Samstag, 23. Februar 2013

Dass ich es bin


Predigt am 2. Sonntag der Passionszeit, Reminiszere, 24. Februar 2013, über Johannes 8,21-25.28-29:

Jesus redete nun wiederum zu den Juden:
"Ich gehe weg und ihr werdet mich suchen
und an eurer Sünde sterben.
Wohin ich gehe, könnt ihr nicht gehen."
Da sagten die Juden:
"Er wird sich doch nicht selbst töten?
Weil er sagt: Wohin ich gehe, könnt ihr nicht gehen."
Und er sagte zu ihnen:
"Ihr seid von unten, ich bin von oben.
Ihr seid von dieser Welt, ich bin nicht von dieser Welt.
Ich sagte euch nun, dass ihr an euren Sünden sterben werdet.
Wenn ihr nämlich nicht glaubt, dass ich es bin,
werdet ihr an euren Sünden sterben."
Da fragten sie ihn:
"Wer bist du?"
Jesus antwortete ihnen:
"Zunächst das, was ich euch auch sage. [...]
Wenn ihr den Menschensohn erhöhen werdet,
dann werdet ihr erkennen, dass ich es bin.
Und von mir selbst tue ich nichts,
sondern wie mich der Vater gelehrt hat, das rede ich.
Und der mich gesandt hat, ist mit mir.
Er lässt mich nicht allein,
weil ich immer das tue, was ihm lieb ist."


Liebe Gemeinde,

wenn man den Führerschein macht,
lernt man, dass man regelmäßig in den Rückspiegel schauen muss,
um den Verkehr hinter sich zu beobachten.
Wenn man den Führerschein dann erstmal hat,
kontrolliert keiner mehr, ob man das auch tatsächlich tut.
Manche, so scheint es, benutzen den Rückspiegel nur noch zum Einparken.
In Paris, so hörte ich, soll es sogar geradezu verpönt sein, nach hinten zu schauen;
dort achtet jede und jeder nur auf den Vordermann,
und das funktioniert sehr gut - solange sich alle daran halten.

Es kann aber durchaus sinnvoll sein,
die Lehre aus Fahrschulzeiten zu beherzigen
und ab und zu auch mal zurück zu schauen.
Denn viele Dinge erkennt und begreift man erst im Rückblick.
Und auch was ein Mensch war, was man an ihr, an ihm hatte,
erkennt man oft erst, wenn dieser Mensch nicht mehr da ist.

I
Erinnern Sie sich noch an die Rateserie "Was bin ich?"
mit Robert Lembke und Guido, dem "Ratefuchs",
mit Hans, Annette und Marianne und der immergleichen Frage:
"Welches Schweinderl hätten'S denn gern?"
Bei diesem "heiteren Beruferaten" ging es darum,
einen seltenen oder ungewöhnlichen Beruf zu erraten,
wobei der Kandidat nur mit "Ja" oder "Nein" antworten durfte.
In der letzten Runde kam dann der Stargast.
Das Rateteam musste sich vorher Masken aufsetzen,
damit es sie oder ihn nicht sehen konnte,
und der Gast sprach auch nicht,
sondern nickte nur oder schüttelte den Kopf,
wobei Robert Lembke die Antworten für das Rateteam,
das ja nichts sehen konnte, "übersetzte".

Wie ein Ratequiz kann einem auch der Predigttext vorkommen:
Ein Quiz, in dem es um das Rätsel geht, wer Jesus ist.
Die Juden, mit denen Jesus spricht, bemühen sich,
aus seinen Anspielungen schlau zu werden.
Jesus macht es ihnen aber nicht leicht.
Im Gegenteil - finden Sie nicht auch,
dass er sich hier ganz schön arrogant verhält?
Wie Jesus sein Anderssein betont, indem er sagt,
dass sie ihm nicht folgen können
und dass sie nicht aus derselben Sphäre stammen wie er!
Und dann diese Geheimniskrämerei um seine Identität,
dieses Reden um den heißen Brei, diese Rätsel ...

Jesus kann auch sonst manchmal ziemlich schroff sein:
seine Mutter kanzelt er ab mit den Worten:
"Weib, was geht's dich an, was ich tue?"
- so redet man doch nicht mit seiner Mutter!
Er nimmt seinen Gegnern gegenüber kein Blatt vor den Mund,
bezeichnet sie sogar als "getünchte Gräber",
und bei einem Wutausbruch im Tempel stürzt er sogar die Tische der Händler um.

Warum reagiert Jesus so schroff, wenn es um die Frage geht, wer er ist?
Selbst seinen Jüngern erlaubt er nicht, zu erzählen, was doch jeder weiß
und was er nicht verbergen kann:
Dass er der Christus, der Messias ist.

II
Auch wir "wissen" das. Aber wissen wir auch, was es bedeutet?
Meistens hören wir den Titel "Christus" nicht als das, was er ist:
die griechische Übersetzung des Titels "Messias", Gesalbter.
Wir hören ihn eher als eine Art Name:
Vorname: Jesus, Nachname: Christus.
Dass mehr dahinter steckt als ein bloßer Name,
darauf sollen uns die geheimnisvollen,
unverständlichen und auch etwas ärgerlichen Sätze stoßen,
die Jesus den Juden sagt:
"Ich gehe weg und ihr werdet mich suchen 
und an eurer Sünde sterben."

Es geht um mehr als einen Namen,
es geht auch um mehr, als zu erraten, wer Jesus in Wirklichkeit ist.
Es geht darum, ob man "an seiner Sünde stirbt" - oder lebt.

Es wird wohl keine Ärztin, kein Arzt jemals festgestellt haben:
"er, sie, ist an seiner Sünde gestorben".
Und auch in den vielen Kriminalserien im Fernsehen
ist meines Wissens "Sünde" noch nie als Todesursache vorgekommen
(wenn man darunter nicht die vielen moralischen Fehltritte
und die Verbrechen zählen will, die Ursache so manchen Mordes sind).
Man stirbt am Herzinfarkt. Am Krebs.
An einer der unzähligen Krankheiten.
An der Sünde kann man nicht sterben.
Aber vielleicht geht es hier gar nicht um den leiblichen Tod,
sondern um ein Sterben ganz anderer Art.

