Sonntag, 18. September 2011

Barmherzigkeit - Predigt über Lukas 19,41-44

Predigt am 13. Sonntag nach Trinitatis, 18. September 2011, im gemeinsamen Gottesdienst mit Gemeinden der Braunschweiger Innenstadt anlässlich der geplanten (und dann schließlich abgesagten) Bombenräumung in der Braunschweiger Innenstadt über Lukas 19,41-44:

Als Jesus nahe hinzukam, sah er die Stadt Jerusalem und weinte über sie und sprach: Wenn doch auch du erkenntest zu dieser Zeit, was zum Frieden dient! Aber nun ist's vor deinen Augen verborgen. Denn es wird eine Zeit über dich kommen, da werden deine Feinde um dich einen Wall aufwerfen, dich belagern und von allen Seiten bedrängen und werden dich dem Erdboden gleichmachen samt deinen Kindern in dir und keinen Stein auf dem andern lassen in dir, weil du die Zeit nicht erkannt hast, in der du heimgesucht worden bist.


Liebe Gemeinde,

in Riddagshausen soll angeblich die Sirene abgeschafft werden. Und nicht nur hier. Es ist offenbar geplant, generell auf Sirenen zu verzichten und die Feuerwehr nur noch „still“ zu alarmieren: Über den Pieper, den jeder Feuerwehrkamerad bei sich trägt. Widerstand regt sich bei der Freiwilligen Feuerwehr; es gibt konspirative Absprachen mit dem Pastor, weil die Sirene auf dem Dach des Gemeindehauses montiert ist, unter dem der Pastor wohnt ...

So sehr die Sirene fehlen würde, weil man nun nicht mehr weiß, dass es irgendwo brennt - manche der Älteren wären wohl froh, wenn sie die Sirene nicht mehr hören müssten. Zu eng ist das Heulen der Sirene mit Erinnerungen an den Krieg verbunden, an den Bombenalarm, an die bangen Stunden im Keller oder im Luftschutzbunker, an die Brände, die keine Feuerwehr mehr löschen konnte, an die Zerstörungen ... Das Sirenengeheul ruft Erinnerungen wieder wach, wie es auch die Ankündigung des Bombenfundes und der Evakuierung tat.

Aber nicht nur die ältere Generation schreckt das Sirenengeheul auf. Auch ich zucke jedes Mal zusammen, wenn ich eine Sirene höre - und das nicht, weil sie direkt über meinem Kopf zu heulen beginnt. Ich bin in den Jahren des sog. Kalten Krieges aufgewachsen. Wir lernten in der Schule, wie es klingt, wenn die Sirene ABC-Alarm gibt - die Warnung vor einem Atombombenangriff. Meine Freunde und ich hatten Angst vor den Atomwaffen. Wir wussten um die schrecklichen Folgen einer Atomexplosion, und wir befürchteten, dass jemand im Osten oder im Westen die Nerven verlieren und auf den roten Knopf drücken könnte. An manchen Tagen mochte ich nicht aus dem Fenster sehen, weil ich fürchtete, jeden Augenblick könnte ein Atomblitz aufleuchten ...

Ängste eines überspannten Teenagers, der zu viel grübelt und sich ganz unberechtigte Sorgen macht, hat man damals dazu gesagt - und würde man auch heute sagen. Obwohl wir inzwischen wissen, dass die Welt mehr als einmal am Rand eines Atomkriegs stand.
Ähnlich denken und sprechen viele über die Ängste von Menschen, die in der Nähe atomarer Endlager wie Schacht Konrad oder Asse II leben, oder in der Nähe von Atomkraftwerken: Dass keine Gefahr bestehe, dass die Ängste übertrieben und unberechtigt seien.
Im Moment schweigen diese Stimmen, weil der Reaktor von Fukushima noch immer bedrohliche Strahlungsmengen aussendet. Aber in Japan gehen die Politiker bereits wieder zur Tagesordnung über und planen den Bau neuer Atomkraftwerke. Und auch bei uns wird es nicht lang dauern, bis man wieder laut über den Ausstieg vom Ausstieg nachzudenken beginnt.

