Samstag, 14. September 2013

Wunder von unten

Predigt am 16. Sonntag nach Trinitatis, 15. September 2013, über Lukas 7,11-16:

Und es begab sich, dass Jesus danach in eine Stadt namens Naïn ging, und mit ihm gingen seine Jünger und eine große Menge. Als er sich nun dem Stadttor näherte, sieh, da wurde ein Leichnam herausgetragen, der einzige Sohn seiner Mutter, und die war Witwe, und ziemlich viele Einwohner der Stadt waren bei ihr. Als der Herr sie sah, empfand er Mitleid mit ihr und sprach zu ihr: "Weine nicht!" Und trat heran, berührte den Sarg - die Träger aber waren stehengeblieben - und sagte: "Junger Mann, ich sage dir: steh auf!" Und der Tote setzte sich auf und begann zu sprechen, und sie gaben ihn seiner Mutter. Furcht ergriff aber alle, und sie lobten Gott und sprachen: "Ein großer Prophet ist unter uns aufgetreten!", und dass Gott sein Volk besucht habe.

(Eigene Übersetzung)

Liebe Schwestern und Brüder,

manchmal sieht man den Wald vor lauter Bäumen nicht,
wie man so sagt.
Wer den Wald vor lauter Bäumen nicht sieht,
hat sich ablenken lassen von tausend Kleinigkeiten
und sie mit dem verwechselt, worauf es eigentlich ankommt.
Wenn man mal darauf achtet, wird einem erst bewusst,
wie häufig einem das passiert:
Alle Zauberkünstler arbeiten damit, 
dass wir uns so leicht ablenken lassen.
Sie lenken unseren Blick auf die rechte Hand,
während sie in der linken die Münze verschwinden lassen.
Die Werbung arbeitet damit,
gaukelt uns den Schein für das Sein vor.
Und auch im Alltag passiert es uns immer wieder,
dass wir einem Herrn in Anzug und Krawatte mehr trauen
als einem langhaarigen Hippie,
dass wir das vermeintliche Schnäppchen ergattern
und uns hinterher darüber ärgern, wenn das Teil nichts taugt.

Ich habe mal tatsächlich den Wald vor lauter Bäumen nicht gesehen:
da wollte der Förster von mir wissen,
ob die Bäume vor mir gepflanzt seien, oder wild gewachsen.
Am Rand des Waldes sah es so aus,
als ob alles kreuz und quer durcheinander wüchse, also sagte ich:
wild gewachsen.
Der Förster lächelte 
und zog mich ein paar Schritte in den Wald hinein,
da sah ich die Bäume in geraden Linien aufgereiht.
Man muss sich nur die Mühe machen,
ein paar Schritte in den Wald hineinzugehen,
einmal nachzufragen, nachzudenken, genauer hinzusehen:
dann sieht man das, worauf es eigentlich ankommt.

I
Auch das Evangelium des heutigen Sonntages verleitet dazu,
vor lauter Bäumen den Wald nicht zu sehen.
Es legt eine falsche Fährte aus,
auf die man sich nur allzu leicht locken lässt.
Ich meine das Wunder der Totenerweckung.
Natürlich, Jesus wirkt hier ein Wunder:
Mit einer Berührung des Sarges,
mit einem Befehl an den Toten:
"Junger Mann, ich sage dir: steh auf!"
erweckt er den Toten zum Leben.
Und die Menge erschreckt sich und lobt Gott wegen dieses Wunders.

Eine tolle, märchenhafte Geschichte.
Wie wunderbar wäre das, wenn Tote wieder lebendig würden.
Wenn unser Leben ein Happy End hätte.
Jesus, so scheint die Geschichte zu erzählen,
Jesus kann das: er kann Menschen aus dem Tod zurückholen.
Und wenn Jesus das damals konnte,
kann er es auch noch heute - so denken manche.
Die Wundergeschichten der Bibel verleiten uns dazu,
auf ein Wunder zu hoffen, 
so, wie man auf sechs Richtige im Lotto hofft.

