase fassen und uns fragen lassen: Warum haben wir uns so verändert? Was hat uns so hart gemacht, so unbarmherzig, wo wir doch auch freundlich und liebevoll sein können, und das eigentlich auch viel schöner ist und sich besser anfühlt, als abweisend und gemein zu sein?
Warum haben wir das Gefühl, zu kurz zu kommen? Warum sind wir so neidisch auf andere, wenn wir doch so viel besitzen und mit unserer Zeit oft nichts besseres anzufangen wissen, als sie vor dem Fernseher oder Computer zu verbringen?

Vielleicht liegt es daran, dass ein Traum zerplatzt ist, den wir alle einmal geträumt haben. Statt uns einzugestehen, dass es nur ein Traum war; dass er unrealistisch war, sich niemals hätte erfüllen können, sind wir böse auf die Welt und auf unsere Mitmenschen, weil sie uns unseren Traum kaputt gemacht haben.

V. Man kann nicht ohne Träume leben. Das ist die „Gemeinschaft im Geist“, von der Paulus schreibt und die zu den Grundpfeilern der menschlichen Existenz gehört. Man braucht einen gemeinsamen Traum, gemeinsame Ziele. Und gerade hier, bei den Träumen und Zielen, kann man uns so leicht manipulieren. Je unrealistischer der Traum, je größer das Ziel, desto eher scheint man bereit, mitzumachen - und desto wütender und brutaler verfolgt man jeden, der diesen Traum, dieses Ziel zu gefährden scheint.
Dabei brauchen wir gar keine großen Träume und Ziele. Wir sind glücklich, wenn unser Leben auf den fünf Grundpfeilern der Liebe, des Trostes, der Gemeinschaft, des Mitgefühls und des Mitleids ruhen kann. Deshalb besteht die Gemeinschaft im Geist nicht darin, dass man gemeinsam große Träume spinnt. Sie entsteht, wenn man feststellt: Das, was man sich wünscht und ersehnt, wünschen und ersehnen andere auch für sich: Liebe, Trost, Gemeinschaft, Mitgefühl und Mitleid.
Jesus hat das auf den griffigen Satz der „goldenen Regel“ gebracht:
„Alles, was ihr wollt, dass die Menschen euch tun sollen, das tut ihr ihnen auch“ (Matthäus 7,12). 
Dieser Satz schien aber manchen nicht griffig genug, deshalb machten sie daraus: „Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem andern zu“. Das ist aber nicht das, was Jesus gesagt hat. Jesus geht es nicht darum, das Böse zu lassen, sondern das Gute zu tun. Er setzt voraus, dass jeder bekommt, was er ersehnt, wenn er zuerst anderen gibt, was sie ersehnen.
Das kann natürlich nicht so funktionieren, dass man anderen etwas gibt, um etwas zu bekommen. Dann könnte man es gleich für sich behalten.
Das Geben, das Jesus meint, ist auf Dauer angelegt. Wenn Menschen auf Dauer so miteinander umgehen, entsteht ein Miteinander, das darauf aus ist, anderen Gutes zu tun, weil man selbst Gutes erfahren möchte. Man ist z.B. auch Fremden gegenüber freundlich, weil man vielleicht selbst einmal ein Fremder sein könnte und dann freundlich behandelt werden möchte. Man ist hilfsbereit auch gegenüber denen, die es eigentlich nicht verdienen, weil man selbst nicht immer Hilfe verdient, aber trotzdem nötig hat.

VI. Aber, werden Sie jetzt einwenden, das kann doch nicht funktionieren - ich habe es doch selbst gesagt: Der Mensch denkt zuerst an sich, nicht an andere. Freundlichkeit, Gutmütigkeit, Hilfsbereitschaft werden immer wieder ausgenutzt und missbraucht.
Ja, das ist so. Ich weiß das, weil ich selbst so bin. Auch ich habe Freundlichkeit oft nicht erwidert, habe schon Gutmütigkeit für mich ausgenutzt, habe Hilfe angenommen, ohne selbst zu helfen. Aber das heißt doch nicht, dass ich, dass wir nicht anders sein, anders handeln könnten! Wenn man erkennt und sich eingesteht, dass andere Menschen dasselbe ersehnen und wünschen wie ich, hat man einen ersten Schritt heraus getan aus dem Zwang, nur an sich denken zu müssen. Und wenn man dann noch erkennt, dass man nicht mehr Recht hat auf Liebe, Trost, Gemeinschaft, Mitgefühl und Mitleid als jeder andere, dann ist man bereit, auch anderen etwas Glück zu gönnen. Den Königsweg beschreitet schließlich der, der darauf vertrauen kann, dass das Gute, das man tut, irgendwie wieder zu einem zurück kommt, und man deshalb sozusagen in Vorleistung gehen kann, ohne Angst haben zu müssen, zu kurz zu kommen: „Alles, was ihr wollt, dass die Menschen euch tun sollen, das tut ihr ihnen auch“.

