Donnerstag, 23. Februar 2012

Die Traurigkeit der Welt - 2.Korinther 7,10


Die Traurigkeit der Welt - Predigt zum Aschermittwoch, 22.2.2012, über 2.Korinther 7,10:

"Die Traurigkeit nach Gottes Willen wirkt zur Seligkeit eine Reue, die niemanden reut; die Traurigkeit der Welt aber wirkt den Tod."


Liebe Gemeinde,

der Dichter Jean Paul war ein Zeitgenosse Johann Wolfgang von Goethes, zu seinen Lebzeiten sogar bekannter und beliebter als der große Geheimrat.
Während Goethe für die Pedelle früherer Zeiten bis hin zu Thilo Sarrazin als *der* deutsche Dichter schlechthin gilt, den man kennen *muss*, ist Jean Paul fast vergessen.
Dabei hat er ein Wort erfunden, das eine große Karriere hinter sich hat, das als Germanismus in viele Fremdsprachen eingewandert ist und das auch Sie sicher kennen, auch wenn Sie noch keine Zeile von Jean Paul gelesen haben sollten.
Das Wort heißt *Weltschmerz*.

Weltschmerz - dieser Begriff beschreibt das Lebensgefühl der Romantik wie kein anderer.
Josef Freiherr von Eichendorff, Clemens Brentano und Heinrich Heine haben es zu dem Wort gemacht,
das heute diese Epoche kennzeichnet
und das eine Haltung zur Welt beschreibt, die auch wir kennen.
Als Jugendliche/r erlebt man "Weltschmerz".
In einem Alter, in dem man besonders empfänglich ist
für romantische Ideen und Gefühle.
Vielleicht denken wir auch an den jungen Werther,
den Sohn des Abtes Jerusalem aus Riddagshausen,
das Vorbild für die Romanfigur Goethes,
dessen Schicksal - auch mit seinem Selbstmord
aus unerwiderter Liebe - bis heute viele Menschen berührt.

Da hätten wir dann auch schon eine Erklärung für diesen eigenartigen Satz des Paulus:
"Die Traurigkeit der Welt wirkt den Tod".
Wer in seiner Traurigkeit, seiner Melancholie so versinkt wie der junge Werther,
für den erscheint der Tod manchmal als einzig möglicher Ausweg.
Insofern ist davor zu warnen, sich dem Weltschmerz hinzugeben, weil man in ihm versinken kann
und dann keinen Ausweg mehr findet.

Weltschmerz - wer ihn empfindet, leidet nicht unbedingt daran,
dass die Welt so ist, wie sie ist.
Aber man kann auch darunter leiden,
dass die Welt so ist, wie sie ist
- das wäre dann ein Weltschmerz im wörtlichen Sinn.
Wenn man die Zeitung aufschlägt,
wenn man die Tagesschau anschaltet,
tut es fast körperlich weh,
wenn man sieht, was Menschen einander antun.
Wie kaltblütig und rücksichtslos über Recht und Gesetz hinweggegangen wird.
Wie stur, gewalttätig und oft über Leichen
Ämter, Ideologien oder fanatische Überzeugungen
verteidigt und zementiert werden.
Wie das Leben, die Unversehrtheit der Person, die Freiheit,
die Würde von Menschen mit Füßen getreten wird.
Allein diese Ungerechtigkeiten mitzuerleben tut weh,
und in der Summe all dieser Ungerechtigkeiten
könnte man zu recht von einem "Weltschmerz" sprechen.

Aber ursprünglich gemeint ist mit diesem Wort etwas anderes,
nämlich: Das Leiden an der Vergänglichkeit der Welt.
Das Leiden daran,
dass man den glücklichen Moment nicht festhalten kann.
Und dass man auch die Menschen, die man liebt,
nicht festhalten kann.
Alles vergeht, alles wird zu Asche, die der Wind verweht.
Schließlich auch wir selbst:
Auch wir können nicht bleiben.
Auch unsere Spuren verweht einst der Wind,
wäscht der Regen weg,
deckt der Staub der Jahre zu.

Auf der einen Seite gibt es das Leiden an der Ungerechtigkeit der Welt,
und auf der anderer Seite das Leiden an ihrer Vergänglichkeit,
an der Endlichkeit allen Lebens.
Manchmal kommt beides zusammen
in Situationen, wo man persönlich von Ungerechtigkeit betroffen ist:
Bei einer Krankheit,
die einem einen Strich durchs Leben macht
oder sogar das Leben bedroht.
Bei willkürlichen Entscheidungen von Vorgesetzten,
die den Verlust des Arbeitsplatzes bedeuten
oder die die berufliche Weitentwicklung, den Aufstieg verhindern.
Bei der Überforderung,
die der Zwang zur Leistungssteigerung
und zur persönlichen Weiterentwicklung
unter immer schlechteren Arbeitsbedingungen und Zukunftsaussichten für viele bedeutet.
Das nennt man dann nicht mehr "Weltschmerz",
sondern "Burnout".

