Freitag, 31. Dezember 2021

wachsen lassen

Predigt am Altjahrsabend, 31.12.2021, über Matthäus 13,24-30

Getreidefeld

Liebe Schwestern und Brüder,

das Gleichnis vom Unkraut unter dem Weizen, das von Aussaat und Ernte erzählt, passt gut zum Rückblick auf das fast vergangene Jahr. Wir haben ja tatsächlich manches ausgesät: Radieschen und Raps, Wicken und Weizen, Gurken und Gerste. Vieles davon noch im selben Jahr geerntet. Manches, wie der Winterweizen, wird erst im kommenden Jahr Frucht bringen. Und wer vielleicht aus einem Apfelkern einen Apfelbaum gezogen hat, wird einige Jahre warten müssen, bis sich herausstellt, welche Art von Äpfeln er trägt.

Wie das, was wir gesät haben, ist auch das, was wir in diesem zurückliegenden Jahr begonnen haben: Viele Erfolge oder Misserfolge haben sich gleich eingestellt. Manches wird sich erst im kommenden Jahr ergeben. Und manches Vorhaben, manche Entscheidung braucht noch Zeit, um zu reifen und wird erst in einigen Jahren Früchte bringen.

Eine Entscheidung muss „reifen”, sagt man. In unseren Sprachgebrauch sind Säen und Ernten in viele Redewendungen eingeflossen. Beide zusammen in der Warnung: „Wer Wind sät, wird Sturm ernten”.
An diesem Bild wird deutlich, dass unser Tun Kreise zieht wie ein Stein, den man ins Wasser wirft. Die Folgen unseres Tuns entwickeln und entfalten sich allmählich, wie aus dem Samenkorn der Keimling  sprießt, der sich streckt und wächst und schließlich Frucht bringt.

Aber was sät man eigentlich in den Redewendungen? Man sät Zwietracht oder Misstrauen, Feindschaft oder Zweifel. Während wir im wahren Leben gute Saat ausbringen, von der wir auch eine gute Ernte erwarten, ist das, was wir in den Redewendungen aussehen, gar nicht gut. Scheinbar wird nichts Gutes gesät, wenn vom Säen im übertragenen Sinn die Rede ist. Das Gute wird statt dessen geerntet: Man erntet Lob, Erfolg, Anerkennung. Man erntet Beifall oder Applaus. 

Was in Redewendungen gesät wird, ist Schlechtes, während das Gute, das wir ernten, jedenfalls nicht von uns ausgesät wurde. Woher kommt dieses pessimistische Menschenbild, das seinen Niederschlag in unserer Sprache gefunden hat? Tatsache ist doch, dass wir auch viel Gutes aussäen, nicht nur im Garten oder auf dem Acker. Wir säen Gutes in Form von guten Taten, Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft, Trost und Ermutigung. Trotzdem heißt es nicht: „Mir hat jemand Trost gesät”, sondern: „Jemand hat mir Trost gespendet.” Nicht: „Du hast mir Mut gesät”, sondern: „Du hast mir Mut gemacht.”

Unsere Sprache verrät, dass das Saatgut zum Guten nicht von uns kommt. Unsere eigene Muttersprache stellt uns dem Feind gleich, der das Unkraut unter den Weizen sät, wenn sie uns nur Zweifel und Feindschaft aussäen lässt, nicht aber Freundschaft oder Glaube. Das ist sicher kein Zufall. Darin zeigt sich ein Grundzug unseres Menschseins. „Denn”, schreibt der Apostel Paulus an die Römer (Röm 7,19), „das Gute, das ich will, das tue ich nicht; sondern das Böse, das ich nicht will, das tue ich.” Es ist unser Menschsein, das Paulus da beschreibt. Er beschreibt es nüchtern, ohne jede Kritik. So sind wir. Theoretisch könnten wir auch anders. Aber praktisch gelingt es uns nicht. Die Corona-Proteste zeigen es uns, und auch, dass eine Debatte um die Triage nötig ist. Offenbar ist es nicht selbstverständlich, dass für alle Erkrankten alles menschenmögliche getan wird, damit sie gesund werden. Weil viele unter Berufung auf ihre Freiheit keine Rücksicht auf andere nehmen wollen, müssen einige fürchten, im Zweifel nicht behandelt zu werden.

Woher kommt dann aber das gute Saatgut? Wer gibt uns den Weizen, den wir am Ende des Jahres ernten? Der Hausherr im Gleichnis, der das gute Saatgut aussät, ist Gott. Jesus erzählt das Gleichnis, um etwas von Gottes Wirklichkeit zu zeigen: „Das Himmelreich gleich einem Menschen, der guten Samen auf seinen Acker säte.” Gott arbeitet unermüdlich daran, dass sein Reich des Friedens, der Gerechtigkeit und der Liebe mitten unter uns wachsen und sich entfalten kann. Wir, seine eifrigen Mägde und Knechte, freuen uns, dass der Weizen, das Reich Gottes, wächst. Voller Sorge sehen wir aber auch das Unkraut unter dem Weizen. Wir sehen das Schlechte, das andere gesät haben und das wir selbst aussäten, und fürchten, es könnte den Weizen überwuchern.