I
Jesus weint über Jerusalem. Ist auch er überspannt und über-ängstlich, wenn er die Zerstörung der Stadt prophezeit und sie deshalb zum Frieden mahnt?
Wir wissen heute, dass Jesus diese Worte von einer späteren Generation in den Mund gelegt bekam. Einer Generation, die erlebt hat, wie die Römer den jüdischen Widerstand auf der Festung Massada brachen, Jerusalem eroberten und den Tempel zerstörten. Im Jahre 70 nach Christus war das, eine ganze Generation nach dem Tod Jesu.
Aber möglicherweise hat Jesus selbst so etwas ähnliches gesagt; sonst hätte man ihm diese Prophezeiung wohl nicht zugeschrieben.
Ich kann mir gut vorstellen, dass Jesus über Jerusalem geweint hat.
Auch heute ist einem zum Weinen zumute, wenn man an Jerusalem denkt: dass es keinen Frieden geben kann zwischen Israelis und Palästinensern.

Die Stadt Jerusalem mit ihrer bewegten Geschichte ist ein heiliger Ort für alle Religionen, ein Hoffnungsort. Jerusalem steht aber auch für einen Dauerkonflikt, für die Unmöglichkeit des Friedens. Diese Spannung kann einem das Herz zerreißen. Auch deshalb, weil man die Unfähigkeit zum Frieden überall findet, in jedem Land, zwischen den unterschiedlichsten Gruppen.
Der Krieg, der von unserem Land ausgegangen ist und der auf unser Land in einer bis dahin unvorstellbaren Härte zurückgeschlagen ist, war offenbar nicht abschreckend genug. Seit diesem Krieg, dessen Überreste wir an einigen Stellen immer noch vor Augen haben oder im Boden finden, sind zahllose weitere Kriege geführt worden und werden geführt. Krieg wird nach wie vor als politisches Mittel angesehen, obwohl man es besser wissen müsste.

Wie kommt es, dass die Tränen Jesu über Jerusalem kaum jemanden rühren?
Wie kommt es, dass kaum jemand in den Schwur einstimmt „Nie wieder Krieg!“, dem unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg so viele zugestimmt haben?
Liegt es daran, dass jemand, der Tränen über Ungerechtigkeit und Friedlosigkeit weint, jemand, der Krieg als Mittel der Politik ablehnt, als weltfremd angesehen wird, als überspannt und über-ängstlich?

II
Es ist doch immer wieder gut gegangen. Die Mahner und Warner, die Ängstlichen und die an der Ungerechtigkeit Leidenden hatten bisher immer wieder Unrecht. Oder jedenfalls ist es nicht so schlimm gekommen, wie sie behauptet oder befürchtet hatten. Es ist doch immer wieder gut gegangen, irgendwie haben es die Politiker, die Verantwortlichen hingekriegt. Und sie werden es auch in Zukunft hinkriegen, irgendwie. Es wird auch in Zukunft immer irgendwie gut gehen, keine Bange! Auf allen Ebenen, in allen Gremien, Firmen, Vereinen und Betrieben sitzen Leute, die uns die Ängste ausreden und uns auf die „Selbstheilungskräfte des Marktes“ verweisen, auf Studien, die belegen, dass der Klimawandel gar nicht kommt, Gentechnik völlig ungefährlich ist und Atommüll sicher entsorgt werden kann.
Man darf nur nicht nach dem Preis fragen, den diese Haltung hat.
Man darf nicht nach dem wahren Grund fragen, der unter und hinter den Beschwichtigungsformeln liegt.

Kein Krieg auf der Welt wurde jemals geführt, weil es dabei um höhere Ziele ging. Es ging nur um Macht und Geld. Es geht immer nur um Macht und Geld - wenn sich mit dem Krieg nichts verdienen ließe, würde es keinen Krieg mehr geben. Auch bei der Atompolitik, bei der Gentechnik geht es immer nur ums Geld und dessen Vermehrung - sonst würde niemand Geld in deren Erforschung stecken.

Solange Geiz geil ist und Gier gut, solange das, was über Jahrhunderte als Todsünde galt, salonfähig, ja, das einzig Wahre ist - solange bleiben einem nur die bitteren Tränen, die Jesus nicht nur über Jerusalem weint, sondern auch über uns. Weil wir auf diese Sprüche hereinfallen und nicht erkennen, was dem Frieden dient.