Wenn solche Erfahrungen auch nicht zwangsläufig zum Tod führen müssen,
so stürzen sie die Menschen, die sie machen müssen,
doch in einen tiefen Abgrund, in schweres Leid,
aus dem manchmal nur noch der Tod einen Ausweg zu bieten scheint.
Insofern hat Paulus wohl recht mit seiner Feststellung:
"Die Traurigkeit der Welt wirkt den Tod."

Wenn das so ist - gibt es eine Alternative?
Gibt es etwas, das vor dem Abrund des Weltschmerzes retten kann,
oder ein Hilfsmittel, mit dem man wieder heraus kommt?
"Die Traurigkeit nach Gottes Willen wirkt zur Seligkeit eine Reue, die niemanden reut", schreibt Paulus.
Man stößt sich an dem Wort "Seligkeit".
Auch so ein romantischer Begriff wie der "Weltschmerz".
Aber im Griechischen steht ein anderes Wort da: *Sotería*.
Rettung.
Und das ist das, was wir suchen.
"Die Traurigkeit nach Gottes Willen wirkt zur Rettung eine Reue,
die niemanden reut."

Die Traurigkeit nach Gottes Willen wirft mich zunächst auf mich selbst zurück, wie es auch der Weltschmerz tut.
Aber sie fragt nicht: Woran leidest du? Was fehlt dir?
Sie fragt: Was hast du getan, was tust du, und was wirst du tun - für dich und für andere?
Man könnte meinen,
diese Frage sei noch viel schrecklicher als der Weltschmerz,
sie stürze einen noch tiefer in Elend und Unglück.
Man tut ja nie genug - und oft genug tut man das Falsche.
Man tut Menschen Unrecht, man tut Menschen weh,
und selten tut man jemandem gut.
Ist das wirklich so?

Wenn Gott uns den Spiegel vorhält, dann nicht als strenger Richter,
vor dem wir als Angeklagte stehen, die sich rechtfertigen müssen.
Gott steht an unserer Seite wie eine liebevolle Mutter,
wie ein treuer Freund,
und hilft uns dabei, in den Spiegel unserer Seele zu schauen.
Zu ertragen, dass wir uns darin sehen, so, wie wir sind:
als Menschen, die Fehler gemacht haben.
Als Menschen, denen manches nicht gelungen ist.
Als Menschen, die nicht so erfolgreich, so klug, so stark sind,
wie sich selbst und andere glauben machen wollen.

Gott hilft uns dabei, in den Spiegel unserer Seele zu schauen
und uns zu sehen, wie wir wirklich sind:
Menschen, die schön sind, so, wie sie sind.
Menschen, die liebenswert sind und gut.
Menschen, die viel Gutes getan haben.
Menschen, die manchmal auch zu viel tun
für ihren Beruf und für andere,
und oft zu wenig für sich selbst.
Aber das zu sehen fällt oft schwerer als die Fehler,
die man überdeutlich erkennt und für unübersehbar hält,
während andere fragen: Was meinst du? Welche Fehler?

"Die Traurigkeit nach Gottes Willen wirkt zur Rettung eine Reue,
die niemanden reut."
Wer nicht total in sich selbst verliebt ist,
wird traurig, wenn er in den Spiegel seiner Seele sieht.
Traurig über die Fehler, die man darin sieht,
und traurig, dass man das Gute übersehen hat.
Die Reue, von der Paulus spricht, bedeutet,
beides zu sehen, die Fehler und das Gute,
und beides nüchtern zu sehen
ohne Vorurteile sich selbst gegenüber,
und ohne Vorverurteilung.

Was wir getan haben, was wir tun und was wir tun werden,
entscheidet nicht darüber, wer wir sind.
Sondern was Gott getan hat, tut und tun wird.
Gott hat uns vergeben.
Gott liebt uns.
Und Gott gibt uns den Glauben, die Liebe und die Hoffnung,
mit denen wir den morgigen Tag bestehen,
mit denen wir in den Spiegel unserer Seele zu blicken wagen,
um uns selbst darin zu sehen als die und als der, die wir sind:
Gottes über alles geliebte Töchter und Söhne.
Das ist unsere Rettung.
Amen.

