Sonntag, 31. Juli 2016

Bekenntnis zur Bedürftigkeit

Predigt am Israelsonntag, 31. Juli 2016, über Römer 9,1-8.14-16


Liebe Schwestern und Brüder,

haben Sie am Freitag die Bilder des Besuches von Papst Franziskus im Konzentrationslager Auschwitz gesehen?
Er hat nicht, wie man es von einer solchen Persönlichkeit erwartet, eine bewegende Rede gehalten; Franziskus schwieg. Er setzte sich in die Zelle, in der Pater Kolbe verhungerte; er betete das jüdische Totengebet, das Kaddisch, mit, und ins Gästebuch von Auschwitz schrieb er:
„Herr, habe Erbarmen mit deinem Volk!
Herr, vergib uns so viel Grausamkeit.“

Franziskus ist gebürtiger Argentinier.
In Argentinien haben viele der damaligen Täter Unterschlupf gefunden. Adolf Eichmann, der Organisator des millionenfachen Mordens, lebte dort jahrelang unerkannt und unbehelligt, bis ihn der Mossad fand und einem Gerichtsverfahren zuführte.

Die Argentinier, und Franziskus im Besonderen, trifft natürlich trotzdem keine Schuld an Auschwitz. Die haben allein wir Deutschen zu tragen - selbst dann, wenn wir die „Gnade der späten Geburt“ für uns in Anspruch nehmen. Unsere Eltern oder Großeltern waren in der einen oder anderen Weise Mitläufer oder sogar Mittäter dieses unmenschlichen Regimes des Nationalsozialismus; als ihre Kinder und Enkel haben wir diese Schuld von ihnen geerbt. Für alle Zeiten wird der Name „Auschwitz“ und was dort geschah mit Deutschland verbunden bleiben. 

Franziskus bat Gott um Vergebung für diese Verbrechen. Damit stellt er sich zu den Schuldigen, obwohl er es seiner leiblichen Abstammung nach nicht ist.
Warum hat er das getan?

Die Antwort finden wir im Predigttext des Israelsonntages im Römerbrief im 9. Kapitel:

1 Ich sage die Wahrheit in Christus, ich lüge nicht; mein Gewissen bezeugt es im Heiligen Geist:
2 Ich habe großen Kummer, und unaufhörliche Herzensschmerzen.
3 Denn ich wünschte, ich selbst wäre von Christus verflucht zugunsten meiner Brüder, meiner leiblichen Volksgenossen,
4 die Israeliten sind,
denen die Gotteskindschaft gehört
und die Ehre
und der Bund Gottes
und die Tora
und der Gottesdienst
und die Verheißungen,
5 von denen die Väter herkommen und Christus in seiner leiblichen Natur, der ist Gott über alles und sei gelobt in Ewigkeit, Amen.
6 Es ist durchaus nicht so, dass Gottes Wort hinfällig geworden wäre. Denn nicht alle aus Israel sind Israel.
7 Noch sind alle Nachkommen Abrahams Gottes Kinder, sondern “in Isaak soll deine Nachkommenschaft bestehen“ (Genesis 21,12).
8 Das heißt: Nicht die leiblichen Nachkommen sind Gottes Kinder, sondern die Kinder der Verheißung werden zur Nachkommenschaft gezählt.
14 Was bedeutet das?
Gibt es etwa Ungerechtigkeit bei Gott?
Keinesfalls!
15 Er sagt nämlich zu Mose (Exodus 33,19):
„Ich erbarme mich dessen,
dem ich mich erbarmen werde,
und habe Mitleid mit dem,
dem ich Mitleid erweisen werde.“
16 Also liegt es weder am Willen noch am Fleiß, sondern an Gottes Erbarmen.

I
In diesem Abschnitt des Römerbriefes geht es um eine wichtige, ja, zentrale Frage des christlichen Glaubens: 
Es geht um unser Verhältnis zu Gottes erwähltem Volk, zu Israel, und um die Frage, ob wir uns dazu zählen dürfen - ob also auch wir Gottes Kinder sind, und ob die Verheißungen der Bibel an Israel auch uns gelten.
Im Alten Testament ist das Verhältnis Gottes zu seinem Volk exklusiv: alle anderen Völker sind aus diesem Verhältnis ausgeschlossen. Und noch im Neuen Testament finden sich Spuren eines Streites darüber, ob man Jude sein muss, um Christ werden zu können, oder nicht. Paulus vertritt in diesem Streit die Meinung, dass es nicht nötig ist; es dauert Jahre, bis er sich durchsetzen und das Evangelium auch zu den Griechen und schließlich sogar zu den Bürgern Roms tragen kann - wenn auch wohl nicht persönlich, sondern nur in einem Brief.

Paulus musste eine Antwort auf die Frage finden, wie es sein kann, dass Menschen, die nicht jüdischer Abstammung sind, Gottes Gaben an Israel erben können, wenn doch nur die leiblichen Nachkommen erben?
Aber eine Antwort auf diese Frage allein genügt nicht; sie zieht noch einen ganzen Rattenschwanz weiterer Fragen nach sich, z.B.:
Wenn wir Christen tatsächlich Gottes Kinder sind, was wird dann aus den Juden? Sind sie nicht mehr Gottes Kinder? 
Aber wenn sie nicht mehr Gottes Kinder wären, würde Gott sich ja selbst widersprechen, denn er hat doch seinen Bund mit ihnen geschlossen!? 
Aber wenn dieser Alte Bund - oder das Alte Testament, wie es auch heißt - nicht mehr gelten sollte, wer gerantiert uns dann, dass der Neue Bund - oder das Neue Testament - gilt, dass Gott es sich nicht vielleicht einmal anders überlegt?

Zu recht sagt Paulus, dass es keinesfalls so sein kann, dass Gott ungerecht ist - denn wenn selbst Gott nicht gerecht wäre, dann gäbe es überhaupt keine Gerechtigkeit mehr. 
Dann kann das aber doch nur bedeuten, dass Israel noch immer Gottes auserwähltes Volk ist und bleibt, dass Gottes Verheißungen für Israel in Kraft sind und bleiben. Und zugleich gilt auch, dass wir Gottes Kinder sind und deshalb auch zu Gottes Bund gehören.

II
Das Problem ist also:
Wie kann Gott sich selbst und seinem Versprechen treu bleiben, dass Israel sein auserwähltes Volk ist, und zugleich seinen Bund auch für Menschen öffnen, die nicht jüdischer Abstammung sind?

