Samstag, 19. November 2022

dem wahren Leben begegnen

Predigt am Ewigkeitssonntag, 20. November 2020, über Markus 13,28-37

Altar mit Kerze und Kreuz, das seinen Schatten an die Wand wirft. Schweriner Dom, Thomaskapelle


„An dem Feigenbaum lernt ein Gleichnis:
Wenn seine Zweige saftig werden und Blätter treiben,
so wisst ihr, dass der Sommer nahe ist.”

Liebe Schwestern und Brüder,

es hat Anzeichen gegeben: die Portionen wurden kleiner, der Appetit geringer. Zum Essen fehlte die Lust, es wurde mühsam und beschwerlich. Happen für Happen musste gereicht werden. Nichts schmeckte mehr, nichts weckte mehr den Appetit, nicht einmal das Leibgericht. Der Körper wurde schmaler, leichter, weniger.
Die Beweglichkeit ließ nach, auch die Lust, sich zu bewegen. Der Körper versteifte sich. Es wurde schwer, ihn anzuziehen oder die Kleidung zu wechseln.
Das Interesse ließ nach. Was vor sich ging, wurde kaum wahrgenommen. Roman, Zeitung oder Zeitschrift blieben ungelesen. Fernsehen oder Radio spielten, aber sie spielten keine Rolle mehr. Vertraute, nahe Menschen wurden nicht mehr erkannt. Nur manchmal blitzte etwas auf, so etwas wie ein Erkennen, ein Lächeln.

Die Anzeichen waren da. Besucher:innen erschraken, wie schnell der Verfall voranschritt. Wie groß waren die Veränderungen gegenüber dem letzten Besuch! Wie belastend, den Menschen so zu sehen, den man ganz anders in Erinnerung hatte und nun kaum wiedererkannte. Wie belastend, diesen Menschen so leiden zu sehen!
Man selbst sah sie auch, die Anzeichen. Jeden Tag wurde man damit konfrontiert. Und sah sie doch auch wieder nicht. Der geliebte Mensch war ja noch derselbe, trotz aller Veränderungen, die mit ihm vorgingen. Man war ihr, war ihm so nah wie immer, auch ohne Worte. Die Nähe, die über so lange Zeit selbstverständlich gewesen war, blieb selbstverständlich, auch wenn man Handgriffe tun musste, die man sich in guten Zeiten nicht hatte vorstellen können.

Darum kommt der Tod überraschend. Der Tod, den Außenstehende schon lange hatten kommen sehen. Den man selbst kommen sah. Aber man wollte ihm nicht nachgeben. Man wehrte ihn ab, versuchte, was möglich war, um ihn noch einen Tag, eine Woche fernzuhalten. 

„Ebenso auch, wenn ihr seht, dass dies geschieht,
so wisst, dass er nahe vor der Tür ist.”

Wer einen sterbenden Menschen begleitet, macht sich keine Illusionen und hält dennoch die Hoffnung  fest, dass der andere, die andere noch nicht gehen muss, dass man noch Zeit hat. Wie gut, dass man nicht weiß, wann es soweit ist! Und auch wie quälend, von Tag zu Tag zu bangen und nicht zu wissen, ob der heutige Abschied schon ein endgültiger ist.

Mit einem Menschen, der stirbt, stirbt eine ganze Welt: ihre oder seine Welt, von der wir ein Teil waren und die ein Teil unserer Welt war. Es stirbt die Welt, die dieser Mensch geschaffen hat mit seinen Geschichten und Träumen, mit dem, was er oder sie aufgebaut, gestaltet hat, was er oder sie weitergab an Partnerin oder Partner, an Schüler:innen, an Kinder und Enkel. Und es stirbt die Welt, die dieser Mensch war: die Vielfalt seiner oder ihrer Gedanken, Erfahrungen,  Wünsche und Erinnerungen, von denen wir nur den geringsten Teil kannten. Wenn der geliebte Mensch nicht mehr da ist, bemerkt man erst, wie wenig man von ihr, von ihm wusste.

„Himmel und Erde werden vergehen; 
meine Worte aber werden nicht vergehen.”

Jesus erzählt seinen Jüngern vom Ende der Welt. Mit dem Ende der Welt ist, worunter wir leiden - die ungerechte Verteilung von Arm und Reich; der Verfall und die Zerstörung von Schönheit, von unserer  Umwelt; Krankheit, Einsamkeit, Selbstzweifel; die Ungewissheit, was wahr ist - ist all das nicht mehr da.
Nicht mehr da ist auch das, was uns erfüllt und glücklich macht: die Musik, die unsere Seele berührt, Geschmäcker und Gerüche, die uns neue Welten eröffnen, die Schönheit, die wir sehen, die Phantasie, die uns eigene Welten erschaffen lässt und das wunderbare Gefühl der Nähe des geliebten Menschen.

Mit dem Ende der Welt ist zuende, was wir „Leben” nennen, und was das Leben für uns lebenswert macht. Aber das Leben ist nicht zuende. Etwas Neues beginnt: Das Reich Gottes, von dem Jesus erzählte. Ein Reich des Friedens und der Gerechtigkeit. Ein neuer Himmel und eine neue Erde, in der es kein Leid gibt, keinen Schmerz, kein Geschrei und auch nicht den Tod. Das Paradies.

Das Reich Gottes ersehnten und ersehnen sich viele. Oft, aber nicht nur, wenn sie unter schlimmen Verhältnissen leiden. Viele Christinnen und Christen konnten es kaum erwarten, endlich Gott von Angesicht zu Angesicht zu sehen, endlich nicht mehr nur glauben zu müssen, sondern zu wissen, zu erleben, was man geglaubt hat. „Ich freue mich auf meinen Tod”, heißt es in einer Kantate von Johann Sebastian Bach. Und ein Lied aus dem Gesangbuch für das Ende des Kirchenjahres lautet:

„Jerusalem, du hochgebaute Stadt, wollt Gott, ich wär in dir!
Mein sehnend Herz so groß Verlangen hat und ist nicht mehr bei mir.
Weit über Berg und Tale, weit über Flur und Feld
schwingt es sich über alle und eilt aus dieser Welt.”

Aus diesen Worten spricht kein Lebensüberdruss. Der Sänger ist nicht lebensmüde, sondern sehnt sich nach einer Welt, in der es keinen Verlust, keinen Abschied, keine Trauer, kein Leid, keine  Missverständnisse und keine Konflikte, keinen Verfall und keinen Tod mehr gibt. Wer sehnte sich nicht danach!

Um diese Welt zu erreichen, muss man nicht den Tod herbeisehnen und dafür muss man auch nicht sterben. Jesus predigte denen, die ihm nachfolgten: „das Reich Gottes ist nahe herbei gekommen.” In Jesus war es gegenwärtig, wo Blinde wieder sehen konnten, Lahme gehen und den Armen das Evangelium gepredigt wurde.

Es ist noch heute gegenwärtig. Hier, mitten unter uns. Weil Jesus versprochen hat: „Wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen.” Jesus ist da - aber wir sehen ihn nicht. Wie soll das Reich Gottes mitten unter uns sein, wenn davon nichts zu sehen, nichts zu spüren ist?

„Seht euch vor, wachet! Denn ihr wisst nicht,
wann der Herr des Hauses kommt.”

Wie niemand die Stunde seines Todes kennt, so wissen wir auch nicht, wann uns das wahre Leben begegnet. Wir wissen nur, dass es jederzeit passieren kann. Jesus, das wahre Leben, begegnet uns, wenn und wo Menschen in Jesu Namen zusammenkommen. Darum gilt es, wachsam zu sein, und das heißt: Aufmerksam für den Menschen neben mir. Denn wer weiß: In ihr, in ihm könnte mir Jesus, das Leben selbst, begegnen.

Man weiß es immer erst hinterher.
Die beiden Jünger, die Jesus beim Abendmahl in Emmaus erkannten, vergewissern sich: „Brannte nicht unser Herz in uns?” Daran hätten sie es merken können. Aber man merkt es nicht, wenn es geschieht. Gott verhüllt sich im Geheimnis. In diesem Leben können wir ihn nicht sehen. Wir können ihn nicht begreifen, nicht wissen, nur glauben.

Doch wenn wir auch nichts fühlen von Gottes Macht, seine Nähe nicht spüren, wie wir die Nähe des geliebten Menschen spüren: Gott ist da. Und mit ihm sein Reich, diese ganz andere Wirklichkeit, die uns alle erwartet: Die, von denen wir Abschied nehmen mussten, und auch uns. Gottes Reich strahlt auf in unserer Wirklichkeit. Dadurch wirft es ein neues Licht auf unsere Welt, ein neues Licht auf unsere Mitmenschen und auf uns. Wir sehen, was wir, was sie in Gottes Augen sind: seine über alles geliebten Kinder. Wir sehen, was die Welt in Gottes Augen ist: seine Schöpfung, von der er sagt: Sie ist sehr gut.

In diesem neuen Licht wird alles verwandelt. Trauer und Schmerz verwandeln sich in Dankbarkeit. Hoffnungslosigkeit verwandelt sich in Möglichkeit. Angst verwandelt sich in die Zuversicht, dass Gott uns niemals allein lässt. Feinde verwandeln sich in Mitmenschen, Fremde in unsere Schwestern und Brüder. Auch wir selbst werden verwandelt in diesem Licht. Wir sehen uns neu. Ohne die Schuld, die uns belastete. Ohne die Fehler, die Unzulänglichkeiten, für die wir uns schämten. Wir sehen, dass wir schön sind. Und dass wir geliebt werden. Über alle Maßen geliebt.

Die Anzeichen sind da. In einem Lächeln. Einem Wort, das uns trifft. Einer unverkennbaren Geste. In Brot und Wein. Manchmal fragen wir uns: „Brannte nicht unser Herz in uns?” Dann wissen wir: Er war da. Wir waren ihm ganz nah. Sein Reich ist mitten unter uns.

Amen.

Mittwoch, 16. November 2022

bereit sein ist alles

Ansprache am Buss- und Bettag, 16.11.2022, über Offb 3,1-6:

1 Und dem Engel der Gemeinde in Sardes schreibe: Das sagt, der die sieben Geister Gottes und die sieben Sterne hat: Ich kenne deine Werke, dass du den Ruf hast, du lebst, aber du bist tot. 2 Werde wach und stärke den Rest, der im Begriff steht zu sterben. Denn ich habe deine Werke nicht fertig vor meinem Gott gefunden. 3 Erinnere nun, was du empfangen und gehört hast und bewahre es und bekehre dich! Denn wenn du nicht wach bist, werde ich kommen wie ein Dieb, und du weißt nicht, zu welcher Stunde ich zu dir komme. 4 Aber du hast einige Leute in Sardes, die ihre Kleider nicht befleckt haben und die mit mir wandeln werden in weißen Gewändern, denn sie sind würdig. 5 Wer überwindet, der wird bekleidet werden mit weißen Gewändern, und sein Name wird nicht ausgelöscht aus dem Buch des Lebens. Und ich werde seinen Namen bekennen vor meinem Vater und vor seinen Engeln. 6 Wer Ohren hat, höre, was der Geist den Gemeinden sagt! 

Ernst Barlach, Engel, im Barlach-Haus in Güstrow

Liebe Schwestern und Brüder,

harte, schwer erträgliche Worte sind das: „Ich kenne deine Werke, dass du den Ruf hast, du lebst, aber du bist tot.” Gerichtet sind sie an eine Gemeinde in einer Stadt, die es nicht mehr gibt. Sardes lag im Westen der heutigen Türkei, an einer wichtigen Straße zum ägäischen Meer. Warum sollten uns Worte kümmern an eine Gemeinde, die schon lange nicht mehr existiert?

Man könnte auch anders fragen: Warum sprechen uns diese Worte heute noch an, obwohl sie gar nicht uns gelten?

Sie haben sicher schon einmal ein Gespräch mit angehört, in dem über Sie geredet wurde, ohne dass die Gesprächspartner wussten, dass Sie dabei waren. Es ist unangenehm, Zeuge eines solchen Gespräches zu werden. Denn selbst, wenn nur Gutes gesprochen wird: Es wird über einen geredet, nicht mit einem. Wenn aber Schlechtes erzählt wird, verletzt einen das ganz besonders. Mehr, als wenn einem die Kritik direkt ins Gesicht gesagt würde. Man trägt es lange mit sich herum, denkt viel darüber nach - ob es stimmt, was sie an einem kritisieren. Oder wie sie darauf kommen, so etwas von einem zu denken.

Wir werden Zeugen eines Gespräches zwischen zweien, die über einen Dritten sprechen, den es heute nicht mehr gibt. Trotzdem fühlen wir uns angesprochen. Wir fühlen uns angesprochen, weil in diesem Gespräch Dinge verhandelt werden, die auch uns betreffen: Das Buch des Lebens, in dem auch wir geschrieben stehen wollen.
Die Ermahnung, wach zu sein - das erinnert an die sieben törichten und die sieben klugen Jungfrauen, die auf den Bräutigam warteten, der sich verspätet hatte. Als er endlich kommt, sind sieben bereit. Die anderen sieben sind es nicht und dürfen nicht zur Feier.
Es erinnert an die Jünger im Garten Gethsemane, die Jesus bat, mit ihm zu wachen; aber sie konnten die Augen nicht offenhalten.
„Du lebst, aber du bist tot” - diese Formulierung erinnert an das Gleichnis vom Verlorenen Sohn, über den der Vater sagt: „dieser mein Sohn war tot und ist wieder lebendig geworden.”

All diese Dinge kreisen um die Frage: Wie bleibt man mit Gott in Beziehung? Eine Beziehung, die eng verbunden ist mit unseren zwischenmenschlichen Beziehungen. In der Art dieser Beziehungen zeigt sich, wie es um unsere Gottesbeziehung bestellt ist.

„Du hast den Ruf, du lebst, aber du bist tot.” Der Tod, von dem hier die Rede ist, ist der soziale Tod: die Beziehungslosigkeit. Als der verlorene Sohn, der sich sein Erbe auszahlen lässt, noch Geld in der Tasche hat, hat er viele Freunde, die sich gern von ihm einladen und aushalten lassen. Als aber das Geld vertan ist, verliert er auch die angeblichen Freunde. Er ist ganz allein. So allein, dass es niemanden gibt, der ihm etwas zu essen geben will, ja nicht einmal jemanden, der ihm Schweinefutter anbietet.
Zum Glück ist es bei uns anders! Wir haben unsere Familie, Partnerin oder Partner, Geschwister, Kinder, Eltern. Wir leben in einem sozialen Netz, das uns hält.

Doch wenn wir in Beziehung zu den Menschen stehen, die wir lieben und die uns lieben, denen wir oder die uns verpflichtet sind, bedeutet das noch nicht, dass auch mit unserer Gottesbeziehung alles zum Besten steht: „Wenn ihr liebt, die euch lieben, was werdet ihr für Lohn haben?”, fragt Jesus (Matthäus 5,46-47). „Tun nicht dasselbe auch die Zöllner? Und wenn ihr nur zu euren Geschwistern freundlich seid, was tut ihr Besonderes? Tun nicht dasselbe auch die Heiden?“ 

Um mit Gott in Beziehung zu sein, ist mehr nötig. Wachheit ist gefragt. Ein Wachsein, das jederzeit damit rechnet, das Jesus kommt. Denn Jesus kommt überraschend und dann, wenn man nicht darauf vorbereitet ist, wenn man ihn am wenigsten erwartet. Wie bereitet man sich auf einen Besuch vor, den man nicht planen kann?
Wenn man normalerweise Besuch erwartet, räumt man auf, bezieht das Gästebett, legt Handtücher heraus und kauft ein.
Wenn man Jesus erwartet, achtet man auf seine Mitmenschen, seine „Nächsten”, wie es im Gebot heißt „Liebe deine:n Nächste:n wie dich selbst.”

Die oder der Nächste, das sind nicht die Menschen, die uns am nächsten stehen - die Familie, die Freunde, der oder die Liebste. Wie Jesus im Gleichnis vom Barmherzigen Samariter zeigt, sind unsere Nächsten die Menschen, die uns buchstäblich vor die Füße gelegt werden. Menschen, die wir nicht kennen. Fremde, um die wir normalerweise sogar einen Bogen machen würden.

Auf das Kommen Jesu bereitet man sich also vor, indem man die Augen aufhält nach Menschen, die bedürftig und in Not sind, wie der verlorene Sohn. Menschen, von denen Jesus sagt: „Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Schwestern und Brüdern, das habt ihr mir getan.”
Wer Jesus erwartet, hält sich bereit für andere, denn in diesen Anderen, Fremden begegnet uns Jesus selbst.

Wir wissen, dass wir für unsere Nächsten bereit sein sollen. Denn wir waren selbst schon in ihrer Lage und haben uns gewünscht, jemand wäre bereit für uns, wäre da, als wir Hilfe brauchten. Deshalb fühlen wir uns angesprochen von Worten, die vor fast 2.000 Jahren an eine Gemeinde geschrieben wurden, die es heute nicht mehr gibt, und die doch heute noch genauso aktuell sind wie damals.

Amen.


Sonntag, 13. November 2022

Wir Protestant:innen

Predigt am Vorletzten Sonntag des Kirchenjahres, 13.11.2022, über Lukas 18,1-8

Ehrenmal in Glasgow zum Gedenken an die Bürger Glasgows, die während des spanischen Bürgerkrieges 1936-1939 gegen die Faschisten kämpften.

„Jesus sagte seinen Jüngern ein Gleichnis davon,
dass man allezeit beten und nicht nachlassen sollte.”

Liebe Schwestern und Brüder,

allezeit beten und nicht nachlassen - sieht so ein gottgefälliges Leben aus? Und wenn ja, wie kriegt man das hin, immer zu beten und niemals nachzulassen? Die Lösung für unablässiges Beten, auf die man im Christentum sehr früh gekommen ist, war das Leben im Kloster: Siebenmal am Tag und einmal des Nachts kam man dort zum Gebet zusammen. Doch selbst eine Nonne, ein Mönch müssen mal essen oder schlafen. So wird es nichts mit dem allezeit Beten.

Man kann sich damit behelfen, dass man sagt: Das ganze Leben ist Gebet. Das Leben wird zum Gebet, wenn man sein Tun auf Gott ausrichtet; wenn alles, was man tut, im Namen Gottes geschieht. Aber man scheut sich, tatsächlich alles, was man so tut, unter den Begriff des Gebets zu fassen.

Doch wir sind auf der richtigen Spur, wenn wir das Gebot, allezeit zu beten, nicht als eine Anweisung für ein Handeln verstehen, das man nicht verwirklichen kann, sondern als eine Lebenshaltung. Was für eine Haltung das ist, erklärt Jesus mit Hilfe seines Gleichnisses:

Hartnäckig sein.
Anderen auf die Nerven gehen.
Anderen zur Last fallen.

Nicht unbedingt das, was man mit Gebet in Verbindung bringen würde. Unter Gebet versteht man innige Versenkung, den scheuen und ehrfürchtigen Kontaktversuch mit dem Numinosen.

Das hartnäckige Schreien eines Säuglings, das Gebrüll der Montagsdemonstranten erwecken nicht den Eindruck, dass hier gerade gebetet wird.

Natürlich spielt der Adressat eine Rolle. Das Baby wendet sich an Mutter oder Vater, die Demonstranten gegen „die Regierung”. Das Gebet richtet sich an Gott. Und so, wie Jesus es durch sein Gleichnis beschreibt, ist Beten kein demütiges, zurückhaltendes, stilles Bitten. Es ist ein forsches, hartnäckiges, penetrantes Fordern des Rechts von dem, der es durchsetzen kann.

Die forsche Art, in der die Witwe den Richter nervt, steht im Widerspruch zu ihrer sozialen Stellung. Als Witwe hatte sie in der antiken Gesellschaft nichts zu melden, hatte weder Rückhalt noch Rechte - deshalb bedrängt sie ja den Richter, er solle ihr Recht verschaffen.

So drängen heute Jugendliche auf Gehör, die sich als „last Generation” verstehen, weil sie womöglich die Letzten auf Erden sein werden, wenn wir nicht endlich etwas gegen den Klimawandel unternehmen. Doch anstatt ihre Forderungen anzuhören und zu prüfen, werden sie kriminalisiert. Man stellt sie in die Ecke von Gewalttätern. So geht ihr berechtigtes und so wichtiges Anliegen unter.

Auch die Witwe wird kriminalisiert. Der Richter phantasiert, dass sie ihm Gewalt antut: „dass sie nicht zuletzt komme und mir ins Gesicht schlage.” Hier geht es nicht um die eher symbolische Backpfeife, mit der Frauen in amerikanischen Spielfilmen unverschämte Männer in ihre Schranken weisen. Das griechische Wort ὑπωπιάζω [hypopiádzo] stammt aus der Boxersprache und bedeutet „ein blaues Auge hauen”. Der Richter traut der doppelt schwachen Witwe - schwach durch ihre Zuordnung zum sogenannten „schwachen Geschlecht”, und schwach in ihrer gesellschaftlichen Stellung - eine ausgesprochen harte Rechte zu.

Diese Gewalt bringen wir nicht mit dem Gebet zusammen. Die Geste des Händefaltens, die aus dem höfischen Zeremoniell der Unterwerfung unter den Lehnsherren stammt, zeigt Waffen- und Gewaltlosigkeit an. Durch die quasi gefesselten Hände demonstriert man die Bereitschaft, sich dem Herrn unterzuordnen und auszuliefern. Die Geste der gefalteten Hände ist also das genaue Gegenteil zur geballten Faust der Witwe.

So, wie Jesus die Haltung des Gebetes in seinem Gleichnis beschreibt: als forsches, selbstbewusstes Auftreten, das um sein Recht weiß und es lautstark einfordert, bringt er uns in eine doppelte Verlegenheit: Wir sind es nicht gewohnt, so vom Gebet zu denken. Wir sind es auch nicht gewohnt, so von Gott zu denken: dass Gott Recht verschafft, wenn man nur penetrant genug ist.

Denn das Unrecht schreit zum Himmel. Es schreit zum Himmel seit Menschengedenken. Es schreit heute zum Himmel und wird es morgen und wohl auch in Zukunft noch tun. Das Unrecht schreit zum Himmel, weil wir Menschen so sind, dass wir Schwächere ausnutzen, übervorteilen, zur Seite drängen. Weil es unter uns Menschen gibt, um die niemand trauert, deren Leben nicht zählt und die deshalb als entbehrlich gelten. Menschen, die in Heime abgeschoben werden. Menschen, die im Mittelmeer ertrinken. Menschen, die im Sahel verhungern.

200 Milliarden Euro stellt die Bundesregierung zur Verfügung, damit unsere Mitbürger:innen, damit wir in diesem Winter nicht frieren müssen, nicht ohne Strom dastehen, die Wohnung nicht verlieren. Viel Not wird damit gelindert oder sogar verhindert. Doch selbst, wenn die 200 Milliarden nicht ausgezahlt würden, müsste in unserem Land niemand verhungern oder erfrieren. In der Sahelzone könnte man mit einem Bruchteil dieser Summe den Hungertod aller dort lebenden Menschen verhindern.

Ein anderes Beispiel: Auf der Weltklimakonferenz haben die reichen Länder bereits im Jahr 2020 versprochen, gemeinsam 100 Milliarden Dollar zusammenzutragen, um damit den ärmeren Ländern des globalen Südens zu helfen, die Folgen des Klimawandels zu tragen, ihnen die Umstellung auf ein klimafreundlicheres Wirtschaften zu ermöglichen. Bis heute ist dieses Geld nicht zusammengekommen. Dabei ist das nicht einmal der Betrag, den unser Land allein für seine Bürger:innen als „Doppelwumms” locker macht.

Das Unrecht schreit zum Himmel. Wir aber scheinen taub gegen dieses Geschrei zu sein. Und wir denken, Gott müsse auch so sein. Genauso hartherzig und kaltschnäuzig. Denn Gott verschafft den Schwachen nicht ihr Recht. Gott hört und sieht scheinbar ungerührt, wie das Unrecht zum Himmel schreit. Wie Menschen vereinsamen, ertrinken, verhungern und die Welt vor die Hunde geht.

„Sollte Gott nicht auch Recht schaffen seinen Auserwählten,
die zu ihm Tag und Nacht rufen,
und sollte er bei ihnen lange warten?”

Das ist eine rhetorische Frage. Natürlich wird er ihnen Recht schaffen. Gott lässt die, die ihn bitten, nicht warten: „Ich sage euch: Er wird ihnen Recht schaffen in Kürze.”

Bemerkenswert an dieser rhetorischen Frage ist, wer die Auserwählten Gottes sind: Die Auserwählten Gottes, das sind die, die Tag und Nacht zu ihm rufen.

Also nicht wir.

Sondern die Witwen und Waisen, die Armen und die Fremden, für die Gott quer durch die ganze Bibel eintritt, deren Rechte er immer und immer wieder einfordert, auch von uns.
Und man darf wohl ergänzen: Auch die Angst haben vor Krieg; Frauen, die sich gegen Bevormundung und Unterdrückung wehren; Jugendliche, die um ihre Zukunft, die Zukunft unseres Planeten bangen. Auch die Schöpfung seufzt und ängstigt sich.

Jetzt kommen wir dahinter, was Jesus mit diesem Gleichnis bezwecken will.

Wenn Jesus uns, seinen Jünger:innen, dieses Gleichnis erzählt, wer sind wir dann, Witwe oder Richter?

Jesus mutet uns zu, dass wir uns in der schwachen, hilfsbedürftigen Witwe wiederfinden, die sich ihr Recht nicht selbst verschaffen kann. Jesus mutet uns zu, dass wir uns in ihr wiedererkennen - und damit auch in den Armen, den Fremden, den an den Rand Gedrängten, den wegen ihres Geschlechts oder ihrer Hautfarbe nicht Gleichberechtigten, kurz: denen, die als entbehrlich gelten. Die niemand betrauern würde, wenn sie nicht mehr da wären.

Erkennen wir uns wieder in ihnen, dann erkennen wir an, dass sie ein Recht auf Leben haben, ein Recht auf Glück und Erfüllung, wie wir. Wir erkennen, dass sie wertvoll sind. Einzigartig. Unentbehrlich, wie wir. Wir erkennen uns in ihnen wieder und bemerken mit einem Mal: wir würden um sie trauern, wir würden sie vermissen, wenn sie nicht mehr da wären.

Erkennen wir uns in ihnen wieder, erkennen wir an, dass auch wir bedürftig sind: Bedürftig der Liebe und Anerkennung anderer. Abhängig davon, dass das System der Gesellschaft funktioniert - dass wir Handyempfang, Internet, Strom, Wasser, Wärme haben, einkaufen können, ärztlich versorgt, geschützt werden. Wir sind abhängig von der Natur, vom Klima. Wir brauchen einander. 

Und darum sind wir nicht anders, nicht besser als die Witwe und die zahllosen Schwachen und Bedürftigen dieser Welt. Wir sind wie sie. Dieses Wissen ist unsere Stärke. Diese scheinbare Schwachheit: Dass wir aufeinander angewiesen sind, und dass wir auf Gott angewiesen sind, ist unsere eigentliche, unsere wahre Kraft.

Gemeinsam mit allen anderen Schwachen und Angewiesenen schreien wir das Unrecht gen Himmel. Liegen Gott in den Ohren, dass er ihnen Recht verschaffe. Indem wir so hartnäckig und penetrant das Unrecht anklagen, verändern wir die Welt. Denn wer gegen das Unrecht aufsteht, wird selbst keines begehen wollen. Wer für das Recht aller auf Leben, auf Glück eintritt, wird selbst niemanden als entbehrlich ansehen. Wer den Klimawandel verhindern will, wird Schritte ergreifen wollen – zum Beispiel freiwillig Tempo 120 fahren, wie es die Synode der EKD vorgeschlagen hat.

Der Theologe Christoph Blumhardt hat einmal gesagt: „Christ:innen sind Protestleute gegen den Tod.” Protest: Das ist die Form des Gebetes, die Jesus uns lehren will. Darum heißen wir „Protestanten”. Und darum sind unsere Kirchen, unsere Gemeinden heute wichtiger denn je: Weil hier das Leben gegen den Tod protestiert, gegen die Bedrohung des Lebens durch Krieg, durch Hunger, durch Klimawandel, durch Egoismus und Hartherzigkeit. Hier, in unserer Gemeinde tragen wir das Unrecht, das auf der Welt geschieht, zum Himmel. Und wir wissen, dass Gott es hört und uns erhört.

Wir Protestant:innen sind heute wichtiger denn je. Die Welt, unser Land, die Menschen unserer Stadt brauchen unseren Protest. Unseren Einspruch für die Schwachen, die Entbehrlichen, für unsere bedrohte Schöpfung.

Und wir brauchen die Erkenntnis, dass wir für uns selbst eintreten, wenn wir unsere Stimmen für andere erheben. Denn wir sind wie sie, und wir sind nichts ohne sie. Wir können nicht ohne sie sein. Wir können nicht ohne Gottes Schöpfung sein.

Darum erheben wir unsere Stimmen und lassen niemals nach. Das ist das Beten, das Jesus von uns will. Amen.