Wir sagen manchmal: "der, die ist für mich gestorben",
obwohl die Betreffende noch lebt.
Wir wollen dann mit ihr, mit ihm nichts mehr zu tun haben.
Er, sie ist für uns, als wäre sie tot.
Und auch wenn wir nicht so weit gehen würden,
ihr tatsächlich den Tod zu wünschen:
es ist uns gleichgültig, ob sie lebt oder stirbt
(auch wenn wir uns dann manchmal eines anderen besinnen
und uns diesem Menschen wieder zuwenden,
wenn es ihr oder ihm schlecht geht).

"An der Sünde sterben" könnte also bedeuten,
dass man, wie man die Beziehung zu einem Menschen abbricht,
der "für einen gestorben ist",
ebenso die Gemeinschaft mit Gott verliert:
Gott wendet sich ab, weil Gott eine nicht mehr kennen will.
Gott bricht die Beziehung ab, weil Gott nichts mehr von einem wissen will.
Man ist für Gott "gestorben".

III
Ich kann nicht glauben, dass Gott so ist wie wir.
Auch wenn die Bibel an vielen Stellen sagt,
dass Gott die Sünde hasst und darüber zornig ist,
so unterscheidet Gott doch immer zwischen "Sünde" und "Sünder".
Gott hasst, was wir an Schlechtem tun, aber er hasst uns nicht.
Für Gott sind wir nie gestorben, und selbst im Tod lässt er uns nicht:
Jesus ist gestorben und "hinabgestiegen in das Reich des Todes",
damit wir selbst im Tod nicht allein und ohne Trost sind,
sondern auf die Auferstehung, auf ein neues Leben hoffen dürfen.

Und trotzdem können wir an der Sünde sterben: Wenn wir das nicht erkennen.
Wenn wir nicht wissen - nicht mit dem Kopf, sondern mit dem Herzen -,
dass Gott zwischen uns und unseren Taten unterscheidet.
Dass er manches, was wir taten, verurteilt, uns aber nicht,
sondern uns vergibt und gerecht spricht.

Wir sterben an der Sünde, wenn wir das nicht für uns gelten lassen wollen.
Wenn wir uns selbst rechtfertigen wollen,
aus eigener Anstrengung unser Leben zurecht bringen wollen.

Wir sterben an der Sünde, wenn wir Gott verkennen und verwechseln
und die falschen Götter für Gott halten:
Das Geld. Unsere Leistungsfähigkeit.
Die Lebensversicherung. Unser Aussehen, unsere Gesundheit.

Damit uns das nicht passiert, ist es wichtig zu erkennen, wer Jesus ist.
Leicht ist das nicht.
Wie Robert Lembkes Rateteam beim Stargast die Augen verbinden musste,
so sind auch unsere Augen sozusagen verbunden,
"gehalten", wie es so schön in der Emmausgeschichte heißt,
so dass wir Jesus nicht einmal dann erkennen würden,
wenn er direkt vor uns stünde.

IV
Jesus sagt den Juden, dass sie ihn erst erkennen werden, wenn sie ihn "erhöhen" werden.
Was für seine damaligen Gesprächspartner eine harte Nuss war,
ist für uns ziemlich leicht zu verstehen:
Jesus wurde im wahrsten Sinne des Wortes "erhöht":
er wurde an einer langen Stange aufgehängt,
hoch über den Köpfen: am Kreuz.
Gleichzeitig ist die Kreuzigung auch im übertragenen Sinne eine Erhöhung:
Durch das, was damals die schmählichste Art des Todes war,
mit der nur die schlimmsten, widerlichsten Verbrecher hingerichtet wurden,
ist Jesus den Weg des Menschseins bis zum absoluten Tiefpunkt gegangen.
Er hat bewusst das Missverständnis in Kauf genommen,
das sich mit seinem Kreuzestod verband,
um uns tatsächlich in allem gleich zu werden.

Oft erkennen wir erst, was wir an einem Menschen hatten,
wenn er nicht mehr da ist - wenn er gestorben
oder auf andere Weise für uns nicht mehr erreichbar ist.
Dann fühlen wir schmerzhaft, was wir versäumt haben.
Was wir an ihr, an ihm hatten, als sie noch da war.
Und wünschten uns, wir hätten die Zeit besser genutzt.

In den Menschen, mit denen wir zusammenleben, begegnet uns Jesus.
Solange wir mit ihnen auf dem Weg sind, können wir an ihnen, durch sie erfahren,
wer und wie Jesus für uns ist.
"Denn was ihr einer von diesen 
meinen geringsten Schwestern und Brüdern getan habt", sagt Jesus,
"das habt ihr mir getan."

Dass in einem Menschen etwas von Jesus aufgeblitzt ist,
erkennt man nicht im Moment der Begegnung.
Das erkennt man, wenn überhaupt, nur im Rückblick.
"Brannte nicht unser Herz?", fragen sich die Emmausjünger,
als Jesus verschwunden ist.
Dass unser Herz brannte,
dass Menschen uns für einen Moment bessere Menschen sein ließen,
dass sie uns ein Lächeln ins Gesicht zauberten
oder uns glücklich machten, das könnte ein Indiz dafür sein,
dass uns in ihnen Jesus begegnet ist.

Wissen können wir es nicht.
Jesus wird es uns eines Tages verraten,
aber dann werden wir nicht mehr hier sein.
Aber wir können es glauben.
Wir können es voneinander annehmen,
wir können voneinander das Beste annehmen:
dass uns in dem Menschen, der uns begegnet,
Jesus gegenüber tritt, den wir nicht erkennen,
weil wir ihn nicht richtig sehen können.
Der aber unser Herz zum Brennen bringen,
der unser Leben erfüllen kann.

V
"Ihr werdet erkennen, dass ich es bin."
Wir werden nicht an unseren Sünden sterben.
Selbst wenn wir unser ganzes Leben den falschen Göttern nachlaufen,
selbst wenn wir taub und blind durchs Leben tappen
und jede Begegnung mit Jesus verpassen,
sind wir für Gott doch nicht gestorben.
Selbst, wenn wir von ihm nichts wissen wollten,
hört Gott nicht auf, an uns zu glauben,
an unsere Fähigkeit, das Richtige zu tun.
Zu lieben, und zu empfinden, dass unser Herz brennt.