Die Enttäuschung vieler Menschen über Gott rührt daher,
dass er sich im entscheidenden Moment zu weigern scheint,
das Wunder zu tun.
Da haben sie ihr Leben lang geglaubt, gebetet,
gespendet, Kirchgeld gezahlt, und nun,
da ein geliebter Mensch schwer krank ist,
bitten sie Gott um das kleine Wunder,
dass dieser Mensch wieder gesund wird,
dass er nicht sterben muss.
Sie bitten nicht einmal für sich, sondern für jemand anderen
- trotzdem wird ihre Bitte nicht erhört.
Gott, für den es ein Leichtes wäre, die Bitte zu erfüllen,
schweigt, greift nicht ein.

Vielleicht schmunzeln wir über einen so naiven Glauben.
Vielleicht erkennen wir aber auch,
dass wir in schweren Momenten des Lebens
ganz ähnlich gedacht haben:
Warum lässt Gott das zu?
Warum greift Gott nicht ein und hilft?

II
Der Predigttext beginnt wie ein Märchen: "und es begab sich ..."
Und sie endet auch so: mit einem Happy End.
Aber dazwischen ist sie gar nicht märchenhaft,
sondern ziemlich realistisch - realistischer, 
als man das von so einer märchenhaften Geschichte erwartet,
als man es an einem Sonntag Morgen hören kann und will.

Denn es wird von einer Beerdigung erzählt.
Eine Witwe hat ihren einzigen Sohn verloren,
der gerade zu Grabe getragen wird.
Die Träger, die mit dem offenen Sarg dem Trauerzug vorangehen,
verlassen eben die Stadt.
Eine Frau hat ihr geliebtes Kind verloren.
Und mit ihm auch ihre Zukunft:
Jetzt hat sie niemanden mehr, der sie versorgt -
ihr Mann ist ja schon tot.

Witwen hatten in der antiken Gesellschaft,
in der es ja noch keine Rentenkasse gab,
eine besonders schwere Stellung.
Die Geschichte von Naomi und Rut zeichnet ein Bild davon:
Naomi muss, als ihr Mann und ihre beiden Söhne sterben,
das Land verlassen, in das sie gezogen sind,
nach Israel zurückkehren, weil dort noch Verwandte leben,
die sie versorgen können.
Rut, ihre Schwiegertochter, kommt mit ihr.
Die beiden Frauen versorgen sich,
indem Rut die Ähren aufsammelt,
die nach der Getreideernte liegengeblieben sind.
Ein armes, ein armseliges Leben.

Deshalb gibt es im Alten Testament allerorten die Mahnung,
sich der Witwen besonders anzunehmen.
"Schafft den Waisen Recht,
führt die Rechtssache der Witwen",
heißt es zum Beispiel bei Jesaja (Jesaja 1,17).
Gott erwartet von seinem Volk,
den Witwen und Waisen zu helfen.
Die ersten Christen nahmen sich besonders der Witwen an
und wurden dafür verspottet,
dass in manchen Gemeinden die Witwen die größte Gruppe waren.

III
Die Geschichte von Rut hat ein Happy End.
Aber für die namenlose Witwe des Evangeliums
ist eine Welt zusammengebrochen.
Sie weiß nicht, wie es weitergehen soll.
Da kommt Jesus und gibt ihr ihren Sohn zurück - ein Wunder!
Aber die Geschichte wird nicht wegen dieses Wunders erzählt.
Denn was nützt es uns, dass Jesus einst dieses Wunder wirkte,
wenn uns solche Wunder heute nicht mehr widerfahren.
Manche meinen, man müsse eben fest und "richtig" glauben,
dann hätte man auch heute noch eine Chance auf ein solches Wunder.
Aber die Chance, dass sie Recht haben,
ist kleiner, als den Jackpot im Lotto zu knacken,
und widerspricht aller unserer Erfahrung.
Wer auf ein Wunder wartet, ist auf dem Holzweg.

