Sonntag, 27. August 2023

Das Wunder, das wir sind

Predigt am 12. Sonntag nach Trinitatis, 27. August 2023, über Jesaja 29,17-24:

Noch ein klein wenig,

dann wird der Libanon zu einem Baumgarten werden

und der Baumgarten als Wald gelten.

An diesem Tage werden die Tauben

die Worte des Buches hören,

und aus Dunkelheit und Finsternis

werden die Augen der Blinden sehen.

Die Geringen werden wieder Freude haben am Herrn,

und die Armen unter den Menschen

werden über den Heiligen Israels frohlocken.

Denn ein Ende hat Tyrannenmacht, und der Spötter vergeht,

und ausgerottet werden alle, die auf Böses lauern:

Die einen Menschen durch ein Wort als schuldig hinstellen

und den, der im Tor Recht spricht, mit dem Stellholz fangen

und durch Nichtiges den Gerechten beugen.


Darum, so spricht der Herr, der Abraham erlöst hat,

zum Haus Jakob: Jakob soll sich nicht mehr schämen

und sein Gesicht soll nicht mehr erbleichen.

Denn wenn er sehen wird seine Kinder, das Werk meiner Hände,

in seiner Mitte,

werden sie meinen Namen heiligen

und den Heiligen Jakobs heilig sein lassen

und den Gott Israels fürchten.

Und die im Geist Verwirrten werden Verstehen erlangen,

und die Unzufriedenen Einsicht lernen.



Liebe Schwestern und Brüder,


alles Neue, jeder Fortschritt beginnt mit dem Zweifel.

Dem Zweifel, ob alles so bleiben muss, wie es ist

und der Frage, ob es nicht anders sein könnte, anders ginge.


Diese Frage stellt sich nicht von selbst;

der Zweifel kommt nicht von allein.

Wer nie das Licht sah,

das Spiel der Farben, die Pracht eines Sonnenuntergangs,

wie sollte er wissen, dass ihm etwas fehlt, und was ihm fehlt?

Wer nie hören konnte, wie sollte sie den Klang

der Worte, Töne und der Musik kennen, lieben und ersehnen?

Wer nur die Steppe kennt,

mit trockenem Gras und kümmerlichen Sträuchern,

weiß nichts von einem Wald, strotzend vor Grün,

mit mächtigen, hohen Bäumen;

kann sich nicht vorstellen,

wie kühl es unter dem Blätterdach ist,

wie herrlich das Wasser im Bach plätschert und sprudelt.


Wann fängt man an zu fragen?

Wo beginnt der Zweifel?


„Als das Kind Kind war,

war es die Zeit der folgenden Fragen:

Warum bin ich ich und warum nicht du?

Warum bin ich hier und warum nicht dort?

Wann begann die Zeit und wo endet der Raum?

Ist das Leben unter der Sonne nicht bloß ein Traum?

Ist, was ich sehe und höre und rieche,

nicht bloß der Schein einer Welt vor der Welt?

Gibt es tatsächlich das Böse und Leute,

die wirklich die Bösen sind?

Wie kann es sein, dass ich, der ich bin,

bevor ich wurde, nicht war,

und dass einmal ich, der ich bin,

nicht mehr, der ich bin, sein werde?”


(Peter Handke, Lied vom Kindsein)


Kinder fragen.

Oh, sie haben tausend Fragen, die Kinder.

Und wenn sie zu viel fragen,

sagt wohl mal ein:e Erwachsene:

„Warum, warum, warum

ist die Banane krumm?

Warum hat die Kokosnuss

noch immer keinen Reißverschluss?”

Das Kind lernt daraus,

dass seine Fragen stören

und sein Wunsch nach Verstehen nicht respektiert wird.


Dabei beginnen die Fragen und die Zweifel

mit dem Warum,

mit dem Versuch, die Welt zu verstehen,

Vielleicht fällt die Reaktion Erwachsener so aus,

weil die Fragen der Kinder

sie ganz schön in Verlegenheit bringen.

Nicht nur die eine, berühmt-berüchtigte Frage,

auf die man mit den Blümchen und den Bienchen

oder mit dem Klapperstorch antwortet.

Sondern auch die Frage,

warum Kinder, die genau so alt sind wie unsere,

in Afrika Hunger leiden oder verhungern müssen,

wenn es bei uns doch so viel zu essen gibt.

Die Frage, warum es Krieg gibt, Panzer und Bomben.