"Ihr werdet erkennen, dass ich es bin."
Wenn wir ab und zu mal zurückschauen,
werden wir erkennen, wie oft wir Jesus begegnet sind.
Dann werden wir nicht bis zum Ende warten müssen,
um beim Rückblick auf unser Leben zu erkennen,
dass wir nicht allein waren.
Schon jetzt können wir wissen, glauben und erkennen,
dass Gott bei uns ist und uns liebt,
weil wir erkennen und erkannt haben, dass es Jesus ist.
Amen.

Samstag, 16. Februar 2013

Fürbitte


Predigt am Sonntag Invokavit, 17. Februar 2013, über Lukas 22,31-34:

Jesus sprach: Simon, Simon, siehe, der Satan hat begehrt, euch zu sieben wie den Weizen. Ich aber habe für dich gebeten, dass dein Glaube nicht aufhöre. Und wenn du dereinst dich bekehrst, so stärke deine Brüder. Er aber sprach zu ihm: Herr, ich bin bereit, mit dir ins Gefängnis und in den Tod zu gehen. Er aber sprach: Petrus, ich sage dir: Der Hahn wird heute nicht krähen, ehe du dreimal geleugnet hast, dass du mich kennst.
(Luther 1984)

Liebe Gemeinde,

trübe Tage, trübe Stimmung - die Passionszeit hat angefangen.
Nach den drei tollen Tagen und dem Valentinstag,
unterbrochen von der Katerstimmung des Aschermittwoch,
kommt nun die Zeit der Leiden,
die Zeit voll Blut und Wunden,
eine Zeit, in der einem - zumindest im Gottesdienst -
nach Lachen nicht zumute ist.
Büßerhaltung ist angesagt, Trauer und Melancholie.
Wie nähme sich das denn auch aus,
wollte man die Wochen, in denen Jesus auf sein Leiden zugeht,
ausgelassen und fröhlich zubringen!

So pietätlos und unangemessen es wäre,
wenn man über die Angst, das Leid und den Schmerz,
die Jesus ertragen musste,
hinweglachen oder gar seine Witzchen machen würde,
so sehr ist doch gerade sein schrecklicher Tod am Kreuz
für uns das Beste, was uns passieren konnte:
Jesus hat sich für uns am Kreuz geopfert,
damit wir uns nicht opfern müssen
und damit kein Mensch mehr für einen anderen,
für eine Sache, ein Idol, eine Ideologie geopfert werden muss.
Jesus hat als Sündenbock unsere Schuld auf sich genommen,
damit uns das, was wir getan haben, nicht mehr belasten muss,
sondern wir jeden Tag, jeden Augenblick neu anfangen,
neue, andere Menschen werden,
neu und anders aufeinander zugehen können.
Jesus hat bis zum bitteren Ende auf Gewalt und Gegenwehr verzichtet,
weil er fest an die Macht der Liebe glaubte -
daran, dass die Liebe Hass, Leid und Tod besiegt.
Seine Auferstehung hat bewiesen,
dass es stimmt: dass die Liebe tatsächlich siegt,
dass es einen anderen Weg gibt als die Gewalt,
auf dem sich das Leben gegen den Tod
und das Gute gegen das Böse durchsetzt.

Eigentlich hätten wir also allen Grund zur Freude,
zu einer ausgelassenen, fröhlichen Passionszeit,
weil in dieser Zeit das geschieht,
was unser Leben frei macht und uns lebendig und unbeschwert.
Wir aber gehen gesenkten Hauptes in die Kirche,
sitzen im Gottesdienst mit einem diffusen Schuldgefühl
und wagen es nicht, fröhlich zu sein.

I
Das kann doch nicht nur am Wetter liegen!
Schuld an dieser Stimmung ist wahrscheinlich der Predigttext.
Die Ankündigung der Verleugnung des Petrus
handelt von Schuld und Versagen,
von vollmundigen Versprechungen, die nicht gehalten werden,
vom Abfall vom Glauben und von der Macht des Bösen.
Es ist dieser Jünger Petrus, ausgerechnet,
für den man sich immer wieder schämen muss,
weil er jedes Mal, wenn er in den Evangelien auftaucht, so peinlich ist.
Wenn man sich fragt, was dieses Peinliche ist,
kommt man schnell darauf:
er ist so menschlich, so allzu menschlich: Er ist wie wir.
Petrus ist überhaupt kein Held, kein Vorbild,
sondern uns auf beinah unerträgliche Weise ähnlich.

Auch wir kennen das:
Im Brustton der Überzeugung schwören wir heilige Eide,
dass wir ewig Freunde bleiben wollen;
dass Marmor, Stein und Eisen bricht, aber unsere Liebe nicht;
dass wir gut auf das aufpassen werden, was wir uns ausliehen;
dass wir aber diesmal ganz bestimmt
den Geburtstag nicht vergessen werden, usw.

Aber wie Petrus halten wir unsere Versprechen nicht ein.
Die Freundschaft zerbricht an einem Streit oder an der Entfernung;
die Liebe kommt uns abhanden;
das, worauf wir ganz besonders achten wollten, geht kaputt;
den Geburtstag haben wir schon wieder vergessen, usw.

Jede und jeder von uns hat so etwas erlebt, und nicht nur einmal.
Manchen passiert es seltener, manchen häufiger.
Aber dass wir Versprechen nicht halten
ist ebenso sicher, wie morgens der Hahn kräht.

II
Daher also die gedrückte Stimmung:
Die Verleugnung des Petrus erinnert uns an unsere eigene Unzulänglichkeit,
an unsere Fehlerhaftigkeit, unsere Schuld.
An den Sonntagen der Passionszeit
führen wir uns unsere Schuld, unser Versagen vor Augen,
gestehen sie ein und bekennen, dass wir Sünder sind,
damit wir das Opfer, das Jesus für uns am Kreuz bringt,
auf rechte Weise würdigen.

Nein!

Es ist ein groteskes Missverständnis dieses Predigttextes,
wenn wir in ihm einen Spiegel unserer Schuld sehen würden.
Es geht hier ja gar nicht um Schuld, sondern um etwas ganz anderes.
Es geht um Fürbitte:
"Ich habe für dich gebeten, dass dein Glaube nicht aufhöre."

Jesus betet für Petrus, er bittet Gott für Petrus.
Und schon ist man wieder versucht zu denken,
klar, Jesus bittet Gott für Petrus um Vergebung,
Jesus bittet für diesen Wortbrüchigen, diesen Versager, diesen Looser,
diesen - - - Sünder!

