Sonntag, 26. März 2023

lernen, Mensch zu sein

 Predigt am Sonntag Judika, 26.3.2023, über Hebräer 5,7-9



Liebe Schwestern und Brüder,


„wenn der Vater mit dem Sohne einmal ausgeht,

und dann keiner gern nach Haus geht,

dann erleben sie zusamm’ die tollsten Sachen,

mal zum Weinen, mal zum Lachen.”


Dieses Lied stammt aus dem Rühmann-Film

„Wenn der Vater mit dem Sohne”, erschienen im Jahr 1955.

Manche der anwesenden Väter und Mütter

werden ihn als Kinder im Fernsehen gesehen haben,

in „Willi Schwabes Rumpelkammer” vielleicht,

damals noch in Schwarz-Weiß

(das können sich Kinder heute gar nicht mehr vorstellen!).

Als der Film in die Kinos kam, als Heinz Rühmann ein Star war,

da sahen ihn die Mütter und Väter

der heutigen Mütter und Väter,

also die Generation der Großeltern.


„Wenn der Vater mit dem Sohne ...”

- was macht der Vater mit dem Sohn?

... oder die Mutter mit der Tochter?

Was machen Eltern mit ihren Kindern?


Wenn ich schon so frage:

Sie erleben zusammen nicht nur tolle Sachen.

Was sie miteinander erleben,

miteinander ausmachen und verhandeln,

was sie einander antun, ist oft schmerzvoll,

ist manchmal zum Weinen, nicht zum Lachen.


Und auch im Predigttext geht es um das,

was der Vater mit dem Sohn tut,

und der Sohn mit dem Vater.

Auch eher zum Weinen als zum Lachen.


Ist auch Ihnen der Satz beim Hören aufgefallen:

„Obwohl er Gottes Sohn war,

lernte er Gehorsam an dem, was er litt?”


„Obwohl er Gottes Sohn war ...”,

das klingt, als hätte Jesus das Leiden

eigentlich erspart bleiben müssen.


Eltern möchten ihren Kindern Leiden ersparen.

Deshalb sprechen sie so viele Verbote aus.

Nicht, um ihre Kinder zu ärgern, sondern um sie zu beschützen.

Kinder aber wollen, Kinder müssen eigene Erfahrungen machen.

Und dazu gehört leider auch, dass sie Schmerzvolles erleben,

dass sie leiden.


Eltern möchten, dass es ihre Kinder besser haben sollen,

als sie selbst es hatten:

Bessere Lebensbedingungen, eine bessere Ausbildung;

die Möglichkeit, ihre Begabungen zu entwickeln.

Kinder sollen das Beste aus ihrem Leben machen,

sich ihre Träume erfüllen können.

Aber eigentlich sollen sie die Träume der Eltern erfüllen.

Die Träume der Eltern von einem besseren Leben.

Die Träume der Eltern von Chancen, die sie nicht hatten.


„Obwohl er Gottes Sohn war ...”,

das klingt auch ein wenig nach dem „silbernen Löffel” im Mund,

nach einem Kind aus besserem Hause:

Gottes Sohn, der muss sich das doch nicht antun;

Gottes Sohn, dem müsste doch alles offen stehen;

Gottes Sohn, dem begegnet kein Leid.

Der schwebt auf Wolke Sieben.


Auch das kennen Kinder von ihren Eltern oder Großeltern:

Die Litanei, dass sie es früher viel schwerer hatten

als ihre Kinder heute:

früher wurde man noch geschlagen

- nicht nur zuhause, auch in der Schule.

Früher gab es kaum Spielzeug, selten Süßigkeiten

- vom Fernseher ganz zu schweigen.

Früher musste man als Kind mithelfen, mitarbeiten,

Pflichten und Verantwortung übernehmen.

Früher durfte man keine Widerworte wagen.

Dagegen wachsen die meisten Kinder in unserem Land

heute tatsächlich mit dem silbernen Löffel im Mund auf.


