Samstag, 25. Juli 2020

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Predigt am 7. Sonntag nach Trinitatis, 26. Juli 2020, über Hebräer 13,1-3:

Die Liebe zu denen, die euch vertraut sind, bleibe!
Die Liebe zu denen, die euch fremd sind, aber vergesst nicht - 
so haben manche, ohne es zu wissen, Engel beherbergt.
Denkt an die Gefangenen, weil auch ihr Gefangene seid; 
denkt an die Misshandelten, weil auch ihr Verletzliche seid.


Liebe Schwestern und Brüder,

„was du nicht willst, das man dir tu,
das füg auch keinem andern zu!"

Mit diesem Merkvers bin ich aufgewachsen - Sie vielleicht auch.
Bei allen Regeln, die man für das Leben so braucht,
ist diese eine der einfachsten und grundlegendsten -
aber auch am schwersten zu befolgen.

Andere Regeln sind leichter umzusetzen.
Von den 10 Geboten z.B. das 7. Gebot: „Du sollst nicht stehlen”:
Da weiß man gleich, woran man ist: Fremdes Eigentum ist tabu.
Bei „Was du nicht willst, was man dir tu …” muss man erst überlegen.
Denn was man anderen antut, spürt man selbst ja nicht -
bis es einmal auf einen selbst zurückschlägt.

Wenn man z.B. als der Stärkere andere herumschubst und herumkommandiert,
spürt man selbst nicht, wie sich das anfühlt,
herumgeschubst und herumkommandiert zu werden.
Es muss erst ein Stärkerer kommen, der mit einem dasselbe tut,
bis man begreift, wie unangenehm und erniedrigend das ist.

Wer diese Regel befolgen will,
muss sich also in andere hineinversetzen
und sich vorstellen können, wie sich das anfühlt,
was man anderen so antut -
z.B. hinter dem Rücken über jemanden reden,
oder einem anderen sagen und zeigen:
Du gehörst nicht hierher, du gehörst nicht dazu.
Wer das selbst nie erlebt hat,
wer immer nur Täter war, nie Opfer,
der kommt gar nicht auf die Idee, darüber nachzudenken.

II
Es versteht sich nicht von selbst,
dass man darüber nachdenkt,
was sein Handeln bei anderen anrichtet und auslöst.
Weil es nicht selbstverständlich ist,
hat Jesus die Faustregel umgedreht:
Statt darüber nachzudenken, wie andere sich fühlen,
geht man bei der „Goldenen Regel” von sich selbst aus:
„Alles, was ihr wollt, das euch die Leute tun sollen,
das tut ihnen auch!”
, sagt Jesus (Matthäus 7,12).
Die Goldene Regel setzt bei uns und unseren Bedürfnissen an.
Ich weiß ja schließlich, was ich will und brauche.
Ich möchte z.B. respektvoll behandelt werden -
dann, sagt Jesus, begegne auch anderen Menschen mit Respekt.
Ich möchte, dass man mir die Wahrheit sagt -
dann, sagt Jesus, sag auch du die Wahrheit.

Wer die Goldene Regel beherzigen möchte,
macht die Entdeckung,
dass die eigenen Bedürfnisse auch die aller anderen sind.
Ich habe Hunger - andere Menschen auch.
Ich möchte meine Ruhe - die wollen andere auch.
Ich möchte Sicherheit - die suchen andere auch.
Ich suche Zuneigung, Freundschaft, Vergebung - die brauchen andere auch.

Trotzdem ist es nicht leicht, die Goldene Regel zu befolgen.
Denn oft weiß man nicht, was man eigentlich will.
Und meistens erscheint einem das, was man braucht,
als so selbstverständlich, dass man nicht darüber nachdenkt.
In unserer Gesellschaft, in der so vieles im Überfluss vorhanden ist
und so viele Menschen reichlich von allem haben,
braucht man auch nicht darüber nachzudenken.
Wenn man Hunger hat, geht man an den Kühlschrank.
Ist der Kühlschrank leer, geht man einkaufen.
Erst, wenn das nicht mehr geht -
weil man wegen des Corona-Virus nicht aus dem Haus kann
oder weil man kein Geld zum Einkaufen hat -
merkt man, was einem fehlt.
Wenn man es nicht haben kann,
wird einem bewusst, was man will oder braucht.