Aber darum bittet Jesus nicht.
Jesus bittet, dass Petrus' Glaube nicht aufhört.
- Ist das nicht eine eigenartige Bitte?
Man bittet Gott um Vergebung.
Um Hilfe allgemein, z.B. für Menschen in Not.
Aber darum, dass der Glaube nicht aufhört?

Wenn man auf sein Leben zurückblickt, finden sich Momente,
wo der Glaube schwer fiel oder vielleicht sogar ganz verloren ging.
Oft sind das Momente persönlicher Krisen -
der Tod eines Menschen, den man sehr lieb hatte;
eine schwere Krankheit, eine einschneidende Veränderung im Leben,
die alles bisherige auf den Kopf stellt;
der Verlust des Arbeitsplatzes, die Erfahrung von Ungerechtigkeit.

In solchen Momenten kann einem der Glauben abhanden kommen.
Das fühlt sich dann an,
als würde einem auch noch der letzte Halt genommen,
als sei man nun tatsächlich von allen guten Geistern verlassen.
Eine sehr bedrückende, oft schreckliche Erfahrung ist das,
an der Menschen schwer tragen, sogar zerbrechen können.

Darum bittet Jesus, dass Petrus' Glaube nicht aufhört.
Er bittet wohlgemerkt nicht darum,
dass ihm diese schweren Erfahrungen erspart bleiben,
sondern dass er, wenn er sie durchleiden muss,
den Halt nicht verliert.

III
"Der Satan hat begehrt, euch zu sieben wie den Weizen."
Dieses Bild vom siebenden Teufel ist für uns eine ziemliche Zumutung.
Hölle und Teufelsglaube gehören dem Mittelalter an;
wir sehen sie als das an, was sie sind: Bilder,
die Erfahrungen, Gefühle zum Ausdruck bringen sollen.
Darum sagen wir auch heute noch, dass etwas "die Hölle" ist.
Und ebenso könnte man die Erfahrung,
dass einem das Leben manchmal übel mitspielt,
mit dem Bild des siebenden Teufels ausdrücken.
Es ist nur ein Bild; aber eines, das man sofort versteht.

Oft verwendet die Bibel Bilder solcher Auswahlvorgänge -
die Gläubigen werden geläutert wie das Silber im Feuer,
geworfelt wie das Getreide, das hochgeworfen wird,
um die Spreu vom Weizen zu trennen, oder eben gesiebt,
damit aus dem Getreide die Samen vom Unkraut herausfallen.
Steckt etwa hinter den Schicksalsschlägen, die wir einstecken,
hinter Leiden und Schmerzen, die wir erdulden müssen,
ein Wille, eine böse Macht?
Ist der Teufel im Auftrag des Herrn unterwegs,
spielt Schicksal und überprüft damit, sozusagen als Gottes TÜV,
wie es um unseren Glauben bestellt ist?

Man kommt in Teufels Küche,
wenn man in diese Richtung weiter denkt
und das Bild mehr sein lässt als ein Bild,
das eine Erfahrung, ein Gefühl auf den Punkt bringt:
das Gefühl, dass man zu Unrecht leidet,
dass dieses Leiden ungerecht ist und unerklärlich -
so, als ob eine böse, übelwollende Macht dahinter stünde.
Der Versuch, dem Bösen, das einem widerfährt,
einen Sinn zu geben, indem man es als Prüfung betrachtet,
ist ein Versuch, es zu verstehen und dadurch für sich zu verarbeiten.

Aber Leid, Schmerz, Krankheit und Verlust haben keinen Sinn.
Das Böse ist einfach böse, es dient zu nichts und führt zu nichts.
Indem man versucht, ihm einen Sinn zu geben,
tut man ihm zuviel Ehre an. Es ist sinnlos.
Das ist schwer auszuhalten.
Da kommt man sich noch einsamer, noch verlorener vor.

Darum bittet Jesus, dass unser Glaube nicht aufhört.
Jesus bittet darum, dass wir nicht versuchen,
Gott das Böse in die Schuhe zu schieben
und damit möglicherweise den einzigen Halt verlieren, den wir haben.
Sondern er bittet darum, dass wir erkennen,
dass Gott über das Böse ebenso verzweifelt ist wie wir.
Dass er in allem Schweren auf unserer Seite steht
und uns helfen will, dieses Schwere zu überstehen,
indem er an unserer Seite stehen bleibt.
Gott weicht nicht von unserer Seite,
schlüpft nicht in die Rolle eines Schiedsrichters,
der uns Noten gibt dafür, wie gut wir diese "Versuchung" überstehen.

IV
Es geht also nicht um Schuld, sondern um Fürbitte.
Aber was ist das, "Fürbitte"?
Ist es der Versuch einer Beschwörung, der Versuch,
das Böse mit diesen Worten abzuwenden?
Ist es das Heraufbeschwören göttlicher Macht -
"möge die Macht mit dir sein" -,
die einen befähigt, das Böse auszuhalten?
Ist es der Versuch, Gott zu beeinflussen,
ihn dazu zu bringen, es sich noch einmal anders zu überlegen
und einem das Böse zu ersparen?

Ich meine, es ist nichts von alledem.
Fürbitte ist nicht mehr und nicht weniger,
als sich an die Seite dessen zu stellen, für die oder den man bittet.
Fürbitte heißt zunächst nichts anderes als: "Ich bin bei dir."
Oft kann es nur bedeuten, dass man in Gedanken bei jemandem ist.
Und das auch nicht die ganze Zeit,
sondern für den Moment, in dem man an den anderen denkt.

Aber ist das nicht ungeheuer viel?
Was tröstet uns denn, wenn es uns schlecht geht?
Es ist ein Besuch im Krankenhaus oder Zuhause,
es ist ein Anruf oder ein Brief,
es sind ermutigende Worte,
ein kleines Geschenk als Zeichen der Zuneigung,
eine herzliche Umarmung oder die Hand auf der Schulter.
Sie machen uns nicht gesund,
sie nehmen uns nicht den Kummer weg -
das müssen wir allein schaffen.
Aber diese unscheinbaren Taten und Gesten ermutigen,
geben Kraft und Zuversicht, weil sie zeigen:
Du bist nicht allein. Da gibt es Menschen, denen liegt an dir,
die möchten, dass du wieder gesung wirst,
dass es dir wieder gut geht, weil sie dich lieben.
Weil sie dich brauchen. Weil sie dich vermissen.