Die Frage, warum wir immer noch Auto fahren,

wenn doch schon jetzt viel zu viel Kohlendioxid in der Luft ist.


Wir Erwachsenen reagieren ungehalten auf solche Fragen.

Wir wissen keine Antwort darauf und spüren:

Wir sind unseren Kindern die Antwort schuldig.

Eigentlich haben wir selbst einmal solche Fragen gestellt.

Wann haben wir verlernt, so zu fragen?

Wann haben wir uns daran gewöhnt zu antworten,

dass es nun mal so zugeht in der Welt,

dass es nun mal nicht zu ändern ist?

Warum haben wir akzeptiert,

dass bestimmte Entscheidungen „alternativlos” sind,

und warum glauben manche,

dass Nationalismus, Chauvinismus und Fremdenhass

eine Alternative für Deutschland sein könnten?


Alles Neue, jeder Fortschritt beginnt mit dem Zweifel.

Und doch bleibt manches, wie es immer schon war.

Wie politische Gegner

oder unbequeme Kritiker verleumdet werden;

wie Mächtige versuchen, die Justiz zu behindern

und deren Macht zu beschneiden

und wie Rechtschaffene als „Gutmenschen”

verächtlich gemacht werden:

das können wir schon bei Jesaja über die lesen,

„die einen Menschen durch ein Wort als schuldig hinstellen

und den, der im Tor Recht spricht, mit dem Stellholz fangen

und durch Nichtiges den Gerechten beugen.”


Jesaja rechnet fest damit, das sich das ändert.

Bald, nur noch eine kleine Weile,

dann geht ein Aufatmen durch die Welt.

Es beginnt in der Natur,

die zu neuem Leben erwacht;

es öffnet den Blinden die Augen und den Tauben die Ohren

und fegt schließlich die Diktatoren hinweg,

die Spötter, denen nichts heilig ist

und die Skrupellosen, die das Recht zu ihren Gunsten beugen.


Seit diesen Worten Jesajas ist viel Zeit vergangen.

Ein Tyrann hat den anderen abgelöst.

Länder, die einmal die Freiheit der Demokratie kosteten,

fallen zurück in autoritäre Herrschaftsformen

oder werden mit Krieg überzogen,

weil sie sich fremder Übermacht nicht beugen wollen.

Steppen und Wüsten nehmen zu.

Und wenn auch die Medizin große Fortschritte gemacht hat:

Verblendung und Hass,

Taubheit gegenüber der Wahrheit,

Blindheit für das Leid und die Not der anderen

kann sie bis heute nicht heilen -

wird sie wohl nie heilen können.


Die neue Welt, die Jesaja kommen sieht,

können Menschen nicht schaffen.

Zu oft ist es versucht worden.

Jeder dieser Versuche endete in einem schrecklichen Desaster.

Nur Gott kann Neues schaffen,

nur er menschliche Willkür und Bosheit überwinden.

Und Gott schafft Neues: die Kinder in unserer Mitte.

Sie sind Gottes Versprechen,

dass „eine Grenze hat Tyrannenmacht”.

In jedem Kind, das geboren wird,

geht eine neue Welt auf.

Mit den Augen eines Kindes lernen wir, neu zu sehen.

Mit seinen Fragen nach dem Warum

öffnet es uns die Ohren

und erinnert uns, wie auch wir einmal gefragt haben.


In jedem Kind geht eine neue Welt auf.

Eine Welt, von Gott geschaffen.

Sie kann grünende Wälder hervorbringen.

Sie kann uns die Wahrheit sehen lassen

und die Ungerechtigkeit.

Sie fegt Bosheit, Gemeinheit und Gier hinweg.

Aber sie ist ein zartes Pflänzchen, diese Welt.

Wir müssen es behüten,

ihm Raum zum Wachsen, Luft zum Atmen,

Liebe und Güte als Nahrung geben.


Wie verletzlich und zerbrechlich ein Kind ist,

davon kann Bettina Wegner ein Lied singen:


„Sind so kleine Hände, winzge Finger dran.
Darf man nie drauf schlagen, die zerbrechen dann.


Sind so kleine Füße mit so kleinen Zehn.
Darf man nie drauf treten, könn sie sonst nicht gehn.


Sind so kleine Ohren scharf, und ihr erlaubt.
Darf man nie zerbrüllen, werden davon taub.


Sind so schöne Münder, sprechen alles aus.
Darf man nie verbieten, kommt sonst nichts mehr raus.


Sind so klare Augen, die noch alles sehn.
Darf man nie verbinden, könn sie nichts verstehn.