„Obwohl er Gottes Sohn war”,

ließ sein Vater ihn leiden.

Obwohl er „in den Tage seines irdischen Lebens

Bitten und Flehen mit lauten Schreien

und mit Tränen dem darbrachte,

der ihn vom Tod erretten konnte”,

musste er erst leiden und Gehorsam lernen,

bis Gott ihn erlöste.


Bei diesen Sätzen fallen mir Bilder

aus amerikanischen Militärfilmen ein:

Wie da die Rekruten geschliffen werden,

angeschrien, beleidigt, gedemütigt.

Wie sie sich in den Dreck werfen müssen,

weil der Ausbilder es will, wieder und wieder.

Wie sie unwürdige Arbeiten verrichten müssen,

weil sie einen Befehl nicht schnell genug befolgt,

ihre Stiefel nicht blank genug geputzt,

ihre Hemden nicht auf DIN A 4 gefaltet haben.


Und das ist ja nicht nur im Kino so:

„Lehrjahre sind keine Herrenjahre!”, hieß es früher.

Und so ist es noch heute.

Manche Söhne und Töchter erfahren Demütigungen,

bis sie erwachsen geworden sind.

Man lässt sie spüren, dass sie noch viel zu lernen haben,

dass sie noch nicht mitreden dürfen im Kreis der Großen,

der Mächtigen, der Entscheider, der Eltern.


Wenn sie dann groß geworden,

wenn sie selbst Eltern sind,

bleiben sie doch immer noch Kinder: die Kinder ihrer Eltern.

So, wie die Eltern Kinder bleiben ihrer Eltern.

Sie konnten erst deren Platz einnehmen,

als sie, die Großeltern, ihn freigaben.

Ihre Kinder werden deshalb auch ihren Platz erst einnehmen dürfen,

wenn sie, die Eltern, ihn freigeben.


Und so reißt die Kette niemals ab,

die Kette des Leides, das sich durch die Generationen zieht.

Väter und Mütter geben an ihre Kinder den Auftrag weiter,

stellvertretend zu verwirklichen,

was sie nicht tun konnten, tun wollten, oder tun durften:

die unerfüllten Träume zu erfüllen;

die verpassten Chancen wahrzunehmen;

die vertanen Gelegenheiten zu ergreifen.


Und Väter und Mütter verweigern ihren Kindern,

was ihnen selbst von der Elterngeneration verwehrt wurde:

Teilhabe an der Macht;

Respekt vor den eigenen Ideen und Plänen,

vor der Eigenart, dem Anderssein;

die Möglichkeit, zu zeigen, was man kann;

die Erlaubnis, Fehler zu machen, sich zu irren, zu scheitern.


„Obwohl er Gottes Sohn war,

lernte er Gehorsam an dem, was er litt.”


Ist Jesu Vater einer, der von sicherer Warte aus zusieht,

wie sein Sohn Todesangst aussteht im Garten von Gethsemane?

Wie er geschlagen wird von den Soldaten, ausgelacht, gedemütigt?

Wie er unsägliche Schmerzen erleidet,

als er ans Kreuz geschlagen wird

und das Gewicht seines Körpers an den Nagelwunden zerrt?

Wie er, von allen Freunden im Stich gelassen,

verzweifelt schreit:

„Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?”


Könnten wir, wenn Gott so ein Vater gewesen wäre,

noch zu ihm beten: Vater unser ...?


Und ist der Gehorsam, den Gott von seinem Sohn fordert,

tatsächlich der Kadavergehorsam,

der uns in den Militärfilmen so unter die Haut geht,

uns ohnmächtige Wut und Zorn spüren lässt?


Es gibt viele Stellen der Bibel,

in denen uns Gott fremd ist, sehr fremd sogar.

In denen Gott uns unverständlich,

oder sogar anstößig erscheint.