VII. Was man zum Leben braucht: Liebe, Trost, Gemeinschaft, Mitgefühl und Mitleid, fällt selten vom Himmel, fällt einem selten in den Schoß. Meistens kann man aber etwas dafür tun: trösten, lieben, Gemeinsinn beweisen, Mitleid empfinden und mit anderen mitfühlen. Das wird nicht automatisch zum Erfolg führen. Manchmal wird man sich fragen, ob es nicht sinnlos ist, was man tut, weil man so wenig Dank dafür erhält. Manchmal wird man sein Tun für vergeblich halten, weil man ausgenutzt wurde. Wenn man trotzdem dabei bleibt, wird es einen verändern. Wenn man sich die Zeit nimmt, anderen hin und wieder zu geben, was sie brauchen, und wenn man sich dabei von Fehlschlägen nicht entmutigen lässt, verändert es die Welt. Dann wird es wieder so schön, wie es früher einmal war - oder sogar noch schöner!

Donnerstag, 5. Juli 2018

Taufe: die Froschperspektive einnehmen.

Predigt am 6. Sonntag nach Trinitatis, 8. Juli 2018, über Apostelgeschichte 8,26-39:

Ein Engel des Herrn sprach zu Philippus:
Steh auf, geh nach Süden auf der Straße, die von Jerusalem nach Gaza hinabführt; sie ist menschenleer.
Er stand auf und ging los. Da begegnete er einem Mann aus Äthiopien, ein Eunuch, Finanzminister der Kandake, der Königin Äthiopiens. Er war nach Jerusalem gekommen, um Gott anzubeten. Der war auf der Heimreise, saß auf seinem Wagen und las den Propheten Jesaja.
Der Geist sprach zu Philippus: Geh, folge dem Wagen!
Als Philippus nähergekommen war, hörte er ihn den Propheten Jesaja lesen und fragte: Du verstehst, was du da liest?
Er aber antwortete: Wie sollte ich, wenn mich niemand anleitet? Und er bat Philippus, aufzusteigen und sich zu ihm zu setzen. Der Abschnitt der Schrift, den er las, was folgender:
„Wie ein Schaf, das man zur Schlachtung bringt
und wie ein Lamm, das vor seinem Scherer verstummt,
so tat er seinen Mund nicht auf.
Durch seine Erniedrigung wurde sein Urteil aufgehoben.
Wer wird seine Nachkommenschaft zählen?
Denn sein Leben wurde von der Erde weggenommen.“
Der Eunuch sprach zu Philippus: Ich bitte dich, von wem spricht dieser Prophet? Von sich oder von einem anderen?
Da öffnete Philippus seinen Mund und begann, ihm, von dieser Schriftstelle ausgehend, Jesus zu verkündigen.
Während sie auf der Straße reisten, kamen sie an ein Wasser, und der Eunuch sprach: Da ist Wasser. Was hindert dich, mich zu taufen? Und er befahl, den Wagen anzuhalten. Beide, Philippus und der Eunuch, stiegen zum Wasser hinab, und Philippus taufte ihn. Als er aber aus dem Wasser stieg, entrückte der Geist des Herrn den Philippus, und der Eunuch sah ihn nicht mehr. Er reiste aber seine Straße fröhlich.