Samstag, 18. Februar 2012

Schuldgeständnis - Predigt über Amos 5,21-24


Predigt am Sonntag Estomihi, 19.2.2012, über Amos 5,21-24:

Ich bin euren Feiertagen gram und verachte sie
und mag eure Versammlungen nicht riechen.
Und wenn ihr mir auch Brandopfer und Speisopfer opfert,
so habe ich kein Gefallen daran
und mag auch eure fetten Dankopfer nicht ansehen.
Tu weg von mir das Geplärr deiner Lieder,
denn ich mag dein Harfenspiel nicht hören!
Es ströme aber das Recht wie Wasser
und die Gerechtigkeit wie ein nie versiegender Bach.


Liebe Gemeinde,

ganz schön starker Tobak, diese Worte des Propheten Amos!
Arrogant wettert er von seiner Kanzel gegen das,
was Menschen zu Gottes Ehre veranstalten
im guten Glauben, dass sie Gott damit einen Dienst erweisen.
Amos schmäht im Namen Gottes
das Begehen von Feiertagen
und das Zusammenkommen zum Gottesdienst,
macht die Opfer schlecht, die man Gott so bringt,
und verunglimpft das Singen im Gottesdienst als "Geplärr".

Nun ist das alles lange her.
Amos hat im 8. Jahrhundert vor Christus gelebt und gepredigt,
in der Eisenzeit, als bei uns im Land die Kelten hausten.
Das ist wirklich schon eine Ewigkeit her.
Wir hören diesen uralten Text heute,
aber er kommt uns - sieht man mal vom Opfern ab -
gar nicht so alt und weit weg vor.
Das liegt nicht daran,
dass wir etwa gerade nicht schön gesungen hätten.
Sondern daran, dass das, worum es Amos geht,
ziemlich aktuell ist.
Man könnte es geradezu als Kommentar zu den jüngsten politischen Ereignissen hören und verstehen.
Aber es ist mehr als das.
Amos beschreibt ein Grundmuster menschlichen Verhaltens,
das sich seit der Eisenzeit nicht verändert hat,
aller Entwicklung, allem Fortschritt zum Trotz.
Es geht um unseren Umgang mit Recht und Gerechtigkeit,
bzw. um den Umgang mit ihrem Gegenteil,
mit Unrecht und Ungerechtigkeit.
Vor allem mit Unrecht, das wir begingen.

I
In der Kirche wurde dieses Thema über Jahrhunderte unter den Begriffen "Schuld" und "Sünde" behandelt.
Diese beiden Begriffe, besonders die "Sünde",
sind heute aus der Mode gekommen.
Man muss das nicht bedauern.
Man muss nicht den Zeiten nachtrauern,
als es zum Christsein gehörte, sich schuldig zu fühlen
und sich ständig vor Augen zu halten:
Ich bin eine Sünderin, ich bin ein Sünder.

Gut, dass die Zeiten vorbei sind,
als Christen am leicht gebeugten Gang zu erkennen waren;
als sie es kaum wagten, das Kreuz durchzudrücken
und anderen geradewegs ins Gesicht zu sehen,
weil sie sich so abgrundtief schlecht, verderbt und schuldig fühlten.

Es ist auch kein Malheur,
dass die Beichte kaum noch stattfindet,
bei der vor allem Jugendliche sich krampfhaft überlegen mussten,
was sie eingestehen konnten.
Sie waren sich keiner Schuld bewusst,
aber das durfte ja nicht sein.

Doch wie das so ist, wenn Dinge aus der Mode kommen:
Es hat immer zwei Seiten.
Der Verlust des dauerhaft schlechten Gewissens
und die Gewinnung des aufrechten Ganges
waren und sind eine Befreiung.

Es ist aber zugleich aus der Mode gekommen,
zu tatsächlicher Schuld zu stehen,
Verantwortung für einen Fehler zu übernehmen,
den man gemacht hat,
und die Konsequenzen zu tragen.
Obwohl es Schuld und Sünde nicht mehr gibt,
möchte kaum jemand an etwas schuld sein.
Ob da ein Zusammenhang besteht?

II
"Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen",
hat der Philosoph Ludwig Wittgenstein gesagt
(Trctatus Logico-Philosophicus, 7. Abschnitt).
Und wovon man nicht sprechen will, so müsste man ergänzen,
das muss man verschweigen.

Schuld ist etwas, das man gerne verschweigt.

Das klingt wie eine Binsenweisheit:
Schuld ist etwas, das man gerne verschweigt.
Ja, klar! Wer wird denn schon so blöd sein und eingestehen,
dass er, dass sie an etwas schuld ist!