V
"Ich habe für dich gebeten, dass dein Glaube nicht aufhöre."
Jesus bittet für Petrus darum,
dass er niemals vergisst, dass er bei ihm ist -
nichts anderes meinen die Worte "dass dein Glaube nicht aufhöre."
Jesus möchte, dass Petrus selbst dann, wenn er mutterseelenallein ist,
wenn er sich gottverlassen glaubt, spürt,
dass die Hand eines Freundes auf seiner Schulter liegt.
Dass Augen voller Zuneigung und Liebe ihn sehen.
Dass da jemand ist, der mit ihm fühlt und mit ihm leidet.

Denn auch dafür ist Jesus gestorben und auferstanden,
und das ist vielleicht größer als alles andere, was er für uns getan hat:
damit er uns seinen Geist, den Heiligen Geist Gottes schicken konnte,
den Tröster, der uns an alles erinnert, was er gesagt hat.
Der uns an seine bedingungslose Liebe erinnert
und der uns nah ist, - selbst dann,
wenn uns der Glauben abhanden kommt.

Das Leben schüttelt einen ganz schön durch,
wirft einen mal hierhin und mal dorthin,
so dass man sich fühlt, als piesackte einen ein gemeiner Teufel.
Und das Leben hält Schmerz und Kummer für uns bereit -
manchmal so schwer, dass wir uns von allen guten Geistern
und sogar von Gott verlassen glauben.
Das Leben ist so. Es ist nicht anders zu haben.
Es kennt kein Mitleid und keine Rücksicht;
es kennt keine Gerechtigkeit und kein Erbarmen.
Aber Gott kennt Mitleid und Rücksicht,
er ist gerecht und barmherzig.
Gott hilft uns, das Leben zu bestehen,
indem er sich uns zur Seite stellt
und unter allen Umständen an unserer Seite bleibt.

Gott verlässt uns nie.
Darum ist er nicht unser Richter,
der über uns und unser Handeln urteilt,
sondern unser Beschützer: Gott ist unser guter Vater.
So hat Jesus uns gelehrt, ihn anzureden.
Wenn wir Gott "Vater unser" nennen, werden wir spüren,
dass er an unserer Seite ist.
Und wenn wir für andere bitten,
werden auch sie spüren, dass sie nicht allein sind.
Amen.

Dienstag, 12. Februar 2013

Glauben und Handeln


Predigt am Aschermittwoch, 13. Februar 2013, über Matthäus 7,21-23:

Nicht jeder, der zu mir sagt: Herr, Herr!, wird in das Himmelreich kommen, sondern wer den Willen tut meines Vaters im Himmel.
Viele werden an jenem Tage zu mir sagen: Herr, Herr, haben wir nicht in deinem Namen prophezeit? Haben wir nicht in deinem Namen Dämonen ausgetrieben? Haben wir nicht in deinem Namen viele Wundertaten getan? Aber dann werde ich ihnen gestehen: Ich habe euch noch nie gekannt; "weicht von mir, die ihr Unrecht tut!" (Psalm 6,9).


Liebe Gemeinde,

Glaube ist Privatsache, oder?

Diesem Satz würden hier, im Braunschweigischen, viele zustimmen.
In meinem Heimatdorf galt und gilt er bis heute. Ich habe dort gelernt:
Das Verhältnis zu seinem Herrgott macht man mit sich selbst aus.
Darüber spricht man nicht, und das zeigt man auch nicht öffentlich -
im Gegenteil: Jeder, der sich öffentlich als "fromm" darstellt
- ob er nun betet oder in der Bibel liest,
als Kirchenvorsteherin oder Kirchenvorsteher amtiert
oder auch nur regelmäßig in die Kirche geht -,
setzt sich dem Verdacht aus, es nur um der Außenwirkung willen zu tun,
um für fromm gehalten zu werden, ohne es wirklich zu sein,
kurz: eine Heuchlerin, ein Heuchler zu sein.


Die wahre Fromme, der wahre Gläubige macht seinen Glauben mit sich selbst aus.
Glaube ist Privatsache.
Darüber spricht man nicht. Den zeigt man nicht.
Man zieht sich zurück, wenn man mit Gott etwas zu besprechen hat.
In die Verschwiegenheit eines stillen Kämmerleins
oder in die Einsamkeit der Natur.
Aber man tut das nicht in der Kirche, nicht unter Menschen.

All jenen, die den Glauben als Privatsache ansehen,
müsste das Jesuswort von den "Herr, Herr"-Sagern sehr sympathisch sein.
"Da sieht man's", könnten sie sagen, "auch Jesus hat was gegen die,
die öffentlich ihren Glauben zeigen und damit hantieren müssen.
Auch er hat es lieber, wenn der Glaube im Verborgenen bleibt."
Propheten, Exorzisten, Wundertäter -
all jene, die uns suspekt sind und die wir für Scharlatane halten,
aber auch all jene, für die wir uns wegen ihres religiösen Eifers fremdschämen -
all die waren auch Jesus schon nicht recht.
Jesus will mit denen nichts zu tun haben,
die ihm wie ein Händler auf dem Markt ihren Glauben andrehen wollen,
sondern hat die lieb, die Gottes Willen im Verborgenen tun.

So gesehen wiederspricht diese Aschermittwochsandacht, die wir feiern, den Worten Jesu:
wenn wir nachher mit einem Aschekreuz auf der Stirn aus der Frauenkapelle hinaustreten,
dann zeigen wir ja öffentlich unseren Glauben,
wenigstens auf dem Weg nach Hause outen wir uns als Christen
- und machen uns auf diese Weise sofort der Heuchelei verdächtig.
Denn, wie gesagt, kein einigermaßen gläubiger Mensch würde seinen Glauben öffentlich zeigen.
Das tut nur jemand, der für fromm gehalten werden will.

II
Gegen diese Argumentation kommt man nicht an; sie bestätigt sich selbst.
Sobald man sich in unseren Breiten öffentlich als Christin oder Christ zeigt,
macht man sich automatisch verdächtig, es auch irgendwie zu wollen und zu genießen,
dass man als solche erkannt wird
- und schon ist man eine Heuchlerin, der es gar nicht auf den Glauben,
sondern aufs Gesehenwerden ankommt.
Aus dieser Nummer kommen Sie nicht heraus,
Sie können das Gegenteil nicht beweisen,
ohne sich noch tiefer in das Totschlagargument der Heuchelei zu verstricken.