Man kann das nicht alles verstehen,

man kann das nicht alles erklären.

Wir verstehen auch unsere Eltern oft nicht,

und Eltern verstehen ihre Kinder oft nicht.

Wir müssen uns immer wieder eingestehen,

dass wir die Menschen, die wir am meisten lieben,

oft am wenigsten kennen und verstehen.


Und doch ist es nicht vorstellbar,

dass Gott, von dem die Bibel erzählt,

wie sehr er die Menschen liebt,

wie sehr er darunter leidet, dass sie sich von ihm abwenden;

dass Gott, der von Jesus sagte:

„das ist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe”,

- dass diesen Gott das Leiden seines Sohnes kalt lässt;

dass er ungerührt zusieht,

wie sein Sohn misshandelt und gedemütigt wird,

wir er stirbt.


Jesus lernte Gehorsam ...

Diese Stelle im Hebärerbrief ist die einzige im Neuen Testament,

in der es ausdrücklich heißt, dass Jesus etwas lernt.

Jesus lernt auch etwas von der kanaanäischen Frau.

Als er sie demütigt:

„Es ist nicht recht, dass man den Kindern ihr Brot nehme

und werfe es vor die Hunde”, widerspricht sie ihm:

„Aber doch fressen die Hunde die Brosamen,

die vom Tisch ihrer Herren fallen.”

Jesus lernt vom Hauptmann von Kapernaum,

der es nicht für nötig hält, dass Jesus in sein Haus kommt,

um seinen kranken Knecht zu heilen.

Ihm reicht ein einziges Wort von Jesus.


Überall sonst aber wird Jesus „Meister” genannt,

als „Rabbi” angeredet.

Überall sonst ist er es, der die Menschen mit Gleichnissen lehrt

oder zu ihnen predigt auf dem Berg.

Als Zwölfjähriger schon hat er die bibelfesten Schriftgelehrten

im Tempel das Staunen gelehrt.


Aber etwas muss er noch lernen:

Jesus muss lernen, Mensch zu sein.

Als Gottes Sohn, der wahrhaft Mensch geworden ist,

muss er das Menschsein in seiner ganzen Fülle erleben.

In seiner ganzen Fülle an Schönheit,

an Liebe, Freundlichkeit, Respekt und Zuwendung.

Und auch in seiner ganzen Fülle an Schrecken und Leid,

an Krankheit, Ohnmacht, Gemeinheit und Verzweiflung.

Beides gehört untrennbar zueinander

wie zwei Seiten einer Medaille.


Um wirklich Mensch zu sein,

musste Jesus deshalb auch das Leid kennen lernen,

bis hin zur Einsamkeit und Verlassenheit am Kreuz.

Das war kein teuflischer Lehrplan Gottes.

Es ist die Realität des Lebens,

die jede und jeder von uns erleiden muss.

Und so wurde er vollendet,

weil er bis zum Ende Mensch blieb,

der Versuchung widerstand,

sich durch ein Wunder zu retten

oder Gott zu verfluchen.


Jesus war wirklich und wahrhaft Mensch,

damit wir Mensch sein können.

Damit wir nicht die Wünsche und Träume

unserer Eltern wiederholen müssen

und auch nicht ihre Fehler,

sondern unsere eigenen Träume und Wünsche leben dürfen,

unsere eigenen Fehler machen können.


Jesus war wirklich und wahrhaft Mensch,

damit er bei uns sein kann,

wenn wir versuchen, Mensch zu bleiben

und menschlich zu sein.


Er wurde Mensch,

damit er uns den Weg weisen konnte

aus Leiden, Ohnmacht, Angst und Qual heraus

ins Leben.


„Wenn der Vater mit dem Sohne einmal ausgeht,

und dann keiner gern nach Haus geht,

dann erleben sie zusamm’ die tollsten Sachen,

mal zum Weinen, mal zum Lachen.”


Mütter und Väter tun ihren Kinder viel Gutes.