Die Lösung dieses Problems, die Paulus in der Bibel, im zweiten Buch Mose, fand, ist genial - und genial einfach. 
Sie lautet:
„Ich erbarme mich dessen,
dem ich mich erbarmen werde,
und habe Mitleid mit dem,
dem ich Mitleid erweisen werde.“

Diese Worte klingen sehr willkürlich. Ein absoluter Herrscher oder ein Diktator würde wohl sagen: „Ich erbarme mich, wem ich will“ - so klingen diese Sätze für uns beim ersten Hören.

Aber Gott sagt das nicht.

Diese Sätze haben eine große Ähnlichkeit mit einer anderen Selbstvorstellung Gottes, die sich ebenfalls im 2. Buch Mose findet: Als Mose Gottes Stimme aus dem brennenden Dornbusch hört, fragt er Gott nach seinem Namen. Gott aber verrät seinen Namen nicht, sondern antwortet (Exodus 3,14):
„Ich werde sein, der ich sein werde.“

Das klingt beim ersten Hören auch wieder nach Willkür: Gott ist eben so, wie er ist, und basta.

Aber auch das sagt Gott nicht.

III
Gott zeigt sich an beiden Stellen als der, der etwas tut - sich erbarmen, Mitleid haben, oder „sein“ - nicht im Sinne von „da sein“, sondern im Sinne von „für jemanden da sein“. Gott ist einer, der sich den Menschen erbarmend, mitleidig, fürsorgend zuwendet.

Wann braucht man Mitleid, Erbarmen, Fürsorge?
Nicht, wenn's einem gut geht.
Darum ist es auch kein Wunder, dass Menschen, die alles haben, die gesund und deren Sorgen klein sind, nicht nach Gott fragen und nicht im Gottesdienst auftauchen: Sie brauchen Gott nicht.

Erbarmen sucht man, wenn man etwas ausgefressen hat. Wenn man eine Verantwortung nicht tragen, mit den Folgen einer Schuld nicht leben kann.
Mitleid sucht man, wenn es einem schlecht geht, wenn man leidet und im Leiden nicht allein sein möchte, sondern Verständnis sucht und Trost.

Sind wir, die wir heute im Gottesdienst zusammenkommen, solche Leute? 
Haben wir alle etwas ausgefressen, 
geht es uns allen so schlecht?

Ich denke nicht, dass wir schlechter, ärmer dran sind als die, die nicht zum Gottesdienst kommen. 
Was uns allerdings von ihnen unterscheidet, ist unser Wissen darum, dass es so sein könnte
Wir wissen, dass unser Wohlstand, unsere Gesundheit, unser Glück nicht garantiert sind und nicht ewig andauern können.
Wir wissen, dass wir schuldig werden können, weil wir Verantwortung übernehmen für das, was wir tun.
Wir wissen um unsere Bedürftigkeit.
Darum rufen wir zu Beginn des Gottesdienstes:
Kyrie, eleison! - Herr, erbarme dich!“
Dieser Ruf ist nicht so sehr eine Bitte als vielmehr ein Bekenntnis, dass wir auf Gottes Mitleid und Erbarmen angewiesen sind, weil wir Menschen sind.

IV
Wenn Gott nun zu Mose sagt:
„Ich erbarme mich dessen,
dem ich mich erbarmen werde,
und habe Mitleid mit dem,
dem ich Mitleid erweisen werde“,
dann sagt er damit:
Wer sich an mich wendet, weil er Erbarmen oder Mitleid sucht, dem werde ich mich erbarmen; dem werde ich Mitleid erweisen.
Gott wendet sich uns zu, sofern wir unsere Bedürftigkeit erkennen und bekennen - daher der Ruf: Kyrie, eleison!

Die Voraussetzung für Gottes Mitleid und Erbarmen ist also nicht eine leibliche Abstammung, eine Zugehörigkeit
Voraussetzung sind auch nicht Wille oder religiöser Fleiß. 
Voraussetzung ist die Bedürftigkeit
Wer Gott braucht, für die oder den ist Gott da: „Ich werde sein, der ich sein werde“.

Wenn wir eine Mutter oder einen Vater brauchen, dann wird Gott unsere Mutter, unser Vater sein. 
Dann sind wir seine Kinder, wenn wir - wie Kinder nach der Hand von Vater oder Mutter - nach Gottes Hand greifen.
Es gibt keine Zugehörigkeit, kein Drinnen und Draußen, es gibt nur die Bedürftigkeit. Allein sie macht uns zu Gottes Kindern.

Mit anderen Worten:
Ob wir zu Gott gehören oder nicht, kann kein Mensch, keine Autorität, kein Papst, keine Pastorin entscheiden oder erlauben - und wir brauchen niemanden um Erlaubnis zu fragen. 
Ob wir zu Gott gehören, entscheidet sich allein daran, dass wir erkennen und bekennen, dass wir Gott brauchen. Wer das für sich erkannt hat, ist ein Kind Gottes.

V
Auf diese Weise kann beides nebeneinander bestehen: Die Verheißung Gottes an sein Volk Israel und sein Versprechen, dass er sich denen zuwendet, die ihn brauchen.
Paulus nimmt also den Juden weder die Gotteskindschaft weg noch den Bund, den Gott mit Israel geschlossen hat, weder die Gebote, noch den Gottesdienst, der in der Synagoge seinen Ursprung hat, sondern öffnet sie für alle Menschen, die nach Gott fragen.

Solche Öffnungen des Glaubens für alle Menschen hat es immer wieder gegeben: 
Martin Luther öffnete in der Reformation die Bibel für alle Menschen, weil das Wort Gottes nicht den Fachleuten vorbehalten bleiben sollte. 
Und in der neusten Zeit wurden kirchliche Ämter für Frauen geöffnet, weil die Predigt nicht den Männern vorbehalten bleiben sollte. 

Immer waren Mitleid und Erbarmen die leitenden Kräfte dieser Öffnungen. Weil man daran erkennen kann, dass Gott kein ausschließender Gott ist, sondern ein einschließender, der sich allen Menschen zuwendet, die nach ihm fragen.

VI
Können wir jetzt verstehen, warum Franziskus in das Gästebuch von Auschwitz schrieb:
„Herr, habe Erbarmen mit deinem Volk!
Herr, vergib uns so viel Grausamkeit“?
Wir sind nicht wie Gott. Wir kennen oft kein Mitleid, kein Erbarmen. Wir schließen Menschen aus - weil sie nicht unsere Sprache sprechen, nicht so aussehen, sich nicht so verhalten wie wir -, statt sie einzuschließen, einzuladen.