III
Das Evangelium des heutigen 13. Sonntages nach Trinitatis ist eigentlich eine andere Geschichte. Eine, die Sie alle kennen: Die Geschichte vom Barmherzigen Samariter. Darin erzählt Jesus von einem, der unter die Räuber fiel, ausgeraubt und halb tot geschlagen wurde. Und dann ausgerechnet von einem Samariter gerettet wurde, während Priester und Levit den armen Mann sich selbst überlassen hatten. Jesus stellt am Ende seiner Geschichte die Frage:
„Wer, meinst du, ist der Nächste gewesen dem, der unter die Räuber fiel?“
Die Antwort lautet: „Der die Barmherzigkeit an ihm tat.“

Barmherzigkeit - ein altertümlicher, unmoderner Begriff. Oder haben Sie schon mal gehört: „Barmherzigkeit ist geil!“? Barmherzigkeit, das Wort kommt vom warmen Herzen, das in der Lage ist, mit den Mitmenschen zu fühlen. Das in der Lage ist zu fragen, welche Folgen mein Handeln für meine Mitmenschen hat, und ob ich ihnen diese Folgen zumuten kann.

Wenn man in großen Dimensionen denkt - mit Begriffen wie „Allgemeinwohl“ oder „Wachstum“, kann man auf Einzelne keine Rücksicht nehmen. Da geraten die Schicksale Einzelner schon mal aus dem Blick. Dafür gibt es dann ja eine Lösung, die vielen Vorteile bringt. Die Einzelnen sind Einzelfälle, die unvermeidlichen Kollateralschäden, die eben entstehen, die man akzeptieren und hinnehmen muss, solange es andere trifft und nicht einen selbst. Hauptsache, der Handel blüht, die Wirtschaft profitiert davon, das Posten- und Pöstchenkarussell dreht sich munter weiter.

Barmherzigkeit aber interessiert sich hartnäckig für die Einzelschicksale. Barmherzigkeit hält weltfremd den Blick gesenkt - und so auf die gerichtet, die vom Rad des Fortschritts überrollt wurden: Barmherzigkeit interessiert sich für die Verlierer der Verteilungskämpfe, für die Opfer der Wirtschaftspolitik, für die, die zerschlagen am Wegrand liegen.
Damit lässt sich kein Geld verdienen. Damit lässt sich auch kein Staat machen.
Darum taugt Barmherzigkeit nicht für die Wirtschaft, und auch nicht für die große Politik. Sie ist nur was für die Träumer und für die Ängstlichen. Für die, die auch im Kino weinen müssen, oder denen beim Blick auf Jerusalem die Tränen kommen.

IV
Unsere Gesellschaft ist unbarmherzig. Sie muss es zwangsläufig sein, denn sie kann sich Barmherzigkeit nicht leisten. Das rechnet sich nicht. Wer sich hinunterbeugt zu den Verlierern und den Opfern, der wird selber zum Verlierer, zum Opfer, weil er sich der Macht begibt, die er eben noch hatte. Und wer auf diese Menschen Rücksicht nehmen will, wer möchte, dass ihnen Gerechtigkeit widerfährt, der zahlt am Ende drauf. Der kann nichts verdienen, der kann nur sehr viel verlieren.

Unbarmherzigkeit aber führt immer wieder zu Konflikten. Wir haben das in den Banlieus französcher Städte gesehen und aktuell in London. Wir erleben es im alltäglichen Streit in der Schule, mit den Kollegen oder den Nachbarn. Unbarmherzigkeit dient nicht dem Frieden; sie führt über kurz oder lang zu Streit und Gewalt.

Unsere Gesellschaft ist unbarmherzig. Diese Spannung kann einem das Herz zerreißen. Aber das wäre schon ein erster Schritt: Wenn die harte Schale unseres Herzens aufrisse und das weiche, verletzliche, warme Herz darunter zum Vorschein käme, dann würde uns das Schicksal Einzelner anrühren. Dann würden wir nicht nur Erleichterung empfinden, dass wir nicht in den Assedörfern wohnen, dass wir nicht zu den Hartz IV-Empfängern gehören, dass wir noch einen sicheren Job oder eine gute Rente haben. Sondern wir würden auch fragen, wie sich die wohl fühlen, denen es anders geht. Und ob wir es ihnen zumuten wollen und zumuten können, so zu leben.

