Samstag, 9. Juni 2012

Bei der Wahrheit bleiben

Predigt am 1. Sonntag nach Trinitatis, 10.6.2012, über Jeremia 23,16-29 in Auswahl:

So spricht der HERR Zebaoth: Hört nicht auf die Worte der Propheten, die euch weissagen! Sie betrügen euch; denn sie verkünden euch Gesichte aus ihrem Herzen und nicht aus dem Mund des HERRN. Sie sagen denen, die des HERRN Wort verachten: Es wird euch wohlgehen –, und allen, die nach ihrem verstockten Herzen wandeln, sagen sie: Es wird kein Unheil über euch kommen. Ich sandte die Propheten nicht und doch laufen sie; ich redete nicht zu ihnen und doch weissagen sie. Denn wenn sie in meinem Rat gestanden hätten, so hätten sie meine Worte meinem Volk gepredigt, um es von seinem bösen Wandel und von seinem bösen Tun zu bekehren. Bin ich nur ein Gott, der nahe ist, spricht der HERR, und nicht auch ein Gott, der ferne ist? Meinst du, dass sich jemand so heimlich verbergen könne, dass ich ihn nicht sehe?, spricht der HERR. Bin ich es nicht, der Himmel und Erde erfüllt?, spricht der HERR. Ich höre es wohl, was die Propheten reden, die Lüge weissagen in meinem Namen und sprechen: Mir hat geträumt, mir hat geträumt. Ein Prophet, der Träume hat, der erzähle Träume; wer aber mein Wort hat, der predige mein Wort recht.


Liebe Gemeinde,

zu einer Zeit, als viele Politiker von den Erfolgen des Militäreinsatzes in Afghanistan schwärmten, sagte die damalige Bischöfin der EKD, Margot Käßmann, einen Satz, für den sie heftig kritisiert wurde; mancher forderte für diesen Satz sogar ihren Rücktritt. Es war der Satz: "Nichts ist gut in Afghanistan". Mittlerweile hat sich gezeigt, dass Bischöfin Käßmann recht hatte.  Ein anderes Beispiel: North Carolina hat als erster Bundesstaat der USA die Behauptung, dass die Erde von einer Klimaerwärmung betroffen ist, verboten - nach dem Motto: "Weil nicht sein kann, was nicht sein darf." Das erinnert an die Verurteilung der Lehre Galileo Galileis, dass die Erde eine Kugel sei, durch die damalige katholische Kirche. Mittlerweile hat der Vatikan diese Verurteilung aufgehoben und Galilei rehabilitiert. Der Überbringer der schlechten Nachricht macht sich unbeliebt. Und wer eine unbequeme Meinung vertritt, ebenso. Das war schon immer so, von den Zeiten Jeremias über Galilei bis heute. Man möchte lieber hören, dass alles in Ordnung ist. Dass die Fachleute das Problem in den Griff bekommen, die Ärzte die Krankheit heilen können, die Politiker eine Lösung für die Krise finden werden. Was man nicht hören möchte ist, dass die Dinge nicht so sind, wie sie scheinen, sondern ganz anders. Man möchte hören, dass alles gut wird, selbst, wenn man weiß, dass das nicht die Wahrheit ist. Und man möchte hören, dass alles so bleibt, wie es ist, selbst, wenn man mitten in einer Veränderung steckt. Denn in einer Krise ist die Beschönigung und Beschwichtigung besser auszuhalten als die Realität - auch wenn sie eine Lüge ist. Man macht sich gern mal etwas vor, und man lässt sich gern etwas vormachen. Aber gleichzeitig schimpft man darüber, dass die Politik ihre Glaubwürdigkeit verloren habe und die Politiker nicht die Wahrheit sagen würden aus Angst, Wählerstimmen zu verlieren.