Unsere Vorfahren haben Juden ausgeschlossen allein deshalb, weil sie Juden waren, weil sie anders glaubten, anders lebten als sie. Das reichte als Grund für Demütigung, Ghettoisierung, Verfolgung, Ermordung.
Unsere Vorfahren waren aber keine schlechteren Menschen als wir. Sie waren Menschen - wie wir. 
Wie unsere Vorfahren haben auch wir die Möglichkeit, schuldig zu werden, das Falsche zu tun, das Rückgrat zu verlieren gerade dann, wenn es gebraucht wird.
Franziskus war so weise zu erkennen, dass auch er, trotz seines Papstamtes, ein Mensch ist. Und weil er das erkannte, bat er Gott um Erbarmen und Vergebung.

Amen.

Samstag, 16. Juli 2016

Physik

Predigt am 8. Sonntag nach Trinitatis, 17. Juli 2016, über Epheser 5,8-14

Liebe Schwestern und Brüder,

was ist ein gutes Leben?
Eine Frage, die sich uns so nicht stellt, denn wir führen ein relativ gutes Leben - oder?

Wenn einen das Grübeln überfällt, erinnert man sich an die Träume und Phantasien der Jugend, als man Kosmonautin werden wollte oder Kapitän, Urwaldforscher, Künstlerin - eine, die Bilder malt, oder eine Lebenskünstlerin, ein Bohemien, die den ganzen Tag im Kaffeehaus sitzt. 
Man denkt an ferne Länder, die man besuchen, tolle Dinge, die man tun oder erleben wollte. Manchmal beschleicht einen dann die Wehmut, wenn man beim Rückblick auf sein Leben feststellt, wie wenig man von diesen Träumen verwirklichte, wie weit man von seinen ursprünglichen Zielen und Ideen abgekommen ist.

Vielleicht hat man aber auch längst Frieden geschlossen mit dem Leben, wie es geworden ist. Vielleicht, weil man lernte, dass das Leben nicht nur das ist, was man daraus gemacht hat, sondern auch das, was man aus sich selbst gemacht hat.

I
Leben ist nicht nur das, was man tut oder getan hat, nicht nur die Summe der vielen Entscheidungen, die man traf. 
Leben ist auch, wer man ist
Damit bekommt die eingangs gestellte Frage, was ein gutes Leben ist, eine neue Richtung - und sie wird noch einmal dringlicher. Man kann sie so formulieren:
Wir wird man ein guter Mensch?

Der Predigttext aus dem Epheserbrief gibt eine Antwort auf diese Frage. Aber bevor ich den Text vorlese und wir über seine Antwort nachdenken, sollten wir uns eine andere Frage stellen: Warum sollte man überhaupt ein guter Mensch werden wollen?
Bevor Sie die Frage abtun, weil es selbstverständlich scheint, dass man lieber gut als schlecht sein will, bitte ich Sie, zwei Dinge zu bedenken:

1.) Was ist eigentlich „gut“, und was ist „schlecht“ - und woher wissen wir das?
Wir wären uns bestimmt einig, dass es gut ist, ehrlich zu sein, oder hilfsbereit, friedlich zu sein, oder sich an die Gesetze zu halten.
Aber je mehr ich aufzählen würde, desto häufiger würden Sie sich sagen: Moment mal … darüber muss ich erst nachdenken. Und vielleicht würden Sie mir sogar widersprechen, weil das, was ich für gut halte, in Ihren Augen vielleicht nicht rundheraus schlecht, aber auch nicht gut ist.
Wie ist es zum Beispiel damit, etwas zu tun, was Partnerin oder Partner oder die Kinder nicht wollen - ist das gut?
Ist es gut, immer ehrlich seine Meinung zu sagen, auch, wenn man andere damit verletzt oder riskiert, seinen Arbeitsplatz zu verlieren?
Ist es gut, sich für die Kirchgemeinde, den Umweltschutz oder eine Partei; für seinen Beruf oder seine Berufung so sehr zu engagieren, dass man dadurch seine Familie und Freunde vernachlässigt?

2.) Das Zweite, was ich Sie vorab zu bedenken bitte:
Die Lebenserfahrung lehrt uns, dass es gar nicht so leicht ist, ein guter Mensch zu sein. Man hat es dabei nicht leicht; wer es versucht, bekommt oft Ärger und Probleme, während andere, die es nicht aufs Gutsein anlegen, in Saus und Braus leben:
„Ich beneidete die Überheblichen;
es machte mir zu schaffen, als ich sah, wie gut es den Gottlosen geht.
Bis zu ihrem Tod leiden sie keine Qualen,
und wohlgenährt ist ihr Bauch.
Die Mühen des täglichen Lebens kennen sie nicht,
und von menschlichen Sorgen werden sie nicht geplagt.
Ach - so habe ich wohl ganz umsonst mein Herz und meine Hände frei von Schuld gehalten!
Ich werde ja doch den ganzen Tag vom Unglück geplagt, jeder Morgen ist bereits eine Strafe für mich!“
(Psalm 73,3-4.13-14, NGÜ)
Der Psalmbeter beklagt, dass es schlechten Menschen so gut geht, während gute leiden müssen - weil sie über das nachdenken, was sie tun; weil sie Skrupel kennen und haben; weil sie nicht alles tun, was man tun kann, sondern nur das, was in ihren Augen auch richtig ist.

Wer also meine Frage, warum man überhaupt gut sein sollte, eben im Geiste mit einer lässigen Handbewegung beiseite gewischt hat, sollte sich fragen, ob er oder sie tatsächlich bereit ist, um des Gutseins willen Unannehmlichkeiten und Nachteile in Kauf zu nehmen.