V
Es ist gut und wichtig, dass es die Sirenen gibt - auch wenn sie bei manchen Menschen schmerzhafte Erinnerungen wachrufen. Die Sirenen rufen uns wach. Sie rufen uns ins Bewusstsein, dass in diesem Augenblick Menschen in Not sind und Hilfe brauchen. Sie rufen nach unserer Barmherzigkeit.

Es ist gut, dass es Menschen gibt, die sich von den Sirenen rufen lassen. Die mitten in der Nacht aus ihrem Bett und in die Kleidung springen, um innerhalb von Minuten auf dem Löschfahrzeug zu sitzen und zu Hilfe zu eilen. Es ist gut, dass es die Kameradinnen und Kameraden der Freiwilligen Feuerwehr gibt.

Es wäre gut, wenn auch wir uns bewegen ließen, wenigstens ab und an mal nach denen zu fragen, die in den Rechnungen herausgestrichen werden, weil es auf die Stellen hinterm Komma nicht ankommt. Es wäre gut, wenn wir uns fragten, wie man sich fühlt, wenn man als jemand hinterm Komma angesehen wird, als jemand, auf den es nicht ankommt, und ob wir so jemand sein möchten.

Wenn wir zu der Lösung kommen, dass wir auf keinen Fall jemand sein wollen, der nicht zählt und auf den es nicht ankommt, wäre es gut, wenn wir daraus Konsequenzen ziehen würden: Selbst niemanden mehr in diese Lage bringen. Und uns für Menschen einsetzen würden, die man ins Abseits gestellt, an den Rand gedrängt hat.
Vielleicht denken Sie daran, wenn Sie nächstes Mal eine Sirene hören ...

Samstag, 10. September 2011

Predigt zum 11. September über Jesaja 29,17-24

Predigt am 12. Sonntag nach Trinitatis, 11. September 2011 - Jahrestag der Terroranschläge in den USA, unter anderem auf das World Trade Center, 2001, und des Militärputsches in Chile 1973 - über Jesaja 29,17-24:

Wohlan, es ist noch eine kleine Weile, so soll der Libanon fruchtbares Land werden, und was jetzt fruchtbares Land ist, soll wie ein Wald werden. Zu der Zeit werden die Tauben hören die Worte des Buches, und die Augen der Blinden werden aus Dunkel und Finsternis sehen; und die Elenden werden wieder Freude haben am Herrn, und die Ärmsten unter den Menschen werden fröhlich sein in dem Heiligen Israels. Denn es wird ein Ende haben mit den Tyrannen und mit den Spöttern aus sein, und es werden vertilgt werden alle, die darauf aus sind, Unheil anzurichten, welche die Leute schuldig sprechen vor Gericht und stellen dem nach, der sie zurechtweist im Tor, und beugen durch Lügen das Recht des Unschuldigen.
Darum spricht der Herr, der Abraham erlöst hat, zum Hause Jakob: Jakob soll nicht mehr beschämt dastehen, und sein Antlitz soll nicht mehr erblassen. Denn wenn sie sehen werden die Werke meiner Hände – seine Kinder – in ihrer Mitte, werden sie meinen Namen heiligen; sie werden den Heiligen Jakobs heiligen und den Gott Israels fürchten. Und die, welche irren in ihrem Geist, werden Verstand annehmen, und die, welche murren, werden sich belehren lassen.


Liebe Gemeinde,

ein neuer Tag hat begonnen. Ein besonderer Tag: ein Sonntag. Für die meisten ein freier Tag, an dem sie sich etwas vorgenommen haben oder einfach nur entspannen, mit der Familie ausführlich frühstücken oder, wie Sie, heute Morgen in den Gottesdienst gehen, in Vorfreude auf die Kirche, auf schöne Lieder, eine anregende Predigt. Manche sind schon gespannt auf den Ausgang der Kommunalwahl und werden gleich ihre Stimme abgeben. Manche haben das Programm des heutigen „Tages des offenen Denkmals“ bei sich und planen ihre Tour durch die Stadt. Und mancher feiert heute seinen Geburtstag.