Und manchmal tun sie ihnen auch sehr weh.

Und die Kinder sind nicht anders.

Eltern und Kinder tun einander sehr viel an,

an Schönem, und auch an Schwerem.

So sind wir Menschen.

Das Schöne und das Schwere sind zwei Seiten

der einen Medaille.

Das macht es den Kindern mit ihren Eltern

nicht unbedingt leichter,

und auch nicht den Eltern mit ihren Kindern.

Aber es lehrt uns, darauf zu sehen,

worauf es ankommt:

auf das Zusammen:

„Dann erleben sie zusamm’ die tollsten Sachen.”


Gott hat seinen Sohn niemals verlassen.

Auch in seiner Todesstunde am Kreuz,

als er nach seinem Vater schrie,

als er schrie: „Eli, Eli, lama asabthani”,

da hörte ihn Gott.


So hört Gott uns,

wenn wir schreien oder flüstern,

fluchen oder bitten.

Gott geht mit uns durchs Leben

und erlebt mit uns die tollsten Sachen,

weint mit uns

und lacht mit uns.

So sind wir frei, unseren eigenen Weg zu gehen,

es nicht besser zu machen als unsere Eltern

oder schlechter,

sondern unser Leben auf unsere Weise zu leben.


Und wenn wir dabei Mensch bleiben,

dann ist es gut.

Amen.

Sonntag, 19. März 2023

Wände stürzen ein

Predigt am Sonntag Lätare, 19.3.2023, über Jesaja 54,7-10


Liebe Schwestern und Brüder,


es ist die ewiggleiche Frage,

die Menschen seit Menschengedenken stellen.

Von den Tagen Jesajas bis heute:

„Wo warst du, Gott?”


Wo warst du, als das Unglück geschah?

Wo warst du, als der geliebte Mensch starb?

Wo bist du, Gott, wenn Menschen in Kellern zittern

beim Einschlag der Marschflugkörper;

wenn Menschen im Meer ertrinken

auf der Suche nach etwas Besserem als dem Tod?

Wo bist du, wenn Menschen die Diagnose hören,

die ihr Leben besiegelt und für immer verändert?


Was Jesaja unternimmt,

ist einer der unzähligen Versuche,

eine Antwort auf diese Frage zu geben.

Ein Antwortversuch, der die Frage nach dem abwesenden Gott,

dem Deus absconditus wirklich ernst nimmt.

Ein Antwortversuch, der nicht Gott verteidigt -

das hat er gar nicht nötig,

und wer wären wir, dass wir uns anmaßen könnten,

als Verteidiger:innen Gottes aufzutreten -,

sondern an der Seite der Fragenden bleibt.

Denn es ist ja auch unsere Frage.

Jede und jeder von uns hat selbst schon so verzweifelt gefragt:

Wo warst du, Gott?

Wo bist du, Gott?

So fragt auch Gottes Sohn am Kreuz:

„Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?”


„Ich habe dich einen kleinen Augenblick verlassen.”

Wir kennen das:

Da sieht man einen Moment nicht hin,

schon ist das Malheur passiert:

das Kind hat den Suppenteller umgekippt;

ist vom Stuhl gefallen;

hat sich am Feuer verbrannt.


Man war einen Moment unaufmerksam,

mit den Gedanken nicht bei der Sache,

da ist man gestürzt;

da ist man auf den anderen Wagen aufgefahren;

da ist etwas geschehen,

was man nicht wieder rückgängig machen kann.


„Ich habe dich einen kleinen Augenblick verlassen.”

Wollen wir Gott diese Unachtsamkeit durchgehen lassen?

Können wir es entschuldigen,

dass Gott einen Moment nicht hingesehen hat,

mal kurz nicht bei der Sache war?

Ist nicht dadurch, dass Gott im entscheidenden Moment nicht da war,

etwas zerbrochen in unserer Beziehung zu Gott,

das selbst Gott nicht wieder reparieren kann?