So setzt also auch die Goldene Regel das Nachdenken voraus:
Ein Nachdenken über das, was uns selbstverständlich erscheint,
was aber nicht selbstverständlich ist.

III
Die Regeln, die der Hebräerbrief aufstellt, beschreiben einen dritten Weg:
Sie erinnern an Erfahrungen, die man gemacht hat
oder sprechen von Erfahrungen, die man machen könnte. 
Diese Erfahrungen sollen dazu anregen, nach dem Willen Jesu zu handeln,
nämlich: Den Nächsten, die Nächste zu lieben wie sich selbst.

„Die Liebe zu denen, die euch vertraut sind, bleibe!”
Dass man Eltern oder Geschwister, Partner oder Partnerin, 
Kinder oder Enkel, Freundinnen oder Freunde gern hat,
ist zwar nicht die Regel.
Aber wenn es gut ging und gut geht,
macht man die Erfahrung, von Menschen umgeben zu sein,
die man lieb hat.
Diese Erfahrung, die hoffentlich jede:r von uns machen durfte,
wendet der Hebräerbrief auf die Fremden an:
„Die Liebe zu denen, die euch fremd sind, vergesst nicht”.
Wer seine Nächsten liebt, soll auch die Fremden lieben.
Aber warum sollte man fremde Menschen genauso behandeln 
wie die, die einem nahe stehen?
Weil, sagt der Hebräerbrief, uns in diesen Fremden ein Engel begegnen könnte.

Nun ist es sicher nicht so,
dass Gottes Engel inkognito umherstreifen,
um unsere Gastfreundschaft zu überprüfen.
Liest man in der Bibel von Gottes Boten,
dann wird dort berichtet,
dass Gott sie mit einer Botschaft zu den Menschen schickt.
Durch die Menschen, die uns fremd sind,
könnte Gott uns also eine Botschaft schicken.
Sie könnten uns lehren, Dinge und uns selbst
anders und auf neue Weise zu sehen -
etwas, was Menschen, die uns vertraut sind, uns nicht lehren können.

IV
„Denkt an die Gefangenen, weil auch ihr Gefangene seid”.
Vielleicht stimmt es doch nicht,
dass der Hebräerbrief uns an unsere Erfahrungen erinnert.
Denn im Gefängnis waren doch hoffentlich die Wenigsten von uns!
Im Griechischen steht dort, wo wir „Gefangene” lesen,
das Wort „Gebundene”.
Gebundene sind wir alle, im Guten wie im Bösen.
Im Guten sind wir an Menschen gebunden, die wir lieben,
oder an ein Versprechen, das wir jemandem gaben.
Im Bösen sind wir gebunden an die Verhältnisse, in denen wir uns befinden,
an eine Angewohnheit, die wir nicht abstellen können,
an eine Sucht wie den Alkohol.
Wir erleben uns gebunden durch Ängste und Sorgen,
durch familiäre oder berufliche Zwänge.
Auch wenn wir nicht im Gefängnis waren,
wissen wir, was es bedeutet, gefangen zu sein -
und dass man sich aus dieser Gefangenschaft selbst oft nicht befreien kann,
sondern die Hilfe anderer dazu braucht.

„Denkt an die Misshandelten, weil auch ihr Verletzliche seid.”
Zum Schluss erinnert der Hebräerbrief an die eigene Verletzlichkeit.
Wer kennt sie nicht, die Angst vor dem Zahnarzt?
Es ist die Angst vor dem Schmerz, den man im Gesicht besonders empfindet.

Die Erfahrung des Schmerzes vermeidet man, wo man kann,
und man erinnert sich auch nicht gern daran,
wie schlimm die Kopfschmerzen waren,
wie weh der umgeknickte Fuß oder das aufgeschürfte Knie getan haben,
wie schmerzhaft der Verlust des geliebten Menschen war.
Aber der Hebräerbrief möchte, dass wir uns daran erinnern.
Denn zum Mitleid ist nur fähig, wer das Leid nicht verdrängt.
Mitleid aber ist die Voraussetzung der Nächstenliebe.
Nur wer Mitleid empfinden kann, ist in der Lage,
die Goldene Regel zu befolgen, die Jesus aufgestellt hat.