Ein neuer Tag hat begonnen. Ein besonderer Tag. Und doch auch etwas sehr Alltägliches - immerhin gibt es 52 Sonntage im Jahr; gibt es Gewohnheiten, die sich Sonntag für Sonntag gleichen. Und auch ein Geburtstag verliert, je älter man wird, etwas von seiner Bedeutung, ist - zwar nicht normal, aber auch nicht mehr so aufregend, wie man ihn als Kind erlebte.

I
In einer scheinbar endlosen Folge reiht sich ein Tag an den anderen, wie eine Kette. Es gibt einige Höhepunkte - Sonntage, Geburstage, Feste, besondere Ereignisse -, aber auch die verlieren, je älter man wird, ihre Aufgeregtheit, ihren Reiz.
Doch dann wird diese eintönige Folge plötzlich unterbrochen - durch die Diagnose einer Krankheit. Durch einen Unfall. Durch die Nachricht von der Erkrankung, vom Tod eines lieben Menschen. Auf einmal bemerkt man, wie brüchig die Kette der Tage ist, und wie wenig selbstverständlich es ist, dass für das Leben immer sorgenfrei und unbeschwert weitergeht.
„Carpe Diem“ heißt deshalb ein Lebensmotto, „pflücke“ oder „genieße den Tag“ - es könnte der letzte sein, den du unbeschwert genießen kannst.

Die Kette der Tage wird unterbrochen durch Schicksalsschläge wie Krankheit oder Tod. Man steht ihnen ziemlich machtlos gegenüber. Man erschrickt davor, hat Angst davor. Aber letztlich weiß man um die Gefährdung, die Zerbrechlichkeit des Lebens. Man ahnt, dass es in jedem Leben Krankheit, Leid und Verluste gibt - und hofft doch, dass man selbst davon verschont bleibt.

Ganz anders reagiert man auf die unglaublichen Dinge, die Menschen anderen Menschen antun. Wenn Menschen Schicksal spielen und auf grausame Weise in das Leben anderer eingreifen, es verletzen, zerstören. Ist der Einzelfall - der Mord an einem Menschen - schon erschreckend, wird es unfassbar, unvorstellbar, wenn eine große Zahl der Willkür eines Einzelnen oder einer Gruppe zum Opfer fällt. Solche Ereignisse berühren uns alle, und wir vergessen sie nie. Sie verbinden sich mit Orten oder Daten, und wir brauchen nur den Namen dieses Ortes, das Datum zu nennen, um den ganzen Schrecken wieder in Erinnerung zu rufen. Es sind Orte wie Utøya. Ruanda. Srebrenicza. Und es sind Daten wie der heutige 11. September, der für zwei schreckliche Ereignisse steht: Den Terroranschlag auf die USA vor zehn Jahren, bei dem zwei vollbesetzte Passagierflugzeuge in die Türme des World Trade Center gesteuert wurden. Und den Militärputsch in Chile 1973, in dessen Folge unzählige Menschen in Fußballstadien zusammengetrieben wurden, gefoltert wurden und dann ohne eine Spur verschwanden.

II
Das Wissen um das, was Menschen anderen Menschen antun können, macht fassungslos und sprachlos. Und es schürt Misstrauen und Angst. In der Folge der Anschläge des 11. September stand jeder bärtige, arabisch aussehende Mann unter Terrorismusverdacht.

Für mich ist es unerträglich, dass es Menschen wie den Mörder von Utøya gibt. Dass Menschen in der Lage waren, Flugzeuge voller Menschen in ein von Menschen bevölkertes Hochhaus zu steuern. Dass Menschen von der Straße weggeschnappt, gefoltert, ermordet und irgendwo verscharrt wurden, weil sie die falsche Partei gewählt hatten.