Vielleicht muss das so sein.

Vielleicht muss etwas zerbrechen,

muss unsere Beziehung zu Gott infrage stehen,

wenn unser Leben durch ein Unglück erschüttert wird.


Wenn unser Leben erschüttert wird,

wie sollte da unser Glaube nicht erschüttert werden?

Zu dem Schmerz, den die Abwesenheit Gottes verursachte,

als das Unglück geschah,

kommt das Schweigen Gottes hinzu,

das kaum zu ertragen ist.


So beschreibt es Rainer Maria Rilke in seinem „Stundenbuch”:


„Du, Nachbar Gott,

wenn ich dich manchesmal

in langer Nacht mit hartem Klopfen störe, -

so ist’s, weil ich dich selten atmen höre

und weiß, du bist allein im Saal.

Und wenn du etwas brauchst, ist keiner da,

um deinem Tasten einen Trank zu reichen:

Ich horche immer:

Gib ein kleines Zeichen.

Ich bin ganz nah.”


Auf den Vorwurf der Abwesenheit, des Schweigens

antwortet Gott bei Jesaja:


„Ich halte es wir zur Zeit Noahs,

als ich schwor, dass die Wasser Noahs

nicht mehr über die Erde gehen sollten.”


Die Wasser Noahs, die Sintflut,

gehören zu den Geschichten im Anfang.

Den Geschichten, die das Fundament für alles Weitere bilden.

Für Gottes Geschichte mit seinem Volk Israel

und für Gottes Geschichte mit uns.


Im Anfang, so erzählt die Bibel,

war Gott so zornig auf das Versagen der Menschen,

die er zum Tun des Guten bestimmt hatte,

zu treuen, gewissenhaften Haushaltern seiner Schöpfung,

dass er in seinem Zorn die ganze Menschheit auslöschte

durch die Sintflut.

Nur einen Rest ließ er übrig.

Ein Rest, der die Fähigkeit zum Guten ebenso in sich trug

wie den Keim zum Bösen,

das die Sintflut doch vertilgen sollte.


Auf diesen furchtbaren Zornesausbruch Gottes

folgt ein Schwur, den Gott mit dem Regenbogen besiegelt:

„Dass ich nicht mehr über dich zürnen

und dich nicht mehr schelten will.”


Gottes Zorn gehört der Vergangenheit an.

Einer Vergangenheit, die weit vor unserer Geschichte mit Gott liegt.

Gott ist nicht zornig auf uns.

Er war es nie und wird es niemals sein.

Am Anfang unserer Beziehung mit Gott,

die durch die Taufe begründet wurde,

steht sein Schwur:

„Es sollen wohl Berge weichen und Hügel hinfallen,

aber meine Gnade soll nicht von dir weichen

und der Bund meines Friedens soll nicht hinfallen.”


Gott verspricht uns seine Nähe,

seine Solidarität mit und seine Loyalität zu uns,

die unerschütterlich sind und unvergänglich.

Wenn selbst die ewigen Berge nicht mehr sein werden,

werden wir immer noch untrennbar mit Gott verbunden sein.


Wie aber kann es dann sein,

dass wir Gott „so selten atmen” hören

und uns gerade dann allein,

gerade dann im Stich gelassen fühlen,

wenn wir Gottes Beistand und Trost am nötigsten haben?


Hören wir dazu noch einmal Rilke:


„Nur eine schmale Wand ist zwischen uns,

durch Zufall; denn es könnte sein:

ein Rufen deines oder meines Munds -

und sie bricht ein,

ganz ohne Lärm und Laut.


Aus deinen Bildern ist sie aufgebaut.”


„Du sollst dir kein Bildnis

noch irgendein Gleichnis machen”,

lautet das 2. Gebot.

Dabei geht es für uns nicht um die Götzenbilder,

gegen die Jesaja polemisiert.