II
Nach diesen Vorüberlegungen kommen wir nun endlich zum Predigttext und zur Antwort auf die Frage, wie man ein guter Mensch wird:
„Ihr wart einst Finsternis,
jetzt aber seid ihr Licht im Herrn;
lebt wie Kinder des Lichts
- denn die Frucht des Lichts ist lauter Rechtschaffenheit und Gerechtigkeit und Wahrheit - und erwägt, was dem Herrn gefällt
und habt keinen Anteil an den fruchtlosen Werken der Finsternis,
vielmehr bringt sie an den Tag.
Denn ihre heimlichen Taten auch nur zu erwähnen ist eine Schande.
Alles aber, was an den Tag kommt,
wird vom Licht sichtbar gemacht,
denn alles Sichtbare ist Licht.
Darum heißt es:
‘Wach auf, Schläfer
und steh auf von den Toten
und Christus wird dir leuchten’.“  
Der Predigttext spricht von „Einst“ und „Jetzt“: „Ihr wart einst Finsternis, jetzt aber seid ihr Licht im Herrn“. Offenbar  ist der Übergang von der Finsternis ins Licht kein schleichender, unmerklicher, sondern ein Unterschied wie Tag und Nacht; ein Schritt, der alles verändert: Einst Finsternis, jetzt Licht. Dieser Schritt erfolgt im Herrn, also durch die Taufe. Denn durch die Taufe haben wir, wie Paulus sagt, Christus angezogen. Wir sind also in einem ziemlich wörtlichen Sinne „im Herrn“.

Die Taufe bewirkt und markiert den Wechsel zwischen Finsternis und Licht. Das bedeutet aber: Wir sind diesen Schritt von der Finsternis ins Licht nicht selbst gegangen. Wir haben uns zwar für die Taufe entschieden, wenn wir als Jugendliche oder Erwachsene getauft wurden, oder wir haben bei der Konfirmation die Entscheidung unserer Eltern, uns taufen zu lassen, durch unser Ja bestätigt. Aber damit haben wir auch das „Kleingedruckte“ mit abgenickt: Die Zusage, gute Menschen werden und sein zu wollen, die zum Christsein dazugehört.

III
Wir hatten und haben also gar keine Wahl.
Wir können gar nicht mehr entscheiden, ob wir gute Menschen sein wollen oder nicht, Kinder des Lichts oder Kinder der Finsternis, weil wir uns durch die Taufe schon für das Licht entschieden haben. Die meisten von uns kannten und bedachten nicht die Konsequenzen dieser Entscheidung; welche Nachteile, Schwierigkeiten und Unannehmlichkeiten es mit sich bringen kann, ein guter Mensch zu sein. Das ist das „Kleingedruckte“ bei der Taufe. Im Konfirmandenunterricht sollte man sich eigentlich damit beschäftigen, um zu wissen, wozu man bei der Konfirmation „Ja“ sagt, aber man tut es meistens nicht. Darum ist es in frommeren Kreisen üblich, dieses Ja noch einmal bewusst zu wiederholen, indem man an einem bestimmten Punkt seines Lebens sein Leben Jesus übergibt. Nötig ist es nicht, weil es mit der Taufe ja schon geschehen ist, aber, wie gesagt, das Kleingedruckte nimmt man ja immer erst hinterher zur Kenntnis …

Nun haben wir so viel über die Bedingungen und Voraussetzungen für die Entscheidung, ein guter Mensch zu sein, nachgedacht, nur, um festzustellen, dass man sowieso keine Wahl hat, als gut zu sein. Jetzt wollen wir endlich wissen: Wie wird man denn nun ein guter Mensch?
Die Antwort, die der Predigttext gibt, ist verblüffend einfach, ja, geradezu banal: „Alles, was an den Tag kommt, wird vom Licht sichtbar gemacht“.

Das haben wir doch schon im Physikunterricht gelernt: Wir sehen Gegenstände, weil sie das Licht reflektieren. Die meisten Dinge leuchten nicht von selbst, sondern werfen das Licht zurück, das von einer Lichtquelle auf sie fällt; dadurch können wir sie sehen. Dinge, die sich im Dunkeln befinden, kann man deshalb nicht erkennen.
So ist es auch mit dem, was wir tun und was wir sagen: Gut ist unser Handeln und Reden, wenn es im Licht geschieht - also so, dass jede und jeder es sehen, davon wissen, es hören kann - auch die oder der, über den wir gerade reden.
Sobald wir das, was wir tun oder sagen, verbergen müssen oder möchten, es nicht dem Licht aussetzen wollen, ist daran etwas faul.

Das soll nicht heißen, dass wir kein Privatleben und keine Geheimnisse haben dürften. Unser Privatleben geht niemanden etwas an. Oft muss man sich auch vor bösen Menschen schützen, die eine Schwachstelle ausnutzen, eine Information weitertragen oder gegen einen verwenden würden.

Das Private endet aber dort, wo ein anderer Mensch ins Spiel kommt und mit betroffen ist. Geheimnisse, die dazu dienen, andere Menschen zu benachteiligen, schlecht zu machen oder etwas über ihren Kopf hinweg zu entscheiden, müssen aufgedeckt werden.

Eigentlich ist es leicht, den Unterschied zwischen dem einen und dem anderen festzustellen: Unser Gewissen zeigt ihn uns. Wenn wir ein ruhiges Gewissen haben, dann war es richtig, etwas im Dunkeln zu lassen. Wenn nicht, dann haben wir nicht gut gehandelt.

IV
„Alles, was an den Tag kommt, wird vom Licht sichtbar gemacht“.
Die Lichtquelle unseres Lebens ist nicht die Sonne, auch, wenn wir uns manchmal nach ihren Strahlen sehnen und am Strand zu „Sonnenanbetern“ werden. 
Die Lichtquelle unseres Lebens ist auch kein Fernseh- oder Computerbildschirm, kein leuchtendes Smartphone und keine Lampe.
Die Lichtquelle unseres Lebens, sofern wir Christen sind, ist Christus, der von sich sagt: „Ich bin das Licht der Welt“.

Wenn wir auf unser Christsein anwenden, was wir in Physik über die Reflektion gelernt haben, dann funktioniert Christsein so: Wir werfen das Licht zurück, das Christus auf uns strahlt. Und wie eine Blüte am Weg oder ein Schneckenhaus nichts dafür tut, das Licht der Sonne zurückzuwerfen, so dass wir sie als Schneckenhaus und Blüte sehen können, so werfen auch wir einander Christus zu, ohne etwas dafür zu tun - einfach, weil wir Christen sind und als Christen da sind.
Man muss als Christin oder Christ also gar nichts leisten, um das Licht, das Christus ist, zu reflektieren - da sein genügt völlig. Also funktioniert es nicht zuhause im Besenschrank oder auf dem Sofa. Man muss schon herauskommen, unter Leute gehen, zum Beispiel hierher, in den Gottesdienst …

Auf der Straße, im Kaufladen, auf der Arbeit, in der Schule reflektieren wir Christinnen und Christen den anderen Menschen, die mit uns zu tun haben, denen wir begegnen, Christus - meist, ohne dass sie es merken oder wissen.
Aber so, wie man sich über das Muster eines Schneckenhauses, die leuchtende Farbe einer Blüte am Wegrand freut, so verbreiten wir mit dem Licht auch die Freude Christi - einfach dadurch, dass es uns gibt, dass wir da sind.