Es war schon für den Propheten Jesaja unerträglich. Seine Beispiele menschlicher Willkür beziehen sich nicht auf Verschleppung, Folter oder Mord. Er bezieht sich auf Ungerechtigkeiten, die mancherorts als normal gelten: Menschen werden vor Gericht benachteiligt oder betrogen; Menschen, die die Wahrheit ans Licht bringen, werden verfolgt oder ermordet; Menschen werden durch Tricksereien, durch Übervorteilung, durch das berühmte Kleingedruckte in Verträgen benachteiligt oder um ihr Geld, ihren Besitz gebracht. Bertolt Brecht singt die Ballade von Mackie Messer, der keine Skrupel kennt und über Leichen geht, um sich Gewinn zu verschaffen.

Jesaja prophezeit den damaligen und den heutigen Haifischen unter den Menschen, dass ihre Tage gezählt sind, dass sie vertilgt werden, wie man Unkraut vernichtet. Und man liest diese Prophezeiung mit Genugtuung, man freut sich, dass den Mackie Messern selbst das Messer an die Kehle gesetzt wird und sehnt sich danach, dass alle, die anderen das Leben zur Hölle machen, endlich zum Teufel gejagt werden.

III
„Ach dass du den Himmel zerrissest und führest herab, dass die Berge vor dir zerflössen, wie Feuer Reisig entzündet!“ (Jesaja 63,19)
Diesen Seufzer aus dem Buch des Propheten Jesaja stimmen wir manchmal an, wenn wir von den Gräueltaten hören, die Menschen verübten. Und wünschten, Gott würde mit eiserner Faust dreinschlagen und diese unfassbaren Verbrechen vergelten und sühnen.
Aber Gott haut nicht mit der Faust auf den Tisch, Gott fährt nicht drein.
Deshalb müssen wir, muss der Staat mit allen Mitteln seine Bürger vor solchen Verbrechern schützen und mit der ganzen Härte des Gesetzes bestrafen. Wer Menschen so unvorstellbare Grausamkeiten antut, der verdient, dass man ihm mit der gleichen Härte begegnet.

Warum aber tut Gott nichts?
Es lässt ihn doch nicht kalt, was den Menschen, die er liebt, angetan wird. Da lassen die Drohungen des Propheten Jesaja gegen die Tyrannen nichts an Deutlichkeit zu wünschen übrig. Doch werden sich schon damals die Tyrannen ins Fäustchen gelacht und die Drohungen in den Wind geschlagen haben. Denn es sind ja nur Worte - Worte eines Propheten, der an der Ungerechtigkeit verzweifelt, der in seiner Ohnmacht den Willen und die Macht Gottes beschwört
- und damit doch nichts bewegen kann.

Was ist mit diesen Drohungen? Was ist mit dem Zorn Gottes?
Dazu erzählt der Talmud eine Geschichte:

In der Gegend von Rabbi Meir wohnten Verbrecher, die ihm viel zusetzten. Rabbi Meir betete daher, dass sie sterben mögen.
Seine Frau Beruriah hörte das mit an. Dann sprach sie zu ihm: „Wie kannst du nur vermuten, dass ein solches Gebet erlaubt wäre? Etwa weil es im Psalm heißt: „Mögen die Sünder von der Erde verschwinden“? Aber das Wort, das du als „Sünder“ liest, kann auch als „Sünden“ gelesen werden. Und sieh dir den zweiten Teil des Verses an: „Und mögen die Frevler nicht mehr sein“. Das bedeutet, dass es, wenn es keine Sünden mehr gibt, auch keine Frevler mehr geben wird. Du sollst also dafür beten, dass diese Menschen Buße tun. Dann wird es keine Frevler mehr geben.“
Rabbi Meir tat es, und die Verbrecher taten Buße.

Beruriah, die Frau des Rabbis, vertritt Gottes Standpunkt. Gegen den verständlichen Wunsch des Menschen nach Rache, nach Strafe, nach Vernichtung derer, die das Leben anderer bedrohen und vernichten, setzt sie das Bemühen Gottes um das Leben - selbst dieser Menschen. Sie klaubt in den Worten, sie dreht die Buchstaben der Bibel hin und her, weil Gott kein Mörder, sondern ein Bewahrer des Lebens ist.