Sind so kleine Seelen, offen und ganz frei.
Darf man niemals quälen, gehn kaputt dabei.


Ist son kleines Rückgrat, sieht man fast noch nicht.
Darf man niemals beugen, weil es sonst zerbricht.”


Wir Menschen machen so viel kaputt.

Wir treiben den Kindern das Träumen,

wir treiben ihnen das Zweifeln und die Fragen aus,

weil wir wollen, dass sie so werden wie wir.

Vielleicht wäre es anders,

wenn wir mehr Respekt hätten vor dem Wunder,

das jedes einzelne Kind ist;

vor dem Neuen, das Gott geschaffen hat.


Ein Kind kann uns Ehrfurcht lehren.

Es kann uns lehren, dass uns etwas heilig ist:

Dieses Kind ist uns heilig,

dem wir alles Glück der Welt wünschen und gönnen,

das wir lieben und bestaunen

und auf das wir stolz sind.

Dieses Kind ist eine Schöpfung Gottes.

Darum sollte uns Gott, der Schöpfer, heilig sein

und alles, was er geschaffen hat.


Ein Kind kann uns lehren,

dass wir selbst einmal Kinder waren

und immer noch Kinder sind: Gottes Kinder,

von ihm geschaffen.

Jede und jeder von uns ein neuer Anfang.

Jede und jeder von uns liebenswert und staunenswert:

ein Wunder.

Auch wir haben noch Träume,

haben Fragen und unsere Zweifel.

Vielleicht wäre die Welt eine andere,

wenn wir mehr Respekt hätten vor dem Wunder,

das jede:r Einzelne von uns ist -

dem Wunder, das jeder Mensch ist,

jedes Geschöpf auf Gottes wunderbarer Erde.


„Wenn Israel sehen wird seine Kinder, das Werk meiner Hände,

in seiner Mitte,

werden sie meinen Namen heiligen

und den Heiligen Jakobs heilig sein lassen

und den Gott Israels fürchten.”


„Wenn Israel sehen wird …”


Es kommt darauf an, hinzusehen

und das Wunder zu erkennen,

das diese Welt, jeder Mensch,

jedes Lebewesen auf ihr ist.


Das Wunder der Welt weist auf ihren Schöpfer.

Ihn als Schöpfer zu erkennen

und die Welt als seine Schöpfung zu bewahren heißt,

ihn heilig sein lassen.


Nach Recht und Gerechtigkeit,

nach Gottes Gebot zu fragen

und danach zu leben heißt,

den Gott Israels fürchten.


Gottes Namen heiligen heißt,

jedem, der sich Macht über andere anmaßt

die Grenze aufzeigen, die Gott uns gesetzt hat.


Wir schaffen keine neue Welt,

auch unsere Kinder und Enkel nicht.

Gott wird eine neue Welt schaffen

und schafft sie schon jetzt

mit jedem Menschenkind, das geboren wird,

mit jeder und jedem von uns.

Wenn wir Gottes Namen heiligen,

Gott heilig sein lassen und ihn fürchten

besteht eine Chance,

dass auch unsere Kinder

sich an der Schönheit dieser Welt erfreuen

und ihren Kindern einmal davon werden erzählen können,

wer sie und alles geschaffen hat.

Sonntag, 20. August 2023

tapfer sündigen

Predigt am 11. Sonntag n. Trinitatis, 20. August 2023, über Lukas 7,36-50

Liebe Schwestern und Brüder,


„Kann die Liebe Sünde sein?

Darf es niemand wissen, wenn man sich küsst,

wenn man einmal alles vergisst vor Glück?”


Liebe kann nicht Sünde sein.

Selbst wenn sie es wär, wär’s mir egal;

lieber will ich sündigen mal, als ohne Liebe sein.”


Das könnten gut Worte der Sünderin aus dem Evangelium sein.

Wie Zarah Leander würde sie singen,

ganz unschuldig und ein wenig verrucht -

eine Frau, der man alles zutraut.


Aber hat sie nicht recht?

Liebe ist das Beste, was Menschen einander geben können.

Der Apostel Paulus zählt in 1.Korinther 13,

dem „Hohenlied der Liebe”, auf,

was Liebe alles ist:

langmütig, freundlich, zurückhaltend,

verantwortungsvoll, bescheiden.


Liebe ist, so könnte man ergänzen,

wie ein freundlicher Spiegel,

in dem der Geliebte, die Geliebte sich selbst sehen darf

als schön, besonders und einzigartig,

wie wir es alle sind.