Dabei gibt es durchaus gute Gründe, sich öffentlich als Christin oder Christ zu zeigen.
Mir fällt ein Beispiel ein:

Neulich ist am Bohlweg ein Mann zusammengeschlagen worden,
der sich vor ein paar junge Mädchen gestellt hat,
die von Halbstarken angepöbelt wurden.
Obwohl viele Menschen in der Nähe waren,
ist ihm niemand zu seiner Verteidigung beigesprungen.
Es hätte nur fünf, sechs Menschen bedurft, die sich ihm an die Seite gestellt hätten,
und die Halbstarken wären abgezogen.
Es traute sich aber niemand.
Sie sahen untätig zu, statt ihm beizustehen.
Der Mann sagte übrigens, er würde es jederzeit wieder tun,
obwohl man ihm dringend davon abrät,
sich selbst in Gefahr zu begeben, um jemand anderem zu helfen.
Ich weiß nicht, ob dieser Mann Christ war.
Aber wenn sich Christen in der Öffentlichkeit zeigen würden,
hätte er es vielleicht leichter gehabt, Hilfe zu finden.

Dieses Beispiel zeigt gleich den wahren Grund,
warum wir uns nicht so gern als Christen "outen"
- ich bin da keine Ausnahme:
Man möchte nicht auf seine christliche Gesinnung angesprochen
und eventuell zur Hilfe verpflichtet werden.
Sicher, man fasst gern mal an, wenn es einem passt;
man ist hilfsbereit, wenn man dazu Zeit oder Lust hat.
Aber einfach so, von einem wildfremden Menschen angesprochen werden, der Hilfe braucht,
wenn man vielleicht gerade etwas anderes, wichtiges vorhat
- nein, das möchte man dann doch lieber nicht.
Das ist die eigentliche Heuchelei:
seinen Glauben zu verstecken, um nicht darauf angesprochen,
um nicht darauf behaftet zu werden.

Das bedeutet nicht, dass man immer helfen muss.
Jeder Mensch hat ein Recht darauf, Nein zu sagen,
und auch Hilfe, so nötig sie sein kann,
darf man nicht jedem zu jeder Zeit zumuten.
Aber Jesus hat den Glauben nie als eine Lebenseinstellung aufgefasst,
nie als Privatsache, die man für sich allein hat.
Glaube war für ihn untrennbar verbunden mit Handeln.
Deshalb hat er die Geschichte vom Barmherzigen Samariter erzählt:
um zu zeigen, dass es nicht auf fromme Gesinnung,
sondern auf die Tat der Nächstenliebe ankommt.

III
Wir können und wir müssen nicht tagein, tagaus
als Samariter durch die Straßen ziehen
auf der Suche nach einem Opfer, dem wir helfen können.
Aber wenn uns der Glaube wirklich etwas bedeutet,
dann muss er in unserem Handeln seinen Ausdruck finden.
Nicht so sehr, dass wir mit leicht gebeugtem Haupt,
mit zum Himmel schielenden Augen und gefalteten Händen durch die Gegend laufen.
Sondern so, dass wir, manchmal wenigstens, ansprechbar sind auf menschliches Leid und Elend.
So ansprechbar, dass es uns nicht egal ist,
sondern uns zum Handeln, zum Eingreifen, zur Veränderung bewegt.
Wann das sein wird, kann niemand sagen.
Wir werden es merken:
In diesem Moment wird unser Gewissen schlagen
und wir spüren: Jetzt bist du gefragt.

Dann sollten wir es wagen, so leichtsinnig zu sein,
der Stimme unseres Gewissens zu gehorchen
und zu tun, was es von uns verlangt:
Dem Bettler eine Münze in den Becher legen.
Den einsamen Nachbarn in seiner Wohnung,
die Nachbarin im Krankenhaus besuchen.
Der Lehrerin, die die Schüler zu noch mehr Leistung antreiben will, widersprechen.
Dem Chef, der seinen Mitarbeiter anschreit, in die Parade fahren.
Der Ausländerin, die von anderen ausgegrenzt wird, zeigen, dass sie willkommen ist.
Und manchmal vielleicht sogar etwas so Gefährliches wie das Dazwischengehen,
wenn ein Einzelner von vielen bedrängt wird.

Wie gesagt: man kann das niemandem vorschreiben.
Man kann und darf keine Regel aufstellen,
was eine Christin, ein Christ tun muss und was nicht.
Aber wenn wir auf unser Gewissen hören,
spüren wir selbst, was es von uns verlangt.
Wenn wir ihm manchmal nachgeben und es tun,
dann leben wir unseren Glauben so,
wie Jesus es sich von uns wünscht.
Amen.

Samstag, 9. Februar 2013

Blinde und Sehende


Predigt am Sonntag vor der Passionszeit, Estomihi, 10. Februar 2013, über Lukas 18,31-43:

Jesus nahm die Zwölf zu sich und sprach zu ihnen: Seht, wir gehen hinauf nach Jerusalem, und es wird alles vollendet werden, was geschrieben ist durch die Propheten von dem Menschensohn. Denn er wird überantwortet werden den Heiden, und er wird verspottet und misshandelt und angespien werden, und sie werden ihn geißeln und töten; und am dritten Tage wird er auferstehen.
Sie aber begriffen nichts davon, und der Sinn der Rede war ihnen verborgen, und sie verstanden nicht, was damit gesagt war.

Es begab sich aber, als er in die Nähe von Jericho kam, dass ein Blinder am Wege saß und bettelte. Als er aber die Menge hörte, die vorbeiging, forschte er, was das wäre. Da berichteten sie ihm, Jesus von Nazareth gehe vorbei. Und er rief: Jesus, du Sohn Davids, erbarme dich meiner! Die aber vornean gingen, fuhren ihn an, er solle schweigen. Er aber schrie noch viel mehr: Du Sohn Davids, erbarme dich meiner! Jesus aber blieb stehen und ließ ihn zu sich führen. Als er aber näher kam, fragte er ihn: Was willst du, dass ich für dich tun soll? Er sprach: Herr, dass ich sehen kann. Und Jesus sprach zu ihm: Sei sehend! Dein Glaube hat dir geholfen. Und sogleich wurde er sehend und folgte ihm nach und pries Gott. Und alles Volk, das es sah, lobte Gott.
(Luther 1984)

Liebe Gemeinde,

zwei Geschichten werden hier erzählt.
Sie stehen nacheinander im Lukasevangelium
und scheinen auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun zu haben.