V
Auch der dritte Weg, den der Hebräerbief beschreibt,
erspart uns nicht das Nachdenken und das Einfühlen in den anderen Menschen.
Es ist das Kennzeichen der Nächstenliebe, die Jesus von uns fordert,
dass wir nicht nur über uns nachdenken,
sondern uns auch in unsere Mitmenschen hineinversetzen.

Natürlich kann man nicht alle Menschen, 
die man kennt oder denen man begegnet,
in sein Herz, seine Gedanken und seine Gebete einschließen.
Deshalb lautet das Gebot der Nächstenliebe:
„Liebe deinen Nächsten wie dich selbst”.
Das könnte eine Richtschnur sein:
In dem Maße, in dem ich über mich selbst nachdenke und mir Sorgen mache,
kann ich über meine Mitmenschen nachdenken und mich um sie sorgen.
Es hat den guten Nebeneffekt,
dass die eigenen Sorgen und Probleme um so kleiner werden,
je mehr man sich um andere sorgt.
Und es hat die Verheißung,
dass uns in einem anderen Menschen ein Bote Gottes begegnet,
der eine wichtige Botschaft für uns hat.
Das muss kein Ruf zur Umkehr sein wie bei Bileam (4.Mose 22),
kein Hinweis auf Fehler und Versäumnisse.
Es kann auch sein, dass mir der andere sagt:
Du bist ein guter Mensch.
Du bist gut so, wie du bist.
Und du wirst geliebt.

Und das kann einem ja eigentlich nicht oft genug gesagt werden.

Amen.

Dienstag, 14. Juli 2020

Erwählung

Predigt am 6. Sonntag nach Trinitatis, 19.7.2020, über Deuteronomium 7,6-12:

Du bist ein heiliges Volk für den Herrn, deinen Gott.
Dich erwählte der Herr, dein Gott, ein Volk zu sein,
das er sich aus allen Völkern der Erde erwarb.
Nicht, weil ihr zahlreicher wärt als alle Völker,
hat der Herr euch geliebt und euch erwählt -
denn ihr seid das kleinste aller Völker -,
sondern weil der Herr euch liebt,
und weil er sich an den Schwur hält,
den er euren Vorfahren leistete.
Der Herr hat euch herausgeführt mit starker Hand
und euch losgekauft aus dem Sklavenhaus,
aus der Hand Pharaos, des Königs von Ägypten.
Und du sollst erkennen, dass der Herr, dein Gott, Gott ist.
Der treue Gott bewahrt den Bund und die unverbrüchliche Liebe
denen, die ihn lieben und seine Gebote halten,
bis in die tausendste Generation.
Aber denen, die ihn hassen, vergilt er persönlich,
indem er sie vernichtet.
Er zögert nicht, dem, der ihn hasst, persönlich zu vergelten.

Du sollst dich nach dem Gebot, den Vorschriften und den Rechtsordnungen, die ich dir heute gebiete, richten, dass du danach handelst.
Es soll geschehen:
Dafür, dass ihr diesen Rechtsordnungen genau gehorcht
und euch nach ihnen richtet und danach handelt,
wird auch der Herr, dein Gott, dir gegenüber
den Bund und die unverbrüchliche Liebe bewahren,
die er deinen Vorfahren geschworen hat.


Liebe Schwestern und Brüder,

„Nicht, weil ihr zahlreicher wärt als alle Völker,
hat der Herr euch geliebt und euch erwählt -
denn ihr seid das kleinste aller Völker -,
sondern weil der Herr euch liebt,
und weil er sich an den Schwur hält,
den er euren Vorfahren leistete.“

Was kann schöner sein als das: geliebt zu werden?
Der Sinn des Lebens ist nicht, allein für sich zu sein
und „sein Ding“ zu machen.
Der Sinn des Lebens besteht darin,
einen anderen Menschen zu finden,
eine Partnerin oder einen Partner,
kurz: Liebe zu finden, sie zu erleben
und daraus zu leben in ihrer Vielfalt und Fülle,
und sie weiterzugeben.
Zu den schönsten Momenten im Leben gehört deshalb,
wenn man erwählt wird.
Wenn sich jemand in eine:n verliebt,
ist das Glück vollkommen.