Jesus hat uns gelehrt,

dass die Gebote keine Verbote im juristischen Sinn darstellen,

sondern eine Markierung der Grenzen,

die wir aus eigener Kraft nicht überschreiten können.


Das 2. Gebot ist kein Bilderverbot,

sondern die Feststellung,

dass wir uns Bilder von Gott machen.

Und dass wir gar nicht anders können,

als von Gott in Bildern und Gleichnissen

zu denken und zu sprechen.

Bilder, die zwischen Gott uns uns stehen.


Wir errichten Wände, die uns von Gott trennen,

weil wir Bilder gebrauchen müssen,

wenn wir uns Gott vorstellen wollen.

Den Unvorstellbaren kann man sich nicht vorstellen.

Gott, der ganz anders ist, totaliter aliter,

der allmächtig ist und allgegenwärtig,

ewig und allwissend,

kann sich kein Mensch denken.


Wir müssen aber Gott denken,

um mit Gott in Beziehung treten zu können.

Doch sobald wir ihn denken,

errichten wir die Wände unserer Bilder und Gleichnisse

und versperren uns selbst den Zugang zu ihm.


Deshalb zerbricht jedes Mal etwas,

wenn wir Gottes Schweigen erfahren:

Es zerbricht eine der Wände, die wir errichteten.

Dahinter kommt für einen Augenblick der zum Vorschein,

der uns mit großer Barmherzigkeit sammeln

und sich unser mit ewiger Gnade erbarmen will.

- Bevor wieder eines unserer Gottesbilder

die Sicht auf Gott versperrt, wie er wirklich ist.


Wie aber sollen, wie können wir

die Beziehung zu Gott aufrecht erhalten,

wenn wir sie uns immer wieder selbst verbauen?


Wir können es nicht.

Darum sandte Gott seinen Sohn,

um die Wände, die wir zwischen Gott und uns aufbauen,

einzureißen, ein für allemal.

Als Jesus am Kreuz starb, heißt es bei Mt, Mk und Lk,

„zerriss der Vorhang im Tempel in zwei Stücke

von oben an bis unten aus“ (Mt 27,51).


Jesus zerreißt die Vorhänge,

zerbricht die Wände,

die wir immer wieder aufbauen,

wenn wir versuchen, uns Gott vorzustellen.

Er zerreißt die Bilder, die wir uns von Gott machen,

damit für einen Augenblick zum Vorschein kommen kann,

dass Gott da ist, an unserer Seite.

Dass er immer schon da war

und immer da sein wird,

voller Barmherzigkeit und Erbarmen.


Wenn wir die Härte von Gottes Schweigen erfahren,

sehen wir auf das Kreuz,

das für uns zum Zeichen für Gottes Schwur geworden ist,

und lassen uns daran erinnern,

dass wohl Berge weichen und Hügel hinfallen sollen,

aber Gottes Gnade nicht von uns weichen wird

und der Bund seines Friedens niemals hinfällt. Amen.

Sonntag, 5. März 2023

Leben mit dem Handicap

Predigt am Sonntag Reminiscere, 5.3.2023, zur Kantate „Ja, mir hast du Arbeit gemacht” von Johann Ludwig Bach/ Jesaja 43,24-25


Der Junge klettert im Baum herum.

Viel zu hoch, viel zu weit vom Stamm entfernt.

Immer weiter rutscht er auf dem Ast nach außen.

Ein kleines Stückchen noch, noch eins, noch eins - - -

Der Ast wackelt schon heftig.

Er wird doch nicht … ?

Da! Er fällt!


Genau in diesem Moment ist ein freundlicher Herr zur Stelle,

der ihn auffängt und auf dem Boden absetzt.

Kaum hat er festen Boden unter den Füßen,

läuft der Junge ohne ein Wort davon.


Liebe Schwestern und Brüder,


vielleicht kennen Sie diese Szene aus dem Film

„Täglich grüßt das Murmeltier”.