Aber sollte uns das nicht stutzig machen?
Schließlich ist Schuld eine Tatsache.
Und trotzdem versuchen wir,
die Tatsache unserer Schuld zu verschweigen, zu leugnen
oder wenigstens zu relativieren, abzuschwächen.

Ein Beispiel:
Ich habe eine Tasse heruntergeworfen, sie ist zerbrochen.
Ich bin schuld, dass diese Tasse kaputt ist.
Daran gibt es nichts zu deuteln.
Und trotzdem werde ich versuchen,
sie zu verschweigen und, wenn das nicht geht,
mich herauszureden, meine Schuld zu leugnen:

Es ist aus Versehen passiert, war ja keine Absicht
(das wäre ja auch noch schöner!).

Oder: Die Tasse hatte sowieso schon einen Sprung.
Wenn sie den nicht gehabt hätte,
wäre sie vielleicht heil geblieben, und es wäre gar nichts passiert.

Oder, noch besser: Du hast mich erschreckt.
Ich bin vor Schreck zusammengezuckt,
und dadurch ist die Tasse heruntergefallen.
Hättest du mich nicht erschreckt, wäre sie jetzt noch heil.
Eigentlich bist du schuld, dass die Tasse kaputt ist.

Wir machen uns unglaublich viel Mühe damit,
davon abzulenken, dass wir an etwas schuld sind.
Warum eigentlich?
Warum ist es so schwer, Schuld einzugestehen,
dass wir lieber alle Hebel in Bewegung setzen,
um unsere Schuld zu vertuschen,
als diesen einen Satz zu sagen: Ich war's?
Was könnte denn Schlimmes passieren,
wenn man Schuld gesteht?

III
Ich glaube, es ist die Angst vor den Konsequenzen.
Wer Schuld eingesteht, der begibt sich in eine Position,
in der er von einem anderen abhängig wird:
abhängig von dem, an dem er schuldig geworden ist.
Wenn ich dir eingestehe, dass ich die Tasse zerbrochen habe,
muss ich sie dir ersetzen.
Und wenn es deine Lieblingstasse war,
muss ich aushalten, dass du enttäuscht bist. Traurig.
Oder vielleicht sogar böse auf mich.
Vielleicht darf ich nie wieder eine Tasse von dir benutzen.
Oder vielleicht kündigst du mir sogar die Freundschaft auf!
(Naja, wohl nicht wegen einer zerbrochenen Tasse).
Solche Gedanken gehen einem im Kopf herum,
wenn man einem anderen gegenüber schuldig geworden ist.
Für "Tasse" kann man ein beliebiges Anderes einsetzen:
Ein Fenster. Ein Auto.
Aber auch: Das Vertrauen. Die Beziehung.

Es ist die Angst vor den Konsequenzen,
wegen derer wir alles versuchen,
unsere Schuld zu vertuschen oder wegzudiskutieren.
Wir wollen sie nicht auf uns nehmen,
die Konsequenzen, die wir tragen müssten,
wenn wir unsere Schuld eingestehen.
Denn dann gibt es kein Zurück mehr.
Dann sind wir dem anderen ausgeliefert.
Und der hält sich womöglich schadlos an uns,
fordert von uns eine Wiedergutmachung,
die wir uns gar nicht leisten können.

Aber noch mehr passiert, wenn wir Schuld eingestehen:
Wir verlieren unsere weiße Weste.
Wir verlieren an Ansehen, an Macht.
Vielleicht verlieren wir sogar unseren guten Ruf.
Die Konsequenzen aus dem Eingeständnis einer Schuld
könnten so groß sein,
dass wir sie nicht in Kauf nehmen wollen;
so groß, dass wir sie nicht tragen können.

Sie sehen: Es gibt gute Gründe,
Schuld zu leugnen oder zu relativieren,
und man ist gut beraten, auf keinen Fall zuzugeben,
dass man an etwas schuld ist.

IV
Wenn ich es gut mit Ihnen meinte,
müsste ich Ihnen eigentlich raten,
niemals irgendeine Schuld einzugestehen,
es sei denn, es gibt keine Möglichkeit, sie zu leugnen.
Aber auch dann, so müsste ich Ihnen dringend nahelegen,
sollten Sie alles tun, um diese Schuld zu relativeren,
abzuschwächen, auf andere abzuwälzen.