Doch so wunderbar und vollkommen die Liebe ist:
sie erträgt keine Konkurrenz.
Liebe will Ausschließlichkeit.
Sind zwei Menschen ein Paar geworden,
wird die eine oder der andere zuweilen neidisch auf andere,
die Zeit mit der Partnerin oder dem Partner verbringen
und in seiner oder ihrer Nähe sind,
während man selbst nicht bei ihr oder ihm sein kann:
auf Schwiegereltern und Geschwister,
auf Freundinnen und Freunde,
Kolleginnen und Kollegen.
Zuweilen wird man sogar auf die eigenen Kinder neidisch,
wenn sie die Partnerin oder den Partner mit Beschlag belegen,
während man selbst ihr oder ihm nahe sein möchte.

II
„Nicht, weil ihr zahlreicher wärt als alle Völker,
hat der Herr euch geliebt und euch erwählt -
denn ihr seid das kleinste aller Völker -,
sondern weil der Herr euch liebt,
und weil er sich an den Schwur hält,
den er euren Vorfahren leistete.“

Gott hat sich verliebt, vor langer, langer Zeit.
In einen Menschen, einen heimatlosen Flüchtling,
der als Fremder in einem Land lebte,
indem er zeitlebens ein nur geduldeter Gast blieb.
Seine Nachfahren, vor dem Hunger nach Ägypten geflohen und dort versklavt,
kehrten nach ihrer Befreiung aus der Sklaverei
in das Land ihrer Vorfahren zurück.
Sie nahmen es ein.
Sie holten sich zurück, was ihren Vorfahren einst gehört hatte,
und sie eroberten neue Gebiete dazu.
Aber nicht lange gehörte ihnen dieses Land.
In vielen Kriegen wurden sie größeren und mächtigeren Völkern untertan,
schließlich aus ihrer Heimat deportiert
und in alle Winde zerstreut.
Als Fremde blieben sie fremd in den Ländern,
in denen sie lebten,
wurden misstrauisch beobachtet, verdächtigt und verfolgt,
und so ist es bis heute.
Selbst das alle menschliche Vorstellungskraft sprengende Grauen des Holocaust hat daran nichts geändert.
Der Antisemitismus, der nie wirklich überwunden worden war,
macht sich wieder breit,
als hätte es den Holocaust nie gegeben.
Aber trotz dieser und aller anderen schrecklichen Grausamkeiten,
die man diesen Menschen antat,
hat sich auch daran nichts geändert:
Gott liebt sein Volk Israel.
Bis heute ist es sein erwähltes Volk
und wird es in alle Zukunft sein.
Nicht wegen einer besonderen Eigenart,
die manche einer sogenannten „Rasse“ zuschreiben wollen.
Nicht wegen besonderer Leistungen,
einer herausragenden Frömmigkeit,
eines innigeren Glaubens.
Sondern weil Gott diese Menschen liebt
und weil er einst Abraham ein Versprechen gab,
das er nie gebrochen hat und niemals brechen wird.