Bill Murray muss in diesem Film

den selben Tag immer und immer wieder durchleben,

bis aus einem unausstehlichen Ekel

der gute Mensch geworden ist,

der den Jungen im letzten Augenblick rettet.

Wie lange er für diese Verwandlung gebraucht hat,

deuten die Worte an, die er dem Jungen hinterherruft:

„Du hast dich kein einziges Mal bedankt!”


„Ja, mir hast du Arbeit gemacht” -

auch so ein Satz, der einem hinterhergerufen wird.

Ein Satz, wie ihn manche von uns schon hören mussten:

„Du machst mir nichts als Kummer!”;

„deinetwegen muss ich hier schuften!”;

„dir muss man immer alles hinterherräumen!”


Der Vorwurf, der in diesen Sätzen liegt,

ist nicht zu überhören.

Man möchte am liebsten weglaufen bei solchen Sätzen -

wer hört sich schon gerne Vorwürfe an?


Dabei steht hinter solchen Vorwürfen

der sehnliche Wunsch,

dass der andere sein Verhalten ändert,

damit die Beziehung bestehen bleiben kann.


Doch Vorwürfe sind das denkbar schlechteste Mittel,

einen Menschen dazu zu bewegen, sich zu ändern.

Das muss man in Beziehungskrisen erleben:

Ist man an dem Punkt angelangt,

wo man sich gegenseitig Vorwürfe macht,

ist es fast schon zu spät.


Dennoch ist auch das wahr:

Ein Vorwurf, so ungern man ihn hört,

ist der Versuch, die Beziehung aufrecht zu erhalten.

Übersetzt man den Vorwurf in eine Bitte,

so würde er lauten:

Bitte ändere dich, ändere dein Verhalten,

damit ich mir dir zusammen bleiben kann.


Wie kommt es überhaupt dazu,

dass man Vorwürfe erhebt?

Vorwürfe werden geäußert,

wenn in der Beziehung ein Ungleichgewicht herrscht.

Wenn eine:r der Partner:innen das Gefühl hat,

mehr für die Beziehung zu tun,

mehr zu arbeiten, mehr zu investieren als der andere.


Es kommt ziemlich häufig vor,

dass in einer Beziehung einer der Partner

mehr tut als der andere.

Trotzdem endet solches Ungleichgewicht selten in Vorwürfen.

Im Verhältnis von Eltern zu ihren Kindern z.B.

Keine liebende Mutter,

kein liebevoller Vater käme auf die Idee,

dem eigenen Kind vorzurechnen,

was sie an Arbeit, Zeit und Geld für das Kind investiert haben.

Sollte es soweit kommen,

wäre die Beziehung zwischen Eltern und Kind in Gefahr

oder schon zerbrochen.


Auch wenn ein:e Partner:in die andere pflegt,

oder wenn ein:e Partner:in ein Handicap hat,

auf dass die andere Rücksicht nehmen muss,

ist das Verhältnis zwischen beiden ungleich.

Trotzdem macht man gewöhnlich dem Partner, der Partnerin

keinen Vorwurf deswegen.


Aber natürlich ist es Arbeit,

die einem auch mal zu viel werden

und an die eigenen Grenzen bringen kann.

Dann seufzt man vielleicht manchmal:


„Ja, du hast mir Arbeit gemacht mit deinen Sünden,

du hast mir Mühe gemacht mit deinen Missetaten.”


In unserer Beziehung zu Gott

sind Sünden und Missetaten unser Handicap.

Sünden: Das sind unser Glaube an die eigene Kraft

unsere Weigerung, nach Gottes Willen zu fragen

und uns danach zu orientieren,

die uns von Gott trennen.


Sünde kann auch das Verhalten anderen gegenüber sein:

Unterlassen von Hilfe und Unterstützung,

Gleichgültigkeit gegenüber dem Leid anderer,

Ablehnung und Unbarmherzigkeit gegenüber Menschen,

die als Fremde kommen,

die anders leben, anders lieben, anders sind als wir,

trennen uns von Gott.