Das Unkraut wächst mitten unter dem Weizen; man kann es aber nicht herausreißen, ohne den Weizen in Mitleidenschaft zu ziehen. Gutes und Böses lassen sich nicht so ohne weiteres trennen. So ist es auch in unserem Leben: Gutes und Böses, Schönes und Schweres, Glück und Leid sind eng miteinander verflochten. Manchmal kann man gar nicht so genau sagen, wo das Schlechte aufhört und das Gute  anfängt. Und im Rückblick relativiert sich auch manches: was schlecht erschien, nahm eine gute Wendung. Und was wir anfangs für eine gute Idee hielten, entpuppt sich im Nachhinein als Fehler.

Erst die Ernte trennt die Spreu vom Weizen. Im Gleichnis wird das Unkraut zuerst eingesammelt. Das entspricht unserer Wahrnehmung: Wir sehen zuerst das Schwere, den Kummer, das Leid. Wir sehen zuerst unsere Fehler, unser Versagen, unsere Schuld. Sie drängen sich in den Vordergrund, verdrängen das Gute, sodass es scheint, als wäre gar nichts Gutes dagewesen. Man muss sich manchmal richtig anstrengen, um hinter all dem Negativen das Gute zu sehen und hervorzuholen.

Darum wird das Unkraut verbrannt: Es soll nicht mehr den Weizen, das Gute, verdrängen, und es soll sich nicht weiter aussäen können. Das Verbrennen hat noch eine weitere Bedeutung: In der Bibel dient das Feuer zur Reinigung - der Goldschmied trennt damit das Silber von der Schlacke.

Leidvolles, Belastendes, Schweres, der Gedanke an eigene Schuld, eigenes Versagen, eigene Fehler lähmen und ziehen einen herunter. Sie verdecken und verdrängen nicht nur all das Schöne. Sie lassen auch, wie eine dunkle Brille, alles grau und farblos erscheinen. So blickt man schon hoffnungslos und trübsinnig auf das neue Jahr, bevor es überhaupt begonnen hat.

Aber wie das Feuer das Silber von der Schlacke trennt, so hilft die Unterscheidung von Gutem und Bösem, von Unkraut und Weizen, das Gute zu sehen und das Böse ins Verhältnis zu setzen. Die Ernte bildet den Rahmen, in dem alles seinen Platz bekommt. Dann kann das Schlechte nicht mehr alles andere verdrängen, sondern bekommt seinen Ort neben dem Guten. Und man erkennt mit einem Mal, dass gar nicht so viel schlecht war, wie man dachte, und dass der Anteil des Guten viel größer war, als man meinte.

Den Rahmen des Gleichnisses bildet das Reich Gottes: Gottes Wirklichkeit umspannt mehr als ein Jahr, sie umfasst unser ganzes Leben. Sie bildet den Rahmen auch unseres Lebens - des Jahres, das gerade vergeht, und des Jahres, das vor uns liegt.

Gottes Wirklichkeit gibt dem, was wir im zurückliegenden Jahr erlebten, sein Maß, und allem, was uns darin widerfahren ist, seinen Platz. Das Schwere, das Belastende, das Leid hat seinen Platz darin, und ebenso das Schöne, Beglückende - so, wie das Unkraut im Gleichnis mitten unter dem Weizen wächst.

Gott selbst sät den guten Samen aus, durch den seine Wirklichkeit im Kommen ist, wie unter der Erde schon die Saat wartet, die im nächsten Frühjahr aufgehen wird.

Und Gott vergibt alle Schuld, jeden Fehler, jede Unzulänglichkeit. Gott hat uns ja so geschaffen: Als Menschen, die menschlich handeln, das heißt: die oft zuerst an sich denken und dann erst an andere; die das Gute wollen, aber das Böse tun, weil sie in der ihnen geschenkten Freiheit  vergessen, zu unterscheiden und mitzufühlen.

Das neue Jahr liegt vor uns, eine weite Fläche Zeit. Wir dürfen darauf vertrauen,  ja, können uns darauf verlassen, dass Gott auch im kommenden Jahr sein Reich des Friedens, der Gerechtigkeit und der Liebe wachsen lassen wird. Und dass wir als seine Mägde und Knechte daran mitarbeiten dürfen, uns freuen dürfen, wie es wächst und wie es sich behauptet gegen alles Unkraut. Wir werden auch im neuen Jahr die Erfahrung machen, dass manches, was wir für Unkraut hielten, gar keines war - man sagt ja auch nicht mehr „Unkraut”, sondern „Wildkraut”. Und dass wir froh sind, dass wir es nicht ausgerissen haben.

„Der aber Samen gibt dem Sämann und Brot zur Speise, der wird euch auch Samen geben und ihn mehren und wachsen lassen die Früchte eurer Gerechtigkeit.” (2.Kor 9,10)

Donnerstag, 23. Dezember 2021

Was die Welt nicht sehen kann

Predigt am 1.Weihnachtstag, 25.12.2021, über 1.Johannes 3,1-2:

Seht, wie große Liebe uns der Vater geschenkt hat,
dass wir Kinder Gottes heißen und es sind.
Deshalb kennt uns die Welt nicht,
weil sie ihn nicht kennt.
Geliebte, jetzt sind wir Kinder Gottes.
Und zugleich ist noch nicht erschienen,
was wir sein werden.
Wir wissen, wenn es erscheinen wird,
werden wir ihm gleich sein,
denn wir werden ihn sehen, wie er ist.