Die Geschichte wird aus einem anderen Grund erzählt:
Jesus empfand Mitleid mit der Witwe, heißt es.
Deshalb hilft er ihr.
Und das Volk lobt Gott - nicht, wie man meinen könnte,
wegen des Wunders der Totenerweckung.
Sondern weil Gott in Jesus Stellung bezogen hat:
Gott steht auf der Seite derer, die alles verloren haben,
die keine Zukunft für sich sehen, die von Armut bedroht sind.
Gott ergreift Partei für die Armen, Ohnmächtigen und Rechtlosen.
Davon singt Maria in ihrem Lied, dem Magnifikat:
"Er stößt die Gewaltigen vom Thron
und erhebt die Niedrigen.
Die Hungrigen füllt er mit Gütern
und lässt die Reichen leer ausgehen."
Gott, so erzählt auch unsere Geschichte, ist parteiisch.
Und die Menge erkennt es, sie ruft:
"Ein großer Prophet ist unter uns aufgetreten!"
Die Propheten waren es,
die immer wieder dazu aufriefen,
die Rechte der Witwen und Waisen zu achten
und ihnen zu helfen.
Jesus tritt in ihre Fußtapfen,
mehr noch: er hilft der Witwe,
wie es schon Elia tat (1.Könige 17).

IV
Daran erkennen die Menschen,
dass Gott sein Volk besucht hat.
Gott hat sein Volk besucht -
wer sich ein wenig in der Bibel auskennt,
der oder dem kommt dieser Satz bekannt vor:
"Gelobt sei der Herr, der Gott Israels!
Denn er hat besucht und erlöst sein Volk",
singt Zacharias, als sein Sohn Johannes geboren ist,
Johannes, der später den Beinamen "der Täufer" erhält.

Gott hat sein Volk besucht
in seinem Sohn Jesus Christus,
dessen Geschichte ebenso märchenhaft beginnt wie unsere,
mit den Worten: "Es begab sich aber zu der Zeit ..."
Lukas erzählt viele solcher Geschichten.
Aber er ist kein Märchenonkel, er ist Realist.
Er will seinen Lesern keine heile Welt vorgaukeln.
Ihr Leben hatte, wie unseres, kein Happy End.
Auch sie rettete kein Wunder vor einer schweren Krankheit,
vor dem Verlust eines geliebten Menschen,
vor einem unzeitigen Tod.
Aber das verspricht die Geschichte auch nicht, die Lukas erzählt.

Die Geschichte wird deshalb erzählt,
weil wir durch sie erkennen sollen,
dass Gott sein Volk - uns - tatsächlich besucht hat.
Dass Gott Mitleid mit uns empfindet
und unserem Leben ein Happy End geben will.
Nicht, wie wir es uns wünschen,
in Form eines Wunders,
das alles Böse, alles Leiden einfach ungeschehen macht.
Sondern durch das Wunder der Auferstehung seines Sohnes,
die den Tod besiegt hat.
Am Ende unseres Lebens wartet - - - Leben auf uns.
Mit anderen Worten: Wer wir sind, was uns ausmacht,
ist unzerstörbar. Nichts und niemand kann uns zunichte machen.
Das ist unsere Lebensversicherung.

Vor allem aber wird dieses Geschichte erzählt 
weil Jesus Mitleid mit der Witwe empfindet.
Als Schwestern und Brüder Jesu,
die in seinen Fußtapfen gehen,
will diese Geschichte uns zum Mitleiden ermuntern
mit Menschen, denen die Zukunft genommen wurde,
die keine Hoffnung mehr haben, keinen Ausweg mehr sehen.
Wenn wir uns ihnen zuwenden,
sehen sie einen Moment den Himmel offen.
Dann blitzt für einen Moment Gottes Reich auf.
Durch uns spüren sie, dass Gott bei ihnen ist.

V
Wir sind einander wie Jesus,
wenn uns das Leiden des anderen nicht egal ist.
Und so, wie wir uns anderen zuwenden,
erfahren auch wir, dass wir anderen nicht egal sind.
Das ist das eigentliche Wunder,
es geschieht immer wieder
und macht Menschen Mut, gibt ihnen Kraft zum Leben.

"Was steht ihr da und seht zum Himmel?",
fragen die Engel die Jünger bei der Himmelfahrt Jesu.
Statt auf ein Wunder vom Himmel zu warten,
sollen wir erkennen, dass wir es selbst in der Hand haben,
das Wunder geschehen zu lassen.
Nicht wie die Zauberkünstler mit ihren Tricks.
Sondern wirklich und wahrhaftig so,
dass wir uns an die Seite derer stellen,
die keine Lobby haben, die vergessen, übersehen werden,
und die wir dadurch aufrichten.
Durch uns erfahren sie, dass Gott an ihrer Seite ist.
In unseren Augen, die sie ansehen und anlächeln, 
spiegelt sich für sie der Himmel.
Amen.