Und hier, im Gottesdienst, reflektieren wir Christus füreinander. Auch das ist wichtig. Wir wissen zwar, dass wir Gottes geliebte Kinder sind. Aber manchmal reicht es nicht, das mit dem Verstand zu wissen; da möchte man es auch erleben, es fühlen. Darum vor allem feiern wir Gottesdienst: um zu erleben und zu spüren, dass Christus unter uns ist, dass Gott uns sieht und uns lieb hat.
Wir erleben und spüren es in der fraglosen Gemeinschaft, die man im Gottesdienst erleben kann.
Durch die Freundlichkeit, mit der wir uns hier begegnen können.
Durch die Offenheit, die hier herrschen kann.
Diese Gemeinschaft, diese Freundlichkeit und Offenheit ergeben sich allerdings nicht von selbst. Dafür können und müssen wir etwas tun.

V
Wir sind nicht nur Reflektoren des Lichtes Christi. Wir können und dürfen auch selbst leuchten. Als Christinnen und Christen verbreiten wir nicht nur das Licht Christi in der Welt, wir sind selbst Lichter in dieser Welt. 
Wir vertreiben die Dunkelheit durch unsere Rechtschaffenheit, unsere Gerechtigkeit, unsere Wahrheit. 
Wir vertreiben sie durch unser Bemühen, gute Menschen zu sein, deren Handeln und Reden im Licht bestehen kann. 
So fangen wir selbst an zu leuchten. 
Dann wird es heller in der Welt, die wahrlich viel Dunkelheit und Schrecken kennt. 
Dann verdrängen wir die Dunkelheit an unserem Ort. 

Von einem solchen Leben könnte man mit recht sagen, dass es ein gutes Leben ist.

Amen.

Sonntag, 10. Juli 2016

Früher war alles besser

Predigt am 7. Sonntag nach Trinitatis, 10. Juli 2016, über Apostelgeschichte 2,42-47:

42 Sie blieben bei der Lehre der Apostel und der Gemeinschaft, beim Brotbrechen und den Gebeten.
43 Jedermann befiel Furcht, und es geschahen viele Wunder und Zeichen durch die Apostel.
44 Alle Gläubigen aber waren am selben Ort zusammen und hatten alles gemeinsam,
45 und die Grundstücke und den Besitz verkauften und verteilten sie an alle, je nachdem, wie es einer nötig hatte.
46 Sie pflegten aber, täglich einmütig im Tempel zu sein, brachen in den einzelnen Häusern das Brot, nahmen ihre Mahlzeiten mit Jubel zu sich, und in Schlichtheit des Herzens
47 lobten sie Gott und fanden Wohlwollen beim ganzen Volk.
Der Herr aber fügte täglich Gerettete am selben Ort hinzu.
(Eigene Übersetzung)

Liebe Schwestern und Brüder,

früher war alles besser.

Diesen Satz erwartet und hört man von älteren Menschen, die wehmütig an die gute, alte Zeit zurückdenken.
Manchmal ertappt man sich auch selbst bei diesem Gedanken - wenn man z.B. sieht, wie die Schüler von heute büffeln müssen, so dass sie kaum noch Freizeit haben, während man früher, nachdem man sofort nach Schulschluss seinen Ranzen in die Ecke gepfeffert hatte, den Nachmittag im Schwimmbad verbrachte.
Oder man ärgert sich darüber, dass die Jugend von heute lieber mit dem Smartphone spielt, als sich mit einem zu unterhalten.
Oder man stellt beim Warten auf den Eisverkäufer fest, dass eine Kugel Eis heute soviel kostet wie früher zehn.

Früher war eben alles besser.

Wenn man sich mit Leuten unterhält, die in der DDR aufwuchsen, hört man zwar nicht, dass alles besser war - dafür war zu vieles zu schlecht. Aber viele vermissen das Gefühl der Geborgenheit von damals; die Geselligkeit, die Nestwärme, die man damals erleben konnte. Der Staat hatte zwar im Vergleich zum Westen nicht sehr viel zu bieten, aber mit dem, was er hatte, wurden alle versorgt; niemand fiel durch die Maschen des sozialen Netzes. Alle hatten eine Arbeit - und auf der Arbeit Zeit, um sich nach Waren anzustellen. Es war nicht alles, aber vieles besser, damals. Und wenn man nicht zu viel nachdachte, nicht zu kritisch war und sich die Bevormundung durch den Staat gefallen ließ, konnte man ganz gemütlich leben.

I
Dass es früher besser war, davon erzählt auch der Predigttext aus der Apostelgeschichte. Er berichtet von den Anfängen der christlichen Gemeinde. Damals herrschte offenbar eine Art christlicher Sozialismus: Alle besaßen alles gemeinsam und teilten es. Litt jemand Not, wurde ein Stück Land oder ein Kerzenleuchter verkauft, und mit dem Erlös konnte schnell und unbürokratisch geholfen werden. Das ist die „Gemeinschaft“, von der im Predigttext die Rede ist: „Sie blieben bei der Lehre der Apostel und der Gemeinschaft“. Diese Gemeinschaft war nicht das, was wir heute darunter verstehen: Eine Gruppe Gleichgesinnter, die sich mag und gut versteht. Gemeinschaft bedeutete damals so viel wie „Verantwortungsgefühl“: Man interessierte sich füreinander und kümmerte sich umeinander. Und wenn jemand etwas brauchte, dann half man. Die Besitzenden fühlten sich durch ihren Wohlstand besonders zur Solidarität aufgefordert. Wir kennen das nicht mehr. Bei uns gilt, dass Eigentum zu nichts verpflichtet. Bei den ersten Christen galt noch, dass Eigentum eine Pflicht gegenüber denen begründet, die nichts haben. Es wäre nicht schlecht, wenn wir den Begriff der „Gemeinschaft“ von seinem Kreisen um sich selbst befreien und wieder so verstehen würden, wie es die ersten Christen taten.