IV
Beruriah bemüht sich mit Gott um die Tyrannen - und die Tyrannen lachen.
Sie betrinken sich am Wein, den sie anderen geraubt haben, und sehen nicht die Schrift an der Wand. Die Schrift, die ihr Ende ankündigt:
„es wird ein Ende haben mit den Tyrannen und mit den Spöttern aus sein, und es werden vertilgt werden alle, die darauf aus sind, Unheil anzurichten, welche die Leute schuldig sprechen vor Gericht und stellen dem nach, der sie zurechtweist im Tor, und beugen durch Lügen das Recht des Unschuldigen“.

Es ist kein Ende, wie sie es ihren Feinden bereiten. Gott mordet nicht. Gottes Macht zeigt sich nicht in schmelzenden Bergen, im Feuer, das vom Himmel fällt, im grellen Blitz, der alles vernichtet. Gottes Kraft ist in den Schwachen mächtig. „Wenn sie sehen werden die Werke meiner Hände – seine Kinder – in ihrer Mitte, werden sie meinen Namen heiligen.“

Und wieder lachen die Tyrannen. Kinder - wie sollen die ihnen gefährlich werden können.
Kinder - das waren auch die Tyrannen einmal. Kleine, schwache, ängstliche, liebenswerte Kinder. Gott weiß das. Weil Gott nicht vergessen hat, dass auch die Tyrannen einmal Kinder waren, darum lässt er sie am Leben. Darum will er nicht ihren Tod, sondern ihre Umkehr. Darum bemüht er sich um sie.

Wir können das nicht. So, wie wir nach Gottes Willen keine Rache an den Mördern nehmen sollen, so können wir aber auch nicht vergessen, was sie getan haben. Und dürfen es auch nicht vergessen, um derer willen, die ihnen zum Opfer fielen.

V
Ein neuer Tag hat begonnen. Ein besonderer Tag: der Tag, an dem „die, welche irren in ihrem Geist, Verstand annehmen, und die, welche murren, sich belehren lassen.“ Heute ist dieser Tag. Heute, wo wir dieses Wort hören. Wo es uns zu Herzen geht und von seiner Wahrheit überzeugt. Das Wort, auf die Mauer geschrieben, hat die Tyrannen überdauert. Seit fast 900 Generationen gibt es Menschen Hoffnung, dass es mit den Tyrannen aus ist.

Und tatsächlich: Wer sich dieses Wort zu Herzen nimmt, kann kein Tyrann mehr sein.
In uns allen liegt die Möglichkeit zur Gemeinheit. Zur Ungerechtigkeit. Zum Jähzorn und zum Hass. Jede und jeder von uns ist in der Lage, anderen Menschen weh zu tun, körperlich, oder seelisch, und ihnen das Leben zur Hölle zu machen.
Aber wenn wir an die Kinder in unserer Mitte denken, wenn wir uns daran erinnern, dass wir selbst einmal Kinder waren, und wenn wir an die vielen Menschen denken, die den Tyrannen zum Opfer fielen: Dann wollen wir keine Tyrannen sein, sondern solche, die an das Gute im Menschen glauben. Die für Gerechtigkeit eintreten - nicht nur für unsere Freundinnen und Freunde, sondern auch für die, denen wir misstrauen, die wir nicht mögen.

Wir vertrauen der Verheißung, die Jesaja uns macht, weil wir an uns selbst erfahren, wie wir von kleinen oder größeren Tyrannen zu - Mitmenschen werden.
Wenn sich die Verheißung Jesajas an uns erfüllt, dann kann sie sich auch an anderen erfüllen. Dann kann der Libanon doch noch ein schöner Garten werden, und der Garten ein Wald, und die Erde ein Ort, der allen Menschen einen Platz zum Leben bietet.

Amen.

Montag, 5. September 2011

A wedding sermon on Matthew 19:26

Wedding-Sermon on Matthew 19:26 "With God everything is possible".

I removed the names of the couple and the city and country they met to protect their privacy.
But I can reveal that someone put 42,- Euros in the collect - you'll see, why.