Liebe Schwestern und Brüder,

an Weihnachten gibt es etwas zu sehen. Nein, ich meine nicht „Drei Haselnüsse für Aschenbrödel“ oder „Der kleine Lord“, auch nicht die x-te Wiederholung von „Tatsächlich Liebe” oder „Kevin allein Zuhaus”.

An Weihnachten gibt es das Leuchten in den Augen zu sehen, wenn die Geschenke ausgepackt werden. Und auch hier: Nicht das gierige Flackern, wenn es nicht zu viele Geschenke sein können, wenn sie nicht zu groß oder zu kostspielig sein können. Sondern das Leuchten, das die Liebe auslöst, die man beim Schenkenden spürt. Und zwar eher bei etwas Selbstgemachtem, als bei etwas Gekauftem, und sei es noch so wertvoll.

Auch von Gott bekommen wir an Weihnachten etwas geschenkt, das uns Gottes Liebe zu uns spüren lässt, nämlich, dass wir Gottes Kinder sind: Seine Töchter und Söhne.

Das klingt zunächst wie eine Floskel, und man möchte schon abwinken, ja, ja, Kinder Gottes, ich weiß … Wenn man das Kind einer Berühmtheit wäre oder eines gekrönten Hauptes, wäre das etwas anderes. Da wäre man ziemlich stolz, ihr oder sein Kind zu sein, und würde sich vielleicht sogar etwas darauf einbilden. Aber ist Gott denn nicht mehr, nicht größer als jeder Star und jede Monarchin? Warum empfinden wir da keinen Stolz?

Aber das Wichtigste ist ja gar nicht, dass wir Kinder dessen sind, den jeder kennt, auch wenn nicht jeder vor ihm Respekt hat. Das Wichtigste ist, dass Gott uns liebt, wie Eltern ihre Kinder lieben: unbedingt und unendlich. Und das, obwohl wir gar nicht Gottes leibliche Kinder sind, sondern angenommene Kinder, adoptiert durch die Taufe. Trotzdem stellt uns Gott seinem einzigen Sohn gleich, hat uns kein bisschen weniger lieb als ihn.

Wir gehören zu Gott. Damit gehören wir bereits zu einer anderen Wirklichkeit. Einer, die (wenn das möglich ist) wirklicher ist als die Realität. Weil Gott unsere Wirklichkeit durchdringt. Gott ist hinter den Dingen, Gott steht über den Dingen und ist alles in allem, umschließt alle Dinge, und wir mit ihm. Wir sind dadurch das, was man früher mit dem Wort „cool” bezeichnete: Die Welt kann uns nicht wirklich etwas anhaben, da stehen wir drüber.

Die Welt kann uns nichts anhaben, weil sie uns gar nicht sieht. Nicht, weil sie Gott ignoriert oder Gott nicht wahrhaben will. Wir danken, dass das der Grund wäre. Es ist aber genau andersherum: Es ist nicht so, dass die Welt uns nicht sehen will, sie kann uns gar nicht sehen.

Natürlich sind wir nicht unsichtbar, wir sind ja keine Gespenster.

Aber die Welt sieht nur, was sie sehen kann. Sie sieht uns als Menschen wie alle anderen auch, Menschen, die nichts Besonderes an sich haben, nichts Besonderes sind. Die Welt kann nicht sehen, was wir wirklich sind: Sie sieht nicht, dass wir Kinder Gottes sind. Dadurch verpasst sie die Gelegenheit, Gottes Liebe zu begegnen. Eine Liebe, die um ihrer selbst willen liebt, nicht als Belohnung für Schönheit, Wohlverhalten, Gehorsam oder die richtige Einstellung. Eine Liebe, die jeden Menschen als liebenswert erkennt, weil jeder Mensch von Gott gewollt und geliebt ist. 

Die Welt verpasst auch die Gelegenheit, das zu hören, was Gott über seine Schöpfung und seine Geschöpfe sagte: „Siehe, es war sehr gut”. Das sagt Gott zu einer jeden, einem jeden von uns: „Siehe, du bist sehr gut”. Du bist gut, nicht, weil du etwas kannst, nicht, weil du immer brav bist, nicht, weil du dich anstrengst, gut zu sein. Du bist gut, weil Gott dich liebt. Gottes Liebe macht uns gut.

Wir vergessen das oft. Meinen, wir wären nicht liebenswert, oder wir müssten uns Gottes Liebe erst verdienen oder hätten sie zwischenzeitlich verloren. Wenn wir so denken, werden wir uns selbst unsichtbar. Dann ist noch nicht erschienen, was wir sein werden, obwohl wir schon Gottes Kinder sind und bleiben. Es ist noch nicht erschienen, was wir sein werden, wenn uns das Vertrauen fehlt, dass Gottes Liebe uns meint. Uns so, wie wir sind. Wenn uns das Selbstvertrauen fehlt, uns auf diese Liebe unter allen Umständen zu verlassen.

Es ist aber so, dass Gott uns genauso lieb hat wie seinen Sohn. Wir sind seinem Sohn gleich. Wir sind Gott genauso viel wert, wir sind gleich viel geachtet. Gott wendet für uns die gleiche Energie auf, uns vom Tod zu retten, wie er es für seinen Sohn tat. Wir haben sein Versprechen: Wir werden Jesus sehen, wie er ist. Wir werden ihn sehen als den Auferstandenen, den Lebendigen, sitzend zur Rechten Gottes. Dort wird auch unser Platz sein. Denn es ist nicht so, dass an Gottes Seite nur Platz für eine oder einen wäre. Jede und jeder von uns wird Gott ganz nah kommen, wird Gott ganz nah sein.