Aber ich kann Ihnen das nicht raten.
Und zwar nicht deshalb, weil es moralisch verwerflich wäre.
Das ist es zwar. Aber darum geht es Amos nicht.
Darum geht es dem Glauben nicht.
Es geht im Glauben nicht um moralisch richtiges Verhalten.
Sondern es geht um Recht und Gerechtigkeit.
Es ist schlicht und einfach ungerecht,
nicht zuzugeben, wenn man an etwas schuld ist.
Es ist ungerecht, weil es nicht die Wahrheit ist.
Und es fügt dem anderen zum Schaden
auch noch eine Verletzung zu:
die, ungerecht behandelt zu werden.
Diese Verletzung ist viel schlimmer
und wiegt viel schwerer als das,
was durch meine Schuld kaputt gegangen ist.

Ungerechtigkeit wirkt wie ein Gift.
Sie zerstört Gemeinschaft, sie zerstört eine Gesellschaft.
Und das Schlimme ist: Man gewöhnt sich ganz leicht daran.
So leicht wie an das Nikotin oder den Alkohol,
die ja auch Gifte sind.
Wer einmal gemerkt hat, wie einfach es ist,
Schuld abzuwälzen auf andere oder auf "die Umstände",
der tut das immer wieder, und jedes Mal wird es leichter.
Und schließlich wird es normal, Schuld nicht zuzugeben.
Versicherungsbetrug? Ein Kavaliersdelikt!
Steuerhinterziehung? Macht doch jeder!
Vorteilsnahme? Wer wird denn so kleinlich sein!

V
Ich kann Ihnen nicht raten, Schuld einzugestehen.
Denn ich weiß nicht, ob Sie die Konsequenzen tragen können,
und ob Sie sie tragen wollen.
Es gehört Mut dazu. Und Vertrauen.
Vielleicht kann nur der Schuld gestehen,
dem selbst einmal Schuld vergeben wurde.
Aber das ist ein Teufelskreis!, werden Sie sagen:
Wenn nur jemand Schuld gesteht, dem sie vergeben wurde,
dann gibt es niemanden, der Schuld gestehen kann,
weil man ja einmal den Anfang machen muss,
ohne dass man vorher Vergebung erfahren hat.

Gott sei Dank ist es kein Teufelskreis.
Denn Gott macht uns das Geschenk der Vergebung.
Gott vergibt uns, was wir bereuen.
Er macht es nicht ungeschehen.
Aber er macht uns deswegen nicht zunichte.
Es gibt keine Schuld,
mit der wir Gott nicht unter die Augen treten könnten.
Selbst wenn Menschen uns nicht vergeben können oder wollen,
Gott vergibt uns.
Ohne Bedingungen.
Ohne Strafe. Ohne Sühneleistungen.

Weil Gott uns vergeben hat,
darum kann man es wagen,
auch den Mitmenschen gegenüber Schuld einzugestehen
und die Konsequenzen zu tragen.
Dadurch wächst Vertrauen:
Dein Vertrauen, dass ich die Wahrheit sage,
und dass ich mich in deine Hände begebe.
Und mein Vertrauen, dass du mich nicht vernichtest,
wenn ich dir meine Schuld gestehe,
und meine Abhängigkeit nicht ausnutzt.

Ich kann Ihnen nicht raten, Schuld einzugestehen.
Aber ich möchte Ihnen Mut machen dazu.
Ich möchte Ihnen Mut machen,
das Geschenk der Vergebung anzunehmen,
das man erhält, wenn man die Wahrheit sagt
und seine Schuld bekennt.
Und ich möchte Sie dazu ermutigen,
anderen dieses Geschenk der Vergebung zu machen.

Wenn wir das wagen,
dann wird das Recht strömen wie Wasser
und die Gerechtigkeit wie ein nie versiegender Bach.
Amen.

Samstag, 4. Februar 2012

Über Angeber - Predigt zum Sonntag Septuagesimae, 5.2.2012

Predigt am Sonntag Septuagesimae, 05.02.2012 über Jeremia 9,22+23:

So spricht Gott:
Ein Weiser rühme sich nicht seiner Weisheit,
ein Starker rühme sich nicht seiner Stärke,
und ein Reicher rühme sich nicht seines Reichtums.
Sondern wer sich rühmen will, rühme sich,
dass er Einsicht hat und mich kennt,
denn ich bin Gott,
der Gnade („Solidarität“), Recht und Gerechtigkeit tut auf Erden, denn daran habe ich Wohlgefallen, spricht Gott.