II
Wie aber soll man die Beschwichtigung, die Jeremia "Traum" nennt, weil sie die Realität nicht wahrhaben will, von der Wahrheit, dem Wort Gottes, unterscheiden? Die Unterscheidung gelingt, wenn man versucht, für sich selbst bei der Wahrheit zu bleiben, sich selbst nichts vorzumachen. Dazu ist eine ordentliche Portion Zweifel nötig - Zweifel gegenüber allen, die einem die Welt erklären wollen. Die einem versichern, man habe alles im Griff. Zweifel aber auch sich selbst gegenüber, Zweifel an der eigenen Wahrnehmung: ist das wirklich so, wie ich denke, oder könnte es sein, dass ich mich irre, dass ich jemandem Unrecht tue? Zweifel ist angebracht, weil man sich die Dinge gern so zurechtlegt, wie sie einem passen. Und wenn man sich erst einmal eine Meinung gebildet hat über sich, seine Mitmenschen, die Welt, dann ist man davon kaum wieder abzubringen. Wer sich z.B. vom Leben oder von den Mitmenschen benachteiligt fühlt, oder sich gar als Opfer sieht, dem wird es schwer fallen, den eigenen Beitrag daran zu erkennen. Um zweifeln zu können, muss man sozusagen einen Schritt neben sich treten, sich selbst und seine Welt von außen, mit den Augen eines anderen, ansehen. Mit den Augen Gottes zum Beispiel.

III
Mit den Augen Gottes kann ein unvoreingenommener Blick auf uns und unsere Welt gelingen. Gott ist uns, wie Jeremia sagt, zugleich ganz nah und auch sehr fern. Er ist fraglos auf unserer Seite und für uns und lässt sich doch nichts vormachen. Gott sieht, was mit uns los ist und wie wir wirklich sind. Und es gibt einiges, das ihm nicht gefällt. Das er verurteilt. Aber er verurteilt uns deswegen nicht. Gott liebt die Wahrheit so sehr, dass er zwischen Sache und Person unterscheiden kann. Dass er leidenschaftlich falsches Handeln verurteilt, aber nicht die Person, die so handelt. Gott möchte, dass wir den Mut zur Wahrheit finden. Den Mut zu einem wahrhaftigen Blick auf uns selbst und unsere Welt. Denn Gott kann uns nur helfen, wenn wir uns unsere Hilflosigkeit eingestehen. Unsere Zweifel. Unsere Unwissenheit. Solange wir selbst etwas zu wissen glauben, fragen wir nicht. Dann zweifeln wir auch nicht. Und dann gelingt uns nicht der Blick über den Tellerrand unseres eigenen begrenzten Horizonts. "Ich weiß, dass ich nichts weiß", sagt der Philosoph. Solange man diesen Satz nur benutzt, um Bescheidenheit und Einsicht vorzutäuschen, hat man nichts gewonnen. Erst, wenn aus dem Satz tatsächlich eine Einsicht geworden ist, kann man sich anderem Wissen, anderen Sichtweisen öffnen.

IV
Die Wahrheit ist nicht so schlimm, wie man befürchtet. Sie ist kein tief verschüttetes Geheimnis unserer frühesten Kindheit; kein verborgener Sinn, der in unserem Leben oder Leiden liegen soll, und auch keine Erleuchtung, zu der wir mit viel Mühe streben müssten. Die Wahrheit ist eine Person: Jesus, Gottes Sohn, der von sich sagt (Johannes 14,6): "Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben." Jesus ist die Wahrheit. Im Lichte dieser Wahrheit erscheinen die sogenannten "Kollateralschäden": die bei den Einsätzen unbemannter Drohnen gegen Terroristen getöteten Zivilpersonen, als Lüge, und die Rede von sogenannten "chirurgischen" Einsätzen von Kriegswaffen als Augenwischerei. Im Lichte dieser Wahrheit erkennen wir, dass unsere Gesellschaft den Götzen Wachstum und Konsum all unsere Kraft und Ressourcen opfert; dass der Traum vom Wohlstand für alle eine Lüge ist, und dass an den Börsen keine Spielgelder, sondern unsere Krankenversicherungen, Spareinlagen und Renten verzockt werden.  Diese Wahrheiten sind schmerzlich. Sie zu sehen und einzusehen, dass es so ist, tut weh. Aber wir können sie aushalten und ertragen, wie werden nicht daran zerbrechen. Denn die Wahrheit ist kein Satz, sondern eine Person, die unser Glück will und uns über alles liebt. Jesus, die Wahrheit, hilft uns, die Wahrheit über uns und über unsere Welt zu ertragen und damit zu leben.

V
Die Wahrheit wird uns frei machen. Sie ist ja kein Satz, kein Urteil, keine Festlegung. Wenn wir uns und unsere Welt mit Gottes Augen zu sehen gelernt haben, werden wir über den Tellerrand unseres eigenen, begrenzten Horizontes schauen. Und erkennen, dass es mehr als einen Weg im Leben gibt. Wir entdecken neue Wege für uns, Umwege und Auswege. Und vielleicht finden wir ja gemeinsam auch einen Weg, auf dem wir Menschen eine Zukunft haben.