Sonntag, 29. Januar 2023

Glaube und Alltag

Predigt am letzten Sonntag nach Epiphanias, 29. Januar 2023, über Matthäus 17,1-9

Liebe Schwestern und Brüder,

was macht ein Leben aus? Was macht ein Leben zu einem guten, einem erfüllten Leben? In dieser Frage sind wir alle Expert:innen. Entweder, weil wir ganz zufrieden sind mit unserem Leben. Oder weil wir gerade unzufrieden sind, ganz genau wissen, was uns fehlt, was sich ändern müsste.

Was macht ein Leben aus? Diese Frage lässt sich erst im Nachhinein beantworten. Erst im Rückblick auf gelebtes Leben stellt sich heraus: Es sind die besonderen Ereignisse, die ein Leben ausmachen, die Hoch-zeiten und Höhepunkte eines Lebens, die Gipfelerlebnisse. Zumindest sind sie die interessanten, die erzählenswerten. Wen interessiert schon der Alltag, die eintönige Ebene der ständig wiederkehrenden Aufgaben und Pflichten: Essen machen, Gassi gehen, Blumen gießen, Rasen mähen Wäsche waschen, bügeln, aufräumen und putzen? Die tägliche Fahrt zur Arbeit, der berufliche Alltag? Viel spannender sind da doch die Urlaubsreise, der runde Geburtstag, das Miterleben eines besonderen Ereignisses: Sie heben sich als Höhepunkte aus dem flachen Einerlei heraus wie Berge, die man nicht übersehen kann – und die man auch nicht so bald vergisst.

Mit dem Glauben ist es nicht anders. Was uns da beflügelt, was uns erfüllt sind besondere Erfahrungen und Erlebnisse: Ein besonders schön gestalteter Gottesdienst. Eine Hochzeit, eine Taufe. Ein gutes Wort zur rechten Zeit. Die mitreißende Atmosphäre eines Kirchentages, oder die innige Andacht eines kleinen Kreises von Gleichgesinnten. Das Erlebnis eines wunderbaren Kirchraums oder einer besonders schönen geistlichen Musik. Auch hier sind es die Gipfelerlebnisse, an denen sich unser Glaube entzündet, an denen wir spüren, was wir am Glauben haben. Nicht umsonst sind es Berggipfel, auf denen sich Menschen Gott besonders nah fühlen.

Von solch einem Erlebnis auf einem Berggipfel erzählt das heutige Evangelium: Drei Jünger werden auserwählt, mit Jesus auf einen Berg zu steigen. Und wir, als Zuhörer:innen, dürfen mitkommen. Wir dürfen Zeug:innen eines besonderen Geschehens sein: Wie sich Jesus auf dem Gipfel verwandelt, wie ein Leuchten von ihm ausgeht, und wie sich zwei große Gestalten des Glaubens – Mose und Elia – zu ihm gesellen. Was gäbe man darum, einmal solch eine Erfahrung machen zu können! Und dann ertönt auch noch die Stimme Gottes selbst: "Dies ist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe; den sollt ihr hören!"

Auch wenn wir nie etwas Derartiges erleben werden – allein der Bericht ist faszinierend. Geeignet, einem etwas schwerfällig gewordenen Glauben neuen Schwung zu verleihen.

Der Berg in der Geschichte von der Verwandlung oder Verklärung Jesu steht also auch für ein religiöses Gipfelerlebnis, für eine ganz besondere Gotteserfahrung. Schon am Anfang der Geschichte findet sich ein Hinweis, dass etwas bevorsteht, das nicht alltäglich ist: "Nach sechs Tagen ..." heißt es da. Nach sechs Tagen, am siebten Tag, ist Sonntag – so wie heute. In meiner Kindheit war das für uns ein Tag, der anders war als die Wochentage: Es gab etwas Gutes zu essen, und oft machte die Familie einen Ausflug, einen gemeinsamen Spaziergang. Der siebte Tag, der Sonntag, hebt sich heraus aus dem Alltag. Vielleicht kein Gipfel. Aber ein Hügel, eine Erhebung schon, von der man etwas Außergewöhnliches erwarten darf.

Wir werden nicht enttäuscht. Diese Geschichte hat alles, was zu einem Gipfelerlebnis des Glaubens gehört. Darum möchte Petrus so gern Hütten auf dem Berg bauen: Er möchte bleiben und dieses Licht nie mehr verlassen. Er möchte sie festhalten, diese besondere Gottesnähe.

Aber als dann Gott tatsächlich nahe ist und mit ihnen redet, ist es für die Jünger zuviel der Gottesnähe. Sie bekommen es mit der Angst und werfen sich zu Boden. Als sie wieder aufblicken, ist alles vorbei. Mose und Elia sind verschwunden. Das Licht erloschen. Die Stimme schweigt.

Alles vorbei. Aber Jesus ist noch bei ihnen, in seiner gewöhnlichen, alltäglichen Gestalt. Und in dieser gewöhnlichen, alltäglichen Gestalt – nicht in Glanz und Glorie – kommt er seinen Jüngern nahe: "Er rührte sie an", heißt es im Evangelium, und nimmt ihnen die Angst.

Ob das der eigentliche Grund ist, warum diese Geschichte erzählt wurde und immer noch erzählt wird: Um uns, wenn wir auf der Suche nach einer Glaubenserfahrung, nach einem besonderen religiösen Erlebnis sind, zu zeigen, wo sie tatsächlich zu finden sind? Offenbar nicht auf den Gipfeln. Sondern dann, wenn der Alltag, der graue Alltag, uns wieder hat. Im eintönigen, schlichten, langweilig-grauen Alltag rührt Jesus uns an.

Das kann man sich kaum vorstellen. Sind die religiösen Erlebnisse nicht ohnehin selten? Wie sollen sie dann ausgerechnet im Alltag zu finden sein? Wie sollen wir Jesus, den wir nicht mehr leibhaftig, "live" unter uns erleben können, ausgerechnet in alltäglichen Begegnungen erkennen?

Sicher, es sind die "Highlights", die Gipfelerlebnisse, die die Höhepunkte unseres Lebens bilden. Sie bilden den Stoff der Geschichten, die wir uns selbst immer wieder erzählen, und die wir einmal unseren Enkeln erzählen.

Aber die Geschichte unseres Alltags ist es auch wert, erzählt zu werden. Denn wenn man genau hinschaut, passieren die wirklich wichtigen Dinge in diesen kleinen Alltagsszenen. Z.B. die Geschichte, wie Mutter oder Vater abends am Bett eine Gutenachtgeschichte vorlesen; die Geschichte, wie die Oma das weinende Kind tröstet mit einem Streicheln ihrer Hand, einem Stück Schokolade; die Geschichte, wie der Partner das Aufstehen mit einem frischen Kaffee ans Bett erleichtert. Oder die Geschichte, wie Nachbarn selbstverständlich ihre Hilfe anbieten, ohne dass man sie darum bitten musste.

So viele Geschichten. Jeder und jedem von Ihnen werden welche einfallen. So viele Geschichten, die nicht erzählt werden, weil sie jeden Tag geschehen, weil sie uns alltäglich erscheinen. Erst bei genauerem Hinsehen erkennt man, dass sie etwas Besonderes sind, ganz und gar nicht selbstverständlich. In ihnen, in diesen unscheinbaren, alltäglichen Begegnungen, rührt uns etwas an – rührt uns einer an, den wir in dem Moment gar nicht erkannten. Wenn wir darüber nachdenken, kommt ein Leuchten in unser Gesicht. Ein Abglanz jenes Leuchtens, wie es auch die Jünger sahen.

Sonntag, 22. Januar 2023

Auf dem Weg des Glaubens

Predigt am 3. Sonntag nach Epiphanias, 22.1.2023, über Römer 1,17


Liebe Schwestern und Brüder,


„ich möchte Glauben haben”,

dichtete der Braunschweiger Pastor Eberhard Borrmann.

„Ich möchte Glauben haben,

der über Zweifel siegt,

der Antwort weiß auf Fragen

und Halt im Leben gibt” (EG Niedersachsen-Bremen Nr. 596).


Ja, so einen Glauben hätte ich auch gern.

Einen Glauben, den Jesus lobt,

wie den des Hauptmanns von Kapernaum:

„Solchen Glauben habe ich in Israel bei keinem gefunden!”


Auch Paulus spricht vom Glauben

als Voraussetzung dafür, dass wir Gottes Gerechtigkeit erfahren:

„Gottes Gerechtigkeit wird im Evangelium offenbart

aus Glauben zum Glauben, wie geschrieben steht:

Der Gerechte wird aus Glauben leben.”


„Aus Glauben zum Glauben” - was meint Paulus damit?

Einen Hinweis gibt das Bibelzitat, auf das er sich beruft:

„Der Gerechte wird aus Glauben leben.”

Paulus bezieht sich auf die Bibel,

wenn er vom Glauben spricht.

Der Glaube ist etwas, das man in der Bibel findet.

Was man in der Bibel findet, sind Geschichten vom Glauben,

wie das Evangelium vom Hauptmann von Kapernaum.

Oder Begriffe wie die, die Paulus

in seinem Brief nach Rom verwendet:

„Gerechtigkeit Gottes”, „Evangelium” oder eben „Glauben”.


Damit ist ausgeschlossen, dass der Glaube ein Gefühl ist -

ein Gefühl des Ergriffenseins

oder der „schlechthinnigen Abhängigkeit”,

wie F.D.E. Schleiermacher den Glauben beschrieb.

Das kann der Glaube auch sein,

aber für Paulus ist er kein Gefühl, nichts „Innerliches”.

Glaube ist etwas, das zu mir kommt, nicht aus mir,

wie es bei einem Gefühl der Fall wäre.

Der Glaube ist für Paulus der Ursprung der Gerechtigkeit Gottes.

Er ist Lebens-Mittel,

wenn nicht sogar die Voraussetzung für das Leben.

So erzählt es auch Matthäus:

Der Glaube des Centurio rettet seinem Knecht das Leben.


Kommt der Glaube aus der Bibel,

ist er nicht etwas, das wir „hervorbringen” oder „haben” könnten.

Wir finden den Glauben nicht in uns.

Er kommt zu uns sozusagen von außen, wie ein Brief oder Paket.

Jemand bringt uns den Glauben.

Es sind Menschen, die ihn uns bringen,

indem sie vom Glauben erzählen oder ihn uns vorleben.

Es sind die Gottesdienste, die wir miteinander feiern.

Es sind die biblischen Texte, die uns mehr spüren als wissen lassen,

was der Glaube ist.

Wir haben ein Gefühl dafür, was Glaube ist;

wir können glauben,

aber es fällt uns schwer, Glauben zu erklären.


Die erste Hälfte des Satzes „aus Glauben zum Glauben”

sagt uns: Wir „machen” den Glauben nicht,

wir finden den Glauben vor; er war vor uns da.


Der Glaube, den wir vorfinden,

hat die Bibel zum Inhalt, Gottes Wort.

Genauer gesagt:

Dass Gott uns durch die Bibel, durch sein Wort anspricht.

Gott spricht uns an: Das ist Anspruch und Zuspruch.


Anspruch ist z.B.:

„Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist

und was Gott von dir fordert, nämlich:

Gottes Wort halten und Liebe üben

und vor deinem Gott demütig sein” (Micha 6,8).


Ein Zuspruch ist ein Wort wie:

„Siehe, ich bin bei euch alle Tage

bis an der Welt Ende” (Matthäus 28,20).


Dieser Anspruch und dieser Zuspruch kommen von außen auf uns zu:

„aus Glauben”.

Wenn wir uns angesprochen fühlen,

von Gott aufgefordert oder von Gott getröstet,

dann ist der Glaube bei uns angekommen:

„zum Glauben”.


Es ist Glaube, wenn biblische Worte uns ansprechen,

uns in Unruhe, in Bewegung versetzen:

„Ihr sollt nicht meinen, dass ich gekommen bin,

Frieden zu bringen auf die Erde.

Ich bin nicht gekommen, Frieden zu bringen,

sondern das Schwert” (Matthäus 10,34).


Und es ist Glaube, wenn wir Zuspruch und Trost durch sie erfahren:

„Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst;

ich habe dich bei deinem Namen gerufen; du bist mein” (Jesaja 43,1).


Angesprochen wird man, wenn jemand direkt zu einem spricht:

„Entschuldigung, können Sie mir sagen, wie es zum Bahnhof geht?”

Aber das ist nicht mit dem „Anspruch” gemeint,

den Gottes Wort bei uns auslöst.

In diesem Moment spreche ich Sie an.

Das bedeutet aber nicht automatisch,

dass meine Worte Sie ansprechen.

Dass Worte uns ansprechen, zeigt unsere Reaktion:

Wir werden dazu bewegt, zuzustimmen oder zu widersprechen,

wir werden zum Nachdenken angeregt oder zum Handeln.

Wir empfinden etwas.


Kann man erklären, wie man es erreicht,

dass man von Worten angesprochen wird

oder dass man Zuspruch erfährt?

Ich habe es ja ganz offensichtlich nicht in der Hand,

dass meine Worte Sie ansprechen.

Etwas in uns muss den Anspruch oder Zuspruch annehmen.

Dieses Annehmen kann man nicht herbeiführen.

Das merkt man gerade dann, wenn man Trost braucht:

Da rauschen die besten und wohlmeinendsten Worte

manchmal an einem vorbei und berühren einen nicht.


Dass Gottes Wort bei uns ankommt,

kann man also nicht „machen”.

Glauben „hat” man nicht.

Man ist immer auf dem Weg zum Glauben.

Paulus’ Satz „aus Glauben zum Glauben”

beschreibt also eine Bewegung.

Beschreibt, woher wir kommen und wohin wir gehen.

Wir sind mit dem Glauben unterwegs.

Und das bedeutet, wir sind mit Gott unterwegs.

Gott, der uns in seinem Wort anspricht oder tröstet.

Der manchmal ganz nah ist

und manchmal schrecklich fern zu sein scheint.


So hat es schon das Volk Israel erlebt

auf seiner Wanderung von der Knechtschaft in Ägypten

ins Gelobte Land.

Der Glaube lag hinter ihnen:

Die Erkenntnis, dass sie in Ägypten in Unfreiheit gelebt hatten,

und die Erfahrung der Befreiung.

Und er lag vor ihnen:

Die Verheißung des Gelobten Landes,

in dem Milch und Honig fließen.

Auf dem Weg dorthin aber lagen Zweifel, Gottesferne,

Sinn- und Ziellosigkeit.

Und doch war Gott immer da, auf jedem Schritt der Wanderung.


Diese Geschichte vom Exodus des Volkes Israel,

seinem Weg der Befreiung aus der Knechtschaft ins Gelobte Land,

voller Anfechtungen, ist eine Geschichte des Glaubens.

Des Glaubens, der uns vorausliegt und zu uns kam.

Der Gott des Volkes Israel ist der Vater Jesu Christi ist unser Gott.

Und so, wie die Israeliten in der Wüste mit Gott unterwegs waren,

sind wir heute mit Gott unterwegs.

Der Glaube geht weiter, im wahrsten Sinne des Wortes,

geht weiter über die Generationen,

über Grenzen von Völkern und Nationen,

über alle Grenzen hinweg, die wir aufrichten,

um uns von anderen abzugrenzen;

um andere auszugrenzen, damit sie nicht bekommen, was wir haben,

nicht werden können, was wir sind.


Der Glaube kam zu uns, und durch uns kommt er zu anderen.

Ganz gleich, wer wir sind und wer diese anderen sind,

Griechen oder Barbaren, wie Paulus schreibt:

Es ist der eine Glaube an den einen Gott und Vater Jesu Christi,

den Vater aller Menschen.

Wir können diesen Glauben nicht besitzen,

deshalb können wir keinen Glauben „haben”.

Wir können ihn auch nicht verlieren,

denn er wird uns immer wieder neu geschenkt.

Er geht durch uns hindurch wie ein Strom.

Er setzt uns in Bewegung.

So sind wir mit Gott und allen Glaubenden unterwegs

auf dem Weg des Glaubens,

aus Glauben zum Glauben. Amen.

Sonntag, 15. Januar 2023

Ansichtssache

Predigt am 2.Sonntag nach Epiphanias, 15.1.2023, über Exodus 33,18-23


Liebe Schwestern und Brüder,


„Ich will sehen!”

Der Held erwidert das Gebot des Gangsters

und schiebt seinen Stapel Spielmarken in die Mitte des Tisches.

Alle anderen sind schon ausgestiegen,

haben einer nach dem anderen wütend oder enttäuscht

ihre Karten auf den Tisch geworfen.

Nur die beiden sind noch übrig.

Unbeweglich starrt einer in die Augen des anderen.

Unser Held versucht, im Gesicht seines Gegners zu lesen:

Sind seine Karten so gut, wie er glauben machen will,

oder blufft er?

Aber das Gesicht des Gangsters bleibt undurchschaubar.

Unserem Held bleibt nichts übrig,

als aufs Ganze zu gehen und seinen Einsatz zu wagen:

„Ich will sehen!”


Im Spielfilm „Tatsächlich Liebe”,

der inzwischen zu den Kultfilmen an Weihnachten gehört,

ist Emma Thompson neugierig,

was ihr Mann in der Juwelierabteilung des Kaufhauses erstanden hat.

In seiner Manteltasche entdeckt sie eine Schachtel

in der Größe einer CD, darin eine Goldkette

mit einem goldenen Herzen daran.

Beseelt und beglückt schiebt sie die Schachtel zurück in die Manteltasche.

Doch als sie bei der Bescherung das CD-große Päckchen auspackt,

ist darin - - - tatsächlich nur eine CD.

Die Kette, das wird ihr nun bewusst,

war für eine Andere bestimmt.


„Ich will sehen!”

Mose begehrt, Gottes Herrlichkeit zu schauen.

Er hat Todesängste ausgestanden,

als er vor den Pharao trat,

um die Freiheit des Volkes Israel zu fordern;

er spürte sie während der Flucht,

als die ägyptischen Truppen ihnen auf den Fersen waren;

und er erlebte sie angesichts des wütenden Volkes,

das gegen ihn aufbegehrte.

Mose ertrug die Vorwürfe und das Misstrauen der Israeliten,

die ihre Freiheit mit Füßen traten,

sobald die ersten Schwierigkeiten auftauchten,

und sich nach dem alten System zurücksehnten.

Und er musste erleben,

wie die Israeliten, Gottes erwähltes Volk,

berufen dazu, im Land ihrer Väter in Gottes Nähe zu leben,

diese Erwählung wegwarfen für ein goldenes Stierbild.

Sie trauten einem Gott nicht, den man nicht sehen kann.


Mose möchte Gott sehen.

Vielleicht erwartet er eine Belohnung für sein Durchhalten,

für all das, was er auf sich genommen und ertragen hat.

Wer hätte es mehr verdient als er?

Vielleicht hat Mose sich auch verunsichern lassen.

Alle tanzen ums Goldene Kalb.

Er steht mit seinem Glauben allein.

Was, wenn er sich irrt, und die Mehrheit im Recht ist?


Diese Unsicherheit ist uns nicht fremd.

Wir kennen Situationen, in denen wir uns wünschen,

wir könnten sehen, ob es stimmt, was wir glauben.

Bereits in den 80er Jahren wusste man

um den Zusammenhang von CO2-Ausstoß und Erderwärmung.

Schon damals war klar, dass es zu einem steigenden Meeresspiegel,

zu einer Zunahme der Wetterextreme und der Dürren kommen würde.

Aber es war davon nichts zu sehen.

Mit der Forderung: „Ich will sehen!”

wurden diese Schlussfolgerungen beiseite gewischt.

Heute, wo wir die Folgen sehen, wünschen wir,

wir hätten damals geglaubt und ernst genommen,

was noch nicht zu sehen war.


Gott verweigert Mose das Sehen.

Er lässt ihn das Gute sehen, das er bewirkt hat.

Er lässt ihn seinen Namen wissen.

Dann speist er ihn scheinbar ab mit den Worten:

„Wem ich gnädig bin, dem bin ich gnädig,

und wessen ich mich erbarme, dessen erbarme ich mich.”

Diese Sätze sind ein Zirkelschluss.

Sie beweisen gar nichts; sie scheinen nur die patzige Antwort zu sein:

„Ich bin eben so, wie ich bin - komm damit klar!”

Tatsächlich aber stehen im Hebräischen zwei Zeitformen da.

Die erste drückt eine abgeschlossene Handlung aus:

„Wem ich gnädig war”,

die zweite eine offene oder zukünftige:

„dem werde ich gnädig sein,

und wessen ich mich erbarmte,

dessen werde ich mich erbarmen.”


Mit diesen Worten sagt Gott nichts anderes,

als dass man sich auf ihn verlassen kann:

Gott hält seine Zusage und nimmt sie nicht zurück.

Das ist besonders bemerkenswert,

weil im Kapitel zuvor geschildert wird,

wie die Israeliten genau das tun:

Sie kündigen den Bund auf,

den sie mit Gott geschlossen hatten,

und machen sich einen eigenen Gott: Das goldene Kalb.

Damit wenden sie sich nicht nur von Gott ab,

sie geben ihm sozusagen auch noch einen Tritt.

Trotzdem bleibt Gott bei seinem Versprechen.


Als Mose Gott sehen will,

erinnert Gott ihn an die Rettung aus Ägypten -

das Gute, das er für das Volk Israel tat.

Er nennt Mose den Namen,

mit dem man ihn anreden und zu ihm sprechen kann.

Und an seinen Bund, den er niemals brechen wird.


Mose würde trotzdem gern Gottes Antlitz sehen.

Auch das ist uns nicht fremd:

Wir versuchen, im Gesicht eines anderen Menschen zu lesen:

Wie hat sie das gemeint?

Was hält er von mir?

Was denkt sie über mich?

Dabei sucht man nicht nach der Bestätigung dafür,

dass die Beziehung, die ja besteht, tatsächlich existiert;

dass die Liebe, die man spürt, tatsächlich da ist.

Sondern man sucht nach Gründen für das Misstrauen,

für den Zweifel an der Zuneigung, der Liebe des anderen.


Gott lässt das nicht mit sich machen.

Gott verweigert sich dem Zweifel, dem Misstrauen.

Das bedeutet nicht, dass er Zweifel und Misstrauen nicht zuließe -

er erträgt das Murren des Volkes,

er verzeiht ihnen den Tanz ums Goldene Kalb.

Gott verhindert, dass wir diesen Zweifel in Gott selbst hineinlegen,

ihm Falschheit unterstellen

oder einen Wechsel seiner Einstellung zu uns,

die wir in den Gesichtern anderer zu lesen meinen.

Gott verweigert das Sehen.

Gott verlangt Vertrauen.


Vertrauen ist das Fundament jeder Beziehung.

Liebe kann man nicht sehen, sie lässt sich nicht beweisen.

Man sieht das Gute, das durch sie entstand.

Man hat einen Namen, mit dem man den Menschen anreden kann,

der auf einen hört, der einem zuhört.

Und man hat ein Versprechen, dass dieses Vertrauen begründet ist.


Leider brechen wir dieses Versprechen manchmal.

Doch auch die Tatsache,

dass wir unser Versprechen manchmal nicht halten können,

ist kein Grund, die Liebe an sich anzuzweifeln.


Gott dagegen bricht sein Versprechen niemals.

Auch wenn zu allen Zeiten Theologen versucht haben,

ihm das zu unterstellen:

Sie drohten damit, dass unsere Sünde, unsere Schuld

uns von Gott trennen würden.

Aber „Gottes Gaben und Berufung können ihn nicht gereuen”

(Römer 11,29).


Auch das ist eine Herausforderung an unser Vertrauen.

Wir sind eher geneigt, das Schlechteste von anderen anzunehmen,

auch von Gott, als darauf zu vertrauen,

dass Gott es gut mit uns meint.


Gott weiß um diese Schwäche,

wie er Verständnis für Moses Schwäche hatte.

Es ist die Schwäche, dass es uns so schwer fällt,

auf das Wort zu vertrauen, das Gott uns gab -

besonders, wenn wir Schweres, wenn wir Leid erleben.

Dann denken wir, dass Gott dieses Wort -

sein Ja, seine Liebe zu uns -

zurückgenommen, dass er es bereut hat.

Wir meinen, wir seien schuld daran,

durch etwas, das wir getan, gesagt oder gedacht haben.

Oder wir denken, dass Gott grausam ist:

dass er uns durch Strafe „erziehen” will.


Darum ließ Gott dieses Wort - sein Ja, seine Liebe zu uns -

Mensch werden:

Damit wir es glauben. Und lernen, darauf zu vertrauen.

Jesus kam in die Welt,

damit wir darauf vertrauen können,

dass Gott mit uns im Bunde ist.

Vertrauen können darauf,

dass Gott es gut mit uns meint

und nur Gutes für unser Leben im Sinn hat.

„Denn der Sohn Gottes, Jesus Christus,

war nicht Ja und Nein,

sondern es war Ja in ihm.´

Denn auf alle Gottesverheißungen ist in ihm das Ja;

darum sprechen wir auch durch ihn das Amen,

Gott zum Lobe” (2.Korinther 1,19f).

Sonntag, 8. Januar 2023

Ein Fingerzeig (2)

Predigt zur Einführung des Kirchengemeinderates am 1.Sonntag nach Epiphanias, 8.1.2023, über Johannes 1,29-34

Matthias Grünewald, Isenheimer Altar, Detail: Johannes der Täufer zeigt mit dem Finger


Liebe Schwestern und Brüder,


woran erkennt man jemanden, den man nie zuvor gesehen hat?


Das Problem taucht häufiger auf als man denkt.

Wenn man eine unbekannte Person

am Bahnhof oder Flughafen abholt.

Wenn ein:e Fremde:r seinen Besuch ankündigt, z.B. der Pastor.

Wenn man sich zu einem Blind Date verabredet.


Am Bahnhof oder Flughafen werden Schilder hochgehalten.

Das Gesicht des Pastors kennt man aus dem Gemeindebrief.

Beim Blind Date kann die Art, wie man sich zu erkennen gibt,

den Verlauf des weiteren Abends beeinflussen:

Kommt sie im knallroten Kleid,

er mit einer Rose zwischen den Zähnen?

Oder finden beide subtilere Zeichen, an denen sie sich erkennen?


Das Problem des Erkennens hat auch Christ:innen

zu allen Zeiten beschäftigt, nur andersherum:


Gott selbst kommt auf die Erde in seinem Sohn Jesus Christus.

Wieso hat das niemanden aufhorchen lassen?

Warum haben nur so wenige Menschen erkannt,

dass Jesus der Christus ist, Gottes Sohn?


Im Evangelium bekennt Johannes der Täufer,

dass sogar er Jesus nicht kannte.

Dabei war Jesus sein Cousin:

Elisabeth, seine Mutter, war mit Maria verwandt (Lukas 1,36).


Mit seinem Eingeständnis, dass er Jesus nicht kannte,

obwohl er ihn doch eigentlich kennen müsste,

wird ein Unterschied markiert:

Man konnte Jesus als Menschen kennen,

sogar mit ihm verwandt sein,

ohne zu wissen, dass er Gottes Sohn ist.

Seine Göttlichkeit war verborgen -

so sehr, dass selbst Nahestehende sie nicht bemerkten.

Sogar die Wunder, die Jesus tat, seine Heilungen

konnte man offenbar auch anders erklären als damit,

dass dabei Gott am Werk war.


Das beantwortet die Frage,

warum so wenige Jesus als Christus erkannten:

Die Tatsache, dass Jesus Gottes Sohn ist,

drängt sich einem nicht auf.

Sie spricht nicht für sich, leuchtet nicht unmittelbar ein.


Wer sich das nicht vorstellen kann,

braucht sich nur daran zu erinnern,

wie oft er/sie selbst den Wald vor lauter Bäumen nicht sah.

Wie oft ein Bild, ein Gedicht, ein Musikstück

unverständlich, rätselhaft, nichtssagend blieben, bis - - -

ja, bis jemand kam und uns zeigte,

was wir da sahen, lasen oder hörten.


„Siehe, das ist Gottes Lamm, das die Sünde der Welt trägt”,

sagt Johannes und „outet” damit Jesus als Sohn Gottes.

Ohne seinen Fingerzeig,

wie ihn Matthias Grünewald so unübersehbar

auf dem Isenheimer Altar dargestellt hat,

wüssten wir nichts von Christus.


Über die Generationen hinweg

wurde dieser Fingerzeig weitergegeben.

Johannes, der Evangelist, hat ihn uns überliefert.

Matthias Grünewald hat ihn gemalt.

Johann Sebastian Bach hat ihn in der Matthäuspassion vertont.

Eltern und Großeltern,

Katechetin, Gemeindepädagoge, Kantor,

Religionslehrerin oder Pastor haben uns davon erzählt.


Von den ersten, die Jesus als Gottes Sohn erkannten

bis zu uns heute gibt es eine ununterbrochene Kette

von Zeug:innen, die wie Johannes auf Jesus zeigen und erklären:

„Siehe, das ist Gottes Lamm”.


Die Kirchenältesten, die heute in ihr Amt eingeführt werden,

stehen in dieser Kette, sind wichtige Glieder dieser Kette.

Sie sorgen, dass dieser Fingerzeig weitergegeben wird -

indem sie ihn selbst weitergeben,

durch ihre Art, wie sie leben und anderen begegnen;

indem sie als Lektor:in im Gottesdienst das Evangelium lesen;

indem sie öffentlich für ihren Glauben,

für diesen Dom, für diese Gemeinde einstehen.


Und indem sie in ihrem Amt als Kirchenälteste

die Voraussetzungen dafür schaffen und erhalten,

dass in diesem Dom, in dieser Gemeinde von Jesus erzählt werden kann.

- Dass Kinder im Kindergottesdienst, in der Christenlehre,

im Konfirmandenunterricht, im Kinder- und Jugendchor

davon hören und singen.

- Dass es im Gottesdienst die Möglichkeit

zur Begegnung mit dem Lamm Gottes gibt.

- Dass der Dom erhalten wird,

der selbst ein Fingerzeig ist

und der Raum, in dem wir Gott begegnen.

- Dass immer wieder neue Form dieser Begegnungen

ermöglicht und versucht werden,

wie z.B. die von Günther Uecker gestalteten Fenster.

- Dass Gehälter gezahlt, Arbeitsbedingungen geschaffen werden,

damit Mitarbeiter:innen wie die Sekretärin, der Gemeindepädagoge,

der Küster, der Kantor oder der Pastor

ihren Teil dazu beitragen,

auf ihre Art und mit ihren Gaben,

dass die Kette der Zeug:innen niemals abreißt.


Johannes zeigt uns Jesus als Lamm Gottes.

Aber er selbst weiß nicht, dass er es ist!

„Ich kannte ihn nicht”, sagt er gleich zweimal.


Damit wir in Jesus Gottes Lamm erkennen,

ist noch etwas nötig: Gottes Heiliger Geist,

der uns die Augen und das Herz auftut.

Gott selbst sorgt durch seinen Geist dafür,

dass wir seinen Sohn erkennen,

dass die Kette der Zeug:innen niemals abreißt,

indem er Menschen beruft und begeistert für die Sache Jesu.


Wir dürfen die Kirchenältesten,

die heute zu ihrem Dienst eingesegnet werden,

auch ansehen als Menschen,

die Gott berufen hat zu diesem Dienst,

für die Sache seines Sohnes begeistert hat.


Auch die Mitarbeiter:innen der Gemeinde

hat Gott zu ihrem Dienst bestimmt und berufen,

und sie haben sich rufen lassen.

Darum haben wir gleich zu Beginn des Gottesdienstes

Gott mit dem ersten Lied um seinen Heiligen Geist gebeten

für Christiane Lazarus und für die Kirchenältesten,

die jetzt eingeführt werden.


Gottes Geist begleite sie in ihrem Dienst für die Gemeinde.


Er erfülle sie, damit sie die Mühen der Ebene

und manche Durststrecke überstehen,

auf alte Fragen neue Antworten finden

und den Mut haben, neue Wege zu beschreiten.


Er begeistere sie, dass sie durch ihre Freundlichkeit,

ihr Engagement, ihre tägliche Arbeit

zeigen und davon erzählen, was sie bewegt,

sodass der Fingerzeig durch die Kette der Zeug:innen

weitergegeben wird.


Bis wir eines Tages mit eigenen Augen sehen,

was uns die Zeug:innen vor Augen malten. Amen.

Samstag, 7. Januar 2023

Gottes menschgewordene Zuwendung

Ansprache an Epiphanias, 6.1.2023, zur Jahreslosung 1.Mose 16,13

Die Jahreslosung steht im 1. Buch Mose im 16. Kapitel

am Schluss der Geschichte von Hagar und Ismael:


Abrams Frau Sarai hatte keine Kinder bekommen.

Sie hatte eine ägyptische Magd, die hieß Hagar.

Sarai sagte zu Abram:

„Der Herr hat mir Kinder verweigert.

Geh doch zu meiner Magd!

Vielleicht kann ich durch sie ein Kind bekommen.”

Abram hörte auf Sarai.

So gab Sarai ihrem Mann Abram

ihre ägyptische Magd Hagar zur Nebenfrau.

Abram wohnte damals schon zehn Jahre im Land Kanaan.

Er schlief mit Hagar, und sie wurde schwanger.

Als sie merkte, dass sie schwanger war,

sah sie auf ihre Herrin herab.

Da sagte Sarai zu Abram:

„Mir geschieht Unrecht, und du bist schuld.

Ich war es doch,die dir meine Magd gegeben hat.

Kaum ist sie schwanger, sieht sie auf mich herab.

Der Herr soll zwischen dir und mir entscheiden!”

Abram antwortete Sarai:

„Sie ist deine Magd und in deiner Hand.

Mach mit ihr, was du für richtig hältst.”

Daraufhin behandelte Sarai ihre Magd so schlecht,

dass diese ihr davonlief.


Ein Engel des Herrn fand Hagar

an einer Wasserquelle in der Wüste.

Sie war am Brunnen auf dem Weg nach Schur.

Der Engel fragte: „Hagar, du Magd Sarais,

wo kommst du her und wo gehst du hin?”

Sie antwortete:

„Ich bin auf der Flucht vor meiner Herrin Sarai.”

Da sagte der Engel des Herrn zu ihr:

„Kehre zu deiner Herrin zurück

und ordne dich ihr unter!”

Weiter sagte der Engel des Herrn zu ihr:

„Ich werde deine Nachkommen so zahlreich machen,

dass man sie nicht zählen kann.”

Der Engel des Herrn fügte hinzu:

„Du bist schwanger

und wirst einen Sohn zur Welt bringen.

Den sollst du Ismael, ‚Gott hat gehört’, nennen.

Denn der Herr hat dich gehört,

als du ihm deine Not geklagt hast.

Dein Sohn wird heimatlos sein wie ein Wildesel.

Er wird mit allen im Streit liegen

und getrennt von seinen Brüdern wohnen.”


Hagar gab dem Herrn, der mit ihr geredet hatte,

den Namen El-Roi, das heißt:

„Du bist ein Gott, der mich sieht.”

Denn sie sagte: „Ich sah hinter dem her, der mich ansah.”



Liebe Schwestern und Brüder,


„du hast die Niedrigkeit deiner Magd angesehen”,

singt Maria, die mit Jesus schwanger ist (Lukas 1,48).

Hannah, die sich so sehr ein Kind wünscht, verspricht:

„Herr, wirst du das Elend deiner Magd ansehen,

so will ich dir meinen Sohn geben.” (1.Samuel 1,11)

Und Hagar, mit Ismael schwanger, bekennt:

„Du bist ein Gott, der mich sieht.”


Drei Frauen in „froher Erwartung”, wie man sagt.

Sie sprechen davon, dass Gott sie ansah

in ihrem Elend, in ihrer Niedrigkeit.

Bei Maria ist es ihre Jugend

und vielleicht auch ihre arme Herkunft,

durch die sie keinen gesellschaftlichen Status hat.

Hannah ist bedrückt, dass ihre Nebenbuhlerin

ihrem Mann zwei Söhne geboren hat,

sie aber nicht schwanger wird.

Bei Hagar ist es umgekehrt: Sie wird schwanger,

aber Sarai, Abrams Frau, ekelte sie aus dem Haus,

schickte sie in die Wüste, im wahrsten Sinne des Wortes.


Die drei Frauen fühlen sich von Gott angesehen.

Dafür sind sie Gott dankbar, darauf sind sie stolz.

Was ist daran so besonders,

und wie ist dieses Gesehenwerden durch Gott zu verstehen?


Von Gott angesehen zu werden ist mehr als ein bloßes Sehen.

Wie oft sieht man, ohne wirklich zu sehen!

Wie sollte man auch beim Gang durch die Stadt

all die Menschen wahrnehmen, die einem begegnen?

Aber auch im Freundeskreis,

auch Zuhause sieht man sich manchmal nicht an.

Man ist mit den Gedanken woanders,

während andere vielleicht darauf warten, angesehen zu werden.


Hinsehen erfordert Initiative.

Im Hinsehen liegt eine Bewegung:

Ich wende mich der anderen, ich wende mich dem anderen,

ich wende mich dir zu.

Diese Hinwendung bewirkt eine Konzentration:

Ich lasse sein, was ich eben noch tat

und widme mich dir, um zu erfahren, wie es dir geht.


Die Hinwendung zu einem anderen Menschen

ist mehr als eine Körperbewegung,

eine Drehung hin zum anderen.

Das Hinwenden zum anderen, die Zu-wendung,

bedeutet Sympathie, Mitgefühl.


So haben im Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Lukas 10,29-37)

die zwei Vorübergehenden den Menschen,

der unter die Räuber gefallen war,

gar nicht wahrgenommen.

Sie waren mit ihren Gedanken woanders, sahen nicht hin.

Der dritte, der Samariter, sah hin und half dem Verletzten,

versorgte seine Wunden und sorgte für seine Pflege.


Ihn macht Jesus uns zum Vorbild,

weil auch Gott einer ist, der hinsieht.

Gott ist „ein Gott, der mich sieht”.

Gott nimmt wahr, wie es uns geht.

Gott empfindet mit, woran oder worunter wir leiden.

Gott hält aus, was andere nicht aushalten,

was wir selbst oft nicht aushalten können.


Gott sieht auch, was wir nicht sehen können

oder nicht sehen wollen:

Unseren Irrtum, unsere Verstrickung, unsere Schuld.

Gott verurteilt uns nicht dafür.

Gott sieht und erträgt für uns,

was wir nicht ansehen möchten.

Dadurch können auch wir unsere Schattenseiten

wahrnehmen und wahrhaben,

ohne sie verleugnen, abstreiten zu müssen.


Gott sieht schließlich auch das,

was wir gern unter viel Stoff verstecken würden,

was wir an unserem Körper nicht mögen, nicht schön finden,

was uns peinlich ist, wofür wir uns schämen.

Gott sieht uns freundlich an, so, wie wir sind.

Von Gottes Blick können wir lernen,

uns selbst freundlich anzusehen, wie Gott es tut;

uns gern zu haben und schön zu finden.


Hagar, die von Sarai Unrecht erlitt, sodass sie weglief,

war sicher selbst kein Engel.

Sie war nicht so vorbildlich,

dass sie Gottes Zuwendung mehr verdient hätte als andere.

Gott sieht sie trotzdem an.

Gott sieht hinter das, was vorgefallen ist,

was sie erlitten und getan hat.

Gott sieht sie weder als Opfer noch als Täterin.

Gott sieht sie als Hagar.

Und Hagar spürt, dass Gott sie ansieht:

„Ich sah hinter dem her, der mich ansah.”

Darum bekennt sie:

„Du bist ein Gott, der mich sieht.”


Heute, an Epiphanias, lassen wir uns erinnern

an diese hilfreiche Zuwendung Gottes,

die Hagar, Hannah und Maria erlebten.

Die Zuwendung Gottes bestand darin,

dass diese Frauen schwanger wurden.

Sie brachten ein Kind zur Welt,

das diese Zuwendung Gottes verkörperte:

Ismael, auf den sich heute Musliminnen und Muslime

als ihren Stammvater berufen;

Samuel, der ein Prophet und Richter für Israel war,

und Jesus, der Gottes Geschenk an uns alle ist.


Gottes Zuwendung nimmt Gestalt an.

Gottes Zuwendung zu uns wurde Mensch.

Jesus ist diese Mensch gewordene Zuwendung Gottes

zu uns und allen Menschen.

In Jesus sieht Gott uns an.

Sein Blick ruht freundlich auf uns und liebevoll.

Unter Gottes liebevollem Blick,

den Jesus Christus verkörpert,

können wir uns und unser Leben annehmen.

Unter Gottes liebevollem Blick

gehen wir in dieses neue Jahr in der Gewissheit,

dass Gott sich uns auch in diesem Jahr zuwenden wird

mit seiner Liebe, seiner Vergebung und seinem Segen, denn:

„Du bist ein Gott, der mich sieht.” Amen.

Sonntag, 1. Januar 2023

heute

Predigt am Neujahrstag, 1.1.2023, über Lukas 4,16-21


Liebe Schwestern und Brüder,


heute ist der erste Tag des neuen Jahres.

Mit diesem Tag, der gerade erst begonnen hat,

liegen 365 Tage vor uns - eine weite Fläche Zeit.

Wenn es 365 Steine wären, könnte man damit schon etwas bauen;

365 Knäuel Wolle - wie viele Socken oder Pullover gäbe das!

365 Blatt Papier sind schon ein Roman …


Andererseits sind vom ersten Tag des neuen Jahres

bereits mehr als zehn Stunden vergangen!

Ehe man sich’s versieht, werden die Tage wieder länger.

Frühling, Sommer, Herbst und Winter

folgen uns im Sauseschritt - - -

und dann ist auch schon wieder Weihnachten!


Ich will mit Ihnen heute nicht darüber nachdenken,

ob das Glas halb voll oder halb leer ist -

ob wir jede Menge Zeit vor uns haben,

oder ob sie uns zwischen den Fingern zerrinnt.

Wahrscheinlich beides.

Ich möchte heute mit Ihnen über „heute” nachdenken,

über den Satz, den Jesus zum Schluss seiner Lesung sagt:

„Heute ist dieses Wort erfüllt in euren Ohren.”


Ein englisches Wortspiel lautet:

„Yesterday is history, tomorrow is a mystery,

but today is a gift. That is why it is called ‚present’.”

Man kann das Wortspiel im Deutschen leider nicht wiedergeben.

So ungefähr lautet es:

„Das Gestern ist Geschichte, das Morgen nur Gerüchte,

doch das Heute ist die Gegenwart.

Und die zu erleben, ist ein Geschenk.”


„Heute ist dieses Wort erfüllt in euren Ohren”, sagt Jesus.

Ist das nicht Geschichte?

Immerhin hat dieser Satz fast 2.000 Jahre auf dem Buckel.

Wenn Jesus ein vorbildlicher Mensch gewesen wäre,

ein Weiser oder Heiliger,

der Kluges gesagt, Menschen selbstlos geholfen hätte,

wäre dieser Satz tatsächlich Geschichte.

Man würde ihn hören als Erinnerung an einen besonderen Menschen,

der vor langer Zeit eine Predigt hielt,

die seine Zuhörer in Verwunderung und Erstaunen versetzte.


Nun aber war Jesus nicht nur ein guter Mensch,

sondern ist Gottes Sohn.

Jesus ist keine Figur der Geschichte,

Jesus lebt, „sitzend zur Rechten Gottes”,

wie wir es uns im Glaubensbekenntnis vergegenwärtigen.

Und zugleich ist er jetzt bei uns, denn

„wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind,

da bin ich mitten unter ihnen” (Matthäus 18,20).


Jesus ist nicht Vergangenheit, sondern immer gegenwärtig.

Immer Geschenk der Gegenwart und geheimnisvolle Zukunft.

Und damit ist auch das, was er sagte, Gegenwart.

Das Evangelium ist kein historisches Dokument,

keine Geschichte über einen Menschen, der einmal -

lang, lang ist’s her - gelebt hat.

Das Evangelium vergegenwärtigt sich uns

in dem Moment, in dem es gelesen wird:

„Heute ist dieses Wort erfüllt in euren Ohren.”


Und was erfüllt sich da?

„Den Armen wird gute Nachricht gebracht.

Den Gefangenen die Freilassung angekündigt.

Den Blinden, dass sie sehen werden,

und den Unterdrückten, dass sie frei sein werden.

Ein Gnadenjahr des Herrn.”


Aber - - - all das erfüllt sich doch gar nicht!

Es bleiben nur Ankündigungen.

Heute sind sie alle noch arm, gefangen, blind oder unterdrückt.

Die Erfüllung liegt in der Zukunft.

Anders kann es auch gar nicht sein.

Denn unsere Wirklichkeit funktioniert nach Naturgesetzen,

nicht auf magische Weise,

dass jemand die Zauberformel spricht,

und - puff! - geschieht, was er sich wünscht.

In all unserem Sehnen, dass Gott eingreifen,

die Welt und seine Menschen retten

und die Bösen bestrafen möge,

und in all unserer Enttäuschung darüber, dass Gott nichts tut,

offenbart sich unser Glaube an Magie, an Wunder:

Dass für uns die Naturgesetze nicht gelten sollen

oder wenigstens dies eine Mal außer Kraft gesetzt werden.

Aber wir mussten die schmerzhafte Erfahrung machen,

dass unsere Welt so nicht funktioniert.


Das Wort Gottes erfüllt sich „in unseren Ohren”.

Es ist kein Zauberwort, das sich selbst verwirklicht.

Das Wort braucht uns, braucht Hörer:innen,

um Wirklichkeit zu werden.

Indem es uns berührt, uns anrührt, sodass wir denken:

Ja, wir möchten, dass Gefangene frei werden,

nicht nur die politischen Gefangenen im Iran,

in der Türkei oder in Russland.

Auch die Straftäter bei uns sollen die Chance bekommen,

eines Tages neu anfangen zu können.

Ja,wir möchten, dass Menschen mit Handicap

sich nicht als Menschen zweiter Klasse fühlen müssen;

dass ihnen geholfen wird,

ohne sie wie Hilfsbedürftige oder gar wie Kinder zu behandeln.

Ja, wir wünschen und gönnen den Unterdrückten

überall in der Welt die selbe Freiheit, die wir genießen.


Das Wort rührt uns an.

Die Idee gewinnt Gestalt.

Die Gestalt drängt zur Verwirklichung.

Sie findet Mittel und Wege, durch uns Wirklichkeit zu werden.

Und zugleich bleibt ein Mehr, ein Überschuss.

Das Wort wird in uns Gegenwart

und ist zugleich geheimnisvolle Zukunft, Verheißung.

Es liegt nicht allein an uns, dass es Wirklichkeit wird.

Die Zukunft ist ein Geheimnis - Gottes Geheimnis.

Gott kann eine Zukunft heraufführen,

die wir noch nicht sehen,

die wir uns noch gar nicht vorstellen können.


Heute erfüllt sich das Wort des Evangeliums in uns.

Heute beginnt das Gnadenjahr des Herrn,

das neue Möglichkeiten eröffnet,

die wir noch nicht sehen können -

trotzdem sind sie schon da.

Dieses „Heute” ist nicht nur heute,

am ersten Tag eines neuen Jahres.

Jeder Tag, den wir erleben, ist „heute”.

An jedem Tag kann etwas Neues beginnen -

jeden Tag beginnt etwas Neues,

weil Gottes Wort in uns und durch uns

eine neue Wirklichkeit schafft. Amen.