Ohne die Liebe wüssten wir nicht,

dass wir liebenswert sind.

Wir brauchen den liebevollen Blick, der uns sagt:

Du bist schön. Du bist angesehen.

Nur die Liebe teilt neidlos unsere Freude, unser Glück.

Das macht unser Glück erst vollkommen.


Kann diese Liebe Sünde sein?


I

Offenbar.

Denn eine Frau, von der Jesus sagt:

„sie hat viel geliebt”,

wird als Sünderin vorgestellt.

Ihre Sünden bestehen gerade darin,

dass sie viel geliebt hat.

Der Gastgeber, der Jesus eingeladen hat,

spricht es in Gedanken aus:

„Wenn dieser ein Prophet wäre,

wüsste er, wer diese Frau ist

und was für eine sie ist.”


Aha. So eine ist sie also.


Wobei - was soll das eigentlich bedeuten, „so eine”?

Ist es Lukas peinlich zu sagen,

was für eine diese Frau ist?

Oder ist sie gar nicht so eine,

an die wir jetzt gerade denken?

Denken wir überhaupt alle an dasselbe?


Das ist das Fatale, wenn man von „so einer” spricht.

Scheinbar ist klar, was gemeint ist,

aber es wird nicht ausgesprochen.

Und niemand traut sich, nachzufragen -

man möchte ja nicht als Tropf dastehen,

der als einziger nicht begreift, was alle zu wissen scheinen.


„So eine” oder „so einer” wird damit zu einem Stempel,

der einen Menschen abstempelt,

ohne das er oder sie etwas getan haben muss.

Es genügt, dass jemand mit dem Finger auf sie zeigt

und sagt: „Das ist auch so eine!”


Solche Leute, auf die man mit dem Finger zeigt,

gab und gibt es zu allen Zeiten.

Es waren und sind nicht immer dieselben Leute.

Im Laufe der Zeiten ändert sich,

wer zu „solchen Leuten” gezählt wird.

Es waren einmal Juden, es waren Zigeuner.

Es waren Arme wie die vom „Nachtjackenviertel”.

Es sind Menschen mit einem Handicap,

es sind Ausländer:innen …


Ich muss die Liste nicht fortsetzen.

Wir wissen, wer gemeint ist.

Gehörten vielleicht selbst einmal zu „solchen”,

auf die mit dem Finger gezeigt wurde.

Wie die Pfarrerstochter,

die zu DDR-Zeiten in einer Grundschule in Thüringen

vor die Klasse treten musste

und die Lehrerein sagte:

Jetzt lacht sie aus, denn sie glaubt noch an Gott.


Wer nicht so ist wie die anderen -

wer anders aussieht, anders lebt,

anders liebt oder anders glaubt als die Mehrheit -,

kann schnell zu „so einer” oder „so einem” werden.

Eine, von der man instinktiv weiß,

dass man sich mit „so einer” besser nicht abgibt,

mit „so einer” besser nicht gesehen wird,

sonst wird man mit ihr am Ende in einen Topf geworfen.


Und dabei kann man nicht einmal sagen,

was denn so verwerflich an ihr ist.


II

Aber in unserem Text geht es nicht nur um jemand,

die anders liebt als die Mehrheit, nämlich: viel.

Sie ist wegen dieser Liebe auch eine Sünderin.


Was in der Beziehung zu Gott Sünde heißt,

ist in unseren Beziehungen die Verletzung.

Wer jemanden verletzt mit Worten oder Taten,

verletzt oder zerstört die Beziehung zu diesem Menschen.

Wer verletzt wurde,

will mit dem anderen nichts mehr zu tun haben.

Und wem bewusst wird, dass er jemanden verletzte,

traut sich oft nicht, ihr oder ihm unter die Augen zu treten.


In ähnlicher Weise verletzt Sünde die Beziehung zu Gott.

Wem bewusst wird, dass er die Beziehung zu Gott verletzte,

traut sich oft nicht, Gott unter die Augen zu treten

und hat das Gefühl, dass Gott nichts mehr von einem wissen will.


Oft sind die Taten,

durch die man die Beziehung zu Menschen verletzt,

und die Taten,

durch die man die Beziehung zu Gott verletzt,

dieselben.


Wer Fremdlinge bedrückt,

indem er sie spüren lässt,

dass sie nicht willkommen sind,

ihnen die Gastfreundschaft oder das Asyl verweigert

oder sie sogar tätlich angreift,

versündigt sich.