Liebe Schwestern und Brüder,

wie weit war Ihr Weg zur Kirche?
Bestimmt nicht so weit, wie der äthiopische Finanzminister gereist ist, um den jerusalemer Tempel zu besuchen: 3.896 Kilometer! Das ist jedenfalls die Strecke, die Google für die Straße zwischen der äthiopischen Hauptstadt Addis Abbeba und Jerusalem angibt. Google berechnet für den Fußweg sportliche 33 Tage - bei knapp 120 Kilometern am Tag, wenn man ohne Pause durchmarschiert. Deshalb nimmt man wohl realistischerweise die dreifache Zeit an: 100 Tage, ein Vierteljahr, wenn nichts dazwischen kommt. Und das ist nur die eine Strecke! Der äthiopische Finanzminister war insgesamt ein halbes Jahr unterwegs, nur um einmal im jerusalemer Tempel Gottesdienst zu feiern! Ein halbes Jahr lang musste die Kandake, die äthiopische Königin, auf ihren wichtigsten Minister verzichten!


I. Sieht man von der Frage ab, ob sich die Geschichte tatsächlich so zugetragen hat - immerhin ist es schwer vorstellbar, dass der wichtigste Minister eines Staates ein halbes Jahr Urlaub für eine Pilgerreise nehmen darf, nach dem Motto „Ich bin dann mal weg …“ - gegen die Pilgerreise dieses Finanzministers muss sich jede andere Pilgerfahrt klein und unscheinbar ausnehmen.
Und scheint es auch ziemlich unglaublich, dass jemand eine so lange Reise mit all ihren Strapazen und Gefahren auf sich nimmt, nur um einmal im jerusalemer Tempel Gottesdienst zu feiern, so nimmt doch auch heute mancher ziemliche Strapazen auf sich, um z.B. einen Berg zu besteigen, einmal New York und die Niagarafälle zu sehen oder einmal auf dem Eiffelturm zu stehen.

Was ist es, was Sie unbedingt sehen und erleben wollen?
Von welchem Ziel, welchem Gipfel träumen Sie?

Merkwürdig genug, dass für den äthiopischen Minister eine Begegnung mit Gott an erster Stelle steht, während wir von fremden Ländern oder großartigen Erlebnissen träumen.
Und dann auch wieder nicht so merkwürdig. Wer in den höchsten Kreisen verkehrt und im Geld schwimmt, hat wahrscheinlich schon alles gesehen; so jemanden locken die herkömmlichen Abenteuer und Sehenswürdigkeiten nicht mehr.


II. Der äthiopische Finanzminister ist jemand Besonderes. Aber das fällt einem nicht gleich auf. Viele, die aus dem Ausland zu uns kommen, waren in ihrer Heimat etwas Besonderes: Doktoren oder Ingenieure, leitende Angestellte oder Bürgermeister. Sie waren mit in ihrer Heimat berühmten Leuten verwandt oder waren selbst bedeutende Persönlichkeiten, die man kannte. Hier, bei uns, sind sie Niemande. Im besten Falle geduldete Fremde. Im schlimmeren, aber häufigeren Fall werden sie verachtet und geschmäht. Man kann sich kaum vorstellen, was jemand empfinden muss, der in seiner Heimat etwas galt, jemand war, und hier wie ein Mensch zweiter Klasse behandelt wird.

Dem Finanzminister aus Äthiopien geht es ähnlich. Als Afrikaner sticht er mit seiner dunklen Hautfarbe heraus. Und dazu ist er noch ein Eunuch. In der Antike war es in bestimmten Gegenden üblich, dass königliche Beamte kastriert wurden. Mit dieser Operation wurden sie für ein Leben bei Hofe ausgesondert, sie wurden jemand Besonderes. Allerdings wurden sie dadurch auch zu Menschen zweiter Klasse - trotz ihres Ranges und ihrer Macht. Eunuchen waren Menschen, die man verachtete, auf die man herabsah - so, wie heute bei uns auf die Fremden.

Doch die erste Taufe außer der Taufe Jesu, von der im Neuen Testament erzählt wird, ist ausgerechnet die Taufe dieses besonderen Afrikaners - und gerade nicht eines vergleichsweise „normalen“ Menschen wie Sie und ich.
Warum wird die Geschichte der ersten Taufe, die auch unsere Geschichte ist, weil die Taufe uns mit Gott zusammengebracht hat - warum wird diese Geschichte nicht mit einem „normalen“ Hauptdarsteller erzählt, mit dem man sich identifizieren kann? Was hat diese Geschichte vor, dass sie uns einen Ausländer präsentiert, und dann noch so einen!?