Liebe Gemeinde,

in der Schule ist vieles verpönt – petzen z.B., oder sich beim Lehrer anbiedern; man lernt sehr schnell, was man als Schüler „darf“ und was nicht, und passt sich entsprechend an. Man möchte nicht herausstechen aus der schützenden Gruppe, vor allem möchte man nicht stigmatisiert, als Außenseiter gezeichnet werden. Das schlimmste, was einem passieren kann, ist, als „Streber“ oder „Streberin“ zu gelten. Denn der Streber steht auf der untersten Sprosse der Hühnerleiter, er gilt sozusagen als vogelfrei. Und wie leicht kann man in diese Rolle geraten – wenn man zu oft gute Noten schreibt oder in zu vielen Fächern gut ist – außer natürlich in Sport; wenn man sich zu lebhaft für den Stoff interessiert; wenn man den Lehrer mag (es sei denn, er oder sie ist Liebling der ganzen Klasse) oder ihn gar persönlich kennt.
Die wirklichen Angeber in der Klasse haben dagegen nichts zu fürchten – im Gegenteil: Sie sind oft recht beliebt, weil sie für Stimmung sorgen, immer für einen Spaß auf Kosten anderer zu haben sind - oder weil man schlicht befürchtet, an ihrem Getue könnte doch etwas dran sein. Aber trotzdem bleiben sie natürlich Angeber, und deshalb sieht man auf sie herab und sagt das auch – wenn sie nicht in der Nähe sind.
Unsere Erfahrungen mit dem Rühmen machen wir sehr früh, schon in der Schule. Und da haben Angeber schlechte Karten – vor allem, wenn sie sich nicht mit Worten, sondern durch ihre Leistungen hervortun. Und so geht es unter uns zu wie bei den Krabben, die man getrost in einen Korb legen kann, ohne dass auch nur eine entwischt: sobald eine nach oben krabbeln und sich über ihre Artgenossen erheben will, wird sie von den anderen sofort wieder herunter gezogen.
Auch in der Kirche ist das Rühmen verpönt, und deshalb auch das Loben. Die christliche Demut fordert, dass man sich nicht über andere erhebt, sondern sich in die Gemeinschaft einordnet. Wer etwas leistet, wer etwas kann, darf nicht stolz darauf sein – er soll seine Leistung herunterspielen, sein Können möglichst unscheinbar machen, es heimlich anwenden, damit er keinen Neid weckt, niemandem „ein Ärgernis gibt“.

I
In diese Richtung scheint auch Jeremia zu zielen:
„Ein Weiser rühme sich nicht seiner Weisheit,
ein Starker rühme sich nicht seiner Stärke,
und ein Reicher rühme sich nicht seines Reichtums.“

Wer etwas weiß, wer etwas kann, wer etwas hat, darf nicht stolz darauf sein. - Ja, aber was soll er oder sie denn dann damit anfangen? Was macht die Weise mit ihrer Weisheit – soll sie alles wieder vergessen? Was macht der Starke mit seiner Stärke – soll er schwach werden? Und der Reiche – soll er seinen Reichtum verschenken?
Eine Antwort darauf fällt mir sofort ein – vielleicht, weil auch sie schon aus Schulzeiten stammt. Es ist die Antwort der schweigenden Mehrheit, der Gruppe; eine Antwort, die niemals ausgesprochen wird, aber immer als heimliche, stets fühlbare Forderung im Raum steht: Wer etwas weiß, kann oder hat, muss davon den anderen abgeben, muss es teilen.
Der „Streber“ rettet seinen Hals, wenn er den Nachbarn oder die Nachbarin abschreiben lässt. Wer das Glück hat, Süßigkeiten geschenkt bekommen zu haben, gibt gefälligst seinen Mitschülern davon ab. Nur die Starken sind von diesem Zwang zum Teilen ausgenommen – einmal, weil sie zu kräftig sind, um sich mit ihnen anzulegen. Dann, weil man im Sportunterricht nicht abschreiben oder sonst einander helfen kann – da muss jeder selber sehen, wie er eine gute Note bekommt.
Auch diese stillschweigende Forderung der Gruppe verinnerlicht man schon zu Schulzeiten, und man vergisst sie sein Lebtag nicht: Wer sein Wissen, sein Können, seinen Besitz mit anderen teilt, der ist gut und gehört dazu; wer alles für sich behält, der ist schlecht und wird verworfen.
Das bekommen – paradoxerweise – gerade die Schwächeren und Schwachen zu spüren. Denn an die wirklich Starken traut sich niemand heran, die wirklich Reichen wagt niemand mit dem Anspruch zu konfrontieren, sie müssten etwas abgeben, und den Weisen ist es sowieso gleichgültig, was andere über sie denken.
Also könnte man Jeremias Worte als – freilich hilflosen – Versuch verstehen, den wirklich Starken ins Gewissen zu reden, sie zum Einlenken zu bewegen, zum Einordnen in die Gemeinschaft der Gruppe? Vielleicht müssen wir zu verstehen versuchen, was mit „Rühmen“ überhaupt gemeint ist, um Jeremias Worte richtig zu hören.