Es gibt aber auch Dinge,

die galten oder gelten als moralisch verwerflich,

sind aber keine Sünde -

z.B. wie man lebt, oder wen man liebt.


Und es gibt Dinge, die sind Sünde,

werden aber von Gruppen der Gesellschaft akzeptiert

oder sogar gut geheißen,

wie der eben erwähnte Hass auf Fremde.


III

Zu welcher Art von Sünde gehört das,

was die Frau getan hat?

Sie wird als Sünderin bezeichnet, aber ist sie es auch?

Ihr Verhalten scheint ihre Schuld zu entlarven:

Sie kniet vor Jesus auf der Erde und wäscht ihm die Füße -

eine Arbeit, die sonst nur Sklaven verrichteten.

Dass sie einen Flakon mit teurem Salböl kaufen kann,

zeigt, dass sie wohlhabend ist,

sie ist keine Sklavin.

Die Frau erniedrigt sich vor Jesus und weint dabei -

so sehr, dass sie mit ihren Tränen

Jesus den Staub von den Füßen waschen kann.

Also muss sie doch wohl sehr viel zu bereuen haben.


Normalerweise wäre sie zu fein, anderen die Füße zu waschen.

Doch die Frau erniedrigt sich,

wie es auch Jesus tat, als er seinen Jüngern die Füße wusch.

„Ein Beispiel habe ich euch gegeben,

damit ihr tut, wie ich euch getan habe”, sagte er dazu.

Er meinte damit nicht die Fußkosmetik

oder eine nette Geste, die nichts kostet.

Sondern dass die Jünger sich nicht zu fein sein sollen,

sich ganz nach unten zu begeben, wie Sklaven.

Und dass sie sich keine Gedanken machen sollen,

wie sie angesehen werden,

wenn sie sich mit „so welchen” abgeben.


Zugleich ist die Art, wie die Frau Jesus die Füße wäscht,

sehr ungewöhnlich und sehr intim:

Sie trocknet seine Füße mit ihren Haaren

und hört nicht auf, sie mit Küssen zu bedecken.

In dieser Art, Jesus die Füße zu waschen,

behauptet sie ihren Eigensinn.

Sie erniedrigt sich vor Jesus

und bleibt dabei doch sie selbst.


Das lässt fragen, ob die Frau tatsächlich ihre Sünden beweint.

Vielleicht beweint sie vielmehr die Tatsache,

dass ihre besondere Art zu leben und zu lieben,

dass ihr Eigensinn und ihr Selbstbewusstsein

sie in den Augen der anderen zu „so einer” gemacht haben.

Wie wir alle, möchte auch diese Frau gesehen werden

und dadurch angesehen sein,

ohne sich dafür anpassen und ihre Eigenart aufgeben zu müssen.


IV

Jesus sieht die Frau an.

Er verteidigt sie gegenüber dem Gastgeber,

der schlecht von ihr denkt.

Ja, Jesus stellt sie, „so eine”, sogar über ihn,

über den moralisch einwandfreien, vorbildlichen Frommen:

„Ihre vielen Sünden sind vergeben,

denn sie hat viel geliebt;

wem aber wenig vergeben wird,

der liebt wenig.”


Dem Gastgeber muss nichts vergeben werden,

weil er sich nichts zu Schulden kommen ließ.

Aber weil er sich nichts zu Schulden kommen ließ,

hat er auch viele Gelegenheiten zur Liebe ausgelassen.

Jesus zählt sie auf:

„Du hast mir kein Wasser für meine Füße gegeben,

du hast mir keinen Kuss gegeben

und mich nicht gesalbt.”


Wer versucht, nach Gottes Willen zu leben,

wird immer wieder enttäuscht feststellen,

dass man dabei Fehler macht.

Wer einen anderen Menschen liebt,

wird ihr oder ihm oft nicht gerecht,

handelt manchmal lieblos.

Wer ein Kind großzieht,

tut ihm manchmal unrecht,

ist manchmal nicht da, wenn es seine Mutter, seinen Vater braucht,

ist manchmal kurz angebunden, genervt,

wenn das Kind Zuwendung sucht oder Verständnis.


Wer versucht, nach Gottes Willen zu leben,

macht die überraschende Erfahrung,

dass man gerade dabei sündigt.

Bei dem Versuch, Gott und die Nächsten zu lieben,

verletzt man die Beziehung zu den Mitmenschen

und die Beziehung zu Gott viel öfter, als man dachte.


Der Gastgeber zieht daraus den Schluss,

dass es besser ist, nichts zu tun.