III. Der Äthiopier ist auf einer Reise. Das Leben wird als Weg beschrieben - und wenn man sein Leben darstellen soll, schreibt man einen „Lebenslauf“. Das ist eine allgemeine Vorstellung vom Leben, ein Weg mit unterschiedlichen Stationen. Wenn man den Lauf der Zeit darstellen soll, zeichnet man eine Linie, die links mit der Geburt beginnt. Auf dieser Linie werden die Stationen des Lebens markiert: Kindergarten, Schule, Ausbildung oder Studium, Berufstätigkeit, Rente. Zwischen diesen Stationen liegen die besonderen Erlebnisse und Erfahrungen, die unser Leben ausmachen: Reisen, die man unternahm. Menschen, die einen prägten, wie Eltern und Großeltern, Lehrerinnen und Lehrer, Freundinnen und Freunde. Der erste Kuss, die erste große Liebe. Die Hochzeit. Die Geburt des Kindes oder der Kinder, die wieder ihre eigenen Lebenslinien haben, mit ähnlichen Stationen.
Zu den einschneidenden, prägenden Erlebnissen gehören auch die traurigen und schmerzhaften: Unfälle und Krankenhausaufenthalte, Trennungen, Misserfolge, und schließlich der Tod von Menschen, die einem viel bedeuteten und mit denen man eng verbunden war.
Wenn man alle diese Stationen und Erfahrungen auf seiner Lebenslinie eingetragen hat, macht man rechts einen Pfeil an die Linie. Denn den Endpunkt des Lebens kennt man zum Glück nicht.

Mathematisch gesprochen ist unsere Lebenslinie also ein Strahl, der einen Anfangs-, aber keinen Endpunkt hat. Aber natürlich hat unser Leben ein Ende; das wissen wir auch. Unsere Lebenslinie ist in Wahrheit kein Strahl, sondern eine Strecke. Aber so denken wir nicht. In unserer Vorstellung ist unser Leben trotz des Endes, um das wir wissen, unendlich - anders, mit dem Wissen um den Zeitpunkt des Endes, könnte man gar nicht leben.

Wenn das Leben unendlich ist - oder uns zumindest so vorkommt -, hat es kein Ziel. Und tatsächlich lebt man relativ ziellos vor sich hin. Zwar setzt man sich Etappenziele: Den Schulabschluss. Den Abschluss der Ausbildung oder des Studiums. Die Heirat. Die Gründung einer Familie. Den Bau eines Hauses. Den Ruhestand. Man hangelt sich im Leben von einem Ziel zum nächsten. Hat man eines erreicht, nimmt man das nächste ins Visier. Man geht einen Schritt nach dem nächsten. Aber wohin führt das alles? Was steht am Ende? Kommt man irgendwann irgendwo an, oder geht es immer weiter und weiter, bis es eines Tages nicht mehr weiter geht? Manche fürchten den Ruhestand, weil danach kein Ziel mehr kommt - es sei denn, man steckt sich selbst eines.


IV. Der Finanzminister hat sich ein Ziel gesteckt, das in seinem Lebenslauf und seiner Karriere nicht vorgesehen war: Er will Gott begegnen. Darum nimmt er sich Urlaub und reist nach Jerusalem. Er hofft, Gott im Tempel zu begegnen. Dafür tritt er eine Reise an, die man nur einmal im Leben unternimmt.