Dear Y, dear Z,
dear relatives and friends,

if we look at our life, we have the notion we „made“ it.
Our mothers gave birth to us,
our parents brought us up,
supported us, helped us discover and develop our talents.
But at a certain age or stage we start to take over from them.
We decide not to take piano lessons any more.
We decide that math is fun and history is boring.
We find friends which influence us,
develop a style, like a certain kind of music and so on.
And one day we find out what we'd like to be,
we'd study, lets say, biology.
We meet someone we really like,
someone who is very special, we fall in love, we marry.
We find a good job we're satisfied with,
we have a flat, or a house and a garden, and so on ...

If we look back at our life it often seems to us,
that we made all these steps deliberately.
They were all our decisions.
We „made“ our life.
So it seems.
But I think, quite the opposite is the case.
In truth, we don't make our life so much
as we are kind of „made by life“.
Chances develop, possibillities emerge
that we didn't think of before,
and as they stand before us,
they seem quite interesting,
or we just fancy that idea, and we do it.

There's a book by Douglas Adams,
"The hitch-hikers guide to the galaxy".
I don't know if you know it,
it surely is not a must-read,
anyway,
in these book the two main characters
are thrown out of a starship into outer space.
And as space is so incredible vast and empty,
the chance that they get rescued is, as the book states it,
two to the power of two hundred and sixty-seven thousand seven hundred and nine to one against,
which, by coincidence, is also a telephone number
of an Islington flat.
Considering this number (and the facts),
it's impossible that these two get rescued.
But the book says, no, it's not impossible,
it's just very, very improbable.
There is an ever so tiny possibility.
And so they get rescued - and the book continues.

The chance, that two people meet
who are meant for each other,
is not as low as two to the power of two hundred and sixty-seven thousand seven hundred and nine to one against.
But it's still so little that we often consider it as „coincidence“ or „luck“ when it happens.

For example, who would have thought
that a student, newly arrived at M
and overwhelmed by the city
and quite at her wits end where to stay and how to find friends, sitting in the office of a professor who's out for lunch
and who allowed her to use his computer
to finally contact her parents and friends
and who is quite irritated, to say the least,
about a young man popping in on search of this professor - who would have thought that this student
and this young man would sit together today
in the minster of Riddagshausen?
The fact that you do is very, very improbable.
Some might say: Coincidence.
Others, with a more fatalistic concept of life, might say: Destiny.
You say:
With God everything is possible.
Of these three I find yours is the most charming concept.

Life often is disappointing.
Thinks don't work out as they should,
as we expected them to work out.
We don't always get what we want
or what we think we deserved.
We get hurt - in a physical way,
and also hurt by people we thought were friends.
If one experiences this,
one can get the feeling of life as a malicious power
that stands against him.
But you don't regard the deficiencies,
you see the possibilities life offers to you.
For you, a glass is not half empty, it's half full.
That's a very special gift of yours.
And it sure is more than an attitude.
You don't get to see life that way by thinking about it.
But by experiencing that there are often, if not always
people who mean well.
Who are helpful.
Who prove themselves as friends.
Like that young man that popped into the professor's office.
He proved extremely helpful to the student
by helping her find a room,
by introducing her to his friends,
by showing her the beauty of M,
introducing her to the way of life in his home country.
You two got friends, you fell in love,
and now, after all, you're here,
at a very improbable, but also a very perfect spot.

With God everything is possible.
God reaches out to us through people who mean well,
who are helpful and friendly.
Those who were and are such people in your life
are gathered here today.
God unites us in spite of all differences in denomination or religion,
and so gives us the chance to offer each other possibilities. Mistakes are being made,
plans have to be altered,
work has to be re-done.
That's annoying.
Exhausting.
Disappointing.

You say: it's a possibility.
And this helps you see the advantages of a new situation,
it helps you see the chances it offers, the beauty.
It makes you feel Gods presence in your life.
And by the way you look at life,
you change the views and opinions of others.
You help them see what you see:
The possibilities. The beauty.

My wish for you is that you may always look at life that way.
And that you always look at each other that way.
That you may see not so much each other's mistakes,
but each other's possibilities,
not so much the flaws and failures,
but each other's beauty.

I wish you that the love of you family
and the help and sympathy of your friends
may accompany you on your path of life together
and that you always feel confident:
With God everything is possible.
Amen.