Denn wer nichts tut,

kann auch nichts falsch machen.


Jesus aber wirbt in dieser Geschichte dafür,

es immer wieder mit der Liebe zu versuchen,

gerade weil man dabei so viel falsch machen,

gerade weil man damit scheitern,

gerade weil man sündigen kann.

Darum sagt er „ihre vielen Sünden sind vergeben,

denn sie hat viel geliebt.”


Bei unserem Versuch, nach Gottes Willen zu leben,

dürfen wir auf Vergebung hoffen

und aus der Vergebung leben.

Wir dürfen Fehler machen,

denn nur so lernen wir, wie Liebe geht.

Martin Luther schrieb seinem Freund Philipp Melanchthon:

pecca fortiter,

sed fortius fide et gaude in Christo,

qui victor est peccati, morti et mundi” -

sündige tapfer,

aber tapferer sei dein Glaube und deine Freude an Christus,

der Sünde, Tod und Welt überwunden hat.


Etwas freier kann man es so ausdrücken:

Leben bedeutet, Fehler zu machen.

Darum habe keine Angst vor Fehlern.

Es kommt nicht darauf an, dass du ein fehlerfreier Mensch bist.

Worauf es ankommt, ist deine Tapferkeit:

Dein Mut, auf diese Zusage Christi hin zu leben:

„Deine Sünden sind dir vergeben.”

Darauf zu vertrauen, dass Gott dir deine Fehler vergibt,

damit du ihn und deine Nächste:n lieben kannst.


V

Kann die Liebe Sünde sein?


Die Frage ist falsch gestellt.

Sie muss lauten:

Kann ich mir eingestehen,

dass ich ein sündiger Mensch bin,

weil ich immer wieder in meinen Beziehungen

zu Gott und zu meinen Mitmenschen scheitere.

Und finde ich den Mut, mir vergeben zu lassen

und es immer wieder noch einmal zu versuchen mit der Liebe.


Für Jesus jedenfalls ist die Frage nicht,

ob Liebe Sünde sein kann,

sondern ob man liebt.

Sonntag, 13. August 2023

Mit Gott im Bund

Predigt am 10. Sonntag nach Trinitatis, 13. August 2023, über Dtn 4,5-20


Liebe Schwestern und Brüder,


ein einziger Tag kann über das ganze weitere Leben entscheiden

und es für immer verändern.


Da ist natürlich zuerst der Geburtstag,

ohne den es uns nicht gäbe

und den wir deshalb jedes Jahr begehen -

und mit uns die Menschen,

die froh sind, dass wir auf der Welt sind:

Eltern, Geschwister, Liebste, Kinder,

Freundinnen und Freunde.


Paare begehen ihren Jahrestag:

Der Tag, an dem aus zwei Einzelnen

etwas Neues wurde, eine Einheit, ein Paar,

das seit diesem Tag alles miteinander teilt.

Wie einschneidend das war,

wie sehr sich das eigene Leben dadurch veränderte,

wird einem oft erst nach einer Trennung

oder dem Verlust des Partners oder der Partnerin bewusst.


Es gibt noch andere Tage,

nach denen das Leben nicht mehr ist wie zuvor:

Ein schwerer Unfall;

eine Krankheit;

ein schweres Leid

können einen Lebensweg durchkreuzen,

Pläne und Hoffnungen zunichte machen,

sodass man vor den Trümmern seines bisherigen Lebens steht

und nicht weiß, wie es weitergehen, wie man weiterleben soll.


Und dann gibt es noch Tage,

die nicht nur für eine:n selbst,

sondern für alle die Lebensbedingungen verändern,

das Leben auf den Kopf stellen.

Solche Tage gehen gewöhnlich in die Geschichtsbücher ein.


Der 9. November 1989 war so ein Tag.

Alle, die ihn erlebten, werden ihn nie vergessen -

und auch nicht das, was sie damals empfanden.

Wer ihn erlebte, weiß noch genau,

wo er damals war, was er damals tat.

Immer wieder wird es erzählt,

wenn sich Zeitzeugen treffen;

auch Kinder und Enkel haben die Geschichten schon oft gehört.


„Du sollst deinen Kindern und Enkelkindern

kundtun den Tag, da du vor dem Herrn, deinem Gott,

standest an dem Berg Horeb.“


Auch dies ein Tag, der alles veränderte:

Der Tag, an dem Gott den Bund mit seinem Volk Israel schloss

und ihn durch die Gabe der Zehn Gebote besiegelte.