Ob er Gott begegnet ist? Wohl eher nicht; sonst säße er jetzt nicht auf seinem Wagen und läse im Buch des Propheten Jesaja, das er sich als Andenken gekauft hat. Er sucht noch, er hat Gott noch nicht gefunden - bis Philippus kommt, der ihm den Weg zu Gott zeigt. Er deutet ihm, was schon immer im Prophetenbuch stand, was der Eunuch bis jetzt aber nicht verstehen konnte, weil er sozusagen die falsche Brille aufhatte. Er las den Text des Propeten „von oben“, aus der Sicht eines wichtigen Ministers. Philippus zeigt ihm die Sicht „von unten“, aus der Sicht der Menschen, die man normalerweise übersieht oder gar nicht sehen will. In Christus ist Gott ganz unten angekommen, bei den Menschen, die ganz unten sind. Bei Kranken. Bei Menschen mit einer Besonderheit. Bei Ausländern. Bei Menschen, die nach landläufiger Meinung nichts taugen, versagt oder den falschen Weg eingeschlagen haben. Wie Jesus sagte:
„Ich war hungrig, ihr gabt mir zu essen. Ich war durstig, ihr gabt mir zu trinken. Ich war ein Fremder, ihr nahmt mich auf. Ich hatte nichts anzuziehen, ihr gabt mir Kleidung. Ich war krank, ihr habt mich besucht. Ich war im Gefängnis, ihr kamt zu mir“ (Matthäus 25,35+36).

Weil Gott in Christus ganz unten angekommen ist, findet man ihn nicht in den Führungsetagen und Tempeln. Gott begegnet einem in einem anderen Menschen. Ausgerechnet in solchen, mit denen man eine Begegnung möglichst vermeidet, denen man aus dem Weg geht, mit denen man nichts zu tun haben will.

Der äthiopische Finanzminister ist, trotz seines hohen Amtes, ein solcher Mensch, mit dem niemand etwas zu tun haben wollte. Für ihn wird das, was Philippus ihm vom Propheten Jesaja erklärt, zu einer guten Nachricht, zum Evangelium.

Zu seinem Glück fehlt dem Finanzminister nichts mehr. Er weiß jetzt, wie und wo er Gott begegnen kann - und dass er ihm schon oft begegnet ist. Sein einziges und letztes Ziel ist es jetzt noch, wirklich zu Gott zu gehören. Er hat verstanden, dass man dazu keine besondere Abstammung, keine besonderen Leistungen oder Fähigkeiten und auch keine besondere Hautfarbe braucht. Ein Kind Gottes wird man durch die Taufe. Darum lässt er sich von Philippus taufen. Und weil die Taufe alles ist, was ihm noch fehlte, ist er nicht traurig, als Philippus unmittelbar nach der Taufe verschwindet. Er gehört jetzt zu Gott - mehr braucht er nicht.


V. In der Geschichte der ersten Taufe spielt ein äthiopischer Eunuch die Hauptrolle, damit niemand befürchten muss, er oder sie sei zu klein, zu unbedeutend oder zu schlecht, um zu Gott zu gehören.

Diese Geschichte wird erzählt, um uns daran zu erinnern, dass wir Gott nicht bei den Stars finden, die wir anhimmeln und vergöttern, sondern ausgerechnet bei denen, die wir verachten und übersehen.

Und schließlich wird die Geschichte erzählt, damit wir lernen, dass das Ziel des Lebens nicht in Macht und Reichtum besteht, nicht in Errungenschaften und Leistungen, sondern allein darin, ein Kind Gottes zu sein. Wer ein Kind Gottes ist, kann seinen Lebensweg fröhlich gehen. Sie, er hat alles erreicht, was man im Leben erreichen kann. Mehr geht nicht. Darum sind alle Höhepunkte im Leben, alle Titel und Ämter, alle Erfolge und Errungenschaften zwar schön, aber letztlich nichts als schmückendes Beiwerk.

Und darum schließlich taufen wir schon die kleinen Kinder: Damit sie ihren Lebensweg fröhlich gehen können, in der Gewissheit, dass sie zu Gott gehören und sie darum das Ziel ihres Lebens schon an seinem Beginn erreicht haben. Das macht sie frei, ihr Leben so zu leben, wie sie es möchten, ihre Gaben zu entdecken und zu entfalten und das Leben zu genießen. Sie müssen nichts mehr erreichen, um jemand zu sein. Aber sie können alles erreichen, weil sie Gottes geliebte Kinder sind.

Diese Gewissheit, die die Taufe schenkt, dass sie Gottes Kinder sind, hilft ihnen auch, Leid und Kummer zu ertragen, die das Leben unweigerlich mit sich bringt. Leid und Kummer können ihnen nicht nehmen, was sie haben. Nicht einmal der Tod kann sie von Gottes Liebe trennen. In dieser Liebe sind wir alle geborgen und gut aufgehoben - heute, morgen und alle Tage. Amen.