II
Was für ein schönes Bild zeichnet die Apostelgeschichte da:
Eine Gemeinde, die alles teilt; die gemeinsam isst; die nicht zerstritten, sondern einmütig ist. Schon als Jugendlicher faszinierte mich diese Bibelstelle - vor allem, weil ich Gemeinde oft so anders erlebte und erlebe: Da herrschen Uneinigkeit und Streit; da gibt es Intrigen und Machtspiele; da wird nicht geteilt, sondern jeder sorgt nur für sich selbst. Es gibt wenig Gemeinsamkeit: Alte und Junge, Kinder und Erwachsene bleiben für sich. Die Gruppen sind sich selbst genug und haben kein Interesse, über ihren Tellerrand zu schauen. Alteingesessene sehen auf Neue herab. Und wer zu denen gehört, die etwas zu sagen haben in der Gemeinde, lässt keinen anderen dazukommen.

Könnte Gemeinde nicht so sein, wie die Apostelgeschichte sie beschreibt? So einig, so fürsorglich, so selbstvergessen, so gläubig, so vorbildlich?

Auch im Sozialismus gab es dieses Auseinanderfallen von Ideal und Wirklichkeit. Die Idee klingt ja nicht schlecht: Gemeinsamer Besitz an den Produktionsmitteln; keine Klassenunterschiede; ein Staat, der für seine Bevölkerung sorgt und allen die gleichen Chancen gibt. Aber die Wirklichkeit stellte sich ganz anders dar. Marx und Engels machten ihre sozialistische Rechnung ohne den Menschen, der nun einmal ist, wie er ist. Und als man den Menschen so erziehen und formen wollte, dass er zum Sozialismus passt, da wurde der Sozialismus in der Gestalt des Stalinismus zu einem verbrecherischen Regime, das unsägliches Leid über die Menschen brachte und unzählige Opfer forderte.

III
In unserer menschlich-allzu menschlichen Wirklichkeit funktioniert der Sozialismus nicht.
Aber auch die wunderbar einmütige Gemeinde, die Lukas in der Apostelgeschichte beschreibt, hat es so nie gegeben.
Wer die Paulusbriefe liest, erfährt, dass es in der Gemeinde von Anfang an Meinungsverschiedenheiten gab, Intrigen, Streit und Zank. Sogar zu Lebzeiten Jesu kriegten die Jünger sich in die Haare - z.B. darüber, wer von ihnen der Größte sei.

Die Gemeinde, die Lukas beschreibt, ist eine Utopie. Utopie, das heißt: Nicht-Ort. Für einen Nicht-Ort gibt es keinen Platz in dieser Welt, weil mindestens eine seiner Voraussetzungen nicht zu verwirklichen sind. 
Meistens scheitern die Utopien am Menschenbild, das sie voraussetzen. Statt mit den real existierenden rechnen sie mit einem idealen Menschen, den es nicht gibt und der sich weder mit Geld noch mit Gewalt beschaffen lässt.
Wenn die Menschen doch besser wären!
Uneigennützig, barmherzig, menschlich - mit solchen Menschen ließe sich sogar der Sozialismus verwirklichen. Aber so ist der Mensch leider nicht. 
So sind nicht nur die anderen nicht, so sind auch wir nicht.

IV
Das muss aber nicht heißen, dass eine Utopie sinnlos ist. Man braucht schließlich ein Ziel, auf das man hinarbeiten kann; man braucht Ideale, die einem die Richtung anzeigen, in der die Zukunft liegt.

Jede und jeder, die zum Gottesdienst kommt oder sich in der Gemeinde engagiert, bringt solche Ideale mit. Da war eine Diakonin oder Pfarrerin, die man ganz toll fand; da gab es eine Gruppe, in der man sich geborgen fühlte. Man erlebte eine großartige Rüstzeit, die einen tief beeindruckte und prägte; man lernte eine Gemeinschaft kennen, die etwas von dem erkennen ließ, was die Apostelgeschichte beschreibt. Es sind solche besonderen Erfahrungen, durch die Menschen in die Kirche kommen und sich dort engagieren - man hofft, diese Erfahrungen wieder zu machen.

Meistens wird man enttäuscht: So schön, wie es früher einmal war, ist es nicht mehr (wir erinnern uns: Früher war alles besser!). Die einen wenden sich enttäuscht ab und verlassen die Kirche. Die anderen engagieren sich und versuchen, das wieder zu erschaffen, was sie einst an Kirche so faszinierte.

V
Es gibt noch einen dritten Weg, mit den Idealen von Kirche umzugehen, und der hat viel mit der Erfahrung des real existierenden Sozialismus zu tun:
So, wie man sich damals auf Vater Staat verließ, der für einen sorgte und irgendwie versorgte, so verlässt man sich in der Gemeinde auf die Pfarrerin oder den Pfarrer, der es einem so schön und gemütlich machen soll, wie man es früher mal erlebt hatte. Wenn kein Pfarrer da ist, nimmt man eine Kirchenälteste und lädt ihr auf, die Gemeinde so zu gestalten, dass man sich wohlfühlt und gerne kommt.

Der real existierende Sozialismus, wir erinnern uns, ist daran gescheitert, dass Vater Staat seine Kinder zu sehr bevormundete. Die Versorgung mit allem zum Leben Notwendigen und das engmaschige soziale Netz ließ man sich gern gefallen. Aber der Preis, den man dafür zahlte - die Denk- und Redeverbote; die Einschränkung von Reise-, Presse- und Versammlungsfreiheit; die ständige Überwachung und Bespitzelung - dieser Preis war einer immer größer werdenden Zahl von Menschen denn doch zu hoch. Sie wollten nicht länger wie unmündige Kinder, sie wollten als mündige Staatsbürger behandelt werden, wollten selbst entscheiden, was sie denken und glauben wollten.

Mit der Kirche ist es nicht anders.

Eine Gemeinde, die sich kindlich verhält, die von Pfarrer und GKR versorgt, bespielt und bespaßt werden will, wird früher oder später untergehen, weil diese Versorgung ebenso wenig aufrecht zu erhalten ist wie damals in der DDR.

Wenn Gemeinde eine Zukunft haben soll, dann müssen wir erkennen, dass wir alle „Kirche“ sind, dass diese Kirche unser aller Haus ist, das nicht dem Pfarrer gehört oder dem GKR, sondern uns allen gemeinsam. 
Deshalb sind wir alle gemeinsam dafür verantwortlich - dafür, dass es erhalten bleibt, dafür, wie es hier aussieht, und auch dafür, wie leer oder wie voll es hier ist.
Wir sind keine Kinder mehr.
Wir sind auch im Glauben Erwachsene.
Fangen wir an, uns auch so zu verhalten!