Zehn Gebote bezeichnen den Inhalt dieses Bundes:

Ein Leben, das nach Gottes Willen fragt

und sich davon leiten lässt.

Ein Leben in Gemeinschaft mit allen,

die sich ebenso diesem Willen Gottes unterworfen haben.


Beides gehört untrennbar zusammen:

Die Gebote auf sich nehmen,

und dies gemeinsam tun.

Die Gebote sind kein Selbstzweck.

Keine Anleitung für eine religiöse Gymnastik,

die man daheim im stillen Kämmerlein übt.


Die Gebote begründen die Beziehung zu Gott.

Eine Beziehung, genauso intensiv und verbindlich

wie die zur Partnerin, zum Partner,

zu Eltern, Geschwistern, Kindern oder Enkeln.

Diese Beziehung zu Gott ist nicht möglich

ohne Beziehung zu den Mitmenschen.

Wie ich mich anderen gegenüber verhalte,

wirkt sich unmittelbar auf mein Verhältnis zu Gott aus.

Wenn ich mit anderen in Unfrieden lebe,

kann ich auch nicht mit Gott in Frieden sein.

So fordert Jesus in der Bergpredigt (Mt 5,23-24):


„Wenn du deine Gabe auf dem Altar opferst

und dort kommt dir in den Sinn,

dass dein Bruder etwas gegen dich hat,

so lass dort vor dem Altar deine Gabe

und geh zuerst hin und versöhne dich mit deinem Bruder,

und dann komm und opfere deine Gabe.”


Jesus spricht von „Brüdern” und „Schwestern”.

Der Glaube an Gott intensiviert auch

die Beziehung zu den Mitmenschen,

sodass sie wie Geschwister werden.


Zwischen Geschwistern herrscht eine besondere Verbundenheit.

Sie ist nicht immer von Sympathie getragen,

nicht immer unproblematisch,

nicht immer herzlich.

Und doch schafft die Tatsache,

dass man gemeinsame Eltern hat,

ein anderes Gefühl der Verbindlichkeit

und der Zusammengehörigkeit,

als man es anderen gegenüber empfindet.

Im Notfall würde man Geschwistern immer beistehen,

selbst, wenn die Beziehung abgekühlt ist.

Dieses Wissen macht eine Familie aus:

Dass man sich aufeinander verlassen kann,

dass man im besten Fall füreinander da ist,

fair und loyal miteinander umgeht.

Dadurch wird eine Familie zu einem Zufluchtsort,

der Halt und Sicherheit im Leben gibt.


So verhält es sich auch mit der Gemeinde.

Die Gemeinschaft derer, die nach Gottes Willen fragen

und danach zu leben versuchen -

die „Gemeinschaft der Heiligen”,

wie sie im Glaubensbekenntnis heißt -,

ist im Idealfall ein Ort der Zuflucht, wie die Familie.

Nicht umsonst waren und sind Kirchen Stätten des Asyls.

Hier darf ich auf Fairness, Loyalität und Hilfe hoffen -

oder mich sogar darauf verlassen.


Solche Gemeinschaften haben aber die Tendenz,

sich nach außen abzugrenzen und eng zu werden -

eine Enge, die abschreckt nach außen

und einschnürt nach innen.


Jesus nennt jeden Menschen Schwester und Bruder.

Wir aber möchten wissen, mit wem wir es zu tun haben,

ob wir ihr oder ihm trauen können und vor allem:

ob sie so sind wie wir.

Vorher lassen wir keine:n rein,

geschweige denn, dass wir sie

wie Geschwister ansehen und behandeln.


Von außen betrachtet scheint es so,

dass sich da eine Gruppe von anderen abkapselt.

Sich abgrenzt durch eigene Kleidung,

eigene Rituale und eine eigene Sprache,

die Außenstehende nicht mehr verstehen.

So hat man über Jahrhunderte

Menschen jüdischen Glaubens wahrgenommen

und misstrauisch beäugt:

Warum sondern sie sich ab?

Warum sind sie nicht so wie wir?


Dieses Misstrauen gipfelte

in der im Nationalsozialismus vertretenen Auffassung,

es gäbe ein „Judentum” und eine jüdische „Rasse”.

Die Idiotie dieser Auffassung,

die sich wissenschaftlich als „Rassenlehre” gab,

hätte man schon damals erkennen müssen.

Denn Menschen jüdischen Glaubens gab es nicht nur

im Orient und in Europa.