Das ist Gottes Geschenk für uns. Nicht nur an Weihnachten, an jedem Tag unseres Lebens. An Weihnachten fällt es uns vielleicht leichter als sonst, Gottes grenzenlose Liebe zu uns zu sehen und  anzunehmen. Weil wir beim Blick in die Krippe uns wiedererkennen. Wir sehen uns gespiegelt in den Augen des göttlichen Kindes und spüren, dass er unser Bruder geworden ist. Wenn Jesus aber unser Bruder wurde, sind wir seine Geschwister. Wenn wir seine Geschwister sind, sind wir Kinder des einen Vaters im Himmel. Dann ist es wahr:

„Seht, wie große Liebe uns der Vater geschenkt hat,
dass wir Kinder Gottes heißen und es sind.”

Zärtlich achtet die Liebe das Kleine

Predigt zur Christvesper am 24. Dezember 2021 über Micha 5,1-4a

Maria mit dem Jesuskind auf dem Arm. Altarschnitzerei aus der Kirche in Kreien.

Liebe Schwestern und Brüder,

vom Frieden auf Erden singen die Engel, die den Hirten auf dem Felde die Geburt des Heilandes verkündigen. Friede auf Erden - ein Wunsch, der allen Menschen gemein ist, über alle Grenzen hinweg. Hinweg auch über alle Unterschiede von Herkunft oder Hautfarbe, von Glaube oder Geschlecht, von Arbeit oder Ausbildung.
Friede auf Erden - an Weihnachten meint man, ihn zu spüren, ihn mit Händen greifen zu können. Er erfüllt unsere Herzen und unsere Gemeinschaft, wir nehmen ihn mit nach Hause, und er erfüllt eine zeitlang auch unsere Stube, ist oft am nächsten Morgen noch zu spüren.

Heute ist der Friede zum Greifen nah. Heute denken wir nicht in Kategorien von Freund oder Feind. Heute wünschen und gönnen wir allen Menschen nur Gutes;  sogar den alten Feinden. Und manche* denkt heute vielleicht: Warum kann es nicht immer so sein? Warum können wir nicht jeden Tag so wohlmeinend, so aufgeräumt, so freundlich und so gut gesinnt sein, wie wir es heute sind?

Woher kommt der Frieden, den wir heute empfinden? Er kommt vom Blick in die Krippe. Wer kein Herz aus Stein hat, schmilzt beim Anblick eines Neugeborenen dahin und wünscht dem kleinen Menschenwesen nur das Beste, ist erfüllt von Güte, Freundlichkeit - und Frieden.
Diesen Blick in die Krippe haben wir getan, als wir die altvertrauten Worte der Weihnachtsgeschichte hörten. Wieder einmal haben sie uns im Innersten berührt. Sie haben uns den Weihnachtsfrieden geschenkt, den wir alle Jahre wieder zu finden hoffen, wenn wir zur Christvesper gehen. Den wir anschließend mit nach Hause nehmen, ihn sorgsam hüten wie die Flamme einer Kerze, die wir in unserer hohlen Hand bergen, damit kein plötzlicher Windstoß sie auslöscht.

Wir haben natürlich nicht wirklich in eine Krippe gesehen. Wir haben uns beim Hören der altvertrauten Worte wahrscheinlich nicht einmal eine Krippe vorgestellt. Trotzdem haben diese Worte uns hinschmelzen lassen, wie uns sonst nur der Anblick eines Kleinkindes hinschmelzen lässt.
Denn sie stellen der uns bedrückenden Wirklichkeit, dem durch Corona eingeschränkten und so stark veränderten Alltag den Engel entgegen, der uns sagt, dass wir uns nicht zu fürchten brauchen.
Sie stellen uns den Engel zur Seite, der allen, die guten Willens sind, den Frieden verkündet.
Und sie stellen uns die Hirten vor Augen, arme, einfache, ungebildete Menschen, die sehen durften - und wir mit ihnen -, wofür Könige ein Vermögen gegeben hätten, wenn sie es hätten sehen dürfen; worauf Generationen von weisen Männern und von mächtigen Politkern vergeblich gewartet haben.

Das Geheimnis der Weihnacht ist nicht geheim. Jede* darf es wissen, jede* kann es sehen: Es ist das verletzliche, schutzbedürftige, liebenswerte Kind in der Krippe.

Ein Kind? Wo ist da das Geheimnis?

Wer so fragt, wird das Geheimnis der Weihnacht nicht erfahren. Um es zu erleben und zu verstehen, muss man sich klein machen, damit man auf Augenhöhe kommt mit dem Kind. Und man muss hinsehen, damit das Herz hinschmelzen kann beim Anblick dieses Kindes. Nur so erlebt und versteht man, dass die Macht dieses Kindes nicht in Gewalt, in Lautstärke oder Einfluss besteht, sondern in der Liebe, mit der es uns berührt und unseren Herzen Frieden schenkt.

Das könnte der Grund sein, warum wir nicht öfter den Frieden empfinden, den wir heute spüren. Warum wir nur an Weihnachten so wohlmeinend, so aufgeräumt, so freundlich und so gut gesinnt sind: Weil uns das göttliche Kind in den restlichen 364 Tagen des Jahres nicht so vor Augen steht wie heute. 