VI
Das Bild, das die Apostelgeschichte zeichnet, ist eine Utopie.
Eine Gemeinde wie die, die Lukas beschreibt, hat es nie gegeben, und es wird sie nie geben - weil wir Menschen nun einmal so sind, wie wir sind.

Auch wenn diese Utopie niemals wirklich wird: Als Ziel und als Wegweiser taugt sie allemal.
Wenn wir eine solche Gemeinde sein wollen, wie Lukas sie beschreibt, dann können wir es. Wir können uns gemeinsam auf den Weg dahin machen, gemeinsam versuchen, etwas von dieser Utopie zu verwirklichen. Es wird uns nicht gelingen, aber darum kann man es trotzdem probieren.
Lassen wir uns inspirieren von dem Bild, das Lukas zeichnet.
Machen wir uns gemeinsam auf den Weg, indem wir aufhören, Kirche wie früher sein zu wollen, als alles angeblich viel besser war. 
Hören wir auf, unsere alten Ideale von Gemeinde auf unsere jetzige Gemeinde übertragen zu wollen und schauen wir statt dessen, was für eine Gemeinde wir eigentlich sind. 
Fragen wir danach, was für eine Gemeinde wir sein wollen, und was unsere Gemeinde in die Zukunft führt.
Die Utopie der Apostelgeschichte kann uns dabei helfen.

Amen.

Sonntag, 3. Juli 2016

Sünde, Tod und Taufe

Predigt am 6. Sonntag nach Trinitatis, 3. Juli 2016, über Römer 6,3-11:

3 Oder wisst ihr nicht, dass, die wir auf Christus Jesus getauft sind, sind in seinen Tod getauft?
4 Wir sind nun durch die Taufe mit ihm zusammen begraben in den Tod, damit, wie Christus auferstand von den Toten durch die Herrlichkeit des Vaters, so auch wir ein neues Leben führen.
5 Denn wenn wir mit ihm zusammengewachsen sind in der Gleichheit seines Todes, dann werden wir es auch in seiner Auferstehung sein.
6 Dies wissen wir: Unser alter Mensch wurde mitgekreuzigt, damit der Sündenleib vergeht und wir der Sünde nicht mehr dienen.
7 Denn wer starb, ist frei von der Sünde.
8 Wenn wir aber mit Christus gestorben sind, glauben wir, dass wir auch mit ihm leben werden,
9 denn wir wissen, dass Christus, da er von den Toten auferweckt wurde, dann also nicht stirbt; der Tod herrscht nicht mehr über ihn.
10 Was er gestorben ist, das ist er ein für allemal der Sünde wegen gestorben. Was er aber lebt, das lebt er für Gott.
11 So haltet auch euch für tot für die Sünde, lebendig aber für Gott in Christus Jesus.
(Eigene Übersetzung)


Liebe Schwestern und Brüder,

„wisst ihr nicht, dass, die wir auf Christus Jesus getauft sind, sind in seinen Tod getauft?“
Nein, das wussten wir nicht.
Vielleicht wissen wir es, wie man weiß, dass Paris die Hauptstadt von Frankreich ist. Aber was einem als letztes bei einer Taufe in den Sinn käme, ist der Tod. Die Taufe geschieht bei den meisten am Beginn des Lebens. Mit ihr wird die Ankunft eines neuen Erdenbürgers gefeiert; das Wunder, das so ein kleines Kind ist; der manchmal lang ersehnte Nachwuchs. Das letzte, an das man dabei denken möchte, ist der Tod - im Gegenteil: Von vielen wird die Taufe als eine Art Beschwörung und Schutz vor den Unbilden des Lebens, vor Unfällen und Krankheiten und vor einem frühzeitigen Tod angesehen.

I
Von der Taufe lernt man, dass sie ein symbolischer Tod sein soll: Indem der Mensch im Wasser untergetaucht wird, stirbt das, was man früher war, und aus der Taufe steigt ein neuer Mensch. Martin Luther schreibt im Kleinen Katechismus über die Taufe: Sie 
„bedeutet, dass der alte Adam in uns durch tägliche Reue und Buße soll ersäuft werden und sterben mit allen Sünden und bösen Lüsten;
und wiederum täglich herauskommen und auferstehen ein neuer Mensch, der in Gottes Gerechtigkeit und Reinheit vor Gott ewiglich lebe.“
Davon schreibt auch Paulus:
„Unser alter Mensch wurde mitgekreuzigt, damit der Sündenleib vergeht und wir der Sünde nicht mehr dienen. Denn wer starb, ist frei von der Sünde.“

Sünde - dieses Wort klingt dunkel und düster. Aber was bedeutet es? Wir tun uns schwer mit dieser Bezeichnung „Sünde“. Zwar sind wir alle kleine Sünderlein, irgendwie. Aber dass wir einen „Sündenleib“ haben, dass wir der Sünde „dienen“, das denken wir doch nicht wirklich. Zwar sind die wenigsten zufrieden mit ihrem Körper, so, wie er ist. Man hätte ihn gern anders - schlanker, vor allem um die Mitte herum, sportlicher, wohlgeformter. Aber darum ist er doch kein „Sündenleib“. Und dass dieser Leib sterben soll: Das wollen wir auf gar keinen Fall!

II
Es fällt uns schwer, Sünde und Tod zusammen zu denken. Aber man macht Erfahrungen im Leben, die in die Nähe dessen kommen, was Paulus meint. Wenn z.B. jemand in einer Beziehung einen Seitensprung begeht, sehen die meisten das als so großen Vertrauensbruch an, dass man es auch als „Sünde“ bezeichnen könnte. Nicht selten hat so ein Seitensprung zur Folge, dass die Beziehung daran zerbricht. Da ist etwas gestorben - das Vertrauen; das Gefühl, zusammenzugehören, füreinander bestimmt zu sein.

Sünde und Tod gehen also doch zusammen: Es gibt Dinge, die, wenn man sie getan hat, etwas zerstören, zerbrechen, eben: sterben lassen - im Verhältnis zu den Eltern, den Geschwistern, den Freunden, der Partnerin oder dem Partner. Als nach der Wende herauskam, wer Spitzel der Staatssicherheit war, hat das viele Freundschaften für immer zerstört. Auch der unerlaubte Griff ins Portemonaie kann Vertrauen zerstören, der heimliche Blick ins Tagebuch, der Verrat eines Geheimnisses, das einem anvertraut wurde … Je länger man darüber nachdenkt, desto mehr Beispiele fallen einem ein, und desto deutlicher wird, dass es durchaus einen Zusammenhang zwischen Sünde und Tod gibt.