Es gab und gibt afrikanische Jüd:innen und chinesische -

überall auf der Welt, unter allen Völkern,

haben Menschen den jüdischen Glauben angenommen,

obwohl sie nicht in direkter Linie

mit einem der Zwölf Söhne Israels verwandt sind.


Trotzdem sind sie Jüd:innen.

Wie kann das sein?

Hat Gott nicht seinen Bund mit den Kindern Israels geschlossen,

den Nachfahren der zwölf Söhne Jakobs?

Und sind diese Israeliten nicht die,

die mit Mose die Flucht aus Ägypten gewagt hatten

und mit denen er durch die Wüste gewandert war

bis zum Berg Gottes, dem Horeb?

Daran erinnert er sie:


„Da tratet ihr herzu

und standet unten am Berge;

der Berg aber stand in Flammen

bis in den Himmel hinein.

Und der Herr redete mit euch

mitten aus dem Feuer.”


Das fünfte Buch Mose ist,

ebensowenig wie die anderen Bücher Mose,

von Mose selbst geschrieben worden.

Es entstand Jahrhunderte,

wenn nicht ein Jahrtausend nach den Ereignissen,

von denen es erzählt.

Geschrieben wurde es nach der Zerstörung Jerusalems

im babylonischen Exil,

etwa 500 Jahre vor Christi Geburt.

Mit der Zerstörung des Tempels in Jerusalem

begann die Diaspora,

die Zerstreuung der Kinder Israel

in aller Herren Länder.


Man kann es auch andersherum sagen:

Es begann die Zeit der Ausbreitung

des jüdischen Glaubens in alle Länder

und unter alle Völker der Erde.

Griechen wurden Juden und Römer,

Syrer und Araber, Germanen und Slaven.

Zu ihnen allen wird gesagt:


„Da tratet ihr herzu

und standet unten am Berge.”


In der jüdischen Überlieferung heißt es,

die Seelen aller Menschen,

die jemals den jüdischen Glauben annehmen würden,

wären damals mit am Horeb gewesen.


Auch das kann man andersherum sagen:

Alle Menschen, denen diese Worte vorgelesen werden,

sind Ohrenzeugen dieses Geschehens:


„Der Herr redete mit euch

mitten aus dem Feuer.

Den Klang der Worte hörtet ihr,

aber ihr saht keine Gestalt,

nur eine Stimme war da.”


Nur eine Stimme …

Es ist die Stimme von Mutter oder Vater,

von Katechet:in, Pastor:in oder Lektor:in,

die uns diese Geschichte vorliest oder erzählt,

wie sie seit tausenden von Jahren

erzählt und vorgelesen wurde.

Für die, die sie hören,

wird die Stimme zu Gottes Stimme.


Es ist nicht die Begabung oder Kunst

von Katechet:in oder Lektor:in,

die bewirkt, dass uns Gottes Stimme

anspricht aus diesen Worten.

Es ist Gott selbst - sein Heiliger Geist,

der uns zu Ohrenzeug:innen macht

und uns aufnimmt in den Bund mit seinem Volk.


Wir Christ:innen haben dafür das Zeichen der Taufe.

Auch sie ist einer dieser Tage im Leben,

der alles verändert.

Sie ist der Tag im Leben,

weil sie alles zum Guten verändert.

So sehr verändert,

dass alles Schlimme und Böse, das wir erleben,

keine Macht mehr besitzt,

über unser Leben zu bestimmen.

Wie das Leben uns auch zeichnen mag:

Wir, die wir mit der Taufe bezeichnet wurden,

tragen sie wie eine schützende Hülle um uns.


Wir haben auch besondere Tage gemeinsam.

Tage, die uns an den Bund Gottes mit uns erinnern

und an das, was Gott uns damit geschenkt hat:

Den Heiligen Abend,

den Karfreitag

und den Ostertag.


Wie die Menschen jüdischen Glaubens

ergreift auch uns Gottes Geist,

der uns davon überzeugt, dass es wahr ist:

Wir gehören zu Gott

wie Kinder zu einer Familie.

Gottes Geist schenkt uns den Mut und die Kraft,

darauf zu vertrauen:

Gott ist mit uns im Bund und wir mit ihm,

gemeinsam mit den Menschen jüdischen Glaubens.

Mit ihnen stehen wir vor Gott

und hören seinen guten Willen für uns.

Mit ihnen sind wir aufgefordert,

nach diesem Willen auch zu leben.


Gebe Gott uns den Wunsch und die Kraft dazu.

Amen.