III
Viele haben dem Volk Israel diese besondere Beziehung zu Gott geneidet.
Die Kirche war über viele Jahrhunderte sogar der Meinung,
Gottes Liebe sei von seinem Volk Israel
auf die Kirche übergegangen,
und die Christen seien das „wahre Israel“.
Aber von Gott erwählt zu sein bedeutet nicht,
dass wir entscheiden - oder sonst irgend jemand -,
wer zu Gottes Volk gehört, und wer nicht.
Allein Gott entscheidet das.
Es gibt auch keine genetischen oder sonstwie vererbbaren Merkmale,
die einen Menschen zum Teil des Volkes Gottes machen.
Jüdin oder Jude ist man nicht durch Abstammung,
sondern durch das Bekenntnis zum jüdischen Glauben -
so, wie man Christin oder Christ wird durch das Bekenntnis zu Christus bei der Taufe.
Und ebensowenig, wie Menschen bestimmen,
wer zu Gott gehört und wer nicht,
können sie die Verheißungen Gottes ändern.
„Was Gott aus Gnade geschenkt hat,
das nimmt er nicht zurück.
Und wen er einmal berufen hat, der bleibt es.“ (Römer 11,29).
Das „Neue Testament“ oder der „Neue Bund“,
wie wir beim Abendmahl sagen,
hat den Bund Gottes mit seinem Volk Israel nicht abgelöst oder überflüssig gemacht, im Gegenteil:
Ohne den Alten Bund gäbe es keinen Neuen,
ohne die Verheißungen des Alten Testaments hätten die Worte des Neuen keinen Boden und kein Fundament.

IV
Liebe will Ausschließlichkeit.
Sie erträgt keine Konkurrenz.
Gottes Liebe aber ist größer,
viel größer als unsere oft so engen Herzen.
Gottes Liebe umfasst nicht nur sein Volk Israel
und uns, die wir als Glaubende dazugekommen sind.
Gottes Liebe erträgt es auch,
dass es so viele unterschiedliche Formen des Glaubens gibt.

Aber es muss doch irgendwo eine Grenze geben!
Es können doch nicht alle erwählt,
es können doch nicht alle gleich viel wert sein!
Wie kann ich mir sonst sicher sein,
dass Gott mich meint, mich liebt,
wenn alle anderen genauso gemeint,
genauso geliebt sind wie ich?

Zunächst einmal gilt es auszuhalten,
dass Gott erwählt, nicht wir.
Wie wir Freiheit für uns in Anspruch nehmen
und in unseren Entscheidungen nicht eingeschränkt werden wollen,
so entscheidet Gott frei,
ohne auf unsere Wünsche oder Interessen Rücksicht zu nehmen.
Aus allen möglichen Völkern und Menschen hat Gott sich für Abraham entschieden.
Ihn hat er erwählt, Stammvater eines Volkes zu werden,
das so zahlreich wie die Sterne ist (Genesis 15,5).
Zahleich wie die Sterne sind nicht Abrahams leibliche Nachkommen - die sind zählbar.
Zahlreich wie die Sterne sind alle,
die, wie Abraham, Gott und seinem Versprechen glauben.
Denn sie umfassen alle, die Gott geglaubt haben,
alle, die jetzt glauben
und alle, die noch glauben werden.
Erwählung bedeutet also,
an Gott glauben zu können.
Wer diese Fähigkeit in sich entdeckt,
wer sagen kann:
Ich glaube an Gott,
und wer daraus mehr ableitet als ein gutes Gefühl,
nämlich: sein Leben in der Verantwortung vor Gott zu führen,
die oder der ist erwählt.
Denn dass man glauben kann,
ist ein Zeichen dafür,
dass Gott mich liebt und möchte,
dass ich, wie die anderen Glaubenden,
zu seinem Volk gehöre.

V
Das Volk Israel wurde und wird um seine Erwählung beneidet.
Dabei ist Erwählung nicht unbedingt etwas,
auf das man neidisch sein muss.
Erwählung bedeutet nämlich Verantwortung.
Wer von Gott erwählt wurde,
muss sich vor Gott verantworten.
Gott fragt ihn oder sie:
Was machst du mit deinem Leben?
Wie gehst du um mit der Schöpfung,
der Welt, die ich dir anvertraut habe?
Wie gehst du um mit deinen Mitmenschen,
die ich ebenso liebe wie dich?
Warum lässt du zu, dass sie leiden?
Warum lässt du zu, dass Menschen verhungern
oder auf der Flucht vor dem Hunger im Mittelmeer ertrinken?
Du weißt doch, was gut ist und was ich von dir erwarte (Micha 6,8)!