Und manchmal, da möchte man selbst - vielleicht nicht gleich sterben, aber - vor Scham vergehen, wenn einem bewusst wird, was man getan hat. Man weiß nicht, wie man dem anderen jemals wieder unter die Augen treten kann, was man tun kann, um den Schaden, den man angerichtet hat, wieder gut zu machen.

III
„Wer starb, ist frei von der Sünde“.
Wir leben zwar nicht mehr im Mittelalter, aber der Ruf nach Vergeltung liegt trotzdem nahe, gerade, wenn etwas Schlimmes passiert. „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ - mit kühlem Kopf lässt man das hinter sich. Aber im Moment der bösen Tat denkt man nur an eines: Rache!

Taten, unter denen wir leiden und denen wir das Etikett „Sünde“ anheften würden, haben den Tod zur Folge. Nicht den leiblichen Tod, aber den Tod einer Beziehung, einer Freundschaft. Das Ende des Vertrauens, das Ende der Gutgläubigkeit, das Ende einer Selbstverständlichkeit.
Auf der anderen Seite möchte man als Täter am liebsten weg sein, um nicht an die Tat erinnert zu werden, um nicht dem unter die Augen treten zu müssen, dem man das angetan hat. Auch das ist eine Art Tod. 

Mit Rache wird nichts wieder gut. Deshalb wissen wir, dass „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ keine Lösung ist. Aber wer gerade etwas Schlimmes erleidet, kann keinen kühlen Kopf bewahren; der will es dem anderen heimzahlen. Darum ist Jesus gestorben: Er hat unsere Rachegelüste auf sich genommen, er hat alle Vergeltung auf sich genommen, damit wir es niemandem mehr heimzahlen müssen.

Durch die Taufe werden wir mit Jesus gekreuzigt, das heißt: Sein Tod wird unserer. Wir sterben für das, was wir getan haben. Weil aber Jesus schon für uns gestorben ist, müssen wir nicht wirklich sterben. Der symbolische Tod durch das gespielte Ertränken im Wasser genügt, damit sein Tod unser Tod wird. Aus dem Wasser steigt ein neuer Mensch, von dem all das abgewaschen ist, was ihn als Sünde belastete.
Das gilt nicht nur rückwirkend, das gilt auch im Voraus - ein kleines Kind hat ja noch nichts Böses getan. Und es gilt immer wieder. Martin Luther sagte, man könne täglich in die Taufe zurückkriechen: Jeden Tag neu das Alte abwaschen.

IV
In der Theorie klingt das ja ganz schön. 
Aber mit der Wirklichkeit hat es nichts zu tun: Was man tat, das haftet einem an. Besonders ein Dorf vergisst niemals, was jemand einmal getan hat, auch wenn es Jahre oder Jahrzehnte her ist. Und auch die Mitmenschen vergessen nicht: Eine zerstörte Freundschaft oder Beziehung bleibt zerstört - wenn die oder der andere nicht will, helfen alle Entschuldigungen der Welt nichts.

Jesus hat sich am Kreuz geopfert, damit wir unsere Schuld loswerden können. Er konnte mit seinem jedoch Opfer nicht erreichen, dass die, an der wir schuldig wurden, sein Opfer stellvertretend für unseres annimmt und so ihre Rache bekommt. Man kann also nicht sagen: Jesus ist ja für meine Sünde gestorben, also sei mir wieder gut, vertragen wir uns wieder. Die andere wird einem den Vogel zeigen, mindestens - erst recht, wenn ihr der Glaube nichts bedeutet.

Aber für uns ändert sich alles.
Wir können das, was wir taten, zwar nicht ungeschehen machen. Aber wir können es hinter uns lassen. Das, was wir taten, bestimmt nicht darüber, wer wir jetzt sind, auch wenn ein ganzes Dorf das anders sehen mag. In Gottes Augen sind wir neue Menschen, gute Menschen. Menschen, die es verdienen, zu leben, fröhlich und glücklich zu sein, wie schlimm auch das gewesen sein mag, was wir getan haben.
So können wir leben.
Wir werden vielleicht die Beziehung, die Freundschaft nicht retten, die wir zerstörten. Wir werden vielleicht nicht bleiben können, wer und wo wir sind, weil wir uns ändern müssen, oder weil andere uns nicht vergeben können. Aber wir können und dürfen neu anfangen, neue Freundschaften und Beziehungen eingehen, andere Menschen werden und sein.

V
„So haltet auch euch für tot für die Sünde, lebendig aber für Gott in Christus Jesus“.
Die Taufe vermittelt eine Lebenshaltung - ist das nicht ein bisschen wenig? Was ändert es denn, wenn man sich selbst für gut hält, alle anderen aber schlecht von einem denken?
Es ändert nichts - und alles. Natürlich kann man niemanden dazu bringen, einen in neuem Licht zu sehen, wenn man als Sünder abgestempelt und verworfen wurde. Aber - so dumm dieser Satz klingt: Wir sind tatsächlich alle kleine Sünderlein, und manchmal gar nicht so kleine, sondern ziemlich große. Bei mancher reift vielleicht die Einsicht, dass es auch bei ihr so ist, sie steigt von ihrem hohen Ross herab und geht auf den Sünder, die Sünderin zu, nimmt eine Entschuldigung an.

Die Möglichkeit zum Neuanfang, die uns die Taufe mit jedem Tag neu schenkt, haben wir nicht exklusiv für uns. Jede und jeder Getaufte hat sie. Wir nutzen sie vielleicht nur in den seltensten Fällen. Aber allein die Tatsache, dass wir sie haben, dass wir andere sein, anders handeln können, gibt uns die Freiheit, es auch zu tun. Diese Freiheit haben auch unsere Mitmenschen. Allmählich lernen wir, dass auch sie jeden Tag neue Menschen sein können. 
Je mehr wir das begreifen, je mehr wir es ihnen zutrauen, desto mehr geben wir ihnen die Chance, es auch wirklich zu werden.
Je mehr wir lernen, einander als Getaufte anzusehen, denen Jesus die Schuld abgenommen hat und die neue Menschen geworden sind, desto größer wird die Freiheit unter uns. Wenn wir uns nicht mehr auf das festlegen, was wir einmal waren, sondern uns die Freiheit geben, andere und anders zu werden, können wir tatsächlich andere Menschen sein. Wäre das nicht schön?
Amen.