Ein Weg, den Frieden der Weihnacht auch an den anderen Tagen des Jahres, auch im Alltag zu empfinden, könnte deshalb sein, dass wir uns hin und wieder auf Augenhöhe begeben. Nicht herabschauen auf andere, nicht über sie hinweg sehen. Sondern ihnen in die Augen sehen und das verletzliche, schutzbedürftige, liebenswerte Kind entdecken, das diese Menschen einmal waren. Und sie das verletzliche, schutzbedürftige, liebenswerte Kind sehen lassen, das wir noch immer sind.

Ein Weg, den Frieden der Weihnacht ins neue Jahr mitzunehmen, könnte sein, dass wir hinsehen lernen. Lernen, zu sehen, worüber wir bisher hinwegsahen, worauf wir bisher herabschauten, was wir bisher nicht sehen wollten.

Es kann sein, dass die empfindliche Flamme des Friedens trotzdem verlischt. Aber das Kind, das der Friede ist, wird uns ansehen, wenn wir hinsehen. Sein Blick wird die Flamme des Frieden neu  entzünden, an jedem Tag des neuen Jahres, wenn wir es wollen.

Samstag, 18. Dezember 2021

unbefleckte Empfängnis

Predigt am 4. Advent, 19. Dezember 2021, über Lukas 1,26-38

Altar der Kirche in Karbow mit dem Kreuz Christi, unter dem links Maria und rechts Johannes steht.


Liebe Schwestern und Brüder,


Marie, die reine Magd bringt Gottes Sohn zur Welt. Ein schlichter Satz, hundertmal gehört, hundertmal mitgesungen in unterschiedlichen Variationen:

- „Gelobet seist du, Jesus Christ, dass du Mensch geboren bist von einer Jungfrau, das ist wahr; des freuet sich der Englein Schar.”

- „Euch ist ein Kindlein heut geborn von einer Jungfrau auserkorn.”

- „Das Blümlein, das ich meine, davon Jesaja sagt

hat uns gebracht alleine Marie, die reine Magd.”

Ein schlichter Satz, der Widerspruch provoziert und nicht in unser Gottesbild passen will.


Gott will Mensch werden, einer von uns. Nicht wie wir, sondern: ein Mitmensch, ein Nächster. Das geht offenbar nur, wenn er den selben Anfang nimmt wie alles Leben, den selben Anfang wie wir, im Schoß einer Mutter. Um Mensch werden zu können, muss Gott „Fleisch annehmen”, wie es im Bibeldeutsch heißt (vgl. Joh 1,14). Gott braucht eine Mutter, die ihn neun Monate unter ihrem Herzen trägt, ihn ernährt mit ihrem Körper und auch mit ihrer Hoffnung, ihrer Liebe.


Maria ist „Mutter Gottes”. Ein paradoxer Name. Der ewige Gott hat keine Mutter. Er war immer, und er wird immer sein. Und dennoch: Um zur Welt zu kommen, die er doch selbst geschaffen hat, muss Gott geboren werden wie alle Lebewesen. Auch das ein Gedanke, der widersprüchlich ist und nicht in unser Gottesbild passt.


Dort der ewige Gott, der Schöpfer des Himmels und der Erde. Hier wir, endliche Menschen, Gottes Geschöpfe. Wie können die beiden ungleichen Partner zusammenkommen? Wie ist das Verhältnis von Göttlichem und Menschlichem in uns? Kann denn eine Frau Mutter Gottes sein, und welche Voraussetzungen braucht sie dafür? Darüber haben sich Generationen von Theologen die Köpfe zerbrochen. Herausgekommen ist, unter anderem, die Lehre von der unbefleckten Empfängnis Mariens.


Wenn Gott zur Welt kommt, kann das offenbar nicht auf dem Weg geschehen, den alles Leben nimmt, denn Gott ist so ganz anders als wir, ist Schöpfer, nicht Geschöpf. Darum muss die Zeugung anders sein als sonst, muss wunderbar sein. Wie Licht durch Glas dringt, ohne es zu zerstören, so dringt Gottes Geist in Maria ein, ohne eine Spur zu hinterlassen. Daher heißt es im Glaubensbekenntnis: „Geboren von der Jungfrau Maria.” Noch so ein Satz, der Widerspruch weckt und sich mit unserem Gottesbild beißt.


Die Jungfrauschaft Marias allein aber genügt nicht. Das „Gefäß”, das Gott einschließt, muss Gottes würdig sein. Es muss außergewöhnlich und kostbar, außergewöhnlich kostbar sein. Darum wurden und werden für das Abendmahl nur Gefäße aus Silber oder Gold verwendet - oder zumindest Gefäße, deren Oberfläche versilbert oder vergoldet wurde. Leib und Blut Christi sollen nur mit dem Edelsten Material in Berührung kommen.


Deshalb auch wird Maria in der Kunst als wunderschöne Frau dargestellt. Eine „Miss Universum” ist gerade hübsch genug, um Gottes Anspruch zu genügen. Ob das auch Gottes Ansicht ist, hat man sich dabei nicht gefragt, als Männer Marias Aussehen ausmalten und ihr Schönheitsideal zum Maßstab auch für die Gottesmutter machten.