II
„Rühmen“ hat für die Bibel nichts mit „Angeben“ zu tun, also nichts mit dem bloßen Vortäuschen von Wissen, Macht oder Reichtum. Wer aber tatsächlich etwas kann, etwas besitzt oder etwas weiß, der kann nicht so tun, als hätte er es nicht - auch das wäre ja eine Täuschung. Und das soll er auch nicht: „Es kann die Stadt, die auf einem Berg liegt, nicht verborgen bleiben“, sagt Jesus (Mt 5,14), und „man stellt ein Licht nicht unter einen Eimer, sondern auf einen Leuchter, damit es allen leuchtet, die im Haus sind“ (Mt 5,15). Wer etwas hat, darf es zeigen – soll es sogar zeigen, wenn es die Hausgenossen erfreut, wenn es „leuchtet“.
Für das „Rühmen“ gilt also gerade nicht das Sprichwort: „Große Klappe, nichts dahinter“ – denn der, der sich rühmt, hat ja etwas vorzuweisen: Weisheit. Macht. Reichtum. Und zwar in solchem Maß, dass er es öffentlich zeigen und sich darauf verlassen kann, dass er sich damit nicht blamiert: Wer sich seiner Weisheit rühmt, muss wirklich mehr wissen als die anderen – wie lächerlich würde er sich sonst machen, könnte man ihn der Unwissenheit überführen! Der Mächtige muss sich seiner Macht und Stärke sicher sein, bevor er andere damit herausfordert – sonst ist es mit seiner Macht bald vorbei. Und auch der Reiche muss wirklich viel besitzen, damit ihn nicht gleich ein Reicherer
aussticht und man ihn als Angeber verspottet.
Wer sich rühmt, der hat oder kann also wirklich etwas, - und nicht nur etwas, sondern mehr als genug: so viel, dass er sich darauf verlassen kann. Dass sein Wissen, seine Kraft oder sein Besitz zum Fundament seines Handelns wird, ohne dass er noch viele Rücksichten nehmen muss. Wer wünschte sich nicht manchmal im Geheimen, so mächtig zu sein, dass ihm keiner frech die Stirn bieten kann, dass er das, was ihn am meisten ärgert, ändern, es dem schlimmsten Widersacher „zeigen“ kann!
Genau davor aber warnt Jeremia: Sich zu verlassen auf Weisheit, Macht oder Reichtum. Sich so unabhängig zu fühlen, dass man auf niemanden und nichts mehr Rücksicht nehmen muss. Statt dessen rät – ja, bittet, bettelt, droht und mahnt Jeremia, nicht nur hier, sondern in seinem ganzen Prophetenbuch -, genau das Gegenteil zu tun: sich auf Gott zu verlassen, sich Gottes zu rühmen und also alles von ihm zu erwarten.
Aber es wird ihm schwer fallen, Gehör zu finden. Weisheit, Macht und Reichtum, wenn man sie in ausreichender Menge besitzt, sprechen für sich. Die Erfahrung lehrt, dass man sich darauf verlassen kann – bis heute. Gott aber ist nicht zu beweisen, und seine Macht kann man nicht so einfach demonstrieren wie Weisheit, Stärke oder Reichtum.
Doch die Weisheit, die keines Rates, keiner Korrektur mehr zu bedürfen glaubt, wird unbarmherzig. Die Macht, wenn sie zu groß wird, beugt das Recht, weil sie sich alles erlauben zu können meint. Und der Reichtum verletzt die Gerechtigkeit, denn Geld und Besitz kann man nicht beliebig vermehren - was einer hat, haben ihm viele andere gegeben – oder es wurde ihnen genommen.