Erwählung bedeutet, sich das sagen und gesagt sein zu lassen,
sich das immer wieder aufs Neue von Gott fragen zu lassen.
Das Volk Israel hat diese Bürde der Erwählung,
die Last des Gesetzes,
über Jahrtausende geduldig getragen.
Als Jesus kam, hat er dieses Gesetz nicht nur bestätigt,
er hat die Last des Gesetzes sogar noch schwerer gemacht -
so schwer, dass man sie nicht mehr tragen konnte.
Damit nahm er uns die Illusion,
wir könnten das Gesetz erfüllen,
könnten die Last des Gesetzes eines Tages ablegen,
weil wir es abgearbeitet hätten,
und müssten uns dann diese drängenden Fragen Gottes nicht mehr stellen lassen.

Die Verantwortung für unser Leben,
für unsere Mitmenschen und unsere Welt werden wir also nicht los.
Dafür hat Jesus uns gezeigt,
dass die Last der Verantwortung nicht so schwer ist, wie wir meinen.
Die Last ist leicht,
weil Jesus sie für uns sozusagen auf seine Schultern nimmt,
indem er uns die Kraft seiner Liebe gibt.
Als von Gott Geliebte und Erwählte verfügen wir über die Liebe,
die nicht weniger wird, sondern sich vermehrt,
je mehr wir sie verschenken.
Deshalb besteht der Sinn des Lebens nicht nur darin,
einen Menschen zu lieben,
sondern alle.
Denn je mehr Liebe man verschenkt,
desto größer wird sie.
Und je mehr Menschen wir einladen
und einbeziehen in Gottes Bund,
desto sicherer und gewisser werden wir Gottes Liebe zu uns
und unserer Erwählung.

Amen.

Montag, 13. Juli 2020

#BLM

Predigt über Römer 12,17-21, gehalten am 5. Sonntag nach Trinitatis, 12.7.2020 in Petrus auf dem Dreesch, Text vom 4. Sonntag nach Trinitatis

Vergeltet keinem Menschen Böses mit Bösem.
Seid bedacht auf Gutes gegenüber jedem Menschen.
Wenn möglich, soweit es euch betrifft, lebt mit jedem Menschen in Frieden.
Rächt euch nicht selbst, ihr Lieben,
sondern gebt Raum dem Zorn Gottes.
Denn es steht geschrieben (Dtn 32,35):
„Die Rache ist mein, ich will vergelten”,
spricht der Herr.
Vielmehr (Spr 25,21-22): „Jedesmal, wenn deinen Feind hungert, speise ihn.
Jedesmal, wenn ihn dürstet, lass ihn trinken.
Denn indem du das tust,
wirst du brennende Kohlen auf seinem Haupt aufhäufen.”
Werde nicht vom Bösen besiegt,
sondern siege durch das Gute über das Böse.


Liebe Schwestern und Brüder,

Kirche und Politik - geht das zusammen?

Einerseits gibt es eine große Volkspartei,
die das Christliche im Namen führt.
Einerseits hat jede im Bundestag vertretene Partei einen Arbeitskreis,
in dem Christinnen und Christen aus ihrer Sicht
die politischen Fragen und Probleme diskutieren.

Andererseits hat die politische Auseinandersetzung im Gottesdienst nichts zu suchen.
Gott ist nicht parteiisch, was politische Positionen angeht.
Gott ist nicht „Rechts” oder „Links” oder in der vielbeschworenen „Mitte”.
Gott ist aber sehr wohl parteiisch,
was die Schwachen, die Fremden und die Ausgegrenzten angeht.
Er stellt sich auf ihre Seite,
und dort möchte er auch uns stehen sehen.
So heißt es zum Beispiel beim Propheten Jesaja (Jesaja 1,17):
„Lernt Gutes tun,
trachtet nach Recht,
helft den Unterdrückten,
schafft den Waisen Recht,
führt der Witwen Sache!”
Gott ist also parteiisch, aber nicht politisch.