Und schließlich genügt es auch nicht, dass Maria ein Mensch war wie alle anderen. Wenn sie Gott zur Welt bringt, muss sie ein besonderer Mensch sein, ach was, ein Übermensch, eine Wonder-Woman! Deshalb wurde gelehrt, Marias Eltern, Anna und Joachim, seien so fromm gewesen, dass Maria unbefleckt empfangen wurde. Zu deutsch: Was uns als Menschen ausmacht, dass wir einen eigenen Willen haben, dass wir uns manchmal falsch entscheiden, Fehler machen, uns selbst und andere verletzen, dass wir das Gute wollen und das Schlechte tun - all das besaß Maria nicht. Maria war mehr als jeder Mensch, aber sie hatte keine Menschlichkeit, weil sie keine Fehler machen, nichts anderes wollen konnte, als es Gottes Wille für sie war. Das scheint ihre Antwort an den Engel zu bestätigen:

„Siehe, ich bin des Herrn Magd; mir geschehe, wie du gesagt hast.”


Was ist das anderes, als ein sich Ergeben in Gottes Willen? Fast könnte man Resignation aus diesen Worten hören, als wollte Maria sagen: Ich kann ja doch nichts ändern, ich kann mich gegen Gott nicht durchsetzen. Es wird ohnehin geschehen, was Gott will.


Es wird Maria auch viel zugemutet: Sie wird schwanger, ohne verheiratet zu sein - ihr Ruf ist also schon mal ruiniert. Sie kennt den Vater nicht - jedenfalls nicht so, wie man normalerweise den Vater kennt. Und sie ist nicht nur eine Leihmutter für Gottes Kind, sondern zieht es für ihn groß und hat an seinem Schicksal teil. Seinetwegen muss die Familie ins Exil nach Ägypten gehen. Der alte Simeon prophezeit im Tempel: „durch deine Seele wird ein Schwert dringen” (Lukas 2,35). Man kann sich vorstellen, dass das passierte, als Maria ihren Sohn am Kreuz sterben sah.


„Siehe, ich bin des Herrn Magd; mir geschehe, wie du gesagt hast.” Diese Antwort Marias ist mehr als ein sich Fügen in das Unvermeidliche. Sicher, Maria bezeichnet sich als Magd - im Griechischen steht das Wort δούλη, was man sogar mit „Sklavin” übersetzen könnte. Eine Magd hat zu gehorchen. Aber sie hat ihren eigenen Willen. Und wenn der Herr nicht hinsieht, zeigt sie ihm einen Vogel, weil sie sich über ihn geärgert hat; tuschelt und lästert über ihn mit den anderen Mägden. Selbst eine Sklavin hat diese innere Freiheit, auch wenn sie zu ihrem Dienst gezwungen wird.


In dieser inneren Freiheit sagt Maria „Ja” zu der Zumutung, Mutter Gottes zu sein. Ohne dieses Ja, ohne Marias Ja wäre Gott nicht zur Welt gekommen. Das ist entscheidend: Gott wählte nicht den Weg der Gewalt, der Vergewaltigung, wie es die Götter der Griechen und Römer taten und damit Gewalt gegen Frauen zum „Kavaliersdelikt” verharmlosten. Gott wartet auf das Ja Marias, und dieses Ja genügt. Mit diesem Ja kann Gott zur Welt kommen. Weiter ist nichts nötig.


Vielleicht besagt ja der anstößige Satz des Glaubensbekenntnisses von der Jungfrauengeburt nicht anderes, als dass dieses eine Mal kein Mann nötig war - wo Männer sich doch sonst immer für unentbehrlich halten. Damit Gott zur Welt kommt, braucht es keinen Mann, sondern nur ein Ja: „Mir geschehe, wie du gesagt hast.”


Damit braucht es auch keine wunderbaren Eigenschaften auf Marias Seite. Maria muss weder besonders schön noch besonders fromm sein, sie muss nicht auf unvorstellbare Weise sündlos sein, ja, sie braucht nicht einmal eine Jungfrau zu sein. Maria darf ein Mensch sein wir wir alle. Denn dass Maria Gottes Sohn empfängt, ist nicht ihre Leistung, ihre Würdigkeit. Es ist Gottes Tat. Gott entscheidet selbst, wer seiner würdig ist.


Wenn Maria Mensch sein durfte, dürfen wir es auch sein. Und gleichzeitig können wir Ja zu Gott sagen. Denn Gott, der uns geschaffen hat, macht uns seiner würdig. Gott bringt alles mit, Gott gibt uns alles, was es braucht, damit sein Wille auch durch uns Wirklichkeit werden kann. Gott „macht uns ihm genehm”, wie es in einem Morgenlied heißt (EG 452).


Gott kommt zur Welt, auch durch uns, wenn wir seinem Willen zustimmen und ihn tun. So kann es auch dieses Jahr Weihnachten werden, trotz Corona, trotz der Kriegsdrohung an der Grenze der Ukraine, trotz verhungernder Kinder und ertrinkender oder erfrierender Flüchtlinge: Weil Gott uns dazu bewegt, unsere Herzen zu öffnen, unsere Hände und unsere Haustüren, auch die Grenzen unseres Landes zu öffnen, damit er zur Welt kommen kann.

Amen.