Gott wirft uns dieses Handicap nicht vor.

Gott hilft uns, damit zu leben.

Gott leistet Beziehungsarbeit:


„Ich tilge deine Übertretungen um meinetwillen

und gedenke deiner Sünden nicht.”


Johann Ludwig Bach und seine Zeitgenossen

konnten Gottes Vergebung so noch nicht erleben und verstehen.

Für sie war es undenkbar,

„Sünde” mit einer Behinderung, einem Handicap zu vergleichen.

Unvorstellbar, dass Gott aus reiner Liebe

auf dieses Handicap Rücksicht nehmen

und uns helfen könnte, damit zu leben.


Sie konnten nicht übersehen,

dass Gottes Freundschaft zu uns

mit dem Tod seines Sohnes bezahlt worden war.

Sie fühlten sich schuldig an Jesu Leiden und Tod:


„Was ist doch wohl die Ursach solcher Plagen?

Ach, meine Sünden haben dich geschlagen!”


Über Jahrhunderte herrschte in der Kirche die Überzeugung,

der Mensch sei so böse, so schlecht,

dass Jesus für unsere Schuld leiden und büßen musste,

damit wir überhaupt in ein Verhältnis zu Gott treten könnten.


Dass Jesus Leiden und Tod aus freien Stücken auf sich nahm,

aus Liebe zu uns,

wurde dabei ebenso vergessen

wie die Tatsache, dass Gott uns längst vergeben hat.


Hinter der Absicht, uns unsere Schuld

immer wieder unter die Nase zu reiben,

stand die Überzeugung,

dass diese Schuld uns von Gott trennt.

Ja, dass Gott deswegen so zornig auf uns ist,

dass er nichts mehr von uns wissen will.

Nur die contritio, die Zerknirschung,

kann den Menschen zu Gott zurückbringen.


Doch ebensowenig wie ein Vorwurf

ist Zerknirschung das geeignete Mittel,

eine Beziehung wiederherzustellen.

Zerknirschung macht klein, zerbricht den Menschen -

das ist ja schon im Wort „Zerknirschung” enthalten.

Zerknirschung gehört zum Repertoire

der Schwarzen Pädagogik, die den Eigenwillen brechen will,

um den Menschen auf den Weg zu bringen,

den andere für den richtigen halten.

Wer sich klein machen muss,

damit die Beziehung hält,

wer seinen Willen brechen lassen muss

tut gut daran, so eine toxische Beziehung zu fliehen.


Menschen klein machen, Menschen brechen,

das ist nicht Gottes Art.

Gott will nicht unseren Willen brechen.

Gott wartet mit unendlicher Geduld darauf,

dass wir nicht weiter vor ihm davon laufen

wie der Junge, der vom Baum fiel -

aus Scham, oder Furcht vor Vorwurf und Strafe.

Sondern dass wir dankbar feststellen:

wir wurden aufgefangen.

Da ist einer, der uns zuverlässig hält,

unser ganzes Leben lang.

Der uns den Rücken stärkt,

damit wir ihn nicht beugen müssen,

vor niemandem,

und damit niemand ihn brechen kann.


Sein Sohn nahm das Leid,

nahm Kreuz und Tod nicht auf sich,

um unsere Schuld bei Gott zu bezahlen.

Was wäre Gott für ein Vater,

wenn er seine Arbeit an uns,

wenn er unsere Schulden bei ihm aufrechnen würde?

Jesus opferte sich,

damit sich niemand mehr aufopfern,

niemand mehr Opfer, Sündenbock werden muss.


Ja, wir haben Gott Arbeit gemacht.

Wir werden ihm weiterhin Arbeit machen.

Aber Gott tut es gern.

Weil wir seine Kinder sind.

Weil er uns liebt.