Die erste Geschichte erzählt,
dass Jesus den Jüngern sein Schicksal voraussagt.
Er tut es hier bereits zum dritten Mal:
er kündigt seine Passion, sein Leiden und Sterben,
und seine Auferstehung an.
Aber die Jünger verstehen auch bei diesem dritten Mal,
wie die beiden Male zuvor, nur Bahnhof.
Das wird sogar besonders betont,
indem das Nichtverstehen dreimal wiederholt wird:
"Sie begriffen nichts davon, 
und der Sinn der Rede war ihnen verborgen, 
und sie verstanden nicht, was damit gesagt war."

Die zweite Geschichte handelt von der Heilung eines Blinden,
der im Markusevangelium "Bartimäus" heißt.
Bei dieser Geschichte springt ins Auge,
dass Bartimäus sich nicht kleinkriegen und nicht abwimmeln lässt,
obwohl er als Blinder ein Außenseiter ist.
Die Umstehenden zischen ihn nieder,
wollen ihn zum Schweigen bringen.
Er aber schreit um so lauter:
"Jesus, du Sohn Davids, erbarme dich meiner!"

Zwölf begriffsstutzige Jünger und ein schreiender Blinder.
Warum stehen diese beiden Geschichten hintereinander?
Ist es Zufall, oder gibt es da einen Zusammenhang?

I
Vom hohen Ross einer gelernten Christin oder eines gelernten Christen
schaut man etwas mitleidig auf die Jünger herab.
Sie, die doch ganz nah dran waren an Jesus,
haben überhaupt nichts kapiert.
Wir dagegen, trotz des zeitlichen Abstands von fast 2.000 Jahren,
wir haben voll den Durchblick.
Uns ist klar, wohin der Weg Jesu führt,
und wir können auf das scheinbare Ende dieses Weges,
auf das Kreuz, ganz gelassen blicken, denn wir wissen:
Danach kommt noch etwas. Das ist nicht das Ende.
Nach der Passionszeit kommt Ostern:
Es gibt ein Happy End, ganz am Schluss,
als die Jünger Jesus schon längst aufgegeben haben
- diese Jünger, die schon jetzt so furchtbar begriffsstutzig sind.

Aber verstehen wir wirklich, was Jesus da ankündigt,
oder sind wir gar am Ende genau so blind wie seine Jünger?

Was uns von den Jünger unterscheidet ist,
dass die Jünger das Ende noch nicht kennen können,
sie sind ja ein Teil der Geschichte,
während wir das ganze Evangelium schon längst kennen
und damit auch sein Ende, die Kreuzigung und die Auferstehung.
Aber zwischen dem Kennen, dem Wissen
und der Erfahrung besteht ein großer Unterschied.
Manche lesen neugierig zuerst das Ende eines Krimis,
weil sie wissen müssen, ob er gut ausgeht.
Aber die Spannung erlebt man nur,
wenn man sich Seite für Seite durch den Fall arbeitet,
in Sackgassen läuft oder sich vom Autor in die Irre führen lässt,
bis am Ende die Auflösung steht.

Ebenso wissen wir, dass wir krank werden können,
und dass wir eines Tages werden sterben müssen.
Aber was es bedeutet, krank zu sein,
das weiß man erst, wenn man es einmal durchleiden musste.
Und was der Tod bedeutet, das begreift man zum ersten Mal,
wenn man einen Menschen verliert, den man geliebt hat.
Damit ist dann aber noch nichts gewonnen, ganz im Gegenteil:
Dann beginnt erst ein oft mühevoller Prozess,
in dem man zu begreifen versucht,
dass dieser Mensch nicht mehr da ist,
dass man diese Krankheit durchgemacht hat
und nun unter ihren Folgen, unter den Einschränkungen leidet.
Und es braucht viel Zeit, bis man sagen kann,
nun wisse man, wie das ist -
wenn man das überhaupt je sagen kann.

Unser Wissen, dass Jesus am Kreuz stirbt
und nach drei Tagen aufersteht, nützt uns nichts.
Wir wissen, dass seine Geschichte am Ende gut ausgeht,
aber was hilft uns das? Was hat es mit uns zu tun?

II
Auf irgendeine Weise müssen wir diese Worte,
diese Geschichte von Jesus erleben und vielleicht sogar mitleiden,
damit daraus mehr entsteht als eine Kenntnis von
scheinbaren oder wirklichen Tatsachen.
Wir sollten uns eingestehen,
dass wir nicht viel klüger sind als die Jünger,
auch wenn wir zu verstehen glauben,
was Jesus mit diesen Worten meint:
"Der Menschensohn wird überantwortet werden den Heiden, 
und er wird verspottet und misshandelt und angespien werden, 
und sie werden ihn geißeln und töten; 
und am dritten Tage wird er auferstehen."

Wie kommt man diesen Sätzen bei?
Wo ist der Punkt, an dem unsere Erfahrung ansetzen kann,
an dem wir mit unserem Leben vorkommen?

Da hilft uns nun die zweite Geschichte weiter:
Ein Blinder hört, dass viele Menschen zusammenkommen
und will wissen, was da los ist.
Man erzählt ihm: "Jesus von Nazareth geht vorbei."
Jesus von Nazareth, von dem hat man viel gehört,
deshalb bildet sich eine Menschentraube um ihn.
Auch der Blinde hat von ihm gehört,
deshalb fängt er an zu rufen:
"Jesus, du Sohn Davids, erbarme dich meiner!"

Auf Griechisch ruft er: Eléison!,
wie auch wir zu Beginn des Gottesdienstes gerufen haben.
Dieser Ruf ist nicht so sehr Bitte,
sondern vielmehr Huldigungsruf,
dem man nur einem entgegenbringen durfte:
dem allerhöchsten Herrscher, dem Kaiser.
Mit diesem Ruf pries man den Kaiser
als höchsten Herrn über Leben und Tod,
als Herrn auch über das eigene Leben.

Es scheint, als würde der Blinde um Hilfe rufen.
Aber dann riefe er Jesus von Nazareth,
den bekannten Helfer und Heiler und Wundertäter.
Er aber ruft mit seinem Eléison! den allerhöchsten Herrscher an -
allerdings nicht den weltlichen Kaiser,
sondern den, auf den alle Gläubigen warten: den Messias.
Bartimäus ruft den Messias, er ruft: Jesus, du Sohn Davids!