Freitag, 10. Dezember 2021

Geheimniskrämer

Predigt am 3. Advent, 12. Dezember 2021, über 1.Korinther 4,1-5:

Man soll uns als Diener Christi

und Verwalter der göttlichen Geheimnisse ansehen.

Daher verlangt man übrigens von den Verwaltern,
dass sie sich als zuverlässig erweisen.

Mir aber ist es einerlei, ob ich von euch befragt werde
oder von einem menschlichen Gericht.
Ja, nicht einmal mich selbst befrage ich.

Ich habe mir nämlich nichts vorzuwerfen,
aber darin bin ich nicht gerechtfertigt.

Wer mich aber befragt, ist der Herr.

Daher richtet nicht vor der Zeit, bis der Herr kommt,

der ans Licht bringen wird, was im Finstern verborgen ist,
und die Absichten des Herzens bekanntmachen wird,

und dann wird jedem Anerkennung zuteil werden von Gott.



Liebe Schwestern und Brüder,


wer bin ich?

Die Frage ist, wenn man sie sich überhaupt stellt -

oder, anders gesagt: wenn man sich ihr überhaupt stellt -

schwer zu beantworten.

Auch deshalb schwer zu beantworten,

weil sofort die andere Frage dazu kommt,

die wir uns vergleichsweise oft stellen:

Was denken die anderen von mir?


Wer bin ich?

Diese Frage ist auch abhängig davon,

in welchem Zusammenhang man sie stellt.

Wer bin ich als Vater oder Mutter?

Wer bin ich als Partnerin, als Partner?

Wer bin ich als Freund*in oder Kolleg*in?

Wer bin ich als Sohn oder Tochter,

als Schülerin oder Schüler?


Wenn man so fragt,

fragt man, wer man für andere

oder im Blick auf andere ist.

Aber wer bin ich für mich?

Lässt sich das überhaupt sagen?

Kann man sich isoliert, unabhängig von anderen betrachten?


Wer bin ich?

Paulus beantwortet diese Frage im Blick auf den christlichen Glauben.

Und weil dieser Glaube keine Privatsache ist,

sondern sich in der Gemeinde abspielt

und zugleich vor den Augen der Welt,

verbindet Paulus in seiner Antwort die beiden Fragen,

wer ich bin, und was andere von mir denken:


Man soll uns als Diener Christi und Verwalter der göttlichen Geheimnisse ansehen.


Diener Christi - das ist wohl keine Bezeichnung,

die wir selbst für uns wählen würden.

Entweder, weil wir das, was wir als Gläubige tun,

nicht als „dienen” verstehen.

Oder weil uns das zu verbindlich ist.

So, als wären wir bei Christus fest angestellt,

während wir den Glauben lieber

als etwas Freiwilliges, Unverbindliches verstanden wissen möchten.


Aber „Verwalter der göttlichen Geheimnisse”?

Auf diese Bezeichnung wären wir selbst nie gekommen.

Was sind überhaupt diese „göttlichen Geheimnisse”?

Es sind die Sakramente - Taufe, Abendmahl -,

und die Beichte, die Vollmacht zu binden und zu lösen,

also die Sünde zu vergeben,

die Jesus seinen Jüngern erteilt hat.

Bei Paulus sind es noch nicht die Pastor*innen,

die die Sakramente verwalten,

die Beichte hören und die Absolution erteilen.

Jede Christin, jeder Christ ist Verwalter der göttlichen Geheimnisse.


Daher verlangt man übrigens von den Verwaltern,
dass sie sich als zuverlässig erweisen.


„Verwalter” und „Diener” sind keine Titel,

auf die man sich etwas einbilden

oder mit denen man sich schmücken könnte

(wenn man das denn wollte).

Es sind Aufgaben, die wir als Christen erfüllen sollen.

Wir tun dies vor aller Augen

und werden danach beurteilt,

ob man sich auf uns verlassen kann.

Das heißt doch wohl nicht,

dass wir Taufe, Abendmahl und Beichte

eifersüchtig vor der Welt verstecken

und die Latte besonders hoch legen sollen für die,

die uns darum bitten.

Sondern genau andersherum:

Sie zu spenden, wenn wir danach gefragt werden.


Nun fragen Sie sich vielleicht:

Wie kann ich als „einfaches Gemeindeglied”

taufen, Abendmahl feiern oder die Beichte abnehmen?

Das darf ich doch gar nicht!

Wir haben uns daran gewöhnt,

diese Aufgaben an die Pastor*innen zu delegieren,

„um der Ordnung willen”, wie Martin Luther betont.

Das heißt aber nicht, dass nicht jede* Getaufte* es auch könnte und dürfte.

Ich denke an die „Babuschki” in der ehemaligen Sowjetunion,

die zuhause viele Kinder getauft

und so den christlichen Glauben im Atheismus bewahrt haben.

Und ich denke an die Seelsorgegespräche,

die jede* von uns schon geführt hat.

Bei solchen Gesprächen haben wir auch Vergebung zugesagt,

wenn auch vielleicht nicht ausdrücklich im Namen Gottes.


Mir aber ist es einerlei, ob ich von euch befragt werde
oder von einem menschlichen Gericht.
Ja, nicht einmal mich selbst befrage ich.


Als Diener Christi und Verwalter,

der öffentlich, vor aller Augen,

mit Gottes Geheimnissen umgeht,

ist man Rechenschaft schuldig.