III
Barmherzigkeit, Recht und Gerechtigkeit – das sind die Dinge, die Gott liebt. Aber Gott setzt sie nicht durch – jedenfalls nicht mit Feuer und Schwert, nicht mit Druck von oben. Wenn Gott Gnade, Recht und Gerechtigkeit übt, dann im Stillen, vermittelt durch Menschen, ohne Anwendung von Gewalt oder Macht. Und damit hat es die Mahnung Jeremias schwer, sich gegen den so offensichtlichen Erfolg von Weisheit, Macht und Reichtum als Grundlage menschlichen Handelns zu behaupten.
Aber eines können weder tiefste Weisheit, noch größte Macht besiegen, und alles Geld der Welt kann sie nicht kaufen: Die Zeit. Dass unser Leben der Vergänglichkeit unterworfen ist, dass wir sterben müssen – das trifft alle, einfache Leute und Herrschaften, Starke und Schwache, gleich.
Und auch Liebe und Glück sind durch unsere Fähigkeiten weder zähmbar, noch können wir sie bewegen, bei uns zu bleiben. Deshalb hat Jeremias Botschaft vielleicht doch eine Chance, wird sein Werben
„wer sich rühmen will, rühme sich, dass er Einsicht hat und mich kennt, denn ich bin Gott“
vielleicht doch gehört.
Einsicht, Erkenntnis Gottes, bedeutet zunächst, einzusehen, dass uns Wissen, Macht und Besitz nichts nützen, dass sie die Last eines Lebens nicht tragen können, sondern daran zerbrechen wie wurmstichige Balken. - Aber woran soll man sich denn halten, wenn man jede Stütze, jedes Seil aus der Hand gibt?
Was beim Wandern in den Bergen purer Leichtsinn wäre, das ist im Leben der einzige Weg, wirklich frei zu sein: Sich ganz auf Gott zu verlassen und alles von ihm zu erwarten.
Damit ist nun nicht gemeint, sich vor den leeren Tisch zu setzen und auf ein Wunder zu hoffen, oder wie im Märchen vom Sterntaler mit dem geschürzten Hemd auf die milde Gabe von oben zu warten. Es geht um eine Haltung, um eine Einstellung zum Leben – darum, ob man sich selbst als seines Glückes Schmied ansieht, ob man auf materielle Dinge vertraut. Oder ob man es schafft, all diese Sicherheiten los- und sich beschenken zu lassen.
Erst wenn ich meine Weisheit, meine Macht, meinen Besitz als Geschenk ansehe – und nicht als etwas, auf das ich Anspruch hätte – erst dann finde ich den rechten Umgang damit. Dann werde ich die Weisheit nicht gepachtet haben, sondern auch mit dem Irrtum rechnen, werde mir raten, mich korrigieren lassen – und so fähig sein zur Barmherzigkeit. Wenn mir klar ist, dass mir meine Macht nur von Gott geliehen ist, werde ich sie verantwortungsvoll einsetzen – und nicht, um mir damit einen Vorteil zu verschaffen. Wenn mir bewusst ist, dass ich reich bin, weil viele andere arm sind, dann werde ich verantwortungsvoller mit meinem Geld umgehen.

IV
Wer sein Leben aus Gottes Hand nimmt, ist nicht vor allem Übel gefeit, wird nicht ohne Leid, ohne Schmerzen durchs Leben gehen – vielleicht wird es ihm sogar schlechter gehen als manchem, der lieber seiner Kraft, seinem Geld oder seinem Wissen vertraut als einem Gott, den man nicht sehen und nicht anfassen kann.
Wer sich aber von Gott gehalten und getragen weiß, der ist wirklich frei. Und der darf sich auch mit gutem Gewissen an dem freuen, was Gott ihm an Gaben gegeben hat. Der darf erhobenen Hauptes durchs Leben gehen, seine Erfolge feiern und auf sein Tun stolz sein. Denn das Entscheidende, das allein für unser Leben Wichtige hat Gott schon längst getan. Gott hat zu jedem Menschen und seinem Leben sein Ja gesagt, wie er es auch zu uns allen gesagt hat. Und mit diesem Ja hat Gott uns alles geschenkt, was man sich wünschen kann: Das Leben, Gnade, Recht und Gerechtigkeit.
Von diesen reichlichen Geschenken, aus dieser überschwäng- lichen Liebe Gottes leben wir. Wir haben einen Schatz, den wir unser Leben lang nicht aufbrauchen können. Die Gaben, die Gott uns verliehen hat, sollen uns erfreuen, wenn wir sie anwenden, damit es hell wird unter uns. Und das Wissen und die Erkenntnis schließlich, dass wir das alles von Gott haben, soll uns barmherzig machen – barmherzig gegenüber allen Neidern, allen Strebern und Aufschneidern. Barmherzig gegenüber allen Menschen, die Trost, Liebe und Beistand brauchen.
Denn einer sieht unser Tun, und er ist stolz darauf – so stolz, wie es nur ein Vater oder eine Mutter sein können. Gott sieht unsere kleinste Tat, unsere geringste Leistung, und er macht sie ganz groß, so dass wir uns seiner rühmen können jeden Tag.

Amen.