Der Messias ist ein Davidsohn.
Das haben die Propheten vorausgesagt.
Bartimäus erkennt, dass Jesus der Messias ist.
Er sieht es, obwohl er blind ist,
während die Jünger, die doch sehen können,
nichts erkennen und begreifen.

III
Woran liegt es, dass ausgerechnet ein Blinder,
der doch nichts sehen kann,
in Jesus den Messias erkennt,
während die Sehenden nichts begreifen?
Woran liegt es, dass Jesus die Kinder selig preist,
aber die Erwachsenen mahnt:
Wer nicht das Reich Gottes annimmt wie ein Kind, 
der wird nicht hineinkommen?

Offenbar kann man nicht wissen,
dass Jesus der Messias ist in der Weise,
wie wir wissen, dass heute Sonntag ist,
dass Holz schwimmt oder eine Kerzenflamme heiß ist.
Offenbar geht es beim Glauben gar nicht darum,
etwas zu wissen, sondern - - -

Ja, worum geht es hier eigentlich?

Wie antwortet Jesus auf den Ruf des Blinden:
"Du Sohn Davids, erbarme dich meiner!"?
Er antwortet: "Dein Glaube hat dir geholfen."
Wozu hat er ihm geholfen?
Natürlich, dass er wieder sehend wurde!
Ist das wirklich so natürlich?

Es erscheint uns selbstverständlich,
dass man sich als Blinde oder Blinder nichts sehnlicher wünscht,
als endlich sehen zu können.
Deshalb sehen wir alle Menschen,
die nicht können, was wir "Gesunden" können,
die nicht so sind, wie wir "Normalen" sind,
als "behindert" an.
Ihnen fehlt etwas, das uns unentbehrlich erscheint -
das Augenlicht, das Gehör,
die Fähigkeit zu sprechen oder zu laufen,
die Gesundheit an Leib oder Seele.
Wir können uns nicht vorstellen, dass sie glücklich sind,
dass sie ein erfülltes Leben haben.
Wir sind der Überzeugung, dass sie leiden
und uns "Gesunde", "Normale" beneiden.
Und vielleicht ist das ja auch so.

Vielleicht aber sind diese Menschen glücklich,
trotz ihrer "Behinderung".
Vielleicht fühlen sie sich gar nicht so unvollkommen,
wie wir sie sehen;
vielleicht fehlt ihnen etwas,
aber sie vermissen es gar nicht so sehr, wie wir meinen
- weil sie es nie kennen gelernt haben,
oder weil sie statt dessen andere Fähigkeiten entwickelt haben,
die uns verschlossen und fremd sind.

Es ist ein langer und nicht selten leidvoller Weg,
bis man begreift, dass das Menschsein nicht darin besteht,
so zu sein wie alle anderen,
dass nicht "Gesundheit" oder "Normalität"
- was ist denn überhaupt "normal",
und wann ist man denn überhaupt "gesund"? -,
zu einem erfüllten Leben führen, sondern eine Entdeckung,
die der Blinde gemacht hat, bevor er sehend wurde.

IV
Diese Entdeckung ist, dass Jesus der Messias ist.

Und weil Jesus der Messias ist, und nicht ein Superheld,
aber auch kein Bürokrat oder ein obergestrenger Richter,
sondern das eine Wort dessen, der die Liebe ist,
und dieses eine Wort ist wiederum nichts anderes als: die Liebe -
weil also diese Liebe Gottes der Christus, der Messias ist,
darum ist unser Leben erfüllt, sobald wir Jesus erkennen.

Bartimäus ist die Liebe Gottes begegnet, bevor er geheilt wurde.
Diese Liebe Gottes hat ihn angenommen, wie er ist:
als Blinden, als in den Augen seiner Mitmenschen
Behinderten, Defizitären, Mangelhaften.
Die Liebe Gottes aber hat in ihm nicht den Mangel gesehen,
sondern den Menschen, das Ebenbild Gottes,
das sich auf unendlich verschiedene Weisen ausprägt
und die Fülle Gottes in ihrer Vielfalt wiederspiegelt.
Bartimäus hat erkannt, dass er niemand werden muss,
weil er schon längst jemand ist
und immer schon war, seit er auf der Welt ist.

Es geht in dieser Geschichte, es geht beim Glauben also darum,
Jesus als Messias anzunehmen.
Und damit anzunehmen, dass Gott uns liebt, so, wie wir sind,
und unsere Mitmenschen ebenso.
Es gilt zu lernen, uns selbst anzunehmen und zu lieben,
eben weil Gott uns so sehr liebt,
dass er seinen einzigen Sohn für uns gab.
Und es gilt zu lernen, unsere Mitmenschen anzunehmen und zu lieben,
eben weil Gott sie liebt.
Nicht mehr. Aber auch nicht weniger.
Leicht ist das nicht.
So viel steht dem entgegen - Vorurteile, Gewohnheiten,
unser schlechtes Denken über uns selbst und über andere,
der Druck der Mehrheit, wer "Normal" ist,
wer "Richtig" und wer "gesund".
Man begibt sich auf einen langen und nicht selten mühevollen Weg,
wenn man versucht, Jesus als Messias anzunehmen.
Die Bibel nennt diesen Weg: Nachfolge.

V
Das Unverständnis der Jünger wurde auf dreifache Weise zum Ausdruck gebracht:
"Sie begriffen nichts davon, 
und der Sinn der Rede war ihnen verborgen, 
und sie verstanden nicht, was damit gesagt war."
In ähnlicher Weise ist das Erkennen des Bartimäus ein Dreischritt:
"Sogleich wurde er sehend 
und folgte ihm nach 
und pries Gott."

Die Jünger sind wie Bartimäus: Sie sind blind.
Aber im Gegensatz zu ihm wissen sie es nicht.
Auch wir sind blind, solange wir Jesus nicht erkennen.
Aber eines Tages werden uns die Augen aufgetan.
Dann erkennen wir, wie blind wir waren.
Dann sehen wir aber auch Jesus
- nicht mit diesen Augen, sondern mit unseren Herzen.
Dann folgen wir ihm nach
auf seinem Weg der Liebe zu allen Menschen und zu uns selbst,
und diese Nachfolge schließlich wird ein Loblied für Gott sein.
Amen.