Unsere eingangs gestellte Frage:

„Wer bin ich?” hat ja auch den Anteil,

dass wir uns fragen, wer wir für andere sind.

Dahinter steht oft die bange Frage:

Bin ich richtig?

Bin ich gut so, wie ich bin?

Oder sollte ich klüger, fleißiger, fröhlicher,

hübscher, schlanker, sportlicher,

ernster, würdevoller, liebevoller,

aufmerksamer, bescheidener, vorsichtiger,

mutiger, frecher, größer oder kleiner sein?


Für einen Diener Christi,

einen Verwalter der göttlichen Geheimnisse,

gelten diese menschlichen Maßstäbe nicht.

Wir sind gut und richtig so, wie wir sind.

Wir sind Gott recht so, wie wir sind.

Das gilt insbesondere gegenüber unseren eigenen Maßstäben,

die manchmal viel strenger und unbarmherziger sind

als die, die von außen an uns angelegt werden.


Ich habe mir nämlich nichts vorzuwerfen,
aber darin bin ich nicht gerechtfertigt.


Wer bin ich?

Die Frage verlangt nach einer Antwort,

die wir uns nicht selbst geben können.

Natürlich können nur wir selbst wissen,

wer wir wirklich sind.

Aber diese Antwort sucht Bestätigung:

Sehe nur ich mich so,

oder bin ich tatsächlich so, wie ich mich sehe?

Diese Bestätigung kann man sich nicht selbst geben.


Diese Bestätigung können einem aber auch nicht die Mitmenschen geben.

Sie urteilen ja nicht unparteiisch,

sondern legen ihre Maßstäbe an uns an.

Selbst, wenn sie nur das Beste für uns wollen,

selbst, wenn sie uns lieben,

sehen sie uns mit ihren Augen.

Das kann sehr wohltuend sein,

wenn einem gesagt wird:

„Ich habe dich lieb” oder

„Du bist die liebste Omi auf der Welt!”

Es kann eine* trösten,

wenn man hören darf:

„Das ist doch nicht so schlimm!” oder

„Ich verzeihe dir.”

Aber es bleibt trotzdem der Rest eines Zweifels.

Man freut sich, aber kann es doch nicht wirklich glauben.


Wer mich aber befragt, ist der Herr.


Das Jüngste Gericht,

der Richterstuhl Gottes,

vor dem wir einmal werden erscheinen müssen,

wirft seine Schatten voraus.

Den Menschen des Mittelalters machte es schreckliche Angst.

Sie gaben buchstäblich ihr letztes Hemd,

um die Strafe zu mildern,

indem sie Ablass kauften,

der ihnen die Zeit im Fegefeuer zu verkürzen versprach.

Denn dass sie in diesem Jüngsten Gericht schuldig gesprochen werden würden,

stand für sie außer Frage.

Ist Gott doch der,


der ans Licht bringen wird, was im Finstern verborgen ist,

und die Absichten des Herzens bekanntmachen wird.


Ein Gott, der das kann:

Der sieht, was wir gern verheimlichen würden

und manchmal sogar vor uns selbst verbergen,

der unerbittlich ans Licht zerrt,

was wir nur im Geheimen zu denken wagen,

ein solcher Gott, der das alles sieht und weiß,

wird doch wohl zutiefst von uns enttäuscht sein.


Daher richtet nicht vor der Zeit, bis der Herr kommt.


Hat Paulus Sorge, dass unser Urteil über uns und andere

zu milde ausfallen könnte, weil wir nicht alle Fakten kennen?

Weil wir in die wahren Abgründe des Herzens

noch gar nicht geblickt haben?


Aber wie kann man nur auf einen solchen Gedanken kommen!?

Würde Gott uns denn zu Verwaltern seiner Geheimnisse machen,

wenn es Zweifel an unserer Eignung gäbe?

Taufe, Abendmahl und Sündenvergebung sind die Heiligtümer unserer Kirche.

Uns sind sie anvertraut,

ohne dass wir gefragt werden,

ob wir uns auch die Hände gewaschen haben,

ob wir „würdig” sind

oder uns ihnen gewachsen fühlen.


Da wir aber auch keinen Grund für Eigenlob haben,

nicht auf die eigene Gerechtigkeit oder Vollkommenheit bauen können,

bleibt nur eines:

Gott selbst macht uns ihm recht.

Mit der Aufgabe gibt Gott uns auch die Fähigkeit,

sie zu lösen.


Und dann wird jedem Anerkennung zuteil werden von Gott.


Paulus spricht von Anerkennung,

nicht von Urteil oder Strafe,

nicht einmal von Kritik.

Paulus geht nicht davon aus, dass wir versagen könnten,

ja, nicht einmal davon, dass an unserem Tun etwas auszusetzen wäre.

Wo es doch mancherlei gäbe,

was wir an uns auszusetzen hätten.

Und auch manch anderer hätte etwas über uns zu meckern,

wenn man ihn fragen würde -

und leider oft auch ungefragt.

Gott aber nicht.

Gott hat nichts als Anerkennung für uns.


Wer bin ich?

Jetzt können wir eine Antwort auf diese Frage geben:

Ich bin Gottes geliebtes Kind.

Ich bin Gott recht so, wie ich bin.

Ich bin Gott so recht, dass ich seine Geheimnisse verwalten darf,

mit anderen Worten:

Die Liebe weitergeben,

mit der Gott uns liebt.

Amen.