Aber ist es möglich, parteiisch zu sein, ohne politisch zu sein?
Das Wort „Politik” kommt aus dem Griechischen.
Die Griechen haben sowohl das Wort als auch die Sache erfunden.
„Pólis”, das Wort, das der „Politik” zugrundeliegt,
bedeutet im Griechischen „Stadt” oder „Gemeinwesen”.
Politik ist alles, was das Miteinander in der Stadt oder im Staat regelt.
Auch die Kirchengemeinde ist ein Gemeinwesen,
und die Kirche als Zusammenschluss vieler Gemeinden auch.
Auch hier muss vieles geregelt werden.
Auch hier wird „Politik” betrieben
im Ausgleich unterschiedlicher Interessen
wie im Ringen um Entscheidungen
und um die Macht, seine Interessen und Entscheidungen durchzusetzen.

II
Paulus schreibt an die Christen in Rom zur Zeit des berühmt-berüchtigten Kaisers Nero.
Damals ist die christliche Gemeinde noch eine kleine, unbedeutende Gruppe in der Stadt,
eine Art kleiner Verein.
Trotzdem wird diese kleine Gruppe vom römischen Staat beobachtet.
Denn die Christen benehmen sich auffällig:
Frauen dürfen in ihren Versammlungen reden
und sogar Leitungsämter übernehmen.
Auffallend viele Arme und Sklaven laufen ihnen zu,
besonders Witwen, worüber man sich auf der Straße lustig macht.
Die Besitzer der Sklaven beobachten,
dass ihre Sklaven von den Treffen der Christen
mit gefährlichen Ideen zurückkommen:
Sie behaupten, ihre Herren hätten keine wahre Macht über sie,
und dass sie jetzt einen neuen Herren hätten.
Man kann ihnen mit der Peitsche einbläuen, wer ihr wahrer Herr ist,
aber die neuen Ideen kann man ihnen damit nicht austreiben.

Bald sehen sich die Christen in Rom offenen Anfeindungen ausgesetzt.
Sie erleben Diskriminierung und körperliche Gewalt.
Und wenn wegen eines Problems mit der Wasser- oder Getreideversorgung
oder wegen einer Epidemie ein Schuldiger gesucht wird,
macht man die Christen zu Sündenböcken.
Diese für die Christen bedrängende und oft lebensbedrohliche Situation
steht Paulus vor Augen, als er ihnen seine Ratschläge schickt.
Er mahnt die römischen Christen zur Zurückhaltung.
Er bittet sie, die Verfolgung zu ertragen
und den Verfolgern gegenüber nicht bitter zu werden -
im Gegenteil, ihnen zu helfen.
Das ist viel verlangt, wenn die Verfolger nicht nur Beamte des Staates sind,
sondern die eigenen Nachbarn, Menschen aus dem Viertel, die man kennt.

III
In einer ähnlichen Situation wie die römischen Christen,
an die Paulus seinen Brief schreibt,
befanden sich die amerikanischen Bürger afrikanischer Abstammung
in den 50er und 60er Jahren des letzten Jahrhunderts.
Genauer gesagt befanden sie sich in dieser Situation,
seit sie als Sklaven aus Afrika verschleppt worden waren,
und sie befinden sich im Grunde bis heute in dieser Situation.
Aber in den 50er und 60er Jahren brach etwas auf.
Die systematische Unterdrückung und Benachteiligung der Schwarzen,
der alltägliche Rassismus wurde angeprangert,
und Schwarze forderten die gleichen Bürgerrechte für sich,
die ihnen von der Verfassung garantiert,
von denen, die die Macht hatten, aber verweigert wurden.
In den Demonstrationen und Protesten dieser Zeit
trat ein evangelischer Pastor auf,
der, ähnlich wie Paulus, die Protestierenden zum Verzicht auf Gewalt und Rache aufrief.
Martin Luther King mahnte zur Zurückhaltung,
bat sie, die Gewalt, die ihnen von der Polizei angetan wurde,
nicht mit Gewalt zu beantworten, sondern zu ertragen.

Aber er forderte die Protestierenden nicht dazu auf,
die Proteste aufzugeben und sich in ihr Schicksal zu fügen -
im Gegenteil: Er selbst ging bei den Protestmärschen in der ersten Reihe.
Er selbst forderte die Gleichberechtigung
und beteiligte sich am gewaltlosen Kampf um gleiche Rechte
in Demonstrationen, Streiks und Aktionen des zivilen Ungehorsams.
Er hielt sich genau an das, was Paulus den römischen Christen riet:
„Vergeltet nicht Böses mit Bösem”.
Aber er hielt nicht den Mund.
Er forderte das Recht, mitwirken zu dürfen bei der Gestaltung des Gemeinwesens
im Ausgleich unterschiedlicher Interessen
wie im Ringen um Entscheidungen
und um die Macht, seine Interessen und Entscheidungen durchzusetzen.
So wurde der Widerstand der Schwarzen politisch.

IV
Davon ist bei Paulus nichts zu spüren.
Paulus stachelt die römischen Christen nicht zum Widerstand auf,
sondern mahnt sie zur Unterordnung unter die Obrigkeit (Römer 13).
Allein, jede Unterordnung hat Grenzen.
Paulus ermutigt die Sklaven nicht dazu, ihre Herren zu verlassen (1.Kor 7,20-21).
Aber er macht ihnen deutlich, dass diese Herren keine Macht über sie haben,
weil Christus ihr neuer Herr ist (1.Kor 7,22-23).
Ein Herr, der nicht demütigt, sondern aufrichtet.
Ein Herr, der Gehorsam verlangt,
aber keinen Kadavergehorsam,
sondern getreuliches Befolgen der Barmherzigkeit
in der Freiheit der Liebe zum Nächsten und zu Gott.

Wer diesem Herrn dienen will,
kommt notwendigerweise in Konflikt mit den Herren dieser Welt.
Jedenfalls dann, wenn die Herren dieser Welt eine solche Haltung nicht dulden.
So wird der Glaube politisch - nicht, weil er die Auseinandersetzung sucht,
sondern weil er mit Anfeindung und Gegnerschaft rechnen muss,
sobald er die Partei Gottes bezieht:
Die Parteilichkeit für die Schwachen, die Fremden und die Ausgegrenzten.

V
Die Zeiten des römischen Kaisers Nero sind lange vorbei.
Wir leben in einem Gemeinwesen,
das unsere Glaubensfreiheit garantiert
und sie sogar für uns durchsetzt, wenn es sein muss.
Also könnten wir uns als Christinnen und Christen heute aus der Politik zurückziehen
und uns zurückhaltend und still um unsere Dinge kümmern.

Aber wir leben als christliche Gemeinde in einem Gemeinwesen
und haben Teil an seinen kleinen und großen Problemen.
Auch uns beschäftigt die Frage nach der gerechten Verteilung
von Besitz und Bildungschancen,
von Arbeit, Wohlstand und Glück.
Auch wir stehen vor der Frage der Gleichbehandlung,
vor der Frage, wie wir uns Menschen gegenüber verhalten,
die zu unseren Gemeinden von außen dazukommen -
aus einer anderen Stadt oder einem anderen Land.
Täglich werden wir Zeugen von Diskriminierung,
von Hass und Gewalt gegenüber Schwächeren,
gegenüber Menschen, die anders denken oder anders aussehen,
anders lieben oder anders leben als die Mehrheit.

Und wir können dabei nicht vergessen,
welchen Auftrag Gott uns ihnen gegenüber gegeben hat:
„Lernt Gutes tun,
trachtet nach Recht,
helft den Unterdrückten,
schafft den Waisen Recht,
führt der Witwen Sache!”

Deshalb ist es unsere Aufgabe, an ihrer Seite zu stehen,
weil Gott an ihrer Seite steht.
Es ist unsere Aufgabe, der Gesellschaft den Spiegel vorzuhalten
und selbst in diesen Spiegel zu sehen:
Den Spiegel der göttlichen Gebote und der göttlichen Liebe.
Darum ist Kirche politisch.
Gegen das Böse und die Bosheit in unserer Gesellschaft und in unserer Welt
soll und will sie immer wieder das Gute und die Güte aufrichten.
Sie wird dadurch das Böse nicht besiegen.
Aber sie kann ihm eine Grenze setzen,
und sie kann Menschen